Die Bedeutung der Hamlet-Aufführung in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre"

Der Einfluss auf die Hauptfigur, auf deren Bildung und auf die zugrunde liegende Definition von Roman und Drama


Hausarbeit, 2004

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung in die Thematik

2. Hamlet & Wilhelm
2.1 Wilhelms Identifikation mit der Hamletfigur
2.2 Melancholie als gemeinsamer Charakterzug

3. Hamlet & und Wilhelms Bildung
3.1 Das Projekt des ‚sich Ausbildens‘
3.3 Wilhelms Abkehr vom Theater und die Heilung der Melancholie

4. Hamlet & der Roman als aufkommende Literaturgattung
4.1 Die Definition von Roman und Drama
4.2 Wilhelms Entscheidung für den Roman

5. Abschließende Betrachtung

Bibliographie
Werke:
Kritische Literatur:

1. Einführung in die Thematik

Ein solch umfangreiches und gehaltvolles Werk wie Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ hat viele literaturwissenschaftliche Ansatzpunkte und wirft eine Menge interessanter Fragestellungen auf, doch um ein Thema kommt man bei fast keiner Lektüre von Sekundärliteratur herum: Die Bedeutung der Aufführung von William Shakespeares Drama „Hamlet“. Diese mag auf den ersten Blick als eine Art Fremdkörper bzw. als unbedeutende Zusatzepisode erscheinen, bei kritischer Lektüre offenbart sie aber eine Reihe von Bedeutungen auf unterschiedlicher Ebene. Denn neben einem offensichtlichen Einfluss auf den Romanhelden Wilhelm Meister selbst, wird das Drama auch zum Wendepunkt für seine von der Turmgesellschaft geleitete Ausbildung, sowie zum Heilmittel gegen eine eher versteckte „Melancholieerkrankung“ Wilhelms. Zudem eröffnet der Einbezug von Shakespeares Drama auch eine poetologische Diskussion über die Stellung der aufkommenden Literaturgattung des Romans.

Diese vielschichtige Bedeutung der „Hamlet“-Aufführung gilt es daher im Folgenden größtenteils stringent an der Romanhandlung nachzuvollziehen und in ihren Haupteinflüssen auf Wilhelm, seine Bildung und auf den Roman an sich genauer zu untersuchen, um ihren komplexen Gehalt möglichst übersichtlich und nachvollziehbar darzustellen.

2. Hamlet & Wilhelm

2.1 Wilhelms Identifikation mit der Hamletfigur

Wilhelm Meisters Shakespeare-Rezeption hat zwei klare Eckpunkte, „seine erste Lektüre und die abschließende ‚Hamlet‘-Premiere“[1]. Doch bevor es überhaupt zu jener Hamletinszenierung, dem Wendepunkt des Romans, kommen kann, muss Wilhelm erst einmal mit dem Autor selbst, mit Shakespeare, bekannt werden. Dies wird eingeleitet durch ein Gespräch mit Jarno, der ihn fragt, ob er denn nie „ein Stück von Shakespearen gesehen“[2] habe. Wilhelm entschuldigt sich hier mit seiner Abkehr vom Theater nach dem Liebeskummer um Mariane, zeigt aber auch keinerlei Interesse „solch[] seltsame Ungeheuer näher kennen zu lernen“ (WM 178), was vermuten lässt, dass er sich lieber an die von der Gesellschaft akzeptierten französischen Klassiker (wie z.B. Racine) hält. Interessant ist hierbei allerdings, dass auch Jarno im Zusammenhang mit Shakespeare das Wort ‚seltsam’ gebraucht[3], was die Sonder- aber vor allem auch Außenstellung des englischen Dichters unterstreicht. Daher lautet sein Rat auch, Shakespeare „in der Einsamkeit“ (WM 178) nur für sich selber zu studieren und sich dabei nicht an der Form zu stoßen, sondern sich seinen Gefühlen zu überlassen (vgl. WM 178). Wilhelm scheint durch diese Worte nun doch neugierig geworden zu sein, denn schon bald „lebte und webte er in der shakespearischen Welt, so daß er außer sich nichts kannte noch empfand“ (WM 183). Schon zu diesem frühen Zeitpunkt tritt hier also deutlich Wilhelms ungebrochene, „dilettantische Shakespeare-Fixiertheit“[4] hervor, die ihn alles um sich herum vergessen lässt und „seine ganze Seele“ (WM 190) in Bewegung setzt.

Dank seines „Paten“ Shakespeare lernt er dann auch die Welt des jungen Prinzen Harry kennen, mit dem er sich zuerst nur äußerlich, durch neue Kleidung (vgl. WM 208), identifiziert. Als dann aber im Verlauf des Romans auch das Stück „Hamlet“ – das wiederum von einem jungen Königssohn handelt – erwähnt wird, hat Wilhelm schon unbewusst „die Rolle des Prinzen übernommen“ (WM 214) und den Fehler begangen, das ganze Stück aus dieser heraus zu beurteilen (vgl. WM 214), was als erstes Anzeichen einer zunehmenden inneren Identifikation mit Shakespeares Prinzenfigur interpretiert werden kann. Sein „Shakespeare-Enthusiasmus führt nur noch zu einer losen Identifikation mit dem Dichter und wird bald von der ausschließlichen Identifikation mit Hamlet verdrängt.“[5] Es findet also eine klare Reduktion vom Theater an sich, über das Stück „Hamlet“, auf die einzelne Figur im Drama statt, mit der Wilhelm sogar „zu einer Person zu werden“ (WM 215) scheint, weil er sich komplett in ihre Gedanken und Gefühle hineinzuversetzen versucht. Er „glaubt, daß er so denke, fühle und lebe wie Hamlet, […] und Hamlet so wie er.“[6] Allerdings erkennt Wilhelm von selbst, dass dies der falsche Weg ist, da dabei die „Vorstellung des Ganzen“ (WM 215) verloren geht. Daher versucht er nun den „Sinn des Verfassers zu entwickeln“ (WM 216) und den Charakter Hamlets vor dem Tod seines Vaters zu verstehen, woran man wiederholt die Parallele zu Wilhelms eigenem, realen Leben sehen kann, da dieser ebenfalls im Laufe des Romans seinen Vater verliert.

Man kann also festhalten, dass Wilhelm durch die Lektüre Shakespeares „wieder [ganz] in seinem Elemente“ (WM 243) ist und sich in ihm immer stärker der Wunsch manifestiert, seinen Hamlet mit Hilfe von Serlos professioneller Theatergesellschaft[7] auf die Bühne zu bringen. Doch schon in dem ersten Gespräch beider Männer wird deutlich, dass Wilhelm eine genaue Vorstellung von der Inszenierung hat und somit die Identifizierung mit seiner Theaterrolle immer weiter voran schreitet. Nach seinem Verständnis ist Hamlet ein

zarter, anständiger, liebenswürdiger, gebildeter Mensch, der, einmal König, nur für die Entfaltung des Guten regiert hätte. Durch zwei harte Schläge aber, den Tod seines Vaters und die Heirat seiner Mutter wird er schwer erschüttert und aus dem Gleichgewicht geworfen; doch sein Leiden beginnt erst mit der Aufforderung des Geistes zur Rache, zu einer Tat, der er nicht gewachsen ist. So bleibt er im Verlauf der tragischen Handlung unentschlossen, planlos, wird mehr geschoben als dass er selbst handelt[8]

Wilhelm glaubt mit dieser Charakterisierung die Intention Shakespeares erkannt zu haben und erhöht sich und sein Talent damit selbst, was den Verdacht des „Selbstbetrug[s]“ (WM 208) abermals bestätigt. Zwar sieht Wilhelm schon zu diesem Zeitpunkt Hamlets Motiv des Zögerns (vgl. WM 245/246), doch die Parallele zu seinem eigenen Schlendern und Zweifeln will oder kann er noch nicht erkennen, genauso wenig wie er zu diesem Zeitpunkt „zwischen Schein [in der Theaterwelt] und Sein [im realen Leben] unterscheiden“[9] kann. Stattdessen wird „Hamlet“ vielmehr zu Wilhelms ständigem Begleiter (vgl. WM 253) und es scheint, als könne dieser nicht mehr zurück, sondern müsse den Weg bis zur Hamletinszenierung auf der Bühne zu Ende gehen.

Das fünfte Buch beginnt mit dem Tod von Wilhelms Vater, der ihn „im Innersten“ (WM 283) trifft und – wie schon erwähnt - einen weiteren Identifikationspunkt mit Shakespeares Hamletfigur ermöglicht. So denkt auch Wilhelm relativ schnell wieder an seine eigene Situation und fühlt sich zunehmend beunruhigt, weil „durch äußere Umstände eine große Veränderung seines Zustandes bewirkt wird, ohne daß seine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet ist“ (WM 283). Diese innere Unsicherheit und Verwirrung liefert ihm wiederum einen willkommenen Vorwand, bei der Theatergesellschaft zu bleiben und noch eine zeitlang in seiner Illusion zu leben, denn nur in dieser scheint er wirklich Herr über alles und vor allem über sich selber zu sein. Daher glaubt Wilhelm auch gerne selbst der alleinige Regieführer der Hamletinszenierung zu sein und erklärt unter anderem, den „Hamlet ganz und unzerstückt“ (WM 292) aufführen zu wollen. An Serlos Anweisung, das Stück zu kürzen und so für das Publikum übersichtlicher zu machen, verzweifelt er daher auch fast und droht sogar damit, in diesem Falle seinen Vertrag, „den ich nur im gröbsten Irrtum geschlossen hätte“ (WM 293) zu kündigen, woran man abermals seinen Glauben an Shakespeares Unantastbarkeit erkennen kann. Da aber ein Kompromiss nötig ist, um seinen Traum von der Hamletaufführung nicht „platzen“ zu lassen, findet er letztlich eine Lösung, von der er wiederum glaubt, „dass Shakespear es selbst so würde gemacht haben“ (WM 294). Wilhelm unterscheidet zwischen den inneren und äußeren Verhältnisse der Personen im Stück, wobei erstere sich auf die Handlungen der Hauptpersonen beziehen und existentiell für das Drama sind, während letztere nur Zwischenglieder sind, die dem Helden, wie auch dem ganzen Stück schaden und daher gekürzt oder weggelassen werden können.

Diese subjektive Sicht unterstreicht abermals die totale Fokussierung auf den Helden Hamlet und Wilhelms Hervorhebung von dieser Figur. In Wirklichkeit findet hier also nur noch eine Art Auto-Rezeption statt und nicht mehr die des Autors Shakespeare[10]. Zwar empfindet Wilhelm bei jeder Änderung, „daß das Original nur verdorben werde“ (WM 297), aber seine Identifikation ist scheinbar schon zu weit fortgeschritten, was man an seinen Worten „Wie freue ich mich darauf, ihn [d.i. einen der Monologe Hamlets] zu rezitieren“ (WM 302) und dem darauf folgenden spontanen Aufsagen der Textstelle festmachen kann. Wilhelm ist schon so sehr selbst zum Hamlet geworden, dass für ihn beide Welten zu einer verschmelzen und Hamlets Worte wie seine eigenen erscheinen. Er „schuf eine entsprechend introvertierte Hamletfigur“[11], hinter deren Maske er seine eigenen verletzten Gefühle verbergen und andererseits sich selbst darstellen und ausleben kann. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass „die vorgeschlagene Umgestaltung […] symbolisch für den Weg des jungen Idealisten Wilhelm zum reiferen Meister [ist], der auch die Erfordernisse der Bühne zu verstehen beginnt“[12], womit sich für Wilhelm schon hier die Möglichkeit eines realistischen und tätigen Lebens andeutet, die er im Laufe des Romans nur noch erkennen und ergreifen muss.

2.2 Melancholie als gemeinsamer Charakterzug

Bei Wilhelms intensiver Hamletidentifikation stellt sich allerdings die Frage, warum er gerade diese Figur Shakespeares ausgewählt hat bzw. warum ausgerechnet „Hamlet“ einen so starken Einfluss auf ihn ausüben konnte. Eine durchaus nahe liegende Erklärung ist die des gemeinsamen Charakterzuges der Melancholie, an der Wilhelm schon vor seiner ersten Shakespearelektüre erkrankt zu sein scheint. Denn sein Leiden beginnt bereits nach der schmerzvollen Trennung von Mariane, die ihn so sehr verletzt, dass es in seinem Herzen finster wird, er jeden Trost ablehnt und stattdessen ganz in seiner Trauer aufgeht (vgl. WM 73-78).

Immer wieder und geradezu zwanghaft vertieft er sich in das eigene Leid; pausenlos kontrastiert er das ehemalige Liebesglück mit der darauffolgenden Katastrophe, um so das quälende Elend zu forcieren.[13]

Man kann also schon zu diesem Zeitpunkt von einer Art „Liebesmelancholie [sprechen], die aufgrund der engen Verknüpfung von Eros und Bühnenwelt auch die Theaterleidenschaft mit in den Abgrund reißt.“[14] Denn so wie die Liebe zu Mariane mit Wilhelms Theaterliebe begann, so kehrt er nach dem Verlust seiner Geliebten auch der Bühne vorerst den Rücken zu. Wilhelm zeigt hier also schon erste Anzeichen der Melancholie, die ihn letztlich „zum gesellschaftlichen Einzelgänger“[15] bzw. sogar zum „Gesellschaftsfeind per excellence“[16] machen könnte, sollte er es nicht schaffen, seine Sehnsucht nach und sein Aufgehen im Leid zu überwinden.

In diesem Zusammenhang muss außerdem noch das Bildnis vom kranken Königssohn – das schon allein durch seine Bezeichnung die Parallele zum melancholischen Königssohn Hamlet verdeutlicht – Erwähnung finden, welches Goethe „in den Rang einer zentralen Metapher erhoben [hat], die Wilhelms Entwicklungsgang leitmotivisch kommentiert“[17]. Denn bereits in seiner Kindheit war Wilhelm mit diesem Bild, als Teil der Kunstsammlung seines Großvaters, konfrontiert und vom dargestellten Antiochos, dem „Prototypen des Liebesmelancholikers“[18] fasziniert. Schon an dieser Stelle hier wird also auf Wilhelms Neigung zur Identifikation mit Figuren aus der Kunst hingewiesen, denn er sieht „immer nur sich selbst und seine Neigung in den Kunstwerken“ (WM 69), was sich später in der Hamletinszenierung ungebrochen bestätigt. Nachdem Wilhelms Theaterleidenschaft wieder nach und nach erwacht, gibt Shakespeare ihm nämlich den entscheidenden Anstoß zur Rückkehr auf die Bühne, indem er ihm mit dem Dänenprinzen Hamlet eine Möglichkeit der totalen Identifikation eröffnet. Denn „Melancholie, so darf man resümieren, brütet […] Enthusiasmus und Fanatismus aus“[19], was unter anderem auch Wilhelms bedingungslose Shakespearefaszination erklären kann.

Insbesondere die Auseinandersetzung mit Hamlet, die erst nach und nach von empathischer Identifikation zu kritischer Distanzierung führt, wird ihn noch geraume Zeit im Bannkreis der Melancholie halten.[20]

[...]


[1] Zumbrink, Metamorphosen , S. 197.

[2] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 178. Im Folgenden werden Zitate unter Verwendung der Sigle „WM“ im Text nachgewiesen.

[3] Vgl. Ermann, Goethes Shakespeare-Bild, S. 100.

[4] Zumbrink, Metamorphosen, S. 69.

[5] Ebd., S. 206.

[6] Zumbrink, Metamorphosen, S. 232.

[7] „Ein Theater in solcher Vollkommenheit“ (WM 250).

[8] Lüthi, Das deutsche Hamletbild, S. 12.

[9] Ammerlahn, Klassische Heilung, S. 55.

[10] Vgl. Steiger, Shakespeare-Rezeption, S. 81.

[11] Ermann, Goethes Shakespeare-Bild, S. 149.

[12] Ebd., S. 159.

[13] Valk, Melancholie im Werk Goethes, S. 173.

[14] Valk, Melancholie im Werk Gothes, S. 172/173.

[15] Schings, Melancholie und Aufklärung, S. 45.

[16] Ebd., S. 46.

[17] Valk, Melancholie im Werk Goethes, S. 180.

[18] Ebd., S. 180

[19] Schings, Melancholie und Aufklärung, S. 155.

[20] Valk, Melancholie im Werk Goethes, S. 182.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung der Hamlet-Aufführung in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre"
Untertitel
Der Einfluss auf die Hauptfigur, auf deren Bildung und auf die zugrunde liegende Definition von Roman und Drama
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Veranstaltung
Vom Theater zur Wissenschaft. Die Genese von Goethes Wilhelm Meister Romanen
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V85855
ISBN (eBook)
9783638018661
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bedeutung, Hamlet-Aufführung, Goethes, Wilhelm, Meisters, Lehrjahre, Theater, Wissenschaft, Genese, Goethes, Wilhelm, Meister, Romanen
Arbeit zitieren
Janine Gruschwitz (Autor:in), 2004, Die Bedeutung der Hamlet-Aufführung in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85855

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