Durch die kulturelle Brille gesehen - Eine sozialwissenschaftliche Reflexion zur Entstehung eines Fremdheitstypus oder Folgen einer Konversion zu einer religiösen Minderheit


Magisterarbeit, 2007

99 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Die Situation der Zeugen Jehovas in Deutschland Forschungsbeispiele aus der Region Südostbayern
2.1. Methodenreflexion, Transkription, Darstellung und Arbeitsthesen

3. Die Risikogesellschaft und der Modernisierungsprozess
3.1. Definition und Kritik des Individualisierungsbegriffs
3.2. Die fabrizierte Unsicherheit
3.3. Freisetzung fester Gewissheiten und normativer Grundsätze
3.4. Zwänge, Bindungen, Kontrollen
3.5. Psychische, soziale und materielle Ressourcen
3.6. Schutz vor Identitäts- und Sinnkrisen
3.6.1. Das gesicherte Identitätsgehäuse der kulturellen Identität

4. Kultur, Kulturzentrismus und Fremdenfeindlichkeit
4.1. Kulturstandards, Werte und kulturelle Vielfalt
4.1.1. Kultur repräsentieren oder die Konstruktion von Kultur

5. Bedingungen einer kulturellen Identität: Wissensbestände und kulturelle Muster. Fallbeispiele aus der Region Südostbayern
5.1. Die „alltägliche Lebenswelt“ von Alfred Schütz

6. Theoretische Grundlegungen kulturzentristischen Verhaltens oder wie generiert sich Fremdenfeindlichkeit
6.1. Zur Funktion der Fremdheitskonstruktion
6.2. Ursachen und Folgen von Fremdenfeindlichkeit
6.2.1. Das Konzept des sozialen Vorurteils und der Stereotypisierung
6.2.1.1. Systematisierung und Strukturierung der Umwelt
6.2.1.1.1. Die Reizklassifikationstheorie und das Minimale Gruppen-Paradigma
6.2.2. Die Theorie der sozialen Identität (SIT)
6.2.2.1. Die Ordnung der sozialen Umwelt
6.2.2.2. Das Bedürfnis nach einem Platz im sozialen System
6.2.2.3. Der instrumentelle Charakter des sozialen Vergleichs
6.2.2.4. Streben nach einer positiven Identität 6.3. Der Versuch eines Resümees aus systemtheoretischer Perspektive 75 und eine erweiterte Sichtweise 6.3.1. Der Terror des „Fremden“ als erweiterte Perspektive

7. Schluss

8. Literatur und Quellen

8.1. Literaturverzeichnis

8.2. Quellen

1. Einleitung

Ist es ein Vorurteil, wie Fritzsche (1990) zu fragen, ob wir nicht ohne Vorurteile auskommen können? In dieser Arbeit soll, von den gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren ausgehend, die Konstitution des Fremden, als unvermeidliches Phänomen diskutiert werden. Es wird der Fragestellung nachgegangen, inwieweit die kulturellen Bedingungen, die als Orientierungssysteme und normative Setzung der eigenen Gruppe gelten, eine „ethnozentrische“ Wahrnehmung des Fremden präferieren. In der vorliegenden Arbeit, werden im Fokus der Betrachtung, nicht sogenannte „ethnische Gruppen“ stehen, die sich Elwert (1989, S. 446 ff.) folgend, nur schwer durch explizite Zuschreibungskriterien zuordnen lassen, sondern religiöse Gruppierungen, die sich selbst, durch das konstitutive Merkmal der Religiösität, kulturelle Homogenität zuschreiben würden. Am Beispiel der religiösen Konversion, die in der nachfolgenden Arbeit als kultureller Wandel grundlegender Art verstanden werden soll, lässt sich zeigen, wie sich entlang des sozialen Vorurteils und der Stereotypenbildung, Fremdenfeindlichkeit generiert. In Anlehnung an Stenger (1998, S. 199 ff.), kann die religiöse Konversion als spezieller Fall der kulturellen Konversion gesehen werden. Durch den Vorteil der thematischen Begrenztheit des Sinnbereichs auf die religiöse Konversion, lässt sich der Diskurs zur Entstehung von Fremdheit exemplarisch fokussieren.

Die Bedingungen für Fremdenfeindlichkeit, die in einer kulturzentristischen Haltung verortet werden kann, resultiert aus der Annahme, dass kulturelle Werte ein typisches Orientierungssystem für Gesellschaften, Gruppen und Personen sind. Aus diesem Grund wird nachfolgend der Begriff Kulturzentrismus bemüht, um den thematischen Fokus auf das verstärkende „Schibboleth“ (Elias und Scotson 1990, S. 26) der Werte, insbesondere der kulturell-religiösen Wertorientierung zu richten. Ob Sozio-, Kultur-, oder Ethnozentrismus, kennzeichnend ist stets, dass die Eigengruppe positiv und die andere/fremde Gruppe, durch das Prinzip des sozialen Vorurteils, überzogen negativ bewertet wird.

Eine der Eckpunkte dieser Arbeit sind somit die religiös-kulturellen Werte, die als ein verstärkendes „Schibboleth“, katalysierend zur Generierung von Integrations- / Segregationsmechanismen wirken. Entscheidender Moment des nachfolgend zur Diskussion stehenden, separierenden und diffamierenden Verhaltens der Akteure, soll daher die Konfrontation mit anderen religiös-kulturellen Wertorientierungen sein. Es wird theoretisch begründet, dass in eben genannten „Konfliktsituationen“ die Orientierungen an den habitualisierten, kulturellen Standards handlungsrelevant sind und einen sozio-, bzw. kulturzentrischen Reflex folgen.

Am Beispiel des Phänomens der religiösen Konversion lässt sich verdeutlichen, wie durch eine identitätsstabilisierende und damit einhergehende kulturzentristische Perspektive, Fremdheitskonstruktionen erzeugt werden. Die religiöse Konversion, die als ein Prozess verstanden wird, durch die eine Person eine neue religiöse Identität annimmt, verdeutlicht die Entstehung eines Fremdheitstypus, weil er die jeweilige Begrenztheit der früheren kulturellen und zivilisatorischen Muster salient werden lässt. Mit der Bezugnahme auf den Prozess der Konversion kann in der hier vorgelegten Analyse somit nicht die Form von Fremdheit herangezogen werden, die irgendwie „von außen“ hereinkommt oder „objektiv“ in Erscheinung tritt. Die kulturzentristische Konstruktion des Fremden wird eklatant, wenn Fremdheit sozusagen unmittelbar und mitten aus dem Schoß des Vertrauten und Altbekannten hervorbricht.

Durch den hier beispielhaft skizzierten Religionswechsel zu einer religiösen Minderheit, wie die der Zeugen Jehovas, lässt sich zeigen, wie Menschen die kategoriale Wahrnehmung, entlang einer konfessionellen Grenze, nutzen, um über den Prozess der sozialen Vorurteile und Stereotypenbildungen, Konvertiten mit Fremdheitszuschreibungen zu stigmatisieren. Damit stellt sich auch die Frage, ob unter dem Vorzeichen ambivalent wahrgenommener Interaktionssituationen, wie sie durch die Konversion hervorgerufen werden können, die auch immer implizit eine In-Frage-Stellung bisheriger religiös-kultureller Wertorientierungen andeuten, interkulturelle Verständigung in einer voranschreitenden Modernisierung potentiell möglich ist?

Es scheint gerade so zu sein, als würden in der „Risikogesellschaft“ ethnisch-kulturelle und religiöse Kategorien, wie vertraute Traditionen und Lebensgewohnheiten, zunehmend an Bedeutung gewinnen und gegen Verunsicherungen, sowie Unübersichtlichkeiten stabilisierend wirken (Heitmeyer 1996, S. 32). Daraus soll die Argumentation abgeleitet werden, dass gerade durch die Verunsicherungen einer Risikogesellschaft, die kommunikative Begegnung mit Konvertiten zu einer Ambivalenz führt, die, so die Annahme dieser Arbeit, mit einem kulturzentristischen Reflex gekontert wird, der einen integrativen, sowie stabilisierenden Charakter hat. Deshalb soll im zweiten Teil dieser Arbeit auf die gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren, den Lebensverhältnissen mit ihren Gefährdungen und gesellschaftlichen Problemen hingewiesen werden, wie sie insbesondere von der Individualisierungsthese (Beck 1986) diskutiert wird. Modernisierungsprozesse müssen als ein wesentlicher, dynamisierender Faktor ethnischer Schichtungen und Gruppenbildungen gesehen werden. Diesbezüglich können auch die Prozesse der Globalisierung, Internationalisierung und Universalisierung erörtert werden, die eine neue „Integrations-Desintegrationsdynamik“ (Heitmeyer 1996, S. 32) favorisieren, in der Heitmeyer folgend, ethnisch-kulturelle und religiöse Kategorien nicht nur zunehmend an Bedeutung gewinnen, sondern zugleich auch den Zweck als Stabilisatoren gegen Verunsicherungen, sowie Unübersichtlichkeiten erfüllen. Esser (1988, S. 241) betont, dass Modernisierungsprozesse nicht zur Einebnung ethnischer Unterschiede führen, sondern vielmehr eine Differenzierung überbetont wird und Beck (1986, S. 159) lässt erkennen, „wie im Zuge von Individualisierungsprozessen Konfliktlinien und -themen eine eigentümliche Pluralisierung erfahren, die entlang „zugewiesener“ Merkmale entstehen und die nach wie vor mit Benachteiligungen verbunden sind: Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, körperliche Behinderungen“. Der gesellschaftstheoretische Kontext, in der diese Arbeit gestellt ist, lässt die Annahme zu, dass eine unzulängliche, sozial-strukturelle Verbundenheit zur Wahrnehmung von Gruppendifferenzen tendiert, die mit einer sozio-/kulturzentrischen Haltung gegenüber fremden Gruppen einhergeht. Die Delegitimierung von Normen, Gleichgültigkeit und Beliebigkeit des Handelns präferiert binäre Muster (Freund/Feind, Eigene/Fremde), die eine orientierende- sowie handlungsleitende Funktion übernehmen. Die Fallbeispiele in der vorliegenden Studie erlauben die Annahme, dass der Konvertit neue Verunsicherungen in seiner Umwelt erzeugt, die den Prozess der Herstellung von binären Mustern verstärkt. Mit Markefka (1990, S. 8) lässt sich festhalten: „Der Konflikt wird geradezu gesucht, um die Verbundenheit innerhalb der Eigengruppe zu verstärken“.

Zumindest lassen sich die Diskriminierungserfahrungen der Befragten kaum durch scheinbare „Objektivitäten“, wie Hautfarbe, Geschlecht oder einer „national-ethnischen Gruppe“ erklären. Die Konstruktion von Fremdheit wird vielmehr durch das „Etikett“ oder „label“ „Zeuge Jehovas“ bestimmt. Hierzu erweisen sich medienpolitische Mobilmachungen als äußerst nützlich und haben somit auch einen beschleunigenden Effekt, der zu einem „Klima der Intoleranz“ gegenüber religiösen Minderheiten führt. In einem „Klima der Intoleranz“, erlangt die soziale Konstruktion des „Fremden“ eine „praktische integrative Funktion“. Es scheint somit so zu sein, dass durch die Wahrnehmungsformen des „Anderen“, des „Unbekannten“ und „Unbestimmten“, vertraute und eigentlich bekannte Menschen aus der „Nachbarschaft“, als Konsequenz ihrer Konversion, zu undifferenzierten Repräsentanten einer negativ stigmatisierten Minderheit homogenisiert werden.

Die Antwort auf die Frage, ob interkulturelle Kommunikation, insbesondere der interreligiöse Dialog möglich und gewollt ist, erhält hier einen pessimistischen Grundton.

Die Entstehung des Fremden, auf dem eigenen Boden der vertrauten, Sinn und Orientierung stiftenden kulturellen Wertorientierung, scheint das Fundament eines als gesichert geglaubten „Identitätsgehäuses“ (Grymer 1992, S. 181) zu erschüttern. „Die Klarheit und Sicherheit des Ortes, den man für sich beanspruchen kann, die Festigkeit des Selbstgefühls und des Selbstwertgefühls, das man als Zugehöriger zu einer Kultur und Gesellschaft hat“ (ebd.), wird unverblümt durch einen unerwarteten Fremdheitstypus in Frage gestellt, der nicht mehr über die verlässliche Rolle des Fremden hinwegtröstet, dessen Herkunft bekannt zu sein scheint.

Fremdheit wird somit in der vorliegenden Arbeit als ein Beziehungsmodus verstanden, der aus einer kommunikativen Verschränkung resultiert, die darauf gerichtet ist oder sich darauf richtet, eigene kulturelle Wertorientierungen zu stabilisieren und die durch den Fremden hervorgerufenen „Irritationen“ zu minimieren. In diesem Sinne kann die Fremdheitsbeziehung, als „eine die eigene Identität herausfordernde Erfahrung“ (Schäffter 1991, S. 12) verstanden werden, die von einer entindividualisierenden Tendenz in der sozialen Wahrnehmung gekennzeichnet ist.

Mit den Methoden der qualitativen Sozialforschung, wurde an einigen Fallbeispielen aus der Region Südostbayern herausgearbeitet, wie Menschen im Zuge ihrer Konversion Diskriminierungen und Diffamierungen erlebten oder mit feindseligen Mentalitäten konfrontierten. Die Diskriminierungs- und Diffamierungserfahrungen, der in dieser Studie befragten Personen, machen in Zeiten einer „Risikogesellschaft“, die zentrale Rolle religiös-kultureller Wertorientierungen deutlich.

Zunächst soll die Situation der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland skizziert werden, an der sich eine kurze Methodenreflexion zu den erhobenen Fallbeispielen anschließt. An Markefkas (1995, S. 25 ff.) kategorialer Zuordnung von sozialen und ethnischen Minderheiten orientierend, kann dargestellt werden, wie sich am Beispiel der religiösen Minderheit der Zeugen Jehovas, das theoretische Konzept des sozialen Vorurteils als Intergruppenphänomen rekonstruieren lässt.

2. Die Situation der Zeugen Jehovas in Deutschland; Forschungsbeispiele aus der Region Südostbayern

Soziale Kategorisierungen finden im gesellschaftlichen Zusammenleben ihre Entsprechung in Minoritäten oder Minderheiten, die als soziale Gruppen innerhalb der Gesamtgesellschaft differenziert werden. Diese Unterschiedlichkeit entspricht nicht einer „Natürlichkeit“ an sich, sondern vielmehr einer Unterscheidung zwischen Individuen, die „bewusst gemacht, gekannt und anerkannt“ (Markefka 1995, S. 22) und somit auch sozial konstruiert wird. Hierzu führt Markefka aus (1995, S.31):

„Minoritäten werden also von der Mehrheitsgruppe durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet und damit unterschieden, durch Merkmale, über deren Bedeutung in der Gesellschaft oft ein solcher Konsensus besteht, dass sich die Minoritäten ihrerseits letztlich mit diesen Merkmalen identifizieren und von der ihnen fremden Gruppe „Gesellschaft“ abheben.“

Diesbezüglich findet sich bei Markefka (1995, S. 25 ff.) eine kategoriale Übersicht über soziale und ethnische Minderheiten, die hier aufgegriffen werden soll, um am Beispiel der religiösen Minderheit der Zeugen Jehovas zu skizzieren, wie Menschen die kategoriale Wahrnehmung entlang einer konfessionellen Grenze nutzen, um einen „neuen“ Fremdheitstypus zu konstruieren. Der Begriff der Minorität definiert sich in der hier zu diskutierenden Thematik über den Mechanismus der Diskriminierung.

Im Rahmen der These dieser Arbeit, lässt sich am Konzept von „moral panics“ exemplifizieren, inwieweit gesellschaftliche Bedingungen der Ambivalenz, den Prozess der Stereotypisierung, der Gruppendifferenzierung und damit auch der Vorurteile begünstigen. „Moral panics“, die häufig in Verbindung mit „Sekten“ und „Kulte“ auftreten, werden von Introvigne (1999, S. 79) als „gesellschaftlich konstruierte soziale Probleme“ definiert, die in keiner Relation zu einer tatsächlichen Gefahr stehen. Dieser „ethnozentrische Reflex“ (Lipiansky 2006, S. 120) tritt zu Tage, weil die Verhaltensweise der Anderen, wie die der Konvertiten, Werte verletzt, die tief in der Identität verankert sind. Insbesondere die religiös-kulturellen Deutungen und Orientierungen stellen neben der Ethnizität, einen wesentlichen Wert dar, der Gruppenzugehörigkeit generiert (Nicklas 2006, S. 113). Daraus resultierend wird in dieser Arbeit diskutiert werden, dass die Perspektive der Vorurteilsforschung sich nicht nur auf eine individualistische Sichtweise reduzieren lässt, sondern auch ein Intergruppenverhalten ist, weil menschliches Handeln stets in einem bestimmten Kontext Deutung erfährt.

Da nachfolgend nur eine kurze Skizzierung der Situation der religiösen Gemeinschaft der Zeugen Jehovas erfolgt, die dem Rahmen dieser Arbeit als angemessen erscheint, wird daher auf Autoren verwiesen, die eine detaillierte Situationsbeschreibung aus historischer und gegenwärtiger Perspektive in Deutschland vorgelegt haben. Im Wesentlichen sind die zitierten Autoren den beiden Bänden: „Die neuen Inquisitoren. Religionsfreiheit und Glaubensneid.“ entnommen, die von Besier und Scheuch (1999) herausgegeben wurden. So gibt beispielsweise Derek Davis (1999, S. 453 ff.) in seinem Beitrag eine historische Perspektive auf die deutsche Tradition im Kirchen-Staat-Verhältnis und arbeitet heraus, inwieweit die Unterdrückung religiöser Minderheiten in Deutschland, in einzigartiger Weise immer wiederkehrenden Zyklen unterliegt. Als „in einem neuen Zyklus weit fortgeschritten“ sieht er die derzeitige Position Deutschlands, vor allen Dingen auch deshalb, da u.a. durch die Bildung einer parlamentarischen Enquete-Kommission zur Untersuchung von „Sekten und Psychogruppen“, Minderheiten identifiziert und klassifiziert werden, die sich im Sinne von „ethnischen Hierarchien“ (Hagendoorn, 1993, S. 26 ff.) in ihre Rangreihe verweisen lassen. Derek Davis sieht in den destabilisierenden Einflüssen, wie der deutschen Wiedervereinigung, oder auch subtileren Auslösern, wesentliche Katalysatoren der gegenwärtigen Bedrängung religiöser Gruppen. Es wurde bereits oben angedeutet, wie durch „subtile Auslöser“, hier in Form von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen gedeutet, zur Ausgrenzung von als „fremd“ erlebten Personengruppen führen können. Makrostrukturelle Veränderungsprozesse, gepaart mit politischer „Mobilmachung“, können Derek folgend, zu einem „Klima der Intoleranz“ gegenüber religiösen Minderheiten führen. Auch Massimo Introvigne (1999, S. 78 ff.) sieht einen Zusammenhang zwischen „größeren postmodernen Ängsten“ und „moral panics“ gegenüber religiösen Minderheiten. Introvigne schlussfolgert, dass religiöse Minderheiten somit zu „sozialen Problemen, anstatt zu sozial Handelnden und zur Zielscheibe von „moral panics“ werden. Besier und Scheuch (1999, S. 10 ff.) weisen auf einen Stigmatisierungsprozess hin, der nicht nur durch die Gründung einer parlamentarischen Enquete-Kommission zur Untersuchung von „Sekten und Psychogruppen“ vollzogen wird, sondern auch durch kirchliche, bzw. staatliche Weltanschauungsbeauftragte und sogenannten „Selbsthilfeorganisationen“. In einer Presseerklärung vom 28. Mai 1998: „Beteiligt sich der deutsche Staat an der Diffamierung und Diskriminierung von religiösen und weltanschaulichen Minderheiten?“ (Apel u.a. 1999, S. 26 ff.), wurde u.a. die Befangenheit einiger Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages kritisiert, die als „Agenten der konkurrierenden Religionsgesellschaften“ auftraten. Es wurde ferner argumentiert, dass durch diesen Einfluss der Großkirchen, unter dem Deckmantel eines „weltanschaulich neutralen Staates“, vielmehr die Hierarchisierung von Religionen zementiert werden konnte. Besier und Scheuch (ebd.) folgern, dass „allein die Erwähnung in einer Bundestagsdrucksache bzw. in einem Bundestagsbuch sich als stigmatisierend auswirken wird“, da darüber hinaus, die untersuchten Gruppen der Enquete-Kommission stets in Verbindung mit Scientology erwähnt werden, „die von den Verfassungsschutzämtern beobachtet wird, obwohl nach Auffassung des Europaparlamentes die erhobenen Vorwürfe als bisher nicht „wirklich substantiiert“ eingeschätzt wurden“. Den Autoren folgend, konnte mit einer TED-Umfrage vom Dezember 1997 dokumentiert werden, inwieweit sich die Stigmatisierungen durch staatliche und kirchliche Initiativen, als Feindbilder in der Bevölkerung verfestigt haben: 80 Prozent der Befragten, sprachen sich für ein Verbot der „Sekten“ aus.

Wie sich „moral panics“ in Interaktionssituationen manifestieren, wird in den, für diese Arbeit exemplarisch erhobenen Fallbeispielen aus der Region Südostbayern deutlich. Die Haltung von Mitbürgern, Bekannten oder Angehörigen auf den Religionswechsel einer vertrauten Person, zu einer stigmatisierten, religiösen Minderheit, wie die der Zeugen Jehovas, illustriert, wie Menschen auf Ambivalenz und Verunsicherung, mit diskriminierenden und diffamierenden Verhaltensweisen reagieren können.

Es ist die Annahme dieser Arbeit, dass die Interaktion mit Konvertiten, als theoretisches und exemplarisches Beispiel für die Begegnung mit dem „Fremden“, zu einer Verunsicherung führt, die tendenziell einem kulturzentristischen Reflex folgt. Der integrative, sowie stabilisierende Charakter einer kulturzentristischen Reaktion, verleiht dem Individuum das Gefühl von Stabilität. Der Selbstverständlichkeitscharakter des eigenen, religiös-kulturell vertrauten Weltbildes, gewinnt in den Zeiten der Unübersichtlichkeiten einer „Risikogesellschaft“ zunehmend an Bedeutung.

2.1. Methodenreflexion, Transkription, Darstellung und Arbeitsthesen

Die hier vorgelegten Fallbeispiele wurden nicht bei der "Mehrheit" durchgeführt, um mögliche Einstellungen gegenüber einer religiösen Minderheit zu erheben, sondern bei der "Minderheit" angesetzt. Es wurden Interviews mit Personen durchgeführt, die den Weg der Konversion gegangen sind und dabei Fremdheitszuschreibungen, sowie Ausgrenzungen erlebt haben. Die in dieser Arbeit explizierten Fallbeispiele wurden in der unmittelbaren Nachbarschaft des Autors durchgeführt. Insbesondere eine Person war dem Autor durch nachbarschaftliche Kontakte näher bekannt, so dass sich der Zugang zu einem Interview als unproblematisch herausstellte. Die weiteren Zugänge zu den Interviews konnten durch „Empfehlungen“ der näher vertrauten Nachbarin zügig ermöglicht werden. Insgesamt wurden die Gesprächssituationen vom Autor als angenehm und aufgeschlossen empfunden.

Um die subjektive Deutung sozialer Wirklichkeiten zu rekonstruieren, lehnte sich der Autor an qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren an. Die exemplarisch erlebten Fremdheitszuschreibungen wurden in Anlehnung an das problemzentrierte, teilstrukturierte Interview von Witzel (1982) erhoben. Die problemzentrierte Erhebungsmethode stellte für diese Arbeit eine passable Methode dar, um Beschreibungen „alltäglicher“ Erlebnisse von Konvertiten zu produzieren. Sie können als anregendes Begleitwerk für weitere Forschungen gewertet werden. Die erhobenen Fallbeispiele konnten schließlich in anschlussfähige, theoretische Konstrukte integriert werden, um den Versuch einer sozialpsychologischen Zentralperspektive auf das gestellte Thema zu wagen.

Mayring (2002, S. 70) leitet die Anwendungsgebiete des problemzentrierten Interviews u.a. aus dem Vorzug ab:

„Es eignet sich hervorragend für eine theoriegeleitete Forschung, da es keinen rein explorativen Charakter hat, sondern die Aspekte der vorrangigen Problemanalyse in das Interview Eingang finden. Überall dort also, wo schon einiges über den Gegenstand bekannt ist, überall dort, wo dezidierte, spezifischere Fragestellungen im Vordergrund stehen, bietet sich diese Methode an.“

Bei der hier gewählten Interviewform gilt, wie beim narrativen Interview, dass das Erzählprinzip zur Generierung subjektiver Sichtweisen im Vordergrund steht, um die Bedeutungsstrukturen der sozialen Wirklichkeit dem Befragten allein zu überlassen (Lamnek 1989, S. 74). Mayring (2002, S. 67) folgend, können mit dem problemzentrierten Interview „alle Formen der offenen, halbstrukturierten Befragung zusammengefasst werden.“ Witzel (2000) kennzeichnet drei Prinzipien des problemzentrierten Interviews, die bereits angedeutet wurden:

1. Das Prinzip der Problemzentrierung betont die Orientierung an einer relevanten gesellschaftlichen Problemstellung, deren wesentlichen objektiven Aspekte bereits vorab erarbeitet wurden. Objektive Rahmenbedingungen der untersuchten Orientierungen und Handlungen werden genutzt, um die Explikationen verstehend nachzuvollziehen.
2. Mit der Gegenstandsorientierung ist gemeint, dass sich die Methode am Gegenstand orientiert, entwickelt und möglicherweise modifiziert.
3. Die Prozessorientierung bezieht sich auf die erkenntnisbezogene Prozesshaftigkeit der gesamten Erhebungsphase und den impliziten Vorinterpretationen, die einer ständigen Reflexion unterzogen werden sollen.

Die Aussagen der Interviewten fokussieren somit im Wesentlichen zwei Aspekte: Erstens können die subjektiven Aussagen aus einem bestimmten Lebensbereich thematisiert werden und zweitens, lassen sich in den subjektiven Deutungen, kollektive Verhaltensmuster innerhalb einer Gesellschaft identifizieren.

Die für die vorliegende Arbeit durchgeführten Interviews sollten den Befragten möglichst viel Freiraum lassen, um dem Charakter eines offenen Gespräches möglichst nahe zu kommen. Es wurde jedoch während den Interviews immer wieder die vordefinierte Problemstellung zentriert, die der Interviewer vorab thematisch einführte und die er immer wieder in den Gesprächen fokussierte. Die Problemstellung wurde vom Interviewer also bereits vorher analysiert, somit sind bestimmte Aspekte erarbeitet worden, die sich in dem hier vorliegenden Interviewleitfaden widerspiegeln und die jeweiligen Gesprächsverläufe strukturierten.

Da in den erhobenen Fallbeispielen die inhaltlich-thematische Ebene im Vordergrund steht, erfolgte bei der Transkription eine Übertragung in normales Schriftdeutsch. Das bedeutete in den vorliegenden Fällen, dass dialektische Elemente bereinigt und der Sprachstil, der besseren Lesbarkeit wegen, geglättet wurde. Darüber hinaus wurde auf eine kommentierte Transkription verzichtet (Mayring 2002, S. 94), da die zusätzlichen Informationen bzw. die äußere Darstellung der Daten für die inhaltlichen Äußerungen und dem vordergründig theoretischen Schwerpunkt der Arbeit als nicht essentiell erachtet wurden. Eine Ausnahme bilden die Sprachterminologien der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, die in Anlehnung an Schmidt (2003, S. 164), „spezifische Bedeutungsgehalte“ hervorgebracht haben und deshalb in den Transkriptionen unverändert übernommen wurden. Ausdrücke wie „Gesellschaft“, „Speise“, „Wahrheit“, oder „Dienst“ werden mit dem Vermerk: „ZJ-umgsprl. = Zeuge Jehovas-umgangssprachlich“ versehen und kurz erläutert. Die verwendete Transkriptionsregel: „(…)“ signalisiert Auslassungen oder abschweifende Exkurse der Interviewten, deren Inhalte weniger Bedeutung für den Diskurs dieser Arbeit beigemessen wurden. Um eine größtmögliche Anonymität der Befragten sicherzustellen wurden einzelne Wörter oder Eigennamen ausgelassen, ferner wurden die Eigennamen der Interviewten, sowie Städte- und Dorfnamen anonymisiert.

Der ausgearbeitete Interviewleitfaden, der sich auf die bereits eruierten Kenntnisse des Problembereichs stützt und für das problemzentrierte Interview als „Resultat einer wissenschaftlichen Erarbeitung“ (Schmidt-Grunert 2004, S. 43) gilt, diente als Orientierungsrahmen für die durchzuführenden Interviews. Dabei musste die Gefahr einer „Leitfadenbürokratie“ (Hopf 1978, S. 100 ff) immer kritisch mitbedacht werden, wobei der Leitfaden die Möglichkeit bietet, einzelne Themenaspekte auszudifferenzieren. Im Interviewleitfaden wurden folgende, für den Themenschwerpunkt dieser Arbeit als markant erachtete Aspekte aufgenommen:

- Die erste und spontane Reaktion von Freunden, Bekannten, Angehörigen, aufgrund des Konversionswunsches zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas.
- Annahme darüber, an welchen „Äußerlichkeiten“ oder Verhaltensänderungen die religiöse Neuorientierung für das soziale Umfeld zu erkennen war.
- Problembeschreibungen bzgl. des beruflichen Umfeldes.
- Problembeschreibungen bzgl. des sozialen Umfeldes: Dorfgemeinschaft, Nachbarschaft, Familie oder Freunde.

Das im Rahmen dieser Arbeit angenommene „Problem“, dass sich aus dem Prozess der Konversion zu einer religiösen Minderheit ergibt, veranschaulicht exemplarisch, wie Menschen kategoriale Wahrnehmungsstrukturen nutzen, um über das soziale Vorurteil Diskriminierungen, sowie Diffamierungen zu erzeugen. Dabei wird eine wesentliche Funktion des sozialen Vorurteils deutlich, die sich in den Arbeitsthesen und den nachfolgenden theoretischen Konstrukten widerspiegelt.

Mit dem problemzentrierten Interview werden somit einerseits „allgemein gesellschaftliche Verhaltensmuster“ (Schmidt-Grunert 2004, S. 41) gesichtet und andererseits subjektive Plausibilitätsstrukturen generiert.

In Anlehnung an Berger und Luckmann (2007, S. 169 ff.) lässt sich bezüglich der Konversionserlebnisse jedoch kritisch anmerken, dass durch die notwendige „Absonderung von Mitbewohnern der Welt, die er (der Konvertit) hinter sich gelassen hat“ und den damit einhergehenden Plausibilitätsstrukturen, die alte Wirklichkeit, ihre Gemeinschaft, sowie ihre signifikanten Anderen, im Rahmen des „Legitimationsapparates“ neu dargestellt werden müssen. Die Autoren folgern, dass durch die religiöse Konversion, eine radikale Neuinterpretation vergangener Ereignisse für die subjektive Biographie nötig ist. Mit den dargestellten Fallbeispielen muss somit stets die interdependente Binnengruppen-Homogenisierung mitbedacht werden. Sie ergibt sich aus dem sozialen Kategorisierungsprozess der „Mayoritätenperspektive“ und der stereotypisierten Selbstwahrnehmung des Konvertiten, die sich aus der neuen Ingroup-Zugehörigkeit definiert. Somit unterliegt auch die erzählte Perspektive des Konvertiten einer sozialen Positionierung, die sich in der Interpretation der Ereignisse durch die noch zu erläuterten Prozesse der „Überinklusivität“ und „Überexklusivität“ zu stabilisieren versucht.

Zusammenfassend sollen nun die Arbeitsthesen für die vorliegende, theoriegeleitete und mit exemplarisch erhobenen Fallbeispielen bestückte Arbeit, wie folgt dargestellt werden:

Die Vertrautheit eigener kultureller Muster und Orientierungssysteme, die das Gefühl der Sicherheit und des Handlungspotentials einer modernen Gesellschaft erhöhen, lassen sich durch die Konfrontation mit „fremden Lebenswelten“ dadurch beibehalten, dass die Unvertrautheit des in Erscheinung tretenden Fremden, der potentiell das eigene kulturelle Weltbild in Frage zu stellen vermag, eine kulturzentristische Reaktion erfährt. Kulturzentrismus dient in der interkulturellen Kommunikation als Stabilisator, der die Verteidigung und Stärkung einer verunsicherten oder bedrohten Identität gestattet und auf einer soziozentrischen Wahrnehmung des Fremden basiert. Die religiöse Konversion, als Beispiel für das Entstehen von Fremdheit, in der unmittelbaren Nähe des eigenen vertrauten Bodens und Sinn stiftenden Alltagswissens, wird als Provokation der eigenen kulturellen Wertorientierung empfunden. Die als bedroht wahrgenommene, kulturelle Wertorientierung, lässt sich durch die Konstruktion einer positiven sozialen Identität stabilisieren, die eine intern bindende, sowie extern abstoßende Komponente enthält und auf der Grundlage des sozialen Vorurteils basiert. Die Markierung von Differenzen zu anderen, fremdartig erscheinenden Gruppen und die Betonung der Einmaligkeit und Eigenwertigkeit der eigenen Gruppe, werden darüber hinaus durch Modernisierungsprozesse, die zu einer erhöhten Verunsicherung führen, katalysiert.

Zunächst werden jedoch theoretische Bezüge aus der Soziologie, gesellschaftstheoretische Bedingungen artikulieren, innerhalb dessen sich Fremdheitskonstruktionen potentiell ermöglichen. Anschließend folgt ein allgemeiner Diskurs zu den Themen „Kultur und Kulturzentrismus“, um die bereits angedeutete kulturzentristische Konstruktion, des hier diskutierten Fremdheitstypus, weiter auszuformulieren. Diese Vorannahmen sollen sich dann an den exemplarisch erhobenen Fallbeispielen verdichten, wobei der in dieser Arbeit skizzierte Fremdheitstypus, aus einer kulturzentristischen und damit einer genuin sozialpsychologischen Betrachtungsweise erörtert wird. Hier folgt der theoretische Diskurs im Wesentlichen den Konzepten der Stereotype, als kognitive Komponente des sozialen Vorurteils, sowie theoretischen Annahmen zur sozialen Kategorisierung, sozialer Identität und sozialen Vergleichsprozessen, die der Theorie der sozialen Identität (SIT) von Tajfel (1982) zugeordnet wird. Strukturmerkmale in der Wahrnehmung des Fremden, werden auf der Grundlage der „SIT“ als sozial geteilte Konstruktionen gewertet, die neben einem integrativen Selbstzweck, der die Ableitung einer positiven sozialen Identität ermöglicht, ebenso mit einer sozialen Abgrenzung/Abwertung einhergeht. Unter der Dominanz der Interaktionsbeziehungen, die insbesondere durch den Intergruppenansatz von Tajfel thematisiert wird, tritt die einzelne Person als ein gesellschaftlich handelndes Subjekt in Erscheinung, die im Rahmen einer Gruppenmitgliedschaft agiert. Durch den Rückbezug auf das gesellschaftlich agierende Subjekt, wird die Gewichtung auf den weiter unten zu diskutierenden, kulturellen „Überbau“ gelenkt, der sich insbesondere in einer religiösen Wertorientierung zu manifestieren scheint.

3. Die Risikogesellschaft und der Modernisierungsprozess

Für Oesterreich (1993, 1996) ist die Entstehung einer autoritären Persönlichkeit charakteristisch für Gesellschaften mit großen individuellen Freiräumen, die sich durch hohe Komplexität und Anforderungen auszeichnet, die für den Einzelnen schwer überschaubar ist und mit vielfältigen konfliktreichen Entscheidungsprozessen konfrontiert. Oesterreich diskutiert die autoritäre Persönlichkeit als eine erlernte Bereitschaft, die in Krisensituationen mit einer Flucht in die Sicherheit reagiert. Dabei argumentiert er in Anlehnung an die Theorie der „closed-mindedness“ von Rokeach, der Dogmatismus als schützende Denkmuster beschreibt, als Orientierung an Autoritäten, mit der entsprechende Deutungsmuster der sozialen Realität und Wertsysteme übernommen werden. Im Zuge des Identifikationsprozesses werden Normen, Werte und Weltbilder der Schutz gewährenden Instanzen angeeignet, so dass sich die „autoritäre Persönlichkeit“ im Rahmen der Kognitions- und Deutungsmuster ihrer Autoritäten sicher fühlt. Jürgen Friedrichs (1997, S. 483) nimmt an, dass die wichtigste Bedingung dafür, das Normenpluralität auch zu Gewalt führt, die Konkurrenz zweier oder mehrerer Personen bzw. Gruppen um eine knappe Ressource sein dürfte. In dieser Arbeit wird jedoch auch darauf verwiesen, dass ein realer Konflikt um knappe Ressourcen keine zwingende Bedingung für die Diskriminierung von Fremdgruppen und sozialen Minderheiten ist. Oesterreich (1996, S.173) sieht in der autoritären Persönlichkeit einen „Grundtypus der kapitalistisch geprägten Industriegesellschaft“, die in Anlehnung an Beck (1986), eine „Risikogesellschaft“ ist und sich durch „Entsicherungen“ und „Desintegrationsprozesse“ (Heitmeyer, 1994) kennzeichnen lässt. Thiersch (1992, S. 44) führt hierzu aus, dass der Alltag zunehmend Schauplatz von Desorientierung und Ratlosigkeit wird. Routinen und verlässliche Traditionen des Alltags, würden Thiersch entsprechend, zunehmend brüchig werden und tradierte Rollenmuster, sowie Biographieentwürfe ihre alltägliche Selbstverständlichkeit verlieren.

Um der Frage nachzugehen, inwieweit sich Individualisierungsprozesse mit Vorurteilen und Stereotypisierungen innerhalb einer Gesellschaft verbinden lassen, soll der Strukturwandel der Vergesellschaftungsmodi, mit den Begriffen der Integration, Desintegration und Re-Integration umrissen werden (Stichweh 1988). Heitmeyer (1992) folgend, müsste insbesondere die Desintegration, die sich durch Auflösungsprozesse beschreiben lässt und durch einen Verlust von Zugehörigkeit, Teilnahmechancen oder Übereinstimmung erfahren wird, einen zentralen Aspekt zur Klärung von Gewalt darstellen. Auch Keupp (1994) sieht ursächlich in der „suchtartigen Fluchtbewegung“, in fiktiven Angeboten stabiler und eindeutiger Identitäten, die Sehnsucht nach einer Überwindung, der als Zerissenheit erlebten Pluralisierung. Die Individualisierungsthese, als Gegenwartsdiagnose für westliche Gesellschaften verstanden, stellt den Prozess der Pluralisierung traditioneller Werte und Orientierungen zur Disposition (Schroer 2000, S. 13-42). In Verbindung mit der Individualisierungsthese florieren Begriffe wie Bastelexistenz (Hitzler, Honer 1994, S. 307), Wahlbiographie (Beck, Beck-Gernsheim 1994, S. 13) oder Politik der Lebensführung (Giddens 1997, S. 132), die auf einen Zuwachs an Möglichkeiten zur Gestaltung der Existenz hinweisen. Aber Individualisierung steht auch im Zusammenhang mit Begriffen wie, Risikogesellschaft (Beck 1986, S. 108), oder hergestellter Unsicherheit (Giddens 1997, S. 118). Diese Begrifflichkeiten weisen auf Problematiken moderner Gesellschaften hin, die in ihrer Struktur nur schwer zu durchschauen sind. So wird die Individualisierung für Jugendkriminalität, Scheidungsziffern, Wahlverdrossenheit und viele andere Gegenwartsanomalien verantwortlich gemacht. Der situative Kontext, wie er durch die Individualisierungsthese verdeutlicht wird, der mit Überforderung, Unsicherheit oder Angst einhergehen kann, verstärken, wie nachfolgend diskutiert, den Prozess der Stereotypisierung und des Kulturzentrismus. Heitmeyer (1997, S. 643) arbeitet heraus, wie durch die Delegitimierung von Normen, Gleichgültigkeit und Beliebigkeit des Handelns gefördert und binäre Muster (Freund/Feind, Eigene/Fremde) orientierungs- sowie handlungsleitend werden.

Die ebengenannte Hypothese lässt sich auch auf die Diskussion von Berger et.al. (1987, S. 159) zurückführen, die das Unbehagen in der Modernen u.a. durch die Pluralisierung der sozialen Lebenswelt begründen. Berger et.al. meinen, dass die pluralistischen Strukturen der Modernen, zu nomadischen, ständig wechselnden und mobilen Lebensformen geführt haben. Das würde sich, den Autoren folgend, in einem ständig wechselnden Alltagsleben zeigen, in der das Individuum zwischen diskrepanten und divergierenden Kontexten hin und her fluktuiert. Die Pluralisierung der sozialen Lebenswelt bewirkt, dass die Strukturen der jeweiligen Welt als relativ labil und unzuverlässlich erlebt werden. Berger et.al. (ebd.) resümieren einen Wirklichkeitsverlust der institutionellen Ordnung, die sie mit dem Begriff der „Heimatlosigkeit“ umschreiben. Deshalb mag es auch nicht überraschen, „dass der moderne Mensch an einer permanenten Identitätskrise leidet, ein Zustand, der zu starker Nervosität führt.“ Den Autoren zu Folge, hat die „Heimatlosigkeit“ ihren vernichtendsten Ausdruck im Bereich der Religion, die die „lebenswichtige Rolle als Lieferantin des überwölbenden Baldachins von Symbolen für die sinnvolle Integration der Gesellschaft“ eingebüßt hat. Und sie führen weiter aus:

„Die durch die Pluralisierung des Alltagslebens und des ganzen Lebensablaufs in der modernen Gesellschaft hervorgerufene, kognitive und normative allgemeine Unsicherheit hat die Religion in eine ernste Glaubwürdigkeitskrise gebracht. Die uralte Funktion der Religion – inmitten all der Schwierigkeiten des menschlichen Lebens eine letzte Sicherheit zu gewährleisten – ist zutiefst erschüttert worden.“

Was passiert aber, wenn das Individuum, eingebettet in dieses „Unbehagen der Moderne“, der Situation einer religiösen Konversion begegnet, Kenntnis von anderen nehmen muss, die nicht mehr glauben, was man selbst für unverrückbar hält, mit Bedeutungen, religiös-kulturellen Werten und Überzeugungen konfrontiert, die die Endlichkeit der eigenen Beheimatung ins Bewusstsein bringt und die noch verbliebenen Werte und Weltbilder einer Schutz gewährenden religiösen Instanz gänzlich in Frage stellt?

Eine mögliche Antwort darauf, die hier in dieser Arbeit formuliert werden soll, liegt in einem, der eigenen Integration sichernden Kulturzentrismus. In der vorliegenden Arbeit wird von der Hypothese ausgegangen, dass eine religiöse Konversion im sozialen Umfeld, reflektiv zu einer Herauskristallisierung von binären Mustern führt, die nicht nur einer orientierenden Funktion folgt, sondern stets auch mit einer kulturzentristischen Verortung einhergeht.

Diese Annahme wird im letzten Teil der vorliegenden Arbeit durch sozialpsychologische Theorieansätze den Versuch einer theoretischen Fundierung erfahren.

3.1. Definition und Kritik des Individualisierungsbegriffs

Der Begriff Individualisierung wurde bereits in den 80er Jahren von Ulrich Beck (1986) in seinem Buch "Risikogesellschaft" in die Debatte um den sozialen Wandel der modernen Gesellschaft eingebracht. Individualisierung wird von Beck nicht mit zunehmendem Egoismus in der Gesellschaft verstanden, sondern meint vielmehr, dass den Menschen in der modernen Gesellschaft zunehmend die Verantwortung für ihr Handeln selbst zugeschrieben wird. Eine mögliche Definition dessen, was mit „Individualisierung“ gemeint ist, lässt sich in Anlehnung an Beck-Gernsheim (1998, S. 136), wie folgt markieren: „Dieses Konzept zielt ab auf das Zerbrechen traditioneller Lebensformen und die damit verbundene Herauslösung des Menschen aus normativen Bindungen, sozialen Abhängigkeiten, materiellen Versorgungsbezügen, auf die damit einhergehenden sozialen Konflikte, Chancen, Reintegrationsprobleme.“

Für Beck (1994, S.25 ff.) „tobt“ in den hochentwickelten Gesellschaften „so etwas wie ein Individualisierungsprozess. Die Formen sozialer Integration, in denen wir bisher "Industriegesellschaft" und "industriegesellschaftliche Moderne" gedacht haben, nämlich Kleinfamilie, Geschlechterrollen, Klasse, Schicht, sozialmoralische Milieus, werden auf und abgelöst durch Biographieformen, in denen die Einzelnen unter institutionellen Vorgaben, die für sie häufig schwer zu durchschauen sind, ihre Biographie selbst zusammenschustern, zusammenflicken müssen“.

Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ (1986) beschreibt also die Auflösung der Konturen einer Industriegesellschaft durch die Dynamik der Modernisierung, die eine andere gesellschaftliche Gestalt entstehen lässt. Mit dem „neuen Modus der Vergesellschaftung“ (Beck 1986, S. 205), kann somit eine Auf- und Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen verstanden werden, in denen die Einzelnen ihre Biographien unter sozialstaatlichen Rahmenbedingungen selbst herstellen müssen. In diesem Wandlungsvorgang von einer „Industrie- zu einer Risikogesellschaft“ verändern sich nicht nur die traditionellen industriegesellschaftlichen Schemata von „Klassen“, „Familie“, Erwerbsarbeit, Geschlechterrollen, Werten und Überzeugungen (Stichwort: Pluralisierung), sondern es verändert sich auch das Muster der Lebensführung selbst (Stichwort: Individualisierung).

Die moderne Lebensführung hat also zwei Seiten: einerseits wachsen dem Einzelnen vermehrte Freiheiten zu, seine Biographie und seine Einbindung in soziale Bezüge selbst zu gestalten; zugleich vermehren sich andererseits die Unsicherheiten und Gefährdungen, weil der Einzelne die Rahmenbedingungen seiner Lebensführung (z.B. Politik, Arbeitsplatz, Wohnort, Kinderbetreuungsplätze etc.) selbst nur bedingt beeinflussen kann und zugleich jene sozialen Bezüge wegfallen, die früher Risiken abfederten und soziale Sicherheiten und klare normative Orientierungen gaben. Die Innenleitung des Handelns des Individuums impliziert also auch eine Orientierungslosigkeit als Kehrseite der gewonnenen Freiheit. Der „neue Modus der Vergesellschaftung“ vollzieht sich, der These Becks folgend, in den Schritten der Freisetzung aus traditionellen Herkunftsbedingungen, dem Verlust der damit einhergehenden sozialen Sicherheiten und der Einbindung in neue Strukturen. Individualisierung als „Herauslösung aus traditionalen Lebenszusammenhängen bekommt durch Modernisierung eine dreifache Dimension (Beck 1986, S. 206):

„Modernisierung führt nicht nur zur Herausbildung einer zentralisierten Staatsgewalt, zu Kapitalkonzentrationen und zu einem immer feinkörnigeren Geflecht von Arbeitsteilung und Marktbeziehungen, zu Mobilität, Massenkonsum usw., sondern eben auch - und damit sind wir bei dem allgemeinen Modell zu einer dreifachen ,,Individualisierung": Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und Sozialbindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (,,Freisetzungsdimension"), Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (,,Entzauberungsdimension") und womit die Bedeutung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird, eine neue Art der sozialen Einbindung (,,Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension")".

Somit sieht Beck (1994, S. 471) in der Individualisierung nicht nur die Tendenz zur Enttraditionalisierung, sondern auch „die Erfindung von Traditionen“, Symbolisierungen von Idylle, wie beispielsweise Omas Apfelkuchen, Vergissmeinnicht oder Kommunitarismus. Diese Differenzierung lässt erkennen, dass Beck keineswegs Individualisierung gleichsetzen will mit einem gleichsam automatisch zu verbuchenden Subjektivitätszuwachs der Individuen. Die Individualisierung des modernen Individuums ist nicht so frei gestaltbar, wie es im ersten Moment zu scheinen vermag. Individualisierung bedeutet nach der These Becks, selbst seine eigene Biographie herzustellen und selbst Verantwortung zu übernehmen. Darüber hinaus gibt das Fehlen sozialer Vorgaben den Individuen neue Entscheidungsmöglichkeiten, verleiht ihnen jedoch auch die Pflicht, Entscheidungen selbst zu fällen.

Es muss aber auch kritisch eingewandt werden, dass „Individualisierung“, aus der Sicht individualistischer Soziologen beschrieben wird, ohne die jeweiligen Phänomene in den Lebenswelten zu berücksichtigen. Wohlrab-Sahr (1997, S. 23) argumentiert, dass „Individualisierung nur ein Phänomen bestimmter sozialer Milieus sei und sich somit nicht verallgemeinern ließe“. Er kritisiert, dass mit der Individualisierungsthese eine Ideologie in ein Gewand einer Gegenwartsanalyse gekleidet worden ist. Es wird also mit der Entwicklung der Theorie, eine individualistische Kultur erst provoziert und damit auch falsches Bewusstsein reproduziert. Burkart (1993, S. 159) kritisiert die unsaubere sozialwissenschaftliche Methodik und geht davon aus, dass die Individualisierungstheoretiker keine haltbare empirische Untersuchung ihrer These vorlegen können. Burkart führt aus, dass „die Individualisierungstheorie in hohem Maße ungenau und vieldeutig ist. Neben ihrem hohen Allgemeinheitsgrad ist dies der Hauptgrund dafür, dass bisher nur selten der Versuch gemacht wurde, die Theorie in einem strengen Sinn empirisch zu überprüfen.“

Nachfolgend sollen die drei zusammenhängenden Prozesse der „Individualisierung“ detaillierter dargestellt werden.

3.2. Die fabrizierte Unsicherheit

Der Ausgangsthese dieser Arbeit entsprechend, korrespondiert in einer Welt ambivalenter Bedingungen, bestehend aus der Gleichzeitigkeit individueller Handlungs- und Wahlfreiheiten, den damit einhergehenden Risiken, die aus dem Druck einer stets komplexeren Bewältigung von Lebensaufgaben und den Verlust stabiler Vergemeinschaftungsformen resultieren, sowie der unmittelbaren Konfrontation mit einer unerwarteten Form von Fremdheit, die sich aus dem vollzogenen Prozess der Konversion konstituiert, Verunsicherung und ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis. Die fabrizierte Unsicherheit lässt sich in Anlehnung an Beck (1994, S. 471) als Teilmoment einer Theorie „reflexiver Modernisierung“ verstehen. „Reflexivität“ meint hier die ungewollte, ungesehene Selbstinfragestellung und Selbstveränderung, in der die Interdependenz von Handeln und Struktur stets neu durchdacht werden müssen. Zapf u.a. (1987) konnten in einer empirischen Analyse auf den strukturellen Zusammenhang von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen und Verunsicherung hinweisen. Am Strukturgerüst der bereits oben genannten, analytischen Dimensionen, der allgemeinen Thesen zur Individualisierung (Beck 1986, S. 206), lässt sich somit darstellen, wie insbesondere Verunsicherungen, die in dieser Arbeit im Zusammenhang mit Abgrenzungsprozessen gegenüber Konvertiten diskutiert werden, zu Desintegrationsproblemen führen können.

3.3. Freisetzung fester Gewissheiten und normativer Grundsätze

Mit der „Freisetzungsdimension“ wird die Herauslösung aus traditionellen Bindungen, wie beispielsweise aus Ständen, sozialen Klassen und religiös-kulturellen Bezügen beschrieben. Beck-Gernsheim (1998, S. 127 ff.) sieht in der Freisetzung der traditionellen Bindungen, spiegelbildlich, die Erweiterung des Lebensradius, also auch der Handlungsspielräume und Wahlmöglichkeiten. In diesem Sinne bedeutet Individualisierung, die Herauslösung der Biographie des Menschen aus den vorgegebenen lebensweltlichen Fixierungen. Es gibt mehr Mobilität und Wahlfreiheiten als vorher, der Beruf kann z.B. unabhängiger vom Berufsstand der Eltern gewählt werden, Arbeiterkinder müssen somit nicht zwangsläufig wieder Arbeiter werden. Die Anteile der prinzipiell „entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten“ nehmen, Beck (1983, S. 58) folgend, ab und die Anteile der selbst herzustellenden, entscheidungsoffenen Biographie zu. Die Herauslösung aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezügen können jedoch nicht nur als eine „Befreiung“, sondern müssen in vielerlei Hinsicht auch als „Verlust“ verstanden werden. So explizieren Heitmeyer und Sander (1992, S. 39 ff.) die „Kehrseite“ der Freisetzung aus Lebenszusammenhängen an den Beispielen der immer labiler werdenden Familienstrukturen, des Bedeutungsverlustes verwandtschaftlicher Bezüge, der Freisetzung aus nachbarschaftlichen Kontexten und den Zerfall von traditionalen Milieus, wie dem Arbeits-Milieu. Dass die klassische Kleinfamilie immer mehr von einem Trend zur „Single-Gesellschaft“ abgelöst wird, lässt sich beispielsweise an der Entwicklung von Familienformen, wie Wohngemeinschaften, Partnerschaften, Alleinerziehende etc., deutlich machen. Keupp (1994, S. 338) stellt hierzu fest, dass es in einer Stadt wie München mehr als 50% Ein-Personen-Haushalte gibt. Die Möglichkeit des Heraustretens aus spezifischen Kontexten, die nicht nur als Chance sondern stets auch als Risiko gewertet werden muss, wie dies u.a. bei Keupp (1994) deutlich wird, kann in Anlehnung an die zitierten Autoren Heitmeyer und Sander (1992, S. 40) veranschaulicht werden, die auf Ulrich Becks (1983) Analysen verweisen.

Beck (ebd.) stellt heraus, wie es in den fünfziger und sechziger Jahren zu Entwicklungen kam, die die bundesrepublikanische Gesellschaft nachhaltig prägten – durch den schnellen wirtschaftlichen Wiederaufbau, eine Erhöhung des Lebensstandards, Ausweitung sozialstaatlicher Sicherungsleistungen und Arbeitszeitverkürzungen, Bildungsexpansion, sowie soziale und geographische Mobilität. Entsprechend der These Becks, begünstigt das Zusammenwirken dieser verschiedenen Entwicklungen einen Freisetzungsprozess, der zu einer Erosion des traditionalen Arbeits-Milieus führte. Heitmeyer und Sander sehen zwar insbesondere für jugendliche Angehörige des Lohnarbeits-Milieus neue Chancen des beruflichen Aufstiegs, resümieren jedoch auch die Abnahme der „Milieus als Orientierungsraum“. So hat die Bildungsexpansion beispielsweise auch zur Folge, dass junge Menschen durch die potentiellen Möglichkeiten, aber auch arbeitsmarkterforderlichen langen schulischen Ausbildungen und entsprechenden Berufsoptionen immer stärker aus ihren ursprünglichen Milieus entfremdet werden. Die kulturellen Standards der weiterführenden Schulen und Universitäten mag in manchen Fällen einen Bruch mit dem familiären Sozialisationsprozess, den Reaktionsformen, Leistungsstreben, Einstellungen, dem Modus des Sprachgebrauchs und allgemeinen Umgangsformen des Elternhauses bedeuten. Die Freisetzungsprozesse einer individualisierten Gesellschaft fordern eine „erhöhte Eigenaktivität in puncto Schließen von Sozialbeziehungen, des Aushandelns vormals kollektiv vorgegebener Rollenmuster, der Neuorganisation kollektiv vorgegebener und erodierter Biographiemuster“. Der einzelne wird somit, ohne das Band erfahrbarer Gemeinsamkeiten, religiöser, weltanschaulicher, politischer und biographischer Natur, stärker auf sein Einzelschicksal zurückgeworfen. Beispielhaft könnte hierzu die erodierende Einbindung in religiöse Traditionen genannt werden. Junge Menschen wachsen immer stärker in einer profanisierten Gesellschaft auf, in denen religiöse Rituale verweltlicht werden. Z.B. werden Feiertage zu Urlaubstagen umgedeutet, verlieren dadurch aber auch die Funktion als Sinnspender. Sinnstiftende und kollektivierende Momente, die sich aus einer traditionellen und religiösen Ritualisierung des Lebens ergeben haben, müssen ersetzt und rekonstruiert werden. Der Verlust der traditionalen Sicherheiten steht somit für die Entwertung kollektiven Erfahrungswissens, mit dem eine angemessene Bewältigung des Lebens ermöglicht wurde. Hiermit wird deutlich, dass die Auflösung der Regeln, die die jeweilige Biographie mit vorgegebenen Merkmalen wie Herkunft, Stand und Geschlecht verknüpften, nicht nur Sonnenseiten hat, sondern immer auch schattenreichere Konturen aufweist.

In Anlehnung an Heitmeyer und Müller (1995, S. 10 ff.) lassen sich die Widersprüche und Gegenläufigkeiten des Individualisierungsprozesses wie folgt darstellen:

- „- je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit;
- je weniger Gleichheit, desto mehr Konkurrenz;
- je mehr Konkurrenz, desto weniger Solidarität;
- je weniger Solidarität, desto mehr Vereinzelung;
- je mehr Vereinzelung, desto weniger soziale Einbindung;
- je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtslose Durchsetzung.“

Übereinstimmend mit der Freisetzung traditioneller Bindungen, bewirken diese beschriebenen Tendenzen eine Freisetzung fester Gewissheiten und normativer Grundsätze. Zwar treten Zwänge und starre Formen der Lebensführung zurück, aber auch unhinterfragte Sicherheiten werden geringer. Aus diesem Grund sind Individuen mit einer pluralen Gemengelage von Normen und Werten konfrontiert.

3.4. Zwänge, Bindungen, Kontrollen

Auf einer dritten Bedeutungsebene wird der Begriff der Individualisierung mit dem Hinweis auf neue Zwänge, Bindungen, Kontrollen verknüpft. Diese Paradoxie widersprüchlicher Entwicklungslinien fasst Beck (1986, S. 210) mit der Aussage zusammen, dass der persönliche Lebenslauf stärker das „Doppelgesicht einer institutionenabhängigen Individuallage“ annimmt. Für Beck ist das „scheinbare Jenseits der Institutionen zum Diesseits der Individualbiographie“ geworden. Damit betont er, dass die freigesetzten Individuen stärker arbeitsmarktabhängig und somit auch „bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung sind“. Potentielle Unsicherheiten der Biographie, die einstmals durch den Familienbund, den dörflichen Gemeinschaften und durch den Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen kompensiert wurden, müssen von einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden. Damit verlagern sich nicht nur die Chancen erweiterter Optionsspielräume, sondern auch die Lasten der Entscheidungszwänge auf die Individuen. Die neuen Anforderungen und Zwänge, insbesondere die Netze von Regelungen, Maßgaben und Anspruchsvoraussetzungen, die Arbeitsmarkt, Staat und Institutionen herausbilden, geben die institutionellen Horizonte für die Planung der Individuen vor. Eine charakteristische Ausprägung des Individualisierungsprozesses besteht also in der aktiven Eigenleistung der Individuen, die nicht mehr nur optional ist, sondern insbesondere auch eingefordert wird. Um nicht zu scheitern, müssen die Individuen langfristig planen, organisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, aber auch Niederlagen einstecken und wiederum neue Anfänge wagen. Mit der hinzukommenden Erosion stabiler sozialer Zusammenhänge benötigt der einzelne Mensch in noch stärkerem Maße spezifische Ressourcen, nämlich materieller und vor allen Dingen sozialer, sowie psychischer Natur. Beck schreibt: „In der individualisierten Gesellschaft muss der einzelne [...] bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (1983, S. 59, 1986, S. 217). Es ist die mehr denn je geforderte aktive Eigenleistung der Individuen die der Individualisierungsprozess einfordert. Dazu gehören auch, wie Japp (1986, S. 311 ff.) herausstellt, neue Formen des politischen und ökologischen Engagements, (Frauengruppen, Bürgerbewegungen, oder Ökologiebewegungen) reaktive Formen der Anpassung, sowie fundamentalistische Bewegungen. Darüber hinaus werden neue Fähigkeiten erwartet, die mit neuen Formen der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung einhergehen.

3.5. P sychische, soziale und materielle Ressourcen

In Anlehnung an Heiner Keupp (1994, S. 344 ff.) sollen nachfolgend einige notwendige Ressourcen zusammenfassend skizziert werden, die die Ambivalenzen postmoderner Lebensformen herausfordern. Zuerst einmal betont Keupp den Bedarf an materiellen Ressourcen, die für die Entwicklung neuer Lebensformen erforderlich sind. Hiermit wird jedoch ein höchst aktuelles sozial- und gesellschaftliches Problem angesprochen, dass dem Autor folgend, immer wieder „die klassische soziale Frage“ aufgreift. Für Keupp wird Identitätsbildung ohne sinnvolle Tätigkeit und angemessener Bezahlung „zu einem zynischen Schwebezustand, den auch ein „postmodernes Credo“ nicht zu einem Reich der Freiheit aufwerten kann“. Darüber hinaus erfordert die Herauslösung aus traditionellen Bindungen eine spezifische Beziehungs- und Verknüpfungsfähigkeit, die Keupp als soziale Ressource bezeichnet. Menschen müssen zunehmend und notwendigerweise die sozialen Kompetenzen entwickeln, die zur Konstruktion der eigenen Gemeinde oder Lebenswelt erforderlich sind. Diese sollten im eigenen Sozialisationsmilieu aktiv gefördert werden, da soziale Netzwerke der aktiven Pflege bedürfen und ein Bewusstsein dafür, dass sie nicht selbstverständlich auch vorhanden sind. Statt also Assimilation in vorhandene soziale Zusammenhänge, müssen selbst neue Zusammenhänge geschaffen werden. Heiner Keupp stellt hierbei jedoch heraus, dass das Netz eigeninitiierter sozialer Beziehungen, bestehend aus Nachbarschaftsaktivitäten, Freundeskreise, Interessengemeinschaften, Vereine, Selbsthilfegruppen, usw. auch durch den Zugang zu „ökonomischem Kapital“ mitbestimmt wird. Hierbei verweist Keupp auf die Arbeiten Bourdieus (1983, S. 183 ff.), der im Wesentlichen zwischen den drei Arten von Machtmitteln unterscheidet, nämlich dem ökonomischen, dem kulturellen und dem sozialen Kapital. Das ökonomische Kapital ist, Bourdieu folgend, die dominierende Kapitalart, die allen anderen Kapitalarten zugrundeliegt, da es beispielsweise beeinflusst, wie viel Zeit und Geld Eltern in die Ausbildung ihrer Kinder investieren können. Mit Hilfe von ökonomischem Kapital können die anderen Kapitalarten erworben werden, wenn auch um den Preis eines mehr oder weniger großen Aufwandes an „Transformationsarbeit“. Bourdieu betont aber auch, dass bestimmte Güter und Dienstleistungen nur aufgrund eines sozialen Beziehungs- oder Verpflichtungskapitals erworben werden können. In diesem Zusammenhang bemerkt Keupp, dass insbesondere „sozioökonomisch unterprivilegierte und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen“ bei der geforderten Eigeninitiative sozialer Beziehungsarbeit, Defizite aufweisen, da die notwendigen materiellen und sozialen Ressourcen für bestimmte gesellschaftliche Gruppen kaum gegeben sind. Das Resümee einer am Deutschen Jugendinstitut fortlaufenden Studie stellt sich dementsprechend wie folgt dar: „Gerade die klassische Klientel des Sozialstaats, nämlich Personen mit geringem Einkommen und niedriger Allgemein- und Berufsbildung, haben signifikant kleinere Beziehungsnetze. In diesen kleineren Netzen haben private Helfer zudem einen geringeren Anteil, worunter wiederum die Zufriedenheit mit Unterstützungsleistungen leidet“ (Marbach 1987, S. 12). Somit bestätigt sich der oft zitierte „Matthäus-Effekt“, wer (Geld, Status und Prestige) hat, dem wird (soziale Unterstützung) gegeben werden.

Eine weitere notwendige soziale Ressource die gesellschaftliche Freisetzungsprozesse einfordert, soll mit dem Konzept der „Ambiguitätstoleranz“ umschrieben werden, das sich auf Frenkel-Brunswik (Adorno et al. 1950, S. 461 ff.) zurückführen lässt. Mit der „intolerance of ambiguity“ verwies Frenkel-Brunswik auf die Unfähigkeit eines Menschen Urteile in der Schwebe zu halten oder zu nuancieren. Kischkel (1975, S. 144) definiert Ambiguitäts(in)toleranz als eine Tendenz „[...] unstrukturierte, unvollständige, erwartungswidrige, in sich widersprüchliche oder mehrdeutige Informationen als Bedrohung oder als Ursache psychischen Unwohlseins wahrzunehmen“. Keupp (1994, S. 344 ff.) meint mit der Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz, „sich auf Menschen und Situationen offen einzulassen, sie zu erkunden, sie nicht nach einem „Alles-oder-nichts“-Prinzip als nur gut oder nur böse zu beurteilen“.

Das Individuum muss sich somit der Herausforderung stellen, sich in einer Welt ambivalenter Bedingungen zurechtzufinden. Für Wolfgang Welsch (1990) ist die Ambivalenz „das Mindeste, womit man bei den gegenwärtigen Weltverhältnissen rechnen muss“. Heiner Keupp (1994, S. 126) folgend, ist von den Individuen die Erarbeitung einer „dezentrierten Identität“ gefordert, die mit dem Identitätskonzept einer „Patchwork-Identität“ den Herstellungs- und weniger den Produktcharakter von Identität markiert. Mit der Metapher vom „Patchwork“ lenkt Keupp (2002, S 9 ff.) die Aufmerksamkeit auf die aktive und kreative Eigenleistung der Individuen bei ihrer Identitätsarbeit, die von Ambivalenz durchgehend gezeichnet ist.

Das positive Bild der eigenen Handlungsfähigkeit, mit dem Gefühl der Bewältigbarkeit von externen und internen Lebensbedingungen, der Gewissheit der Selbststeuerungsfähigkeit, sowie der Gestaltbarkeit der Lebensbedingungen bildet den Gegenpol zu dem Phänomen der „Demoralisierung“ (Keupp 1994, S. 347), einem Muster von Einstellungen und Grundhaltungen, die durch unbestimmte Zukunftsängste und allgemein gedrückter Grundstimmung geprägt ist. Weiterhin bemerkt Keupp, dass die umfassenden ökologischen Bedingungen, die zu einem wachsenden Demoralisierungspegel beitragen, fatale Bedingungen für die gelernte Hilf- und Hoffnungslosigkeit setzen.

Die genannten psychischen, sozialen und materiellen Ressourcen stellen u.a. in einer von Beck und Keupp (1986, 1994) proklamierten „Risikogesellschaft“ eine elementare Grundlage der Lebensführung dar, die der israelische Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky (1987, S. 19) als „Gefühl von Kohärenz“ bezeichnet hat. Der Kohärenzsinn ist ein subjektives Gefühl des Vertrauens in die Kontinuität des Lebens, die sich, Antonovsky folgend, aus einem Zusammenhang und Sinn im Leben ergibt. Im Zusammenhang mit den Thesen dieser Arbeit wird angenommen, dass die noch weiter unten zu diskutierenden „alltäglichen Lebenswelten“, die äquivalent zum Kulturbegriff diskutiert werden (Nieke 2000, S. 52), mit ihrem Vorrat an Deutungsmustern, eine Orientierung in der „Risikogesellschaft“ ermöglichen, Wahrnehmungen strukturieren und Reflexionsmöglichkeiten für Handlungen geben. Die „alltägliche Lebenswelt“ als Stabilisator in einer individualisierten Gesellschaft gewertet, gewinnt somit eine essentielle Bedeutung in der Konstitution dessen, was Antonovsky (ebd.) folgend, ein „Gefühl von Kohärenz“ bezeichnete.

[...]

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Durch die kulturelle Brille gesehen - Eine sozialwissenschaftliche Reflexion zur Entstehung eines Fremdheitstypus oder Folgen einer Konversion zu einer religiösen Minderheit
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für Psychologie)
Note
1,1
Autor
Jahr
2007
Seiten
99
Katalognummer
V85731
ISBN (eBook)
9783638900584
ISBN (Buch)
9783638905909
Dateigröße
814 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Eine kenntnisreiche - über die Psychologie hinausgehende - logisch strukturierte Arbeit ... Bedeutsam ist der Nachweis der Alltäglichkeit von Stigmatisierungen durch Beeinträchtigung des Gewohnten."
Schlagworte
Reflexion, Fremdheitstypus, Konversion, Minderheit, Zeugen Jehovas, Stigmatisierung, Interkulturelle und Interreligiöse Kompetenz, Weltanschauungsbeauftragte, Fremdenfeindlichkeit, Fremdheitskonstruktion, Theorie der soziale Identität, Positive Identität, Kultur und Kulturstandards, Terror des Fremden, Inquisitoren. Religionsfreiheit und Glaubensneid, Sekten und Psychogruppen, moral panics, Risikogesellschaft
Arbeit zitieren
Magister Artium Rene Limberger (Autor:in), 2007, Durch die kulturelle Brille gesehen - Eine sozialwissenschaftliche Reflexion zur Entstehung eines Fremdheitstypus oder Folgen einer Konversion zu einer religiösen Minderheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85731

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