Die Wissenskluft beginnt im Kindesalter

Der Einfluss der Medien auf die primäre Sozialisation; dargestellt am Beispiel von Kinderzeitschriften


Diplomarbeit, 2004

110 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Einleitung

1. Wissenskluft

1.1 Die ursprüngliche Wissensklufthypothese
1.2 Begründung der Hypothese
1.3 Basiskonzepte
1.3.1 Wissen
1.3.2 Sozioökonomischer Status
1.3.3 Informationsfluss
1.3.4 Sozialsystem
1.4 Ceiling-Effekt
1.5 Differenz- vs. Defizitperspektive
1.6 Erweiterung der ursprünglichen These
1.6.1 Angebotsbedingte Wissensklüfte
1.6.2 Nutzungsbedingte Wissensklüfte
1.6.3 Rezeptionsbedingte Wissensklüfte
1.7 Kritik zur Wissensklufthypothese
1.8 Zusammenfassung

2. Wissen
2.1 Der Wissensbegriff
2.2 Hirnforschung
2.3 Gedächtnis
2.3.1 Ultrakurzzeitgedächtnis
2.3.2 Kurzzeitgedächtnis
2.3.3 Langzeitgedächtnis
2.4 Kognitives Modell
2.4.1 Piagets Modell im Allgemeinen
2.4.1.1 Sensomotorische Phase
2.4.1.2 Phase des präoperationalen Denkens
2.4.1.3 Phase der konkreten Operationen
2.5 Typologie von Wissen (Fakten vs. Strukturwissen)
2.6 Zusammenfassung

3. Wissen durch Sozialisation
3.1 Sozialisation allgemein
3.2 Sozialisation in der Familie
3.3 Sozialisation durch die Schule
3.4 Sozialisation durch Peers
3.5 Selbstsozialisation
3.6 Zusammenfassung

4. Wissen durch Medien
4.1 Medienfunktionen
4.2 Stadien der Medienwirkungsforschung
4.3 Das dynamisch-transaktionale Modell
4.3.1 Transaktionale Sichtweise
4.3.2 Dynamische Sichtweise
4.4 Medienwirkung bei Kindern
4.5 Zusammenfassung

5. Durch Lesen zum Wissen
5.1 Lesen in der Wissenskluftforschung
5.2 Lesen und Hirnforschung
5.3 Lesesozialisation
5.3.1 Familiale Lesesozialisation
5.3.2 Lesen und Schule
5.3.3 Lesen und Peers
5.4 Printmedien
5.5 Zusammenfassung

6. Zwischenfazit

B. Empirischer Teil

7. Kinderzeitschriften
7.1 Zeitschrift
7.1.1 Periodizität
7.1.2 Aktualität
7.1.3 Publizität
7.1.4 Universalität
7.1.5 Definition von Zeitschrift
7.2 Kindheit
7.3 Kinderzeitschrift
7.4 Kriterien der Stichprobe
7.4.1 Typologie von Kinderzeitschriften
7.4.1.1 Produzentenbezogene Merkmale
7.4.1.2 Inhaltlich-formale Aspekte
7.4.1.3 Zielgruppe
7.4.2 Zusätzliche Auswahlkriterien
7.5 Die Stichprobe
7.5.1 Schülerzeitschriften
7.5.2 Vorschulzeitschriften

8. Analyse
8.1 Umfang
8.2 Text-Bild-Verhältnis
8.3 Textverständlichkeit
8.3.1 Verständlichkeitsformel
8.3.2 Schriftgröße
8.4 Kaufwahrscheinlichkeit
8.4.1 Preis
8.4.2 Gimmick
8.5 Inhalt
8.5.1 Werbung
8.5.2 Formalien
8.5.3 Unterhaltung
8.5.4 Information
8.6 Themenverteilung

9. Fazit

Quellenverzeichnis

Einleitung

In einfachen Worten besagt die Wissensklufthypothese: Es gibt die Schlaumeier, die oberen Gesellschaftsschichten, die Bücher und Zeitschriften lesen und immer schlauer werden. Und es gibt die anderen, die untere Schichten, die sich lieber vom Fernsehen berieseln lassen und deshalb tendenziell weniger wissen als die Schlaumeier!

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. In neueren Texten zur Wissenskluft wird immer wieder Heinz Bonfadelli zitiert, der den aktuellen Forschungstand als „dispers und disparat zugleich“ (Bonfadelli, 1994: 137) bezeichnet. Werner Wirth fasst die Wissenskluftforschung als Perspektive auf, die von mehreren Seiten eingekreist werden soll (vgl. Wirth, 1997: 304). Diesem Gedanken folgend werden in dieser Arbeit in der Kindheit gelagerte Ursachen für die Entstehung der Wissenskluft durchleuchtet.

Zunächst wird ein Blick in das menschliche Gehirn geworfen, dem Organ, in dem Wissen gespeichert wird. Durch die Hirnforschung ist mittlerweile zum großen Teil bekannt, wie Informationen vom Menschen aufgenommen und gespeichert werden und wie sich das Gehirn eines gesunden Kindes in den ersten Lebensjahren entwickelt.

Mit kognitiven Entwicklungen befassen sich seit Jahrzehnten auch Pädagogik und Psychologie. An einem Strang ziehen Pädagogik und Hirnforschung allerdings erst seit kurzer Zeit. Wie die Zeitschrift Stern Anfang September 2004 berichtete, arbeiten beide Wissenschaften derzeit zum ersten Mal gemeinsam an der Verbesserung des schulischen Lernens (vgl. Eissele, 2004: 145). Die Ergebnisse sind erst nach Abgabe dieser Diplomarbeit zu erwarten. Daher kann nur auf theoretischem Weg eine Verschmelzung der Erkenntnisse beider Bereiche stattfinden.

Die kognitive Entwicklung des Kindes findet nicht im ‚luftleeren Raum’ statt, sondern wird von verschiedenen Instanzen beeinflusst: Eltern, Schule, Peers und Medien. Sie verstärken, ob das Kind später zu den Schlaumeiern gehört oder nicht. Den größten Einfluss haben die Eltern. Sich allein auf Unterschiede der Schichten zu konzentrieren erscheint als ungenügend. Daher werden die verschiedenen Haushaltsformen und Erziehungsstile mit einbezogen, durch die das Mediennutzungsverhalten erklärbar, aber nicht vorhersagbar wird. Denn nicht nur die Institutionen entscheiden, welches Verhältnis die Heranwachsenden zu Medien haben, sondern auch das Individuum selbst.

Medien verändern und vergrößern das Wissen der Menschen. Allerdings haben nicht alle Medien den selben Informationsanteil. Das gedruckte Wort liegt weit vor den audiovisuellen Medien. Das Lesen und damit die Grundfähigkeit für die Benutzung von Printmedien wird während des Heranwachsens erlernt. Der Haupteinfluss liegt wieder bei den Eltern. Allerdings ist die Lesesozialisation in den elterliche Haushalten unterschiedlich. Einige Kinder können zum Beispiel durch kontinuierliches Vorlesen eine Sprache entwickeln, die ihnen einen einfacheren Zugang zu gedruckten Texten bietet.

Eins ist unstrittig: Durch Printmedien werden Wissensklüfte hervorgerufen. Andererseits können Printmedien Wissensunterschiede möglicherweise reduzieren, wenn sie denn gelesen werden. Um Wissensklüfte zu reduzieren müssen Kinder aus lesefernen Haushalten zum Lesen gebracht werden. Und zwar bevor das Gehirn die Fähigkeit des Lesenlernens mit zirka 15 Jahren abschließt. Doch wie soll dieses bewerkstelligt werden? Den Familienhaushalt zu ändern dürfte problematisch sein. Das Schulsystem kann das Problem kaum lösen. Im OECD-Vergleich im September 2004 fielen die deutsche Schulen wieder einmal negativ auf:

„Unterdurchschnittliche Ausgaben pro Primar- und Sekundar-I Schüler, verbunden mit deutlich überdurchschnittlichen Lehrergehältern werden in Deutschland durch ungünstige Schüler/Lehrer- Relationen und deutlich weniger Unterrichtszeit in den ersten Schuljahren, sowie vergleichsweise geringere Ausgaben für Sachaufwendungen, kompensiert“ (OECD, 2004: 2).

Medien haben großen Einfluss auf Heranwachsende. Aber können sie Kinder aus lesefernen Haushalten zum Lesen bringen? Anhand von fünf Kinderzeitschriften wird dieser Frage im empirischen Teil nachgegangen. Durch den Einsatz objektiver Kriterien wird geprüft, ob die meist knallbunten Hefte einerseits genügend Reize und andererseits genügend Informationen bieten, um Kinder aus lesefernen Haushalten zu gesteigertem Leseverhalten zu führen und dadurch Wissensklüfte abzubauen.

1. Wissenskluft

In den meisten theoretischen Arbeiten zur Medienwirkung wird davon ausgegangen, dass die täglich verbreiteten Informationen zu einer allgemeinen Erhöhung des Wissenstandes bei den Menschen führt (vgl. Bonfadelli, 1987: 305). Dies wäre auch ideal, da die informierende Rolle der Massenmedien für Demokratien von großer Bedeutung ist. Empirische Befunde belegen allerdings, dass die Informiertheit der Bürger sehr unterschiedlich ist, obwohl in der heutigen Gesellschaft alle Medien prinzipiell allen Menschen zugänglich sind. Es besteht die Befürchtung, dass sich Massenkommunikation negativ auf die Gesellschaft auswirkt. Auf dieser Annahme basiert auch die Wissenskluftforschung.

1.1 Die ursprüngliche Wissensklufthypothese

In dem makrotheoretischen1 Modell beschreibt die Minnesota Gruppe, Phillip J. Tichenor, George A. Donohue und Clarice N. Olien, dass Mediennutzung entgegen der allgemeinen Annahme nicht zur generellen Anhebung der Informiertheit und des Wissens in einer Gesellschaft führt, sondern im Sinne eines „Trendverstärkers bestehende Ungleichheiten sogar noch verstärkt“ (Bonfadelli, 1994: 41). Die Wissensklufthypothese, die 1970 formuliert wurde, besagt:

„As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population with higher socio-economic status tend to acquire this information at a faster rate then the lower status segments, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather than decrease” (Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 159 f.).

„Mit dem Begriff ‚Wissenskluft’ wird also die Verteilung des Wissens in einem sozialen System bezeichnet“ (Bonfadelli, 1994: 88). Die Folge von Massenkommunikation ist keine homogenisierende Wirkung auf die Gesellschaft, sondern eine Verstärkung seiner Heterogenität und damit eine Verstärkung der Distanz zwischen sozialen Gruppen2. „Es

geht um Veränderungen in den Wissensstrukturen, die durch Medienberichterstattung induziert wird“ (Bonfadelli, 1987: 306).

Die Hypothese verweist auf ungleich verteilte Wissenskontingente in der Gesellschaft, darauf, dass einem bestimmten Teil der Gesellschaft Wissen ‚fehlt’. Anwachsende Wissensklüfte - so die Autoren - sind besonders in den Bereichen ‚Wissenschaft’ und ‚Politik’ zu erwarten, aber weniger in Bereichen wie ‚Hobbys’ und ‚praktische Alltagsfragen’3 (vgl. Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 160). Grafisch ausgerückt stellt sich die Wissenskluft so dar4: (Bonfadelli, 1994: 63)

„In ihrem ursprünglichen Kern besagt die Theorie, dass der Wissenserwerb aus den Massenmedien bei Gruppen aus höheren sozialen Schichten schneller vonstatten geht als bei unteren sozialen Gruppen“ (Pürer, 1998: 110). Somit hat die These einen zeitlichen Aspekt. Wissensklüfte können kurzfristig, aber auch über einen Zeitraum von mehren Jahren bestehen. Daher schlugen Tichenor et al. vor, die Veränderung des Wissenszuwachses sowohl in einem längeren, als auch zu einem beliebigen Zeitpunkt empirisch zu untersuchen (vgl. Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 163).

Mit der Wissenskluft hat die Minnesota Gruppe zwei hypothetische Erfahrungsgesetze formuliert: 1. Wissen ist in der Gesellschaft heterogen verteilt. Es besteht ein Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Status bzw. formaler Bildung und dem individuellen Wissensstand. 2. „Der Zusammenhang zwischen Wissen und Bildung ist vom externen Informationsfluss im Zeitablauf abhängig“ (Bonfadelli, 1994: 71).

Massenkommunikation kann - so die Wissenskluftthese - dysfunktionale5 Konsequenzen für eine Gesellschaft haben, da nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen von Medieninformationen profitieren, sondern bestehende Ungleichheiten verstärkt werden (vgl. Kunczik/Zipfel, 2001: 384).

„The ‚knowledge-gap’ hypothesis thus seems to suggest itself as a fundamental explanation for the apparent failure of mass publicity to inform the public at large“ (Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 161). Die Relevanz dieser Aussage wird klar, wenn bedacht wird, dass gesellschaftliche Wissensverteilung mit sozialen Chancen verknüpft ist. „Der ständig anwachsenden Informationsflut zu Trotz hat sich die Chancengleichheit im Informationszugang, in der Informationsnutzung wie -verwendung kaum erhöht“ (Bonfadelli, 1994: 73).

Werner Wirth hat festgestellt, dass der demokratische Bürger umfassend informiert sein und Meinungen anderer kennen muss, damit er eine eigene Meinung zu bilden vermag und damit seine Kritik-, Kontroll-, und Partizipationsmöglichkeiten wahrnehmen kann. Politik ist jedoch kein direkt erfahrbares Feld, weshalb sich die Bürger über die Massenmedien informieren müssen (vgl. Wirth, 1997: 23f.). Massenmedien haben also eine wichtige Funktion6 für die Gesellschaft. Diese Funktion ist dann erfüllt, wenn alle Menschen einer demokratischen Gesellschaft von den Informationen profitieren. Dieses wiederum wird von der Wissenskluftforschung bestritten.

1.2 Begründung der Hypothese

Die Minnesota Gruppe begründete ihre These damit, dass Höhergebildete es besser verstehen, Medieninhalte zu Nutzen und sich daraus Vorteile zu verschaffen, als niedrigere sozioökonomische Schichten. Die Medien haben dabei eine indirekte Rolle (vgl. Arnhold, 2003: 87 ff.). Im Mittelpunkt der Wissenskluftforschung stehen die aufgenommenen Informationen des Mediennutzers. Allerdings ist der Mediennutzer nicht als einzelnes Individuum zu betrachten, sondern die soziale Dimension, „also die Wissensverteilung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Segmenten“ (Bonfadelli, 1987: 306) steht im Vordergrund. Zur Bestätigung ihrer Hypothese führte die Minnesota Gruppe eine Diffusionsstudie, eine Trendstudie, ein Quasi-Experiment und ein Feldexperiment durch7. Die Untersuchungen ergaben: „Je stärker ein Thema publiziert wurde, desto größer war die Wissenskluft und umgekehrt“ (Holst, 2000: 24).

„Die Wissenskluftforschung konzentrierte sich darauf herauszufinden, warum Informations- und Kommunikationsprozesse in verschiedenen sozialen Schichten unterschiedlich verlaufen, und welche Faktoren für die Entstehung der Wissenskluft verantwortlich sind“ (ebd.: 20).

Fünf Faktoren, die mit dem Bildungsniveau zusammenhängen, sind nach Ansicht von Tichenor et al. für die Entstehung von Wissensklüften wichtig. Sie beeinflussen den Bildungsprozess auf psychologischen, sozialen und medialen Ebenen und sind mit steigender Bildung stärker ausgeprägt:

- Kommunikationskompetenz: Lese- und Verstehensfertigkeiten, die für den Erwerb von politischem und wissenschaftlichem Wissen notwendig sind, sind bei Menschen mit höherer formaler Bildung besser ausgebildet.
- Vorwissen: Bereits vorhandenes Wissen, durch Medien oder aus der Bildung stammend, erhöht die Aufmerksamkeit und erleichtert das Verstehen. Dies ist vor allem in höheren Schichten gegeben.
- Relevante soziale Kontakte: Höher Gebildete verfügen über mehr soziale Kontakte und damit über mehr interpersonelle Kommunikation, durch die der Informationsaustausch erhöht wird.
- Selektiver Umgang mit Informationen (selective exposure, acceptance and retention of information): Höhergebildete nutzen Medien zur Informationssuche freiwilliger und aktiver als untere Schichten. „Selective acceptance and retention, however, might be a joint result of attitude and educational differences“ (Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 162).
- Mediensystem: Informationen werden vor allem durch Printmedien übermittelt, die sich an den Bedürfnissen höherer Schichten orientieren, die deshalb Printmedien stärker nutzen als untere Schichten. Die ursprüngliche Wissenskluftforschung hat sich vornehmlich mit den Auswirkungen der Printmedien befasst und nur am Ende der Ausführungen Fernsehen als ‚knowledge leveler’ erwähnt (vgl. Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 162; Kunczik/Zipfel, 2001: 385; Bonfadelli, 1994: 72; Horstmann, 1991: 14; Holst, 2000: 25).

„One would expect the knowledge gap to be especially prominent when one or more of the contributory factors is operative“ (Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 163). Je stärker diese Faktoren ausgeprägt sind, desto mehr öffnet sich die Schere zwischen der sozialen Oberund Unterschicht (vgl. Horstmann, 1991: 14).

1.3 Basiskonzepte

In der ursprünglichen These werden vier Basiskonzepte genannt, die sich auf die Wissenskluft auswirken: Wissen, sozioökonomischer Status, Sozialsystem und Informationsfluss. Zum besseren Verständnis werden diese genauer erläutert.

1.3.1 Wissen

Die Begriffe Wissen und Information wurden in der ursprünglichen Formulierung unpräzise verwendet. „Eine eindeutige Wissensdefinition liegt der Wissenskluftforschung bisher nicht zugrunde“ (Holst, 2000: 39). Dies wäre allerdings eine Grundvoraussetzung, denn nicht bei jedem Themen- bzw. Wissensbereich sind Wissensklüfte zu erwarten (vgl. Wirth, 1997: 20).

Die Entwickler der Wissenskluft-Hypothese benutzen den englischen Begriff ‚Knowledge’, den sie in ‚Knowledge of’ und ‚Knowledge about’ aufteilten (vgl. Bonfadelli, 1994: 81). ‚Knowledge of’ bezeichnet alle Kenntnisse, die unbeabsichtigt, unbewusst, instinktiv oder ‚automatisch’ erlernt werden, es bezieht sich auf die Vertrautheit des Rezipienten mit dem Thema. „Im Gegensatz dazu umschließt ‚Knowledge about’ systematisches, formales, rationales, exaktes und präzises ‚Wissen’“ (vgl. Arnhold, 2003: 103). ‚Knowledge about’ beschreibt also das analytische Wissen.

„Dass Wissen nicht gleich Wissen ist“ (Bonfadelli, 1994: 81) hat Heinz Bonfadelli bei der Durchsicht der bisherigen empirischen Forschungsergebnisse festgestellt. Er schlägt vor, Ergebnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen in dieser zentralen Frage für die Wissenskluftforschung nutzbar zu machen (vgl. ebd.). Dies wird in Kapitel 2 dieser Arbeit erfolgen.

1.3.2 Sozioökonomischer Status

In der Wissenskluftforschung wird von der Prämisse ausgegangen, dass „die modernen Industriegesellschaften makrotheoretisch in soziökonomischen Schichten segmentiert sind, was sich mikrotheoretisch auf der Personenebene in der sozialen Position und dem damit verknüpften sozioökonomischen Status äußert“ (ebd.: 94). Obwohl das Konzept der sozialen Struktur für die Wissensklufthypothese wesentlich ist, hat die Minnesota Gruppe keine theoretisch umfassendere Auseinandersetzung gesucht, sondern hat den sozioökonomischen Status mit der formalen Bildung gleichgesetzt (vgl. Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 160).

Laut Katja Arnhold ist der soziale Status aber ein mehrdimensionales Konstrukt, dass neben dem formalen Bildungsgrad auch Besitz, Beruf, Geld und Macht umfasst (vgl. Arnhold, 2003: 96). Horstmann wirft gegen den Entwurf des sozialen Status als Merkmal der Wissenskluft ein, dass mit Hilfe des Status nicht unterschiedliche Lernleistungen bei gleicher Nutzung erklärt werden können (vgl. Horstmann, 1991: 25).

Untersuchungen zu Präsidentschaftswahlen der 1970er Jahre in den USA zeigten, dass weniger der Bildungsgrad als das Interesse8 an dem Thema zu einem Wissensunterschied führen kann. Hieraus hat Horstmann abgeleitet, dass „die Motivation ein Schlüsselfaktor für die Existenz und Einebnung von Wissensklüften ist“ (ebd.: 37). Der Faktor Bildung allein kann nicht den unterschiedlichen Wissenserwerb erklären, sondern das Interesse des Rezipienten muss untersucht werden (vgl. Pürer, 1998: 110). Eine Beschränkung auf Motivation und Interesse als alleinige Faktoren ohne Einfluss der Bildung ist jedoch auch nicht geeignet.

„Wenn man die Entwicklung der Wissensverläufe getrennt nach Bildung betrachtet, wird deutlich, dass besser Gebildete tatsächlich über höhere Lerngeschwindigkeit verfügen“ (Holst, 2000: 237). Mit Blick auf den Bildungsgrad kann man davon ausgehen, dass höhere Segmente tendenziell mehr formales Wissen haben. „Dies wäre zum Beispiel damit zu erklären, dass höher Gebildeten im Verlauf ihrer Sozialisation neben kognitiven Fähigkeiten auch bestimmte ‚Basismotivationen’ internalisieren“ (Kunczik/Zipfel, 2001: 389). Bildungsniveau und Sozialstatus stimmen strukturell überein und korrelieren auf der motivationalen Ebene mit quantitativer und informationsorientierter Nutzung der Medien, „sowie auf der kognitiven Ebene mit dem verfügbaren Vorwissen einerseits und andererseits differenzierten, objektivierten, reflexiveren Strategien der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung der medienvermittelten Informationen“ (Bonfadelli, 1994: 95).

1.3.3 Informationsfluss

In Bezug auf den Informationsfluss muss festgehalten werden, dass die Wissenschaftler aus Minnesota, wie schon beim Wissen, keine präzise Definition für ihre ursprüngliche Wissenskluftthese erstellt haben. Bezugnehmend auf die Systemtheorie hat Katja Arnhold festgestellt, dass Informationen nicht überreicht werden. „Der Kommunikator gibt nichts weg, da er nichts verliert“ (Arnhold, 2003: 97). Außerdem selektiert und interpretiert der Empfänger die Medieninformationen. Die Selektion von Botschaften ist wiederum subjektabhängig, also bei den Menschen unterschiedlich. Somit ist Information nicht einfach als Substrat, das zwischen zwei kognitiven Systemen übertragen wird, zu verstehen, sondern als Prozess (ebd.: 98).

Die Wissenskluftforschung besagt: „Steigt die Karriere und damit die Medienpublizität eines Themas an, so wächst auch der diesbezügliche Informationsfluss. [...] Wissensklüfte sind nur zu befürchten, wenn der Informationsfluss in einem Sozialsystem ansteigt“ (Wirth, 1997: 20). Printmedien verbreiten mehr Informationen als elektronische Medien, führen also zu größeren Wissensklüften. Verstärkt wird dieses durch die Mediennutzung: Höhere Schichten benutzen eher das informationsreiche Medium Zeitungen, für untere Schichten ist das informationsarme Fernsehen das Leitmedium (vgl. Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 162).

Mit steigender Bildung werden zusätzlich Informationen unabhängig von der persönlichen Verwendungsmöglichkeit als nützlich angesehen, untere Schichten nehmen eher Informationen auf, die einen erkennbaren Zug zu ihrer Lebenssituation haben. Bei steigendem Status / höherer Bildung werden vermehrt mehrere Medien zur Beschaffung von Informationen genutzt. Die Bedeutung des Faktors Bildung kann sinken, wenn der Kommunikator es schafft, Informationen zielgruppenspezifisch zu senden. Eine visualisierte Präsentation erleichtert beispielsweise die Informationsaufnahme (vgl. Bonfadelli, 1987: 311; Bonfadelli, 1994: 105f., 133f.; Holst, 2000: 30, 45f.).

Isabella-Afra Holst unterscheidet in Intensität und Informationsdichte eines Themas. „Die These, die bei hoher Intensität der Medienberichterstattung eine höhere Lerngeschwindigkeit besser Gebildeter unterstellt, kann als richtig bestätigt werden“ (Holst, 2000: 239). Die Intensität, also die Häufigkeit eines Themas in den Medien, fördert generell kurzfristige Wissensklüfte. Für die Entstehung von langfristigen Wissensklüften ist nach ihrer Untersuchung die Informationsdichte relevanter.

Je höher der Informationsanteil, desto eher wird die Wissenskluft gefördert, da höher Gebildete aufgrund ihres höheren Vorwissens, ihres differenzierten Wissensstands und stärkerer Übung des Lernens eher die große Anzahl der komplexen Informationen verarbeiten können. Dies gilt besonders für Themen, die nicht selbst erfahrbar sind und nur durch die Medien vermittelt werden (vgl. ebd.: 258). „Bei einer Medienberichterstattung mit hoher Informationsdichte und geringer Intensität entstehen sowohl für das Fakten- als auch für das Strukturwissen zwischen den Bildungsgruppen dauerhafte Wissensklüfte“ (ebd.: 243).

1.3.4 Sozialsystem

Mediale Kommunikationsprozesse sind in ein spezifisches soziales Umfeld eingebettet. Wissensunterschiede sind durch interpersonelle Kommunikation geringer als durch Massenkommunikation9. Daher sind die Einflüsse der sozialen Umgebung und der eigenen Erfahrungen größer als die Effekte der Medien.

„Bei Themen von besonderer Bedeutung für eine Gemeinschaft besteht eine geringere Wahrscheinlichkeit für Wissensklüfte. Das gleiche gilt für konflikthaltige Themen. Eine Gleichverteilung von Wissen ist in einer kleinen, homogenen Gemeinschaft eher zu erwarten als in einer großen, heterogenen und Wissensklüfte können sich mit abflauendem öffentlichen Interesse wieder schließen“ (Kunczik/Zipfel, 2001: 386).

Sozialstrukturelle Benachteiligungen von Rezipienten können deshalb teilweise durch Mitgliedschaft in sozialen Vereinigungen, Printmediennutzung, Themenbetroffenheit oder Vorwissen ausgeglichen werden. Daraus folgt auch, dass in kleinen, homogenen Gesellschaften Wissen gleichmäßiger verteilt wird, als in großen, pluralistischen Gruppen, da mehr Kommunikation zwischen den Menschen stattfindet (vgl. Bonfadelli, 1994: 107f., 133 ; Holst, 2000: 30, 45f.; Horstmann, 1991: 17).

Die Antwort auf die Frage, ob die Wissenskluftforschung in allen Sozialsystemen anwendbar ist, bleibt die Minnesota Gruppe schuldig (vgl. Arnhold, 2003: 96). Wirth schlägt vor, Parameter der Sozialsysteme (Anzahl der Medien, Gesamtheit der produzierten Information pro Zeiteinheit, Heterogenität/Homogenität der Gesellschaft) weiter zu erforschen (vgl. Wirth, 1997: 21). Bislang liegen hierfür nur Ansätze vor. Reinhold Horstmann hat daraufhingewiesen, dass der Einfluss der Sozialstruktur empirisch nicht nachgewiesen wurde und damit nur eine „plausible Vermutung“ ist (vgl. Horstmann, 1991: 64). Daher wird sich in dieser Arbeit auf ein großes, heterogenes Sozialsystem, dem der Bundesrepublik Deutschland, konzentriert, in dem Wissensunterschiede zu erwarten sind.

1.4 Ceiling-Effekt

Höhere Segmente werden nicht im absoluten Sinn immer wissender und untere Schichten verenden auch nicht geistig. „Instead, the proposition is that growth of knowledge is relatively greater among the higher status segments” (Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 160). Statusniedere Segmente bleiben also nicht unwissend. Damit ist eine Wissenskluft ein zeitliches Phänomen, bei der neueres Wissen zuerst von den höheren Schichten aufgenommen wird. Die Minnesota Gruppe wies sogar auf die Möglichkeit hin, dass sich Wissensklüfte wieder schließen können, ohne jedoch präzise Voraussetzungen zu formulieren.

Die Reduzierung und das Schließen von Wissensklüften wird als Decken- bzw. Ceiling- Effekt bezeichnet (vgl. Kunczik/Zipfel, 2001: 387). Hierbei stoppen obere Segmente aus mangelndem Interesse oder Erreichung des höchsten Wissenstandes die Informationssuche und die unteren Segmente können sich annähern. „Wissensklüfte können sich auch einebnen oder ausgleichen, wenn über ein Thema nicht mehr gesprochen wird und das darauf bezogene Wissen im gutinformierten Segment wieder vergessen wird“ (Bonfadelli, 1987: 309).

Der Ceiling-Effekt10 beschreibt somit das Angleichen des Wissens der unterschiedlichen Schichten nach einer gewissen Zeit. „Der Aufholmechanismus kann sich insbesondere bei Faktenwissen einstellen, das nicht vermehrbar ist“ (Holst, 2000: 34). Die Minnesota Gruppe analysierte die Zeitspanne für das Entstehen und Bleiben von Wissensklüften. Für kurzfristig, bedeutsame11 Ereignisse erkannten die Forscher, dass höher Gebildete schneller von einem Ereignis erfuhren als Menschen mit tieferer Bildung und einen Wissensvorsprung hatten (vgl. Bonfadelli, 1994: 68).

Die unteren Segmente der Gesellschaft können jedoch aufholen, wenn die oberen Schichten bereits das Maximum an Informationen gesammelt haben. Bei weniger bedeutsamen Ereignissen ist die Wissenskluft langfristiger. „Gleichzeitig vergrößerten sich die Korrelationen zwischen Bildung und Wissensstand bei jedem der drei Themen12 im Zeitverlauf, d.h. die Wissensklüfte verstärkten sich klar“ (ebd.).

Durch den Ceiling-Effekt können niedriger Gebildete ein geringeres Maß an Faktenwissen kompensieren, wenn die Informationsdichte nicht zu hoch ist. „Wesentlich geringer ist der Einfluss der Medien auf das Strukturwissen und auf die Meinung über Konflikte“ (Holst, 2000: 255). In diesen Bereichen ist mit langfristigen Wissensklüften zu rechnen.

1.5 Differenz- vs. Defizitperspektive

Die klassische Wissensklufthypothese basiert auf der Annahme, dass Wissen in unteren Segmenten fehlt. Der Ceiling-Effekt beschreibt eine Möglichkeit, wie sich Wissensklüfte nach einer gewissen Zeit schließen können. Eine Weiterführung dieses Aspektes ist die differenztheoretische Auslegung der Wissenskluft, in der fehlendes Wissen nicht als Defizit, sondern als Ursache unterschiedlich gelagerter Interessen verstanden wird (vgl. Bonfadelli, 1987: 308). Im Sinne einer differenztheoretischen Betrachtungsweise entstehen verschiedene Wissensklüfte zwischen den sozialen Segmenten aufgrund unterschiedlicher Neigungen. 1977 formulierten James S. Ettema und F. Gerald Kline die Wissensklufthypothese um:

„As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population motivated to acquire that information and/or for Deckeneffekte entstehen durch die Medien, die - vereinfacht - nur Wissen vermitteln, über das die höheren Segmente bereits verfügen. Eine weiter Möglichkeit ist, dass höhere Schichten sich genug informiert fühlen und keine weiteren Informationen aufnehmen. Echte Ceiling-Effekte treten erst dann auf, wenn ein Wissensbestand nicht weiter vermehrbar ist, wenn also keine weiteren Informationen publiziert werden können (vgl. Ettema/Kline, 1977: 197f.).

which that information is functional tend to acquire information at a faster rate than those not motivated or for which it is not functional, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather then decrease” (Ettema/Kline, 1977: 188).

Die Motivation zwischen den Schichten bzw. sogar in gleichen Schichten ist unterschiedlich gelagert. „Higher and lower socioeconomic status persons, in other words, may well see the world in somewhat different ways“ (ebd.: 189). Ettema und Kline verschoben damit den Fokus von kognitiven Kapazitäten zu eher spezifischen Fähigkeiten, die mit kognitiven Kapazitäten zusammenhängen. Damit steht die differenztheoretisch im starken Kontrast zu der defizittheoretischen Betrachtungsweise (vgl. ebd.: 187).

Die Differenzinterpretation ist in so weit sinnvoll, da sie erklärt, dass Mediennutzer in bestimmten Situationen keine Motivation zur Informationsaufnahme haben. Die Motivation zur Zuwendung zu einem Medium umfasst dabei jene Faktoren, die das aktive Suchen nach Informationen stimulieren und darüber entscheiden, wie „zielgerichtet und effizient mit welcher funktionalen Orientierung Medien und deren Aussagen benutzt werden“ (Bonfadelli, 1994: 102f.).

„Viele Wissenskluft-Phänomene13 können im Rahmen einer Differenzinterpretation plausibel erklärt werden“ (ebd.: 121). Problematisch ist allerdings, grundlegend alle Wissensklüfte mit Motivationsunterschieden zu beschreiben, denn der Bildungshintergrund, Medienkompetenzen und Vorwissen spielen für die Motivation eine Rolle. Zusätzlich würde der makrotheoretische Bezugsrahmen verloren gehen und die These wäre demokratietheoretisch angreifbar (vgl. Wirth, 1997: 35).

Durch die Differenzperspektive verliert die Wissenskluftthese ihre gesellschaftliche Brisanz. „Ein starkes Interesse am Thema durch subjektive Betroffenheit führte bei weniger Gebildeten bei intensiver Berichterstattung sogar zu mehr Strukturwissen“ (Holst, 2000: 255). Untere Schichten wissen über manche Tatbestände mehr als höhere Schichten, über andere eben weniger.

„Darüber hinaus scheint, kommunikationspolitisch betrachtet, ebenfalls die Abklärung der Frage von Bedeutung sein, in welchen Situationen welche Form medienvermittelten Wissens die Realisierung von gesellschaftlich relevanten Werten bei welchen Segmenten heraufzusetzen vermag“ (Bonfadelli, 1987: 323).

Die differenztheoretische Wissensklufthypothese ist als Alternative zur ursprünglichen Hypothese formuliert worden. Aus den dargestellten Gründen erscheint dieses nicht sinnvoll. Allerdings sollte die These der Minnesota Gruppe mit dem Aspekt der Motivation (wie in Kapitel 1.3.2 beschrieben hängt Bildung mit Motivation zusammen) ergänzt werden: „So können die Einflüsse von Interesse und Bildung durchaus in gleicher Richtung wirken und sich gegenseitig verstärken oder auf eine andere Art und Weise zusammenhängen“ (Wirth, 1997: 36).

1.6 Erweiterung der ursprünglichen These

Wie in den Ausführungen bereits angedeutet, hat die Wissensklufthypothese einige theoretische Lücken. Weiterentwicklungen gab es in den vergangenen Jahrzehnten sowohl auf der Mikro- als auch Makroebene14. „16 Querschnittsstudien haben sich in den letzten 20 Jahren mit verschiedensten intervenierenden Faktoren befasst, die den Zusammenhang von Bildung und Wissen zu verstärken oder abschwächen vermögen“ (Bonfadelli, 1987: 317). Hierbei wurde festgestellt, dass die Hypothese in ihrer ursprünglichen Form eingeschränkt werden musste. Heinz Bonfadelli hat eine Metaanalyse von 100 empirischen Studien, die sich direkt und indirekt mit der Wissenskluft beschäftigen, durchgeführt. Sein Ergebnis: Der Forschungsstand zur Wissenskluftforschung ist „dispers und disparat zugleich“ (Bonfadelli, 1994: 137).

Bonfadelli hat daraufhin gewiesen, dass oftmals vereinfachend von der Wissenskluft gesprochen wird, obwohl verschiedene Klüfte zwischen den Schichten bestehen (Bonfadelli, 1994: 89). In neueren Arbeiten wird daher auch von einem ‚communication gap’ statt eines ‚knowledge gap’15 gesprochen. Dieser Ansatz hat die Kluftkonzeption auf die Bereiche Innovation, politische Teilhabe, Mediennutzung und Motivation erweitert (vgl. Wirth, 1997: 28ff.). Werner Wirth hat drei Teilthesen zur Wissenskluftthese formuliert, die zur Unterscheidung verschiedener Wissensklüfte dienen:

1.6.1 Angebotsbedingte Wissensklüfte

„Steigt der Informationsfluss in einem Sozialsystem an, so steigt dieser vor allem in solchen Medienkanälen an, die habituell überwiegend von Personen mit höherer formaler Bildung16 genutzt werden, sodass diese die besseren Nutzungschancen haben“ (ebd.: 54).

Wirth hat festgestellt, dass die Komplexität angebotener Informationen die Entstehung von Wissensklüften beeinflussen. Je größer die Komplexität, desto größer die Schere zwischen den Gruppen (vgl. ebd.: 49). Hierbei ist zu beachten, dass Printmedien generell mehr Themenangebote machen als Radio oder Fernsehen (vgl. Arnhold, 2003: 107). Die angebotsreichen Printmedien werden - wie schon von Tichenor et al. beschrieben - intensiver von Höhergebildeten genutzt. Durch habitualisierte Mediennutzung, also die regelmäßige Nutzung und Zuwendung zu bestimmten Medien, besteht eine hohe Kontaktchance Höhergebildeter mit den Informationen. In anderen Worten: Durch die Printmediennutzung können höhere Schichten von Themen erfahren, von denen die Unterschicht nur wenig mitbekommt.

1.6.2 Nutzungsbedingte Wissensklüfte

„Steigt der Informationsfluss in einem Sozialsystem an, so tendieren Personen mit höherer formaler Bildung im Gegensatz zu weniger formal gebildeten Personen stärker dazu, das von ihnen wahrnehmbare Informationsangebot auch tatsächlich zu nutzen“ (Wirth, 1997: 54).

Bonfadelli konstatiert einen doppelten Privilegierungszusammenhang bei der Nutzung von Medien: Privilegierte verfügen über größere Ressourcen. Sie haben unter anderem durch soziale Kontakte einen besseren Zugang zu Informationen. Mit steigendem Status erhöht sich die Nutzung informationsorientierter Medien, wobei vermehrt zu den Printmedien gegriffen wird, während untere Schichten sich dem informationsärmeren Fernsehen zuwenden. Mit steigendem Bildungshintergrund werden mehr Informationen aus den Medien aufgenommen, auch wenn die gleichen Medien genutzt werden (vgl. Bonfadelli, 1994: 105ff.). Aufgrund der nutzungsspezifischen Unterschiede im Mediengebrauch kann es zu Wissensklüften kommen.

1.6.3 Rezeptionsbedingte Wissensklüfte

„Steigt der Informationsfluss in einem Sozialsystem an, so tendieren Personen mit höherer formaler Bildung im Gegensatz zu weniger formal gebildeten Personen dazu, die genutzten Informationen in einer insofern effizienten Weise zu rezipieren, dass Wissensklüfte zwischen diesen Bildungsgruppen tendenziell größer und nicht kleiner werden“ (Wirth, 1997: 55).

Für die Nutzung von Medien sind unterschiedliche Kompetenzen nötig. Für die Nutzung von Printmedien ist beispielsweise eine ausdifferenzierte Lesekompetenz erforderlich, beim Fernsehen (von Einblendungen und Untertiteln abgesehen) nicht (vgl. Bonfadelli, 1994: 107). Aufgrund ihrer in der Sozialisation ausgebildeteren Rezeptionskompetenz sind höher Gebildete besser in der Lage von der Mediennutzung zu profitieren als Menschen mit niedrigerer Bildung.

1.7 Kritik zur Wissensklufthypothese

An der Wissensklufthypothese ist häufiger Kritik geübt worden. Horstmann hat sie in drei Punkten zusammengefasst:

„1. Die Konturen des ursprünglichen Kommunikationsmodells des Ansatzes sind in der Forschung immer mehr verwischt worden, ein geschlossenes neues Modell ist nicht erkennbar
2. Die Formulierung der Hypothese ist unpräzise, der Verlauf des Prozesses und die Rolle der Einflussfaktoren nach wie vor ungeklärt
3. Die methodischen Anforderungen für die empirische Prüfung der Hypothese sind nicht angemessen“ (Horstmann, 1991: 19, 21, 25)

Heinz Bonfadelli kritisiert zum Beispiel die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Begriff Wissen und der geringen Beachtung von Rezeptionsprozessen (vgl. Bonfadelli, 1994: 81, 163). Tichenor, Donohue und Olien sind davon ausgegangen, dass allein die zunehmende Berichterstattung zu zunehmender Ungleichverteilung des Wissens in der Gesellschaft führt. Inhaltliche oder thematische Aspekte hat die Gruppe kaum berücksichtigt.

Für ihre Aussagen hat sich die Gruppe vornehmlich auf die Bereiche ‚Public Affairs’ und ‚Science News’ beschränkt (vgl. Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 160). Wirth kritisiert, dass dies lediglich ein interpretierbarer Fokus ist aber keine konkrete Abgrenzung. Er schlägt den Faktor der Erlebbarkeit vor. Desto weniger die Themen den Menschen betreffen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für Wissensunterschiede. „Hingegen bergen andere Themen, die direkt und persönlich erfahrbar werden können, weniger Potential für Wissensklüfte“ (Wirth, 1997: 20).

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die fünf Faktoren, die an der Entstehung der Wissenskluft beteiligt sind. Sie wurden intuitiv ermittelt und nicht streng empirisch untersucht. „Bemerkenswerterweise ‚übersehen’ die Autoren die positive Wirkung von Interesse und Motivation auf den Wissenserwerb wie auch mögliche Zusammenhänge zwischen Interesse und Bildung“ (ebd.: 17).

Werner Wirth kommt zu dem Schluss, dass es mittlerweile nicht mehr darum geht, die ursprüngliche These zu bestätigen oder zu widerlegen. „Vielmehr sollte die These als Forschungsperspektive begriffen werden und die Bedingungen der Entstehung, Vermeidung und Einebnung von Wissensklüften von mehreren Seiten erforscht und eingekreist werden“ (ebd.: 304).

1.8 Zusammenfassung

Die Grundannahme der Wissenskluftforschung ist, dass Medien indirekt ein tendenzielles Wissensungleichgewicht in der Gesellschaft verursachen, da Informationen durch Massenmedien in unterschiedlichen Schichten unterschiedlich aufgenommen werden. Hierbei spielen diverse Variablen eine Rolle: sozioökonomischer Status, Informationsfluss, Wissen, Sozialsystem und - im differenztheoretischen Modell - Motivation. Diese stehen in einem komplexen Zusammenhang, wie die Grafik zeigen soll: (Bonfadelli, 1994: 103)

„Die Wissenskluft ist also weit umfassender, als es auf dem ersten Blick scheinen mag“ (Wirth, 1997: 19). Doch kompliziert muss die Wissenskluftforschung nicht sein, wenn bedacht wird, dass die Faktoren der Wissenskluft in der Kindheit geprägt werden. In der Phase des Heranwachsens entsteht Wissen, das bei späterer Informationsaufnahme als Vorwissen dient. Motivationen für die Mediennutzung werden in dieser Phase vermittelt. Das Lesen, die Grundlage um Printmedien zu nutzen, wird im Kindesalter erlernt. Daher richtet diese Arbeit einen genaueren Blick darauf, wie die Ursachen für Wissensklüfte vor dem Erwachsenenalter entstehen.

2. Wissen

Der Begriff Wissen wurde in der Wissenskluftforschung nicht präzise definiert, obwohl es ein Grundpfeiler dieses Bereiches ist. In diesem Kapitel muss sich daher genauer mit dem Thema befasst werden. Zu Beginn wird die Frage erörtert, warum Wissen so schwer zu definieren ist und wie Wissen mit Information zusammenhängt. Im Anschluss werden die Voraussetzungen des Wissenserwerbs aus Sicht der Hirnforschung beschrieben. Anhand des kognitiven Modells von Jean Piaget lassen sich charakteristische Stufen der kindlichen Entwicklung darstellen. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird der Unterschied zwischen Fakten- und Strukturwissen diskutiert.

2.1 Der Wissensbegriff

Menschen verfügen über Wissen und kognitive Fähigkeiten. Doch was Wissen generell ist, ist nicht eindeutig geklärt. „Inzwischen existieren unzählige Definitionen, Typologien, Modelle und Hierarchien von Wissen“ (Kübler, 1999: o.A.). Die verschiedenen Modelle unterliegen meist gesellschaftlichen oder historischen Anforderungen. Ein Problem für eine allgemeine Definition des Begriffes ist die große Breite von Wissen. Es gibt beispielsweise Wissen zu Sachverhalten, allgemeines Wissen, Wenn-Dann-Wissen, Wissen als Grundlage des Könnens, Wissen der Sprache und sogar Wissen über das Wissen (vgl. Strittmatter/Tack, 1990: 7ff.).

Elke Brendel schlägt sogar vor, Wissen nicht zu definieren. „Die Suche nach einer Wissensdefinition sollte vielmehr durch eine philosophische über Wahrheit und Rechtfertigung ersetzt werden“ (Brendel, 1999: 298). Semantische Wahrheit bildet für sie zusammen mit der internalistischen Rechtfertigung einen notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden „Bedeutungskern von Wissen“ (ebd.). Diese philosophische Diskussion kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.

Wissen ist individuellen Auslegungen unterlegen: „Vorwissen und Motivation, die bei der Wissensaneignung durch Massenmedien eine wesentliche Grundlage bilden, können daher völlig anders gelagert sein, sodass man nicht von dem ‚Wissen’ sprechen kann“ (Holst, 2000: 36). Ein und dasselbe ‚Wissen’ kann für jeden Menschen etwas anderes bedeuten. „Zum Wissen gehören Kenntnisse, Meinungen, Auffassungen, Bewertungen und Ziele“ (Kraak, 1991: 12). So kann zum Beispiel Wissen über Talkshows für einzelne Rezipienten genauso wichtig sein, wie die Rettung indischer Wasserreserven für andere. Festzustellen ist: Welches Wissen gesellschaftlich relevant ist, ist ungeklärt (vgl. Arnhold, 2003: 102).

Eine Voraussetzung für Wissen ist bekannt: die Informationen1. Wissen und Informationen stehen in einem Verhältnis zueinander, dürfen aber nicht gleichgesetzt werden. „Wissen ist eine Form von Information. Alles Wissen ist Information. Aber nicht alle Information ist Wissen“ (Deutsch, 1990: 187). Je mehr Informationen ein Mensch sammelt, desto mehr Wissen kann er haben. „Information kann beispielsweise definiert werden als Reduktion von Ungewissheit“ (Bonfadelli, 2001: 22).

Die Informationsübermittlung ist Grundlage der Kommunikation. Bei der Kommunikation handelt es „sich also um ein verbales und/oder nonverbales Miteinander-in-Beziehung- Treten von Menschen zum Austausch von Informationen“ (ebd.). Der Prozess der Informationsübermittlung kann unterschieden werden in Individualkommunikation, bei der der Empfänger dem Sender bekannt ist, und Massenkommunikation, bei der Informationen an einen unbekannten Empfänger, dem Rezipienten, gesendet werden.

„Kommunikation selbst ist freilich noch keine hinreichende Bedingung für Lernprozesse“ (Bonfadelli, 1994: 217). Informationen können, müssen aber nicht zwingend Wissen sein bzw. in Wissen umgewandelt werden. Voraussetzung für Kommunikation ist, dass die Symbole und Zeichen (z.B. Buchstaben) von dem Empfänger verstanden und verarbeitet werden. Dass dieser Prozess in verschiedenen Schichten mit unterschiedlicher Intensität geschieht, ist eine zentrale Aussage der Wissenskluftforschung. Im folgenden Abschnitt sollen zunächst Bedingungen der Informationsverarbeitung anhand der Hirnforschung untersucht werden.

2.2 Hirnforschung

Das menschliche Gehirn besteht aus zirka einer Billion Nervenzellen, den Neuronen (vgl. Gudjons, 2003: 221). Sie sind über Dendriten und Axone, den verzweigten Fortsätzen der Neuronen, miteinander vernetzt. Die Kontaktpunkte zwischen den Neuronen werden als Synapsen bezeichnet. Mit Hilfe von elektrischer und chemischer Energie werden Impulse weitergegeben2 (vgl. Roth, 2003: 11ff.).

Nervenzellen entstehen vor der Geburt im Mutterleib. „Beim Menschen ist die Zahl der Neuronen nach der Geburt konstant und nimmt im Laufe des Lebens sogar leicht ab“ (Beiersdörfer, 2003: 72). Die Neuronen verknüpfen sich untereinander, wobei die Verästelung im Laufe der Kindheit und der Jugend zunimmt. „So bildet sich nach und nach ein immer feiner verästeltes natürliches neuronales Netz“ (ebd.). Diese Verästelungen bilden die Voraussetzung für kognitive Leistungen3. „Die Synapsen sind der wichtigste bislang bekannt Informationsspeicher im Gehirn, in ihnen steckt ein Großteil unseres Wissens“ (Sesín, 2003: 24). Mit dem Begriff Kognition wird in neueren Ansätzen (im weitesten Sinne) die Informationsverarbeitung beschrieben. „Der Ausdruck bezeichnet die mentalen Strukturen und Prozesse, die in Organismen als informationsverarbeitendes System bei der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt aktiviert werden“ (Huber/Mandl, 1991: 511). Für den Wissenserwerb, dem Lernen, sind demnach kognitive Strukturen entscheidend.

„Der ganze Stolz des Menschen ist sein vergleichsweise voluminöses Großhirn. Dessen dünne, graue Oberflächenschicht, die Großhirnrinde (Cortex), gilt als Sitz höherer Hirnfunktionen wie Denken, Bewusstsein, Wahrnehmung und Vorstellen“ (Sesín, 2003: 17). Da keine einzelne Nervenzelle, sondern nur Tausende oder Millionen Neuronen eine Wirkung erzeugen können, kann man sie in Gruppen zusammenfassen. Meist haben diese Gruppen nur eine Funktion, beispielsweise sensorisch oder motorisch. Auf dem Cortex sind die Funktionen wie auf einer Landkarte verteilt.

Direkt hinter der Denkerstirn befindet sich der präfrontale Cortex; das höchste kognitive Zentrum des Gehirns. In der Jugendzeit entwickelt sich die Feinstruktur des orbitofrontalen Cortex, eines zweiten hohen kognitiven Zentrums im Stirnhirn. Mit der Entwicklung dieses Hirnabschnittes erwirbt der Mensch die Fähigkeiten Handlungen langfristiger zu planen, egoistisch-impulsive Antriebe zu zügeln und besonnenes Verhalten zu entwickeln (vgl. Roth, 2003: 65).

Es wäre jedoch zu einfach, allein die kognitiven Strukturen als Voraussetzung für Lernen zu benennen. Ein weiterer Faktor ist die Motivation. „Motivation ist eine der entscheidenden Bedingungen des Lernens überhaupt“ (Gudjons, 2003: 229). Mit anderen Worten: Wer keine Lust hat, eine Information aufzunehmen, der wird es nicht tun. Hieran lässt sich die Relevanz der Hirnforschung auch für die Wissenskluft deutlich machen, in der es heißt: „Medienvermittelte Information orientiert sich an den Interessen und Werten der gesellschaftlichen Eliten und dementsprechend sind es auch wiederum diese Eliten, die von der Medieninformation am meisten profitieren“ (Bonfadelli, 1994: 41).

Die verschiedenen Gehirnfunktionen arbeiten nicht voneinander getrennt. Dies hat auch Auswirkungen auf den Wissenserwerb. Einige Informationen werden bereits nach einmaliger Aufnahme permanent gespeichert, während andere schwieriger zu verarbeiten sind (vgl. Vester, 2001: 83). Damit Informationen permanent und langfristig gespeichert werden können, müssen sie ein „inneres Erlebnis“ (ebd.: 84) sein, beziehungsweise zu einem gemacht werden. Auch das Erinnern wird erleichtert, wenn bei der Aufnahme der Impulse Synapsen aus möglichst vielen Bereichen anregt werden(vgl. ebd.: 83 f.).

Emotionen spielen eine wichtige Rolle für den Wissenserwerb. „Emotionen entstehen, ausgelöst durch Neurotransmitter, Neuropeptide und Hormone, vor allem im limbischen System, das Teile der Großhirnrinde (z.B. des Stirnhirns) und viele Zentren im übrigen Gehirn umfasst“ (Beierdörfer, 2003: 90). Durch das limbische System werden Informationen verstärkt, Vorstellungen und Bilder werden zusammengebracht. Die Informationen werden so aufbereitet, dass sie im Gedächtnis gespeichert werden können.

„Eindrückliche emotionale Begleitumstände fördern nachweislich die Gedächtnisleistung, was inzwischen neurochemisch belegt werden konnte“ (Gudjons, 2003: 220). Wertneutrale Informationen kann das Gedächtnis dementsprechend nicht einfach speichern, sondern muss sie mit einer Bedeutung versehen. Den eigentlich neutralen Informationen werden Nebeninformationen hinzugefügt, um sie in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Hierdurch wird die Gedächtnisbildung erheblich verbessert (vgl. ebd.: 224). Mit anderen Worten: „Jedermann weiß, dass wir uns besonders gut an Ereignisse erinnern, zu denen wir eine starke Gefühlsanbindung haben“ (Hunziker/Mazzola, 1990: 141).

Emotionen, Motivationen und Kognitionen sind Voraussetzungen für den Wissenserwerb. Damit bietet sich an, die ursprüngliche Wissensklufthypothese von Tichenor, Donohue und Olien nicht nur im Sinne der Differenzperspektive um den Faktor Motivation zu erweitern, sondern auch um den Faktor Emotionen.

2.3 Gedächtnis

Gesammelte Informationen werden im Gedächtnis gespeichert. „Wenn Lernen als Erwerb neuen Wissens durch Erfahrung definiert werden kann, so bedeutet Gedächtnis die Fähigkeit, dieses Wissen wieder auffindbar zu bewahren“ (Klimsa, 1998: 80). Das Gedächtnis4 befindet sich als allgegenwärtige Funktion in den Synapsen. Die Fachliteratur bietet verschiedene Modelle von Gedächtnissen. Diese Arbeit konzentriert sich auf das dreigliedrige Multi-Speicher-Modell von Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langezeitgedächtnis.

2.3.1 Ultrakurzzeitgedächtnis

Die ständig auf unser Gehirn einströmenden Impulse werden in einem ersten Filter, dem Ultrakurzeitgedächtnis, aussortiert. „Dieser Filter schützt uns - auch wenn nicht vollständig - vor einer starken Belastung mit Informationen und erleichtert uns dadurch die Orientierung“ (Vester, 2001: 62). Somit ist das Ultrakurzzeitgedächtnis (auch sensorischer Speicher) keine eigenständige Art des Gedächtnisses, sondern eine Teil der Informationsverarbeitung (vgl. Klimsa, 1998: 79). In diesem Filter werden Informationen aussortiert, wenn z.B. keine Aufmerksamkeit vorhanden ist oder die Impulse nicht mit anderen, bereits bekannt Informationen, assoziiert werden können. Die Impulse klingen dann wieder ab und verschwinden (vgl. Vester, 2001: 58). Der Vorgang dauert wenige Sekunden.

„So kurz die Verweilzeit in unserem Gedächtnis auch ist, sobald wir die Informationen innerhalb dieser paar Sekunden abrufen, sobald wir sie irgendwelchen bereits gespeicherten Gedächtnisinhalten zuordnen und eine Resonanz mit schon vorhandenen Erinnerungen erzeugen, können wir auch die neuen Eindrücke vor dem Verlöschen retten“ (ebd.: 61)

2.3.2 Kurzzeitgedächtnis

Wurden neue Informationen im Ultrakurzzeitspeicher noch einmal aufgerufen, können sie im Kurzzeitgedächtnis weiter verarbeitet werden. Informationen, die dort hingelangen, werden bis zu 20 Minuten gespeichert. Danach können sie wieder verschwinden. Solche Löschungen entstehen beispielsweise bei Schockerlebnissen wie einem Verkehrsunfall. In einem solchen Fall kann sich der Fahrer eines Wagens nach einiger Zeit nicht mehr genau an das Ereignis erinnern (vgl. ebd.: 65 ff.).

Die langfristige Speicherung von Informationen im Gedächtnis kann auch durch andere Einflüsse (Lärm, ständige Ablenkung durch andere oder der Person selbst) eingeschränkt werden. Informationen werden dann zwar im Kurzzeitgedächtnis, aber nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert. Das individuelle Lernumfeld ist daher beim Wissenszuwachs einzubeziehen. Genauso wie bei der Aufnahme von Informationen motivationale und emotionale Begeleitumstände zu berücksichtigen sind.

Im Kurzzeitgedächtnis werden - vereinfacht gesagt - die Impulse des Ultrakurzzeitgedächtnisses für das Langzeitgedächtnis aufbereitet. In den Nervenzellen werden aus der DNS Ribonukleinsäure-Matrizen (RNA) erstellt. An der RNA ordnen sich Aminosäuren an. Durch Ribosome werden sie miteinander verknüpft, zu Proteinketten umgewandelt und langfristig gespeichert. Die RNA-Matrize zerfällt wieder (vgl. ebd.: 74 ff.). Die Information kann vorzeitig verfallen, wenn Ablenkungen, wie die oben geschilderte Unfallsituation, oder wechselnde Motivationen auftreten (vgl. ebd.: 77).

2.3.3 Langzeitgedächtnis

„Der Langzeitspeicher hat keine Begrenzung in der Menge der Informationsaufnahme. Die Speicherung von Informationen erfolgt permanent“ (Klimsa, 1998: 79). Allerdings stellt sich die Frage, ob der Mensch auch Informationen im Langzeitgedächtnis vergessen kann. Frederic Vester unterscheidet zwei Arten von Vergessen. Die eine ist, wie bereits beschrieben, der unwiederbringliche Verlust einer Information im Ultrakurzzeit- oder Kurzzeitgedächtnis. Das Vergessen im Langzeitgedächtnis beschreibt er als „‚Nicht- Wiederfinden’ von im Grunde irgendwo gespeicherten, aber zugeschütteten oder durch blockierte Schalter abgeschnittene Informationen5 “ (Vester, 2001: 82).

Ein Grund für das ‚Vergessen’ im Langzeitgedächtnis kann die Vernetzung der Neuronen sein. Einige Verknüpfungen sind besser ausgeprägt als andere. „Die Impulse laufen also hier bevorzugt durch - und knüpfen schneller die so vorgebahnten Assoziationen“ (ebd.: 83). Die anderen Verknüpfungen werden benachteiligt. Die Informationen in ihnen werden sehr selten abgerufen. Eine andere Begründung ist die mögliche Störung der Synapsentätigkeit durch beispielsweise stressartige Erlebnisse (vgl. ebd.).

Entstehung und Veränderung neuraler Strukturen haben für den Wissenszuwachs eine unschätzbare Bedeutung. In den Verästelungen werden Informationen, die der Mensch lebenslang sammelt, eingelagert. Menschen mit größerem Vorwissen nehmen mehr Informationen auf, da aufgenommene Impulse im Ultrakurzzeitgedächtnis eher mit bereits vorhandenen Informationen assoziiert werden können. Vorwissen, das laut der Hypothese

[...]


1 Obwohl systemtheoretisch auf der Makroebene formuliert, spannt die Wissenskluftforschung gleichzeitig den Bogen zur Mikroebene, „indem sie Produktion, Distribution und Konsumption von medienvermittelten Informationen miteinander verbindet“ (Bonfadelli, 1994:42). So sind entsprechende empirische Überprüfungen der Hypothesen möglich.

2 Die Wissenskluftforschung ist eine theoretische Weiterentwicklung der Diffusionstheorie. Diese fragt auf der Mikroebene, wann jemand von einem Ereignis erfahren hat. Dem entspricht auf der Makroebene die Frage, wie schnell ich eine Neuigkeit in einer Population verbreitet. Das Zusammenspiel von interpersoneller und Massenkommunikation bestimmt dabei die Diffusionsgeschwindigkeit, wobei ereignis- und empfängerbezogene Faktoren mit dem Mediensystem interagieren (vgl. Bonfadelli, 1994: 75ff.). In der empirischen Überprüfung hat die Diffusionstheorie nachgewiesen, dass mit steigender Bildung Nachrichten früher erfahren und umfassender aufgenommen werden. Damit bestätigt die Nachrichtendiffusionsforschung eindeutig die Hypothese der wachsenden Wissenskluft (vgl. ebd.: 177).

3 Werner Wirth bezeichnet diese Aufzählung wegen mangelnder konkreter Abgrenzung als einen zu interpretierenden Fokus. „Allgemein politische und wissenschaftliche Themen, die den Bürger nicht unmittelbar betreffen bzw. von ihm nicht direkt erlebbar sind, sind danach besonders gefährdet, Wissensklüfte hervorzubringen“ (Wirth, 1997: 19f.).

4 Die Medienberichterstattung in dieser Grafik ist nicht rückläufig, sondern nimmt ebenfalls zu. 4

5 Diese Dysfunktionalität der Massenmedien ist die Folge von Überproduktion von Information durch die Medien selber, die auf eine nicht homogene Gesellschaft trifft. Dysfunktionalitäten können aber auch auftreten, wenn Informationen keinerlei Gebrauchswert für die Rezipienten haben oder dieser mit dem Informationsangebot überfordert ist (vgl. Bonfadelli, 1994: 39).

6 In Deutschland ist sie vom Gesetzgeber in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben: „(1) Jeder hat das

Recht [...] sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ (Deutscher Bundestag, 1998: 14).

7 Generell äußert sich Kritik zu der empirischen Prüfung der Wissensklufthypothese. „Überwiegend wurden Querschnitt- und nicht Längsschnittsuntersuchungen durchgeführt. Dadurch waren Aussagen über langfristige Entwicklungen eher selten“ (Holst, 2000: 253).

8 Dies kann zum Beispiel damit erklärt werden, dass Mediennutzer unterer sozioökonomischer Schichten eine größere Motivation haben, sich mit Themen zu beschäftigen, die einen konkreten Alltagsbezug haben (vgl. Bonfadelli, 1994: 227).

9 Dies erklärt zum Beispiel, dass besser gebildete Wenignutzer über kaum geringeres Wissen als besser gebildete Vielnutzer von Medien verfügen (vgl. Bonfadelli, 1987: 318).

10 Es wird in drei Varianten des Ceiling-Effekts unterschieden: unechte, erzwungene und echte Effekte. Unter unechten Deckeneffekten sind in der Wissenschaft beschriebene Ceiling-Effekte zu verstehen, die auf Messinstrumenten basieren, die nicht über das ganze Spektrum der Antwortmöglichkeiten verfügen. Erzwungene

11 Sie untersuchten zum Beispiel den Wissenstand zum Rücktritt von Nikita Chruschtschow

12 Die Forscher nahmen eine Sekundäranalyse der Themen Identifikation von Erdsatelliten, Glaube an die Möglichkeit einer Mondlandung und die der Überzeugung, dass Rauchen Lungenkrebs verursacht (vgl. Tichenor/Donohue/Olien, 1970: 163 ff.).

13 Ein Beispiel hierfür sind erzwungene Ceiling-Effekte

14 Auf der Makro-Ebene, auf der Medien als Subsystem der Gesellschaft verstanden wird, das alle Subsysteme der Gesellschaft interpenetriert, rückte für die Minnesota-Gruppe Auswirkungen auf Macht und sozialen Kontrolle in den Vordergrund: Medien üben soziale Kontrolle aus, unterliegen aber umgekehrt Einflüssen aus der Gesellschaft. „Nicht Wissen oder Information per se interessiert darum in dieser Perspektive, sondern die Frage, wie Wissen und Information produziert und verarbeitet werden, um Macht und soziale Kontrolle aufrecht zu erhalten“ (Bonfadelli, 1994: 122). Wissensklüfte im makrotheoretischen Zusammenhang basieren auf ungleichen Informationsflüssen durch Informationskontrolle.

15 Rein von der Formulierung her wird aus pragmatischen Gründen im den folgenden Ausführungen allerdings der Begriff Wissenskluft dem der Kommunikationskluft vorgezogen, da - wie auch Horstmann schrieb- „dieser Begriff nun einmal geprägt worden und in der wissenschaftlichen Diskussion eingeführt ist“ (Horstmann, 1991: 202).

16 Wirth hat den sozioökonomische Status durch formale Bildung ersetzt. Beim Informationsfluss geht er generell von einem politischen Informationsfluss aus (vgl. Wirth, 1997: 54).

1 Im Sinne der Systemtheorie ist Information kein Substrat, das bei Interaktion zwischen kognitiven Systemen übertragen wird, sondern vielmehr ein Prozess (vgl. Arnhold, 2003: 98). Mit dem Begriff Information ist in der Publizistikwissenschaft also soziales Handeln gemeint.

2 Diese Energie ist mit dem EEG (Elektroenzephalogramm) messbar. Bei Versuchen wurde festgestellt, dass Neugeborene ein undifferenziertes Hirnstrombild zeigen, sich dieses im Schulalter stabilisiert und im Erwachsenenalter eine gefestigte Charakteristik zeigt (vgl. Hunziker/Mazzola, 1990: 59).

3 Die Stärke und die Ordnung der synaptischen Verbindungen kann sich zeitlebens ändern, weshalb der Mensch zeitlebens lernen kann (vgl. Beiersdörfer, 2003: 72).

4 Beim Aufbau des Gedächtnisses kann man zwischen bewusstem und unbewusstem Registrieren von Sachverhalten unterscheiden.

5 Als Begründung nennt er den Effekt, dass Menschen unter Hypnose auf verschüttete oder abgeschnittene Informationen wieder zugreifen können. Die Informationen können demnach nicht gelöscht worden sein.

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
Die Wissenskluft beginnt im Kindesalter
Untertitel
Der Einfluss der Medien auf die primäre Sozialisation; dargestellt am Beispiel von Kinderzeitschriften
Hochschule
Hochschule Bremen
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
110
Katalognummer
V85688
ISBN (eBook)
9783638900546
ISBN (Buch)
9783638905893
Dateigröße
1693 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wissenskluft, Kindesalter, Kinderzeitschriften, Journalismus, Sozialisation, Gehirnforschung
Arbeit zitieren
Nils Ortmann (Autor:in), 2004, Die Wissenskluft beginnt im Kindesalter , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85688

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