Der schwache König

Souveränität und Gewalt im Nibelungenlied


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Einordnung

3. Das Nibelungenlied

4. Die Fragilität von Herrschaft – der schwache König
4.1. Siegfrieds Ankunft in Worms
4.2. Der Krieg gegen Dänen und Sachsen
4.3. Gunthers Brautfahrt

5. Fazit

6. Literatur:

1. Einleitung

Das Nibelungenlied ist ein Erzählstoff, auf den ein oder mehrere unbekannte Dichter zurückgegriffen haben und der selbst im ausgehenden 12. Jahrhundert schon mehrere Jahrhunderte alt ist. Das Epos ist durch und durch politisch, in ihm spiegelt sich die Sorge um die Stabilität der damaligen Zeit wider. Die Wende von 12. zum 13. Jahrhundert ist gekennzeichnet von einem Wandel der Ethik des Mittelalters, von verschiedenen konkurrierenden Machtansprüchen ebenso wie von einer ritterlichen Ethik der Treue, des Heldentums und eines aufkommenden Gespürs für die Notwendigkeit von Diplomatie und Frieden. Es ist sicherlich anzunehmen, dass der Autor oder die Autoren des Nibelungenlieds bei der Erarbeitung und Überarbeitung des Epos die jeweiligen politischen Geschehnisse und Ereignisse der damaligen Zeit reflektierten und in die Ausformung einfließen ließen. Die Tatsache, dass verschiedene, inhaltlich voneinander abweichende Fassungen des Textes existieren, zeigt Brandt zufolge, dass die weiteren Verarbeitungen des Stoffs einem zeitgenössischen Anspruch folgten, eben die Ereignisse und Umwälzungen der damaligen Zeit zu erfassen.[1]

Die Herausbildung einer feudalen Gesellschaftsordnung, wie sich im frühen Mittelalter vollzieht, ist ebenso von den „Stürmen der Völkerwanderungszeit“ geprägt wie von der Durchsetzung des Christentums und der konfliktträchtigen Verflochtenheit von Kirche und feudalen Gruppierungen. Unsicherheit und Unbeständigkeit sind prägende Bezeichnungen während dieser Zeit der deutschen Geschichte, an dessen Anfang der Zerfall des Weströmischen Reiches steht.

Im Folgenden soll das Nibelungenlied dahingegen überprüft werden, inwiefern sich diese Wende, in der sich Tradition und ‚Modernisierung’ gegenüberstehen, im Epos ausdrückt. Insbesondere soll hierbei auf die Rolle des Königs Gunther eingegangen werden, der eine zentrale Stellung zur Bearbeitung der Frage innehat. Im Anschluss wird die These entwickelt, dass neben Siegfried insbesondere Gunther seiner ihm durch seine Position zugewiesener Souveränität nicht gerecht wird und dadurch die Vernichtung der Burgunden und die damit verbundene Gewalttätigkeit provoziert.

2. Einordnung

Das Mittelalter wird in der profanen Vorstellungswelt der Gegenwart häufig als ein ‚dunkles’ Zeitalter[2] beschrieben, auf das – vielleicht chronologisch nicht ganz korrekt, jedoch in der Semantik zutreffend – das Zeitalter der Aufklärung folgt, welches ‚Erleuchtung’ in die vorangegangene Düsternis bringen sollte.[3] Die heutigen Vorstellungen über das Mittelalter kennzeichnen die Epoche als eine Zeit des Krieges und Brutalität und in der sich der in Europa vollziehende Feudalisierungs- und Christianisierungsprozess überwiegend gewalttätig vollzog.[4] Das Nibelungenlied als mittelalterliche Dichtung wird dafür häufig als Beispiel herangezogen. Die Gesellschaften bzw. Gemeinschaften des Mittelalters waren keine konsensorientierten Verbindungen, sondern die „Macht des Schwertes“ (Michel Foucault) regierte, auch wenn es besonders aus dem Bereich der religiösen Laienbewegungen hier und da Bestrebungen gegeben hat, Frieden zu begründen. Oexle hebt hervor, dass für das 11. und 12. Jahrhundert den religiösen Bewegungen keine spezifische Friedensidee zugrunde lag, sondern vielmehr mit der Reform der Römischen Kirche (‚Gregorianische Reform’) in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ein Legitimationsschub für die Waffengewalt von Königen, Adligen und Rittern durch eben die religiösen Bewegungen einsetzte.[5] Gemäß der funktionalen Dreiteilung wurde der ebenfalls funktionale Waffengebrauch durch den Einzelnen legitimiert. Jedoch wurden nicht nur die Regeln für gewalttätige Auseinandersetzungen aufgestellt und legitimiert, auch der Klerus selbst griff aktiv durch die Aufstellung bischöflicher Milizen in kriegerische Handlungen ein.

Verbunden damit ist eine durchaus positive Einstellung, besonders des Frühmittelalters, zum Krieg: „[B]is Ende des ersten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung galt der Krieg als eine gute Sache“.[6] Das Kriegshandwerk gehörte zur Normalität der Herrschenden, der ‚Freien’ untereinander und ergab sich aus der Notwendigkeit der Verteidigung, dem territorialen Eroberungswillen oder den Bestrebungen, die Christianisierung auch mit Waffengewalt durchzuführen. Fumagali verweist in seiner mentalitätsgeschichtlichen Studie über das „Lebensgefühl im Mittelalter“ (1988), dass eine Vertrautheit des mittelalterlichen Menschen mit Krieg und Tod herrschte. Bestimmte, weitaus ungefährlichere Naturphänomene wie Sonnen- oder Mondfinsternisse, Sternschnuppen o.ä. galten weitaus mehr als Grund einer allgemeinen Beunruhigung und Angst als die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Menschen.[7]

Dem jeweiligen Stand war ein spezifisches Tätigkeitsfeld gegeben, und so auch das Kriegführen. Neben Priester und Bauer gehörte dazu der Krieger, nach der Stände-Lehre Platons (ordines) die Mitglieder der herrschenden Kaste und für das Mittelalter die Könige und Fürsten.[8] Die auf den drei Ständen basierende soziale Ordnung beinhaltet eine von Gott vorgegebene Dreiteilung der Menschheit nach funktionalen Prinzipien:

„Die einen, die meisten, haben die Aufgabe, zu arbeiten; andere haben die Aufgabe, zu beten; noch andere schließlich bilden die Ordnung der Krieger, deren Auftrag im Kampf zu besteht und die das Monopol der kriegerischen Aktivität innehaben.“ (Duby 1990: 137f.)

Die mittelalterliche Rechtsordnung ist eine Ordnung des Gleichgewichtes, die ihre Legitimation aus der Autorität Gottes zieht, die gleichermaßen an die kirchlichen und feudalen Herrscher verteilt ist. Jedes Moment einer Kraft, beispielsweise einer Handlung erfordert ein Gegenstück, eine ausgleichendes Moment. Diese Vorstellung des Gleichgewichts drückt sich in den Begriffen der Rache, der Buße oder der Sühne aus. So bestimmt die Kriegsrechtslehre eines der führenden Kirchenmänner Augustin als Ziel des Krieges die Wiederherstellung einer verletzten Ordnung. Daraus ergibt sich die Begründung des Krieges als Verteidigung, als Strafe für denjenigen, der die Ordnung (pax) stört oder zur Wiedergewinnung geraubter Reichtümer.[9]

Jahreszeitenabhängig eröffnete also jeder Frühling ein neues Kriegsjahr, der Frieden wurde eher als eine „zufällige Unterbrechung“ wahrgenommen, „die man hinnehmen musste, weil der Zwang der Umstände es so wollte“.[10] Auch die Kirchenvertreter, die oft adligen Familien entstammten, weisen ein recht gespaltenes Verhältnis zum Krieg und zur Gewalt auf: Einerseits verurteilten sie das kriegerische Blutvergießen, anderseits wurde der Krieg in jenen Fällen legitimiert, in denen es um die Verteidigung und Ausbreitung der Kirche Gottes und der allgemeinen Staatsordnung, die als gottgegeben begriffen wurde, ging. Ebenfalls war die religiöse Vorstellungswelt von dem Habitus des Kriegers geprägt, wie das im 11. Jahrhundert populäre Bild von Christus als Heerführer mit dem Schwert zwischen den Zähnen zeigt.[11] Die Zeremonien der adeligen Ritter wurden dementsprechend vielfach von sakralen Handlungen begleitet[12] bzw. erhielten eine religiöse Weihe und Rechtfertigung.[13]

Das Nibelungenlied als Heldenepos reiht sich in die Düsternis des Mittelalters, in seine Brutalität und Gewalttätigkeit ein. Nach 2379 Strophen bleibt ein monströses Bild von Gewalt, Krieg und Tod zurück, das mit den Worten endet: „hie hât daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge nôt“.[14] Stehen im ersten Teil noch spezifische Individuen und deren Beziehung zur höfisch-feudalen Ordnung im Mittelpunkt, ist der zweite Teil des Epos von der archaischen Brutalität einer sinnentleerten Ordnung geprägt, die Jan-Dirk Müller zu recht als Zivilisationsbruch bezeichnet. Ob jedoch diese „Epidemie der Gewalt“[15] bzw. die umfassende „De-Humanisierung“[16] als voyeuristisch geprägte „Lust an der Gewalt“ gedeutet werden muss, kann bezweifelt werden. Vielmehr steht der im Epos beschriebene Untergang der Burgunden synonym wenn nicht für das Ende der höfisch-feudalen Weltordnung so doch für deren Transformation, in der das Ende der ritterlichen Kultur und die „Ordnung der Krieger“[17] eingeläutet wird.

Die geschilderte Gewalt des zweiten Teils steht der im ersten Teil akzentuierten Sinnlichkeit des höfischen Lebens, der Ritterlichkeit und des feudalen Glanzes und Reichtums gegenüber. Fast scheint es, als sehne sich der uns unbekannte Dichter nach dem sozialen Gefüge der feudalen Gemeinschaft zurück. Denn auch mittelalterliche Dichtung ist in ihrer Fiktion mit realen Geschehnissen verknüpft und spiegelt die spezifische Mentalität einer Epoche wider. So ist auch das Nibelungenlied eine Dichtung, die nicht nur um ihren Selbstzweck etwas erzählen will, sondern die als Dichtung des Mittelalters eine „Synthese zwischen Belehrung und Unterhaltung sein sollte.“[18] Dementsprechend kann der Verlauf der Erzählung und das deprimierende Ende – beide gewalttätig und brutal – als didaktisches Lehrstück über den Untergang einer ‚Zivilisation’, eines Königreiches gelten, mit dem ebenfalls das Ende einer spezifischen Ethik, nämlich der des Ritters, eingeläutet wird. Doch wer wird für den Verlust dieser Errungenschaften des Hochmittelalters verantwortlich gemacht? Welche Warnungen sind dem Nibelungenlied implizit, wenn man davon ausgeht, dass die Dichtung auf zeitgenössische Geschehnisse reagierte bzw. diese zumindest mit verarbeitete?

Hier wird die These vertreten, dass der bislang recht unterbelichteten Rolle des Wormser Königs Gunther in dem Zusammenhang von Souveränität und dem Zerfall der höfischen Ordnung einen weitaus größeren Stellenwert zugeschrieben werden muss. Das Nibelungenlied als Erzählung über einen ‚schwachen’ König und den Niedergangs feudaler Souveränität gelesen, erscheint dann Warnung und Ratschlag ähnlich den mittelalterlichen Ratgebern der feudalen Herrscher, den Fürstenspiegeln. Um dies zu plausibilisieren, muss auf die Vorstellungen des Mittelalters über die Rolle und Funktion des Herrschers eingegangen werden, die untrennbar mit dem religiösen Weltbild verbunden waren. Die 4. Aventiure, die Beschreibung des Krieges der Burgunden unter der Führung Siegfrieds mit den Königen von Sachsen und Dänemark, stellt keineswegs ausschließlich eine Friedensvision in vom Krieg geprägten Zeiten dar, sondern exemplifiziert die Kritik an dem einsetzenden Zerfall der Welt des Mittelalters, die als ein Gleichgewicht der Kräfte gedacht wurde. Das Schwinden der feudalen Souveränität wird am Beispiel des ‚schwachen Königs’ als dasjenige Moment herausgestellt, welches das Gleichgewicht der mittelalterlichen Ordnung ins Schwanken bringt und Chaos, Gewalt und Zerstörung zurücklässt.

Allerdings hinterlässt diese Deutungsweise ein Unbehagen, denn schlüssig ist die Interpretation Gunthers als König mit fehlender Souveränität keineswegs. Es wird zu zeigen sein, dass die vielfach hervorgehobene Schwäche Gunthers mit spezifischen mittelalterlichen Tugendvorstellungen korrespondiert, die von dem königlichen Herrscher erwartet wurden. Das Stichwort lautet Selbstdisziplinierung und Affektkontrolle. Selbstverständlich bestand ein Großteil der herrscherlichen Aufgaben in der Disziplinierung, in dem regere. Diese jedoch setzte (nicht nur) in den mittelalterlichen Denk- und Sichtweisen eine tugendhafte Selbstführung des Herrschenden voraus, der als Ebenbild Gottes auch eine Hirten- und dementsprechend eine Leitfunktion beanspruchte.

Aufgrund dessen ist die hier angestrebte Interpretation eine Deutung der Gegenwart und stellt mehr einen Versuch dar, die These des schwachen Königs zu plausibilisieren und zu stärken. Eine Interpretation des Epos muss immer bedenken, dass die Figuren nicht primär Individuen sind, sondern dass ihre Handlungen und Entscheidungen, ihr Wünschen und Denken durch die Position geprägt sind, die ihnen im Gesamtgefüge zukommt. Die Frage, die hier im Mittelpunkt steht, ist jene nach der Vereinbarkeit von königlicher Souveränität und einer permanenten Schmähung derselben, wie sie in der Beziehung von Gunther und Siegfried im Nibelungenlied mehrfach auffindbar ist. Gunther als königlicher Souverän ist vielfach auf die Hilfe eines Fremden, nämlich des Xantners Königssohns angewiesen. Wie sind unter diesen Bedingungen Souveränität und die politische Ordnung haltbar?

[...]


[1] Vgl. Brandt 1997: 15.

[2] Diese Ansicht ist jedoch nicht nur für die Jetztzeit zu diagnostizieren. So sprechen bereits einige Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vom Mittelalter als einer ‚finsteren Epoche’, die von übertriebenen religiösen Vorstellungen, von unmenschlichen körperlichen Gewalttaten und einer absoluten Herrschaftsmacht Einzelner geprägt gewesen sei. Exemplarisch sei hier Goethes Ausspruch angeführt, der von dem Mittelalter als „dem eingeschränkten düstern Pfaffenschauplatz des medii aevi“ (Goethe, zit. nach Rexroth 2005: 8) spricht und für eine Tradition der Deutungen stehen kann.

[3] Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte siehe Rexroth 2005: 7.

[4] Vgl. Streisand 1974: 33f.

[5] Vgl. Oexle 1993: 91f.

[6] Vgl. Duby 1990: 134.

[7] Vgl. Fumagali 1988: 69f.

[8] Vgl. Koschorke et al. 2007: 65.

[9] Vgl. Hehl 1980: 1.

[10] Vgl. Duby 1990: 134.

[11] Vgl. ebd.: 133f.

[12] Im Nibelungenlied ist es die Schwertleihe Siegfrieds, die mit einem Gottesdienst verbunden ist: „Got man dô zen êren eine messe sanc.“ (Vgl. „Das Nibelungenlied“, Str. 33)

[13] Vgl. zum Problem der Legitimation kriegerischer Handlungen aus kirchlicher Sicht Hehl 1980: 9-20.

[14] Vgl. „Das Nibelungenlied“, Str. 2379.

[15] Vgl. Müller 1998: 443.

[16] Vgl. ebd.: 447.

[17] Vgl. Duby 1990: 158.

[18] Vgl. Blaschitz 1999: 206.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Der schwache König
Untertitel
Souveränität und Gewalt im Nibelungenlied
Hochschule
Universität Hamburg  (IfG I)
Veranstaltung
Friedensvorstellungen in der Literatur des Mittelalters
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
26
Katalognummer
V85496
ISBN (eBook)
9783638009010
ISBN (Buch)
9783638914604
Dateigröße
491 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
König, Friedensvorstellungen, Literatur, Mittelalters
Arbeit zitieren
MA Torsten Junge (Autor:in), 2006, Der schwache König, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85496

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