Vergleich differenter Ansätze zur Verursachung von Attention Deficit Disorder einschließlich ausgewählter Interventionsmaßnahmen


Examensarbeit, 2005

115 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung:

2. Definitions- und Zuordnungsproblem von ADD/ADS

3. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung als Problem

4. Phänomenologien
4.1. Phänomenologie der ADS
4.2. Phänomenologie der ADHS
4.3. Altersspezifische Phänomenologie
4.3.1. Das Säuglingsalter
4.3.2. Das Vorschulalter
4.3.3. Das Schulkind
4.3.4. Der Jugendliche
4.3.5. Der Erwachsene

5. Neueste Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitsstörung

6. Komorbiditäten

7. Fallbeispiele

8. Die psychosoziale Entwicklung von Kindern mit AD(H)S

9. Positive Verhaltensweisen von AD(H)S Kindern

10. Differente Ansätze zur Verursachung der AD(H)S
10.1. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sichtweisen
10.2. Einleitung
10.3. Die biologische Betrachtungsweise
10.3.1. Neurologische Störungen
10.3.2. Neuroanatomische Störungen
10.3.3. Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen
10.3.4. Störungen des Immunsystems
10.3.5. Neurochemische Faktoren
10.3.6. Kritik an der Transmitterhypothese
10.3.7. Genetische Faktoren
10.3.8. Die genetische Disposition anders interpretiert
10.4. Die Neurobiologische Betrachtungsweise
10.4.1. Neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung
10.4.2. Die kindliche Entwicklung des Gehirns
10.4.3. Der Einfluss früher Bindungserfahrungen auf die Hirnentwicklung
10.4.4. Die Strukturierung des kindlichen Gehirns durch Erziehung und Sozialisation
10.5. Psychosoziale Ursachen
10.6. Sozio- kulturelle Faktoren
10.7. Anthropologische Betrachtungsweise
10.8. Der biographischer Zeitaspekt
10.9. Abschlussbetrachtung zu den Verursachungen einer AD(H)S

11. Das Erleben aus der Sicht Betroffener

12. Die Diagnose von einer AD(H)S
12.1. Die Schwierigkeit einer Diagnose
12.2. Diagnostik
12.2.1. Anamnese
12.2.2. Entwicklungs- und Intelligenztests
12.2.3. Konzentrationstests
12.2.4. Fragebögen
12.2.5. Verhaltensbeobachtung
12.2.6. Kinderneurologische Untersuchungen
12.2.7. Psychologische Diagnostik
12.2.8. Interpretation von Untersuchungsergebnissen

13. Therapeutische Interventionsmöglichkeiten
13.1. Das medizinische Interventionsmodell
13.1.2. Indikationsstellung:
13.1.3. Medikamentöse Wirkungsweise und Effekte
13.1.4. Nebenwirkungen
13.1.5. Kritische Aspekte und mögliche Gefahren
13.2. Andere therapeutische Interventionsmodelle
13.2.1. Psychotherapeutische Ansätze
13.2.1.1. Tiefenpsychologische Verfahren
13.2.1.2. Verhaltenstherapeutische Verfahren
13.2.1.3. Coaching
13.3. Psychomotorische Interventionsmaßnahmen
13.3.1. Psychomotorischer Ansatz
13.3.2. Die Musiktherapie
13.3.3. Weitere Therapieformen
13.4. Abschließende Bemerkungen zu den medizinischen und anderen therapeutischen Interventionsmaßnahmen

14. Pädagogische Interventionsmaßnahmen
14.1. Voraussetzungen für erfolgreiche pädagogische Interventionen
14.1.1. Informationen sammeln
14.1.2. Systematische Beobachtung
14.2. Grundregeln für das Arbeiten mit AD(H)S- Kindern im Unterricht
14. 3. Konkrete Strategien im Unterricht
14.3.1. Ignorieren mit positivem Modell
14.3.2. Das Loben
14.3.3. Verstärkerpläne
14.3.4. Time-out
14.4. Abschlussbetrachtung einer pädagogischen Förderung von hyperaktiven Kindern

15. Literaturverzeichnis
15.1. Bücher:
15.2. Internetquellen:
15.3. Zeitschriften

1. Einleitung:

„Ob der Philipp heute still

wohl bei Tische sitzen will?“

Also sprach in ernstem Ton

der Papa zu seinem Sohn,

und die Mutter blickte stumm

auf dem ganzen Tisch herum.

Doch der Philipp hörte nicht,

was zu ihm der Vater spricht.

Er gaukelt

und schaukelt,

er trappelt

und zappelt

auf dem Stuhle hin und her.

„Philipp, das missfällt mir sehr!“

Seht, ihr lieben Kinder seht,

wie’s dem Philipp weiter geht!

Oben steht es auf dem Bild.

Seht! Er schaukelt gar zu wild,

bis der Stuhl nach hinten fällt.

Da ist nichts mehr, was ihn hält.

Nach dem Tischtuch greift er, schreit.

Doch was hilft’s? Zu gleicher Zeit

fallen Teller, Flasch’ und Brot.

Vater ist in großer Not,

und die Mutter blicket stumm

auf dem ganzen Tisch herum.

Nun ist Philipp ganz versteckt,

und der Tisch ist abgedeckt.

Was der Vater essen wollt,

unten auf der Erde rollt.

Suppe, Brot und alle Bissen,

alles ist herab gerissen.

Suppenschüssel ist entzwei,

und die Eltern stehn dabei.

Beide sind gar zornig sehr,

haben nichts zu essen mehr.“[1]

Dieses Portrait eines hyperaktiven Kindes zeichnete der Arzt Dr. Heinrich Hoffmann 1845 in seinem berühmten Buch „Struwwelpeter“. Es kennzeichnet das Erscheinungsbild eines hyperaktiven Kindes, welches sich nicht an

Regeln und Normen halten kann und somit für sich und seine Umwelt zum Problem wird. Hoffmann beschreibt in der Geschichte des Zappel- Philipps Auffälligkeiten im Verhalten der Kinder seiner Zeit. Für diese Problematik, die es also schon früher gab, wird heute der Begriff Aufmerksamkeitshyperaktivitätsstörung (ADHS) verwendet.

Immer mehr Kinder der Postmoderne fallen in den Augen von Erziehern,

Pädagogen und Ärzten durch ein spezifisch kindliches Verhaltenssyndrom auf, das durch besondere „Impulsivität“ bzw. durch ausgeprägte verbale und motorische Aktivität und einer damit verbundenen Aufmerksamkeitsstörung geprägt ist. Offensichtlich werden sie von einem unersättlichen Bewegungshunger getrieben, sodass sie im Zuge ihrer Sozialisationsgeschichte den

nötigen Verhaltens- und Leistungsanforderungen immer weniger gewachsen sind. Angaben zur Häufigkeit von hyperkinetischen Störungen schwanken wegen der unterschiedlichen diagnostischen Kriterien. Aktuelle Zahlen gehen davon aus, dass nach konservativen Schätzungen in unserer Gesellschaft bei 3% bis 7% aller Schulkinder eine AD(H)S vorliegt. (vgl. Barkley, R. A.,2005, S.45)

Weltweit leiden sogar zwischen 5% und 10% aller Kinder daran. Dies

bedeutet, dass in jeder Schulklasse mindestens zwei bis drei Kinder mit AD(H)S sitzen. (vgl. Stollhoff et al., 2003)

Wie ist die gewaltige Zunahme der Diagnosestellung von AD(H)S in der

heutigen Zeit zu erklären? Handelt es sich dabei um einen genetisch bedingten Anstieg oder ist es der Verdienst einer besseren medizinischen Diagnostik? Auch ein anderer Erklärungsansatz ist denkbar: Kommt es möglicherweise im Zeitalter der Informationstechnologien und der

Globalisierung, das einhergeht mit einem Strukturwechsel in der Arbeitswelt, in den Medien, in den sozialen Bindungen zu einer physischen und psychischen Überforderung der empfindlichsten und jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft? Kritische Stimmen fragen, ob nicht der enorm angestiegene Dienstleistungssektor an Ärzten, Therapeuten und anderen Beratern sowie der Anstieg von Vertretern der Pharmaindustrie im Umfeld von AD(H)S,

eigenen kommerziellen Interessen im Sinne von Gewinnmaximierung

nachgeht und es sich somit bei der ADHS um eine neue Modediagnose der Industrienationen handelt.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch zu der Frage, inwieweit die

Eltern und das Umfeld an der Entstehung von AD(H)S beteiligt sind, denn Hirnforscher und Entwicklungspsychologen verweisen auf die enorme Tragweite, die frühe Bindungserfahrungen und kindliche Sozialisationserfahrungen auf die Ausbildung neuronaler Verknüpfungen und dadurch auf das gesamte Fühlen, Denken und Handeln haben.

Forscher der Schulmedizin[2] gehen von genetischen Defekten aus, die

entweder vererbt werden oder auf Spontanmutationen zurückzuführen sind, welche zu Defekten im Stoffwechselgeschehen des Menschen führen, oder von einer Verursachung der AD(H)S durch andere Hirnfunktionsstörungen.

Eine ungewöhnliche, aber dennoch interessante Theorie erläutert die

entwicklungsgeschichtliche Weisheit einer genetischen Veränderung des Genoms einiger Menschen. Demnach hatten die Menschen, deren Verhalten heute als Krankheit bezeichnet wird, in früheren Zeiten klare Vorteile gegenüber ihren andersartigen Mitmenschen. Somit handelt es sich nicht um einen genetischen Defekt, sondern um eine evolutionstechnisch vorteilhafte

Genmutation. Erst in der heutigen veränderten Gesellschaft fallen diese

Menschen aus dem gesellschaftlich gesteckten Rahmen. (vgl. Hartmann, 2000, S. 19ff)

Sehr kontrovers diskutiert werden daher Ursachen, Stellenwert und

Behandlungsoptionen von AD(H)S. Uneinigkeit besteht auch bei der Frage, ob das Syndrom eine Krankheit oder eine Behinderung oder eine individuelle Variante des Menschen ist, ob pädagogisch, psychologisch oder medizinisch zu helfen sei. (vgl. Neuhaus, 1996, S.12)

Da die pathophysiologischen Hintergründe der ADHS noch immer nicht

vollständig geklärt werden konnten, formieren sich kritische Ansätze

und Zweifel, ob die Ursachen der störenden Verhaltensweisen

ausschließlich beim Kind zu suchen sind. (vgl. Raschendorfer, 2003, S. 7)

Der Diplompädagoge Prof. Dr. Gerspach fordert die Fachleute auf, über den „Tellerrand einer individuumszentrierten Diagnostik“ hinauszublicken und stattdessen die Perspektive für gesamtgesellschaftliche Prozesse zu öffnen. (Zit. nach Gerspach, in: Ampft, H. ,Gerspach, M. Mattner, D., 2002, S.123)

Zu Beginn meiner Arbeit befasse ich mich mit der Klärung theoretischer Grundlagen. Im weiteren Verlauf wird die geschichtliche Entwicklung, im

Hinblick auf die Begrifflichkeiten von AD(H)S dargestellt. Anschließend folgen eine ausführliche Beschreibung der typischen Eigenschaften von AD(H)S Kindern sowie ein Kapitel über die neusten Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitsstörung. Danach erläutere ich die historisch veränderte Wahrnehmung des Phänomens AD(H)S in der Gesellschaft. Im Hauptteil werde ich die Schwierigkeiten der Orientierung der unterschiedlichen ätiologischen Sichtweisen und die konkurrierenden multifaktoriellen Ursachen der Entstehung von AD(H)S ausführen. Danach folgen die aktuellen Möglichkeiten der Diagnostik. Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich ausgewählte Interventionsmaßnahmen unter besonderer Berücksichtigung des pädagogischen Blickwinkels vorstellen.

2. Definitions- und Zuordnungsproblem von ADD/ADS

In der einschlägigen Fachliteratur findet man eine Vielzahl von

Begrifflichkeiten zum Thema Aufmerksamkeitsstörung. Die Begriffsgeschichte der ADD/ADS beginnt vor mehr als 150 Jahren durch den Nervenarzt

Dr. Heinrich Hoffmann. In seinem Buch „Der Struwwelpeter“ findet sich

ein literarisches Vorbild für ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind. Der stets verträumte „Hans Guck in die Luft“ verkörpert ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind ohne Hyperaktivität.

Die in Amerika unter der Bezeichnung ADD (Attention Deficit Disorder) für dieses Phänomen zu findende Terminologie wird im deutschen Sprachraum synonym mit ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) verwendet. Tritt in Kombination mit der Aufmerksamkeitsstörung auch noch eine Hyperaktivität auf, dann spricht man im Amerikanischen von einer ADHD (Attention Deficit Hyperactiv Disorder), die man im Deutschen mit dem Terminus ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) bezeichnet. Diese Bezeichnung soll deutlich machen, dass es sich primär um eine Aufmerksamkeitsstörung handelt, die jedoch von Hyperaktivität begleitet ist. (vgl. Döpfner, M. in: Schulte-Markwort, 2003, S.5) Auch die hyperaktiven Kinder wurden von Dr. Hoffmann anschaulich dargestellt. So charakterisiert er den Zappelphilipp als Prototypen eines impulsiven, unruhigen und unaufmerksamen Kindes. Der „wilde Friederich“, der bekanntlich ein arger Wüterich war, fällt über seine Impulsivität hinaus auch noch mit einer Störung des Sozialverhaltens auf. Diese Folge- problematik tritt bei ADHS- Kindern häufig begleitend auf, wenn die Krankheit lange unerkannt bleibt und somit nicht frühzeitig behandelt werden konnte. Auch „Paulinchen“, die verbotenerweise und unüberlegt Feuer legte, gehört in die Kategorie von Kindern mit einer AD(H)S.

Im Laufe der Jahre wurde diese Diagnose mit unterschiedlichen Begriffen wie Hyperkinetisches Syndrom (HKS), Minimaler Cerebrale Dysfunktion (MCD), (frühkindliches) psycho- organisches Syndrom (POS) belegt. Diese Bezeichnungen werden jedoch heute im deutschsprachigen Raum durch ADS und ADHS abgelöst. (ebenda)

Für die folgenden Ausführungen wird daher festgelegt, dass von ADS gesprochen wird, wenn es sich um eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität handelt und von ADHS, wenn die Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität verknüpft auftritt.

3. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung als Problem

Hyperaktivitätsstörungen und Aufmerksamkeitsstörungen sind nachweislich neben aggressiven Verhaltensstörungen die häufigsten Verhaltensbeeinträchtigungen im Kindesalter. (vgl. Döpfner, 1997, S. 165-217) Die Angaben zur Häufigkeit schwanken dabei in Abhängigkeit von diagnostischen Kriterien und der Auswahl von Stichproben. Im Allgemeinen finden sich in der

internationalen Literatur Prävalenzraten[3] zwischen 1%-25%. (vgl. Schmötzer, 2000, zitiert nach Ampft, H. et al., 2002, S.73) Jungen sind wesentlich häufiger von dieser Entwicklungsstörung betroffen als Mädchen. Das Verhältnis der Jungen gegenüber den Mädchen wird zwischen 3:1 und 9:1 angegeben.

(vgl. Lauth/Schlottke, 1995, S. 24; Schmela, M., 2004, S.21, zitiert nach Blanz 2001; Döpfner et al. 2000a)

Allein in den USA gibt es etwa zwei Millionen Schulkinder mit AD(H)S.

(vgl. Barkley, 2005, S. 21) In den Vereinigten Staaten leiden zwischen sechs- und zwanzig Millionen Männer, Frauen und Kinder an einer AD(H)S. Weitere Millionen von Menschen weisen viele typische AD(H)S Merkmale auf, obwohl sie vielleicht gelernt haben so gut damit zurecht zu kommen, dass sie gar nicht über die Ursache reflektieren. (vgl. Hartmann, 2000, S. 19) In Deutschland geht man gegenwärtig von 170.000 bis 350.000 behandlungsbedürftigen Kindern aus. Mit Ritalin oder einem ähnlichen Medikament dauerbehandelt wurden davon bis zum Herbst 2001 etwa 50.000. 1990 waren es noch lediglich 1500. (vgl. Hüther, 2003, S. 12)

Kinder mit ADHS sind jedoch keineswegs zu verwechseln mit besonders lebhaften oder so genannten „schwierigen“ Kindern, denn diese können, wenn es erforderlich ist, aufmerksam sein und sich selbst beherrschen. Viele „normale“ Kinder weisen jedoch Auszüge der AD(H)S Kriterien auf. Daher ist eine Diagnostik nicht einfach.

Folgende Kriterien sind jedoch als Kardinalsymptome wissenschaftlich nach den beiden zurzeit gültigen internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM IV[4] anerkannt:

- Aufmerksamkeitsstörung (Eine starke Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit)
- Hyperaktivität ( Eine übermäßige motorische Aktivität)
- Impulsivität (Eine gravierende Störung der Impulskontrolle)
- (Leitfaden Ads/adhs, 2002, S.53)

Quelle: Schmela, 2004, S. 18

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4. Phänomenologien

Die Erscheinungsformen der ADS sind von denen der ADHS zu unterscheiden. Die Erscheinungsbilder der AD(H)S werden im Folgenden auch noch

altersspezifisch differenziert dargestellt.

4.1. Phänomenologie der ADS

Von einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS) spricht man, wenn ein Kind länger als sechs Monate sowohl zu Hause, als auch im Kindergarten oder in der Schule durch ausgeprägt unaufmerksames und impulsives

Verhalten aufgefallen ist. Dieses Verhalten zeigt sich bereits in fast allen

Fällen vor dem 6. Lebensjahr.

Die Kinder sind nicht in der Lage sich altersgemäß länger auf eine Sache zu konzentrieren, da sie Schwierigkeiten haben, Reize aus ihrer Umgebung herauszufiltern, die nicht zu ihrem momentanen Aufgabenfeld gehören. Sie nehmen ein vorbeifahrendes Auto oder einen Vogel auf der Fensterbank

genau so intensiv wahr wie die Aufgabenstellung des Lehrers. Für die

einzelnen Ziele ihrer Aufmerksamkeit bleibt daher immer nur wenig Zeit. Demzufolge sind sie fahrig und zerstreut, lassen oft Sachen liegen, kleinste Arbeitsanweisungen werden vergessen. Ihr Arbeitstempo ist verlangsamt und sie wirken verträumt. Dabei sind sie nicht minderbegabt und oft sehr

interessiert. Kinder mit ADS werden aufgrund ihrer nicht vorhandenen

Hyperaktivität oft nicht als solche erkannt. Mädchen sind zwar häufiger als Jungen von der reinen ADS betroffen, sie kommt jedoch auch bei Jungen vor. (vgl. Stollhoff, Kirsten et al., 2003, S. 41)

Die betroffenen Kinder sind völlig blockiert, wenn sie von wechselnden

Sinneseindrücken überrannt werden und verfallen dann wie gelähmt in Hypoaktivität. Obwohl das überschießende Verhalten vollkommen fehlt, werden auch Kinder mit ADS oft isoliert, denn auch sie neigen zu Wutanfällen und Stimmungsschwankungen, sind in der Schule aufgrund ihrer Konzentrationsstörung oft leistungsschwach und gelten deshalb fälschlicherweise als dumm und/oder faul. Erhebliche Lese-Rechtschreibschwäche oder Dyskalkulie

sowie visuelle, auditive oder taktile Wahrnehmungsstörungen können

zusätzlich zu Problemen im sozialen Umfeld und zu Leistungsabfall in der Schule führen. (vgl. Leitfaden ads/adhs, Informationsbroschüre des Hamburger Arbeitskreises, 2002, S.10,11)

4.2. Phänomenologie der ADHS

Bei der ADHS liegt eine ADS mit zusätzlicher Hyperaktivität vor. Die Kinder fallen oft schon ab dem Babyalter durch exzessives und schrilles Schreien, geringes Schlafbedürfnis und Trinkschwierigkeiten auf. Viele Eltern beschreiben eine ausgeprägte und sehr lang anhaltende Trotzphase mit häufigen und imposanten Wutanfällen. Diese Kinder sind häufig von motorischen

Teilleistungsstörungen betroffen und ihr Gefahrenbewusstsein ist herabgesetzt. So kommt es oft zu Verletzungen. (vgl. Stollhoff, 2003, S. 144)

Das Spielverhalten ist plan- und rastlos, die Ausdauer im Einzel- und

Gruppenspiel gering und der Umgang mit Spielzeug ist oft destruktiv.

Das Sozialverhalten der Kinder mit ADHS kann sich begleitend ebenfalls

gestört entwickeln. Aufgrund ihres unvorhersagbaren und aggressiven Verhaltens erfahren sie eine zunehmende Isolation. Sie haben kaum beständige Freundschaften und werden selten zu Kindergeburtstagen eingeladen. In der Schule kommt es aufgrund der gesteigerten Anforderungen zu erheblichen Problemen. Das Kind stört anhaltend den Unterricht durch Zappeln,

Dazwischenreden oder Geräuscheproduktion, Interaktionen mit den Nachbarn, zeigt wenig Ausdauer und ist sehr schnell ablenkbar.

Auf Ermahnungen reagiert das Kind häufig mit Wutanfällen oder es spielt den Klassenclown, um Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen. Als

Resultat häufiger Zurechtweisungen und Sanktionen werden die Kinder verständlicherweise traurig und verlieren zunehmend an Selbstbewusstsein. (vgl. Leitfaden ads/adhs, Informationsbroschüre des Hamburger Arbeitskreises, 2002, S.12) Wird das Kind in diesem Stadium nicht therapiert, kommt es im Jugendalter häufig zum Schuleschwänzen und zu Versagensängsten. Oft folgt ein Entzug der elterlichen Einflussnahme durch Weglaufen von zu

Hause und Familienfindung in der Clique auf der Straße sowie zu Drogenmissbrauch. (vgl. Stollhoff, 2003, S. 132)

4.3. Altersspezifische Phänomenologie

Als allgemein gesichert gilt heute, dass die ADHS in allen Altersgruppen zu finden ist und sich somit auch im fortgeschrittenen Alter nicht verliert.

Allerdings sind die Erscheinungsformen unterschiedlich.

4.3.1. Das Säuglingsalter

Bei Kindern mit ADHS zeigen sich oft schon pränatale und perinatale Unruhe und Schwierigkeiten. (vgl. Holowenko, 1999, S. 28) Das Kind schreit häufig, ausdauernd und besonders schrill. Es ist ununterbrochen in Bewegung, quengelig, leicht reizbar, wird schnell wütend und vermeidet körperlichen Kontakt. Es scheint nie entspannt zu sein, ist meist missmutig und schlecht gelaunt und sorgt aufgrund eigener Schlafstörungen für erhebliche

Schlafstörungen der Eltern. Elterliche Zärtlichkeit wird kaum erwidert, was zu Verunsicherung und Selbstzweifeln der Eltern führt. Das Kind leidet oft unter Essstörungen und wird als „schwierig“ bezeichnet. Dadurch entwickelt sich eine angespannte und gereizte Atmosphäre in der Familie. Eine Diagnose kann jedoch in diesem Alter noch nicht gestellt werden! (vgl. Imhof, 2000, S.64)

4.3.2. Das Vorschulalter

Die Sprachentwicklung und körperliche Entwicklungen bei Kindern mit ADHS verlaufen genau so unterschiedlich wie bei allen anderen Kindern. Oft fallen sie jedoch auf, weil sie motorisch ungeschickt und extrem zappelig sind. Da sie ihre körperlichen Grenzen nicht adäquat einschätzen und die Antizipation der Folgen ihres risikobehafteten Handelns nicht leisten können, kommt es zu einem erhöhten Unfallrisiko. Typisch ist der ständige Wunsch alles

auszuprobieren. Diese Erprobungsphase ist für die Umwelt besonders

strapaziös. Eltern berichten, dass ihre Kinder alles, was sie in die Hände

bekommen, zerlegen, im Vorbeigehen um- oder ausschütten und scheinbar sinnlos und chaotisch agieren sowie ein destruktives Spielverhalten an den Tag legen. Sie integrieren sich nur schlecht in Kindergarten und in andere Spielsituationen. Die Drei- bis Sechsjährigen reagieren sehr impulsiv, lehnen sich gegen Autoritäten auf, wehren sich gegen Vorschriften und zeigen

aggressive Reaktionen gegenüber ihrem Umfeld. Die Kinder sind nur schwer zu beruhigen, verlieren schnell die Lust und Geduld am Spielen und werden dadurch zu Außenseitern. (vgl. Imhof, 2000, S.64; www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de , 30.08.2005)

4.3.3. Das Schulkind

Mit dem Eintritt in die Schule steigen die Leistungsanforderungen und es wird von Kindern die Fähigkeit der sozialen Integration in eine Klassengemeinschaft sowie die Akzeptanz von Regeln erwartet. Diese ist für die Kinder mit ADHS nur schwer zu leisten, da sie aufgrund ihrer Impulsivität und

inkonsistenten Aufmerksamkeit weder die Regeln einhalten noch mit

Sanktionen oder Kritik des Umfelds angemessen umgehen können. Sie reagieren regressiv, indem sie eine Affektlabilität und Frustrationstoleranz

aufweisen, die dem des Kleinkindalters entspricht. Schulkinder mit ADHS sind leicht ablenkbar und stören den Unterricht. Sie platzen häufig und

unkontrolliert mit Antworten heraus, mischen sich in die Reden anderer ein und neigen zu einem überbordenden Rededrang. Sie sind unfähig an

sitzenden Gruppentätigkeiten teilzunehmen und ihr übermäßiger

Bewegungsdrang lässt sie unentwegt rutschen, wippen, schaukeln oder springen. Sie haben ständig das Verlangen nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und erwarten eine sofortige Belohnung.

Bei den meisten Schülern mit ADHS zeigen sich trotz normaler Kognition

umfassende Schul- und Lernprobleme sowie Teilleistungsstörungen

(z.B. Legasthenie, Dyskalkulie). Aufgrund einer feinmotorischen Schwäche haben die Kinder große Probleme mit der Handschrift. Sie wirkt oft ungelenk, unregelmäßig und krakelig. Die aus den Leistungsdefiziten der Schüler

resultierenden schlechten Noten, Umschulungen oder Klassenwieder-

holungen vermindern das Selbstwertgefühl und beeinflussen das

Selbstkonzept negativ. Dies mündet wiederum in Vermeidungsverhalten

bei der Teilnahme am Unterricht, welches sich wie in einem

Teufelskreis in schlechten Schulleistungen niederschlägt.

Die Kinder mit ADS, also die hypoaktiven Kinder, sind jedoch überhaupt nicht zappelig und unruhig, sondern wirken apathisch. Sie fallen zwar weniger auf, zeigen aber- abgesehen von der Unruhe - die gleichen Auffälligkeiten:

Störungen der Konzentrationsfähigkeit sowie ein ruppiges und explosives, also abnormes Sozialverhalten. Nach außen wirken sie unbegabt und

leistungsschwach. (vgl. Imhof, 2000, S.18+65-67; www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de, 30.08.2005; Skript des Seminars: „Grundschulkinder mit ADS“, Dr. Blecher, WS 2003, Uni Koblenz)

Ein Beispiel der Handschrift eines Schülers mit einer festgestellten ADHS:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Imhof, 2000, S.19

4.3.4. Der Jugendliche

Im Jugendalter kommt es in den meisten Fällen zur Verminderung der

motorischen Unruhe, während Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörungen und die meist damit verbundenen Schulleistungsstörungen weiter existieren. Die Probleme der Pubertät äußern sich im verstärkten Maße. Es kommt zu Schwierigkeiten und Streitereien mit den Eltern und der Widerspruchsgeist im natürlichen Ablöseprozess mit den Erziehungsberechtigten entgleitet oft in unerträglicher Form.

Aufgrund des mangelhaften Selbstkonzeptes, der oft aggressionsbehafteten Kontakte zu Gleichaltrigen, der Neigung zu Depression, tendieren diese

Jugendlichen zu Asozialität, Kriminalität und Drogensucht. Aus der Hyperaktivität entwickelt sich oft eine „Nullbock“- Mentalität. Sie ist gekennzeichnet durch Schuleschwänzen, eine Antriebslosigkeit etwas zu beginnen,

geschweige denn eine begonnene Arbeit oder Aufgabe zu beenden. Geringe Konzentrationsfähigkeit, Vergesslichkeit, Organisationsdefizite und ein

chaotischer Arbeitsstil erschweren zusätzlich den Einstieg in das

Berufsleben. Ohne eine Behandlung verschärfen sich möglicherweise die eben genannten Sekundärprobleme. (vgl. Imhof, 2000, S.68; www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de, 30.08.2005; Holowenko, 1999, S.29)

4.3.5. Der Erwachsene

Ein Teil der Betroffenen leidet auch noch im Erwachsenenalter unter

beeinträchtigter Impulskontrolle und Aufmerksamkeitsstörungen. Lediglich bei 30% der Menschen mit AD(H)S bildet sich die Störung mit zunehmendem Alter ganz zurück. Die meisten leiden jedoch weiterhin unter einem geringen Selbstwertgefühl und haben eine mangelhafte Selbstorganisation.

Weitreichende Probleme im sozialen und beruflichen Umfeld können, bei Nichtbehandlung, zu Suchttendenzen (Spiel-, Kauf-, Drogen-, Alkoholsucht) führen. (vgl. Imhof, 2000, S.70-71; www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de, 30.08.2005; Stollhoff, K. et al. 2003, S.59)

5. Neueste Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitsstörung

Der amerikanische Neuropsychiater Russel A. Barkley, der führende

Fachmann für AD(H)S in den USA, und andere internationale Wissenschaftler vertreten neuerdings die Auffassung, dass zusätzlich zu den drei Hauptsymptomen Aufmerksamkeitsschwäche, Impulsivität und Hyperaktivität der AD(H)S noch zwei weitere Kardinalsymptome zu benennen sind. In seinem aktuellen, im Jahre 2005 veröffentlichten Buch[5], benennt Barkley zum einen die Schwierigkeit Betroffener, sich an Regeln und Anweisungen zu halten und zum anderen ihre Unbeständigkeit, vor allem bei der Erledigung von Aufgaben. Entgegen bisheriger Annahmen haben wissenschaftliche Studien des letzten Jahrzehnts, so Barkley, gezeigt, dass bei der ADHS wahrscheinlich nicht primär die Aufmerksamkeit beeinträchtigt ist, sondern die

Fähigkeit zur Selbststeuerung, d.h. die Fähigkeit des Ichs, sich selbst in

seinem sozialen Kontext zu „managen“. Seiner Meinung nach haben alle Symptome mit der Unfähigkeit zu tun, sich selbst zu bremsen und das eigene Verhalten zu hemmen. Für Barkley ist somit das Kernproblem der Mangel

an Selbstbeherrschung.

In diesem Zusammenhang stellt er sich die Frage, wie Kinder eigentlich Selbstbeherrschung entwickeln. Auf welchen Mechanismen und Prozessen beruht diese Fähigkeit, die beim Menschen besser entwickelt ist als bei allen anderen Lebewesen?

Der Neuropsychiater bezieht sich dabei auf die Theorie des bereits

verstorbenen Philosophen, Physikers und Mathematikers Jacob Bronowski. Dieser postulierte, dass die Menschen den Tieren unter anderem deshalb überlegen seien, weil sie die Fähigkeit besitzen, Reaktionen länger

hinauszuschieben als alle anderen Lebewesen. Die Fähigkeit beruht darauf, dass sie besser in der Lage sind dem Drang, gleich zu reagieren, aktiv und willentlich zu widerstehen. Deshalb sind Menschen erstens in der Lage „(...).einen Sinn für das Vergangene und davon ausgehend einen Sinn für das Zukünftige zu entwickeln, zweitens mit sich selbst zu sprechen und

mithilfe dieser Selbstgespräche das eigene Verhalten zu steuern, drittens bei der Bewertung von Ereignissen zwischen Gefühlen und Informationen zu

unterscheiden sowie viertens eingehende Informationen oder Botschaften in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen und diese dann neu zu ausgehenden Botschaften oder Reaktionen zusammenzusetzen (Analyse und Synthese).“ (zit. nach Barkley, 2005, S.90.)

Barkley selbst fügt noch eine fünfte Fähigkeit hinzu, nämlich die Fähigkeit Gefühle zu verinnerlichen und sie zu nutzen, um sich für ein bestimmtes Ziel zu motivieren. Da das Basisproblem der AD(H)S in der mangelnden

Fähigkeit der Reaktionshemmung besteht, sind diese fünf Fähigkeiten, so Barkley, bei Menschen mit AD(H)S schwach entwickelt.

Ihr häufig fehlender Sinn für Vergangenheit und Zukunft zeigt sich daran, dass diese Kinder anscheinend nur unzureichend aus ihrer Vergangenheit lernen. Sie reagieren in wiederholten Situationen oft zu unüberlegt und schnell, um ihre Erfahrungen mit solchen Situationen abrufen und eine

Verhaltensänderung überdenken zu können. Die Kinder sind also im Bezug auf die zeitliche Dimension kurzsichtig. Menschen mit AD(H)S sind auch schlechter auf die Zukunft vorbereitet. Da sie nicht sehen, was auf sie

zukommt, nehmen sie sich nicht in Acht und schlittern von einer Krise in die nächste. Aufgrund der neurologisch bedingten Unfähigkeit, ihr Verhalten zu hemmen, sind diese Menschen nicht in der Lage, in gleichem Maße wie

andere, Zukünftiges zu sehen und zu berücksichtigen.

Der zweite, von Bronowski aufgeführte Punkt betrifft die menschliche Fähigkeit sich über einen inneren Monolog selbst zu motivieren, Ziele setzen zu können und in einer Art „Selbstinstruktion“ Kontrolle über das eigene Verhalten zu erlangen. Auch in Bezug auf die Fähigkeit Regeln zu befolgen, mit sich selbst zu sprechen, das eigene Verhalten an Regeln auszurichten und schließlich bei der Konfrontation mit Problemen eigene Regeln aufstellen zu können, bleiben Menschen mit AD(H)S hinter ihren Altersgenossen zurück. Denn sie sind nur unzureichend in der Lage, Reaktionen zu hemmen oder hinauszuzögern.

Auch bei dem dritten von Bronowski aufgeführten Aspekt haben die

Betroffenen Schwierigkeiten. Sie sind nur schwer in der Lage, den spontanen Impuls einer emotionalen Reaktion auf eine Tatsache zu unterdrücken,

wenn sie mit Ereignissen konfrontiert werden. Während wir anderen meist erst einmal kurz durchatmen und die Lage überdenken und bewerten, um unsere Reaktion besser auf die Situation abstimmen zu können, reagieren die Betroffenen meist spontan, unüberlegt und mit ihrer augenblicklich

gefühlten Emotionalität. Diese Unfähigkeit, die eigenen Gefühle in dem Maße zu beherrschen wie dies andere Kinder ihres Alters können, lässt Kinder mit AD(H)S emotional unreif erscheinen.

Die vierte wichtige geistige Fähigkeit, die Menschen nach Bronowski

auszeichnet, ist die Befähigung, eingehende Informationen oder Botschaften in kleinere Bestandteile oder Einheiten zu zergliedern, also zu analysieren und diese Einzelteile anschließend zu völlig neuen Botschaften oder

Anweisungen zu konstituieren. Gleichzeitig wird dabei auf das individuelle Weltwissen und die Erfahrung zurückgegriffen und dann diejenige Reaktion ausgewählt, die uns als die sinnvollste oder erfolgversprechendste erscheint. Auf diesem Prozess beruht das enorme Potenzial, das in der menschlichen Problemlösekompetenz, Vorstellungskraft und Kreativität liegt.

Voraussetzung für diesen Rekonstutionsprozess ist jedoch, dass wir ihm genug Zeit geben. Bisher gibt es nur sehr wenig Forschung zu dieser Hypothese, die bisherigen Experimente und Ergebnisse bestätigen jedoch die Annahme, dass Menschen mit AD(H)S nicht in gleicher Form analytisch und synthetisch vorgehen wie ihre Altersgenossen.

Der letzte Punkt betrifft die intrinsische Motivation, also den Antrieb, die Ausdauer, den Ehrgeiz, die Entschlossenheit und Willenskraft durch eigene Motivation. Wenn wir uns derart selbst motivieren können, sind wir nicht mehr so stark auf den Zuspruch, die Belohnung oder die Anreize angewiesen, die kleine Kinder oft brauchen, um bei einer Sache zu bleiben. Unsere eigenen, verinnerlichten Gefühle sind der Nährboden für unsere Motivation und diese wiederum unterstützt unser ziel- und zukunftsorientiertes Verhalten.

Diese Erkenntnis hilft uns zu verstehen, warum Kinder mit AD(H)S so viele Probleme bei Aufgaben haben, die ein gewisses Maß an Ausdauer verlangen, bzw. warum sie – wie es meist tituliert wird- eine so kurze Aufmerksamkeitsspanne haben. Auch hier ist, so der Neuropsychiater, nicht die Aufmerksamkeit das eigentliche Problem sondern die fehlende intrinsische Motivation. Daher sind sie von äußeren Motivationsquellen abhängig und fordern diese oft unmittelbar ein. Aufgrund dieser Ansichten und Erkenntnisse, die meines Erachtens einen recht nachvollziehbaren Erklärungsansatz bieten, stellt Barkley in den Raum, ob die Bezeichnung Aufmerksamkeitsstörung demzufolge heute noch zutreffend ist.

(vgl.Barkley, 2005, S.11-12, 65-66, 87-107)

6. Komorbiditäten

Die Diagnose AD(H)S bedeutet häufig auch, dass flankierend zu den bereits genannten Kernsymptomen weitere Auffälligkeiten vorliegen bzw. sich

begleitend entwickeln. Bis in die Pubertät sind viele dieser Kinder Bettnässer. Ein Projekt an der Universität Freiburg zeigte jedoch, dass bei den meisten Bettnässern keine organische Ursache vorliegt, sondern dies als kindlicher Hilferuf zu verstehen ist. (vgl. Apotheker-Zeitung vom 24. 4. 1989, in: Voss, Wirtz, 2000, S. 43). Demnach ist das Bettnässen kein Symptom von AD(H)S,

sondern als Zeichen von psychischer Instabilität und dem damit verbundenen Leidensdruck, dem diese Kinder ausgesetzt sind, zu verstehen.

Aufgrund ihres zunehmenden devianten Sozialverhaltens erfahren die Betroffenen aus dem sozialen Umfeld und in der Familie Unverständnis bis hin zu Ablehnung, Stimmungsschwankungen, Frustrationsintoleranz, aggressives Verhalten und Depression werden so verursacht bzw. verstärkt. Aufgrund von Teilleistungsstörungen in den Bereichen Motorik, Lesen, Schreiben, Rechnen, zeigen sich oft, trotz normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz, defizitäre Leistungen im schulischen Bereich. Daraus entwickeln sich nicht selten Angststörungen,

die zu Trotz oder Leistungsverweigerung führen. (vgl. Stollhoff, 2003, S. 57-58) 30 % bis 50 % der Kinder, deren AD(H)S unbehandelt bleibt, werden mindestens einmal nicht versetzt und 35 % verlassen die Schule ohne Abschluss. Bei der Hälfte der Kinder sind die sozialen Beziehungen so nachhaltig gestört, dass sie ein Leben lang das Gefühl mit sich herumtragen, auf allen Gebieten ein Versager zu sein. Sie versuchen dies unter anderem dadurch auszugleichen, dass sie den risikobehaftetem „Kick“ suchen. In gut situiertem Umfeld führt dies zur Ausübung von Risikosportarten wie Freeclimbing und halsbrecherischen Ski- oder Fahrradfahrten. Kinder und Jugendliche, die bereits alle gesellschaftlichen Normen ignoriert haben, stehlen stattdessen Autos zum Wettrasen oder für Crash-Fahrten, bei denen die Fahrzeuge bewusst zerstört werden. (vgl. Barkley, 2005, S. 45; Stollhoff, 2004, S. 58-59 )

7. Fallbeispiele

Anhand einiger Fallbeispiele möchte ich aufzeigen, wie Kinder mit einer ADHS von ihrem Umfeld erlebt werden.

Bericht der Eltern über den dreieinhalbjährigen Dominik:

„ Wenn er um 7.00 Uhr die Augen aufmacht, ist er auch sofort ganz da.

Waschen, Zähneputzen und Anziehen sind ein Kampf, weil ihm ständig

etwas anderes einfällt. Eigentlich müsste man immer zu zweit sein. Bis zum Frühstück bin ich (Mutter) schon schweißgebadet. Beim Frühstück wird schnell etwas ausgeschüttet, das Brot mit der Marmeladenseite auf die Hose geklebt. Wenn wir nachher spazieren gehen, lässt er sich kaum an der Hand führen. Egal, was man sagt, er bleibt nicht stehen. Und wenn er Wasser sieht, hält ihn nichts mehr: Bei der ersten Gelegenheit liegt er drin.“

„ Er linkt einen richtig, (Vater) wartet nur die Gelegenheit ab, um etwas

anzustellen. Auf dem Spielplatz schlägt er andere Kinder, geht direkt auf sie zu, haut, schlägt, tritt sie. Auch in der Stadt schlägt er aus dem Buggy nach jedem und lacht dabei. Beim Essen schlingt er alles runter. Früher ist er oft weit weggelaufen, wir mussten ihn immer suchen. Und er wird nie müde: Wenn er dann um 21.00 Uhr endlich im Bett liegt, zappelt und wackelt er so im Bett- sogar im Schlaf!-, dass das ganze Bettgestell verrutscht. Jede Nacht kommt er zu uns ins Bett und seine Anwesenheit macht einen so nervös, dass man kaum schlafen kann. Und er will auch nicht schmusen, sondern drückt sich gleich von einem weg. Lange halten wir das nicht mehr aus!“ (Zit.aus: Imhof, M. 2000, S.65)

Bericht einer Mutter über ihre 14jährige Tochter:

„Unsere Tochter war ein richtiges Schreikind. Nur wenn sie bei uns im Bett lag, konnte man sie einigermaßen beruhigen, sonst hat sie nur geschrieen. Manchmal schlief sie nur 30 Minuten oder eine Stunde an einem Stück.

Ich war total fertig. (..) Sie tobte gern mit dem Papa, dann war sie ausgesprochen glücklich. Aber sie war wild, hat alles, was andere aufgebaut

haben, kaputt gemacht. Aber sie hat niemanden gehauen oder angegriffen. Trotzdem wurde sie im Kindergarten schon früh der Sündenbock. Sie

zappelte rum, konnte im Stuhlkreis nicht sitzen bleiben, hat nichts zu Ende gebracht.

Sobald sie laufen konnte, haben wir alles mit ihr erlebt. Einmal, da war sie zwei Jahre alt, hat sie eine Frau in den Hintern gebissen, die vor uns in der Warteschlange im Supermarkt stand. (…) Sie wollte auch immer alles haben, was ringsherum stand. Außerdem lebte sie nach dem Prinzip: Erst handeln, dann denken. Sie machte alles, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, welche Folgen das haben könnte. Und sie war sehr schnell, auch mit ihrem Mundwerk. Das fanden die Lehrer dann später nicht gut. Sie war auch

wirklich schwer zu ertragen, sogar für uns. Und aus dem Basketball-Verein ist sie rausgeflogen, weil sie sich absolut nicht beherrschen konnte.

[...]


[1] Zit. nach Hoffmann, 1990, S.13,14

[2] Allg. herrschende medizinische Lehre; Richtung, die im Ggs. zur sog. Außenseitermedizin in Praxis und Lehre das von der großen Mehrzahl aller Ärzte Anerkannte vertritt.

[3] Prävalenz ( Verbreitung)

[4] ISD-10; DSM IV: Diagnostisches Statistisches Manual. Vierte Version der Richtlinie zur Einteilung psychischer Störungen nach Empfehlungen der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie (APA). Im deutschsprachigen Raum wird häufig nach der „Internationalen Klassifizierung der Krankheiten“ (ISD-10) diagnostiziert. In diesem System wird der Begriff „Hyperkinetische Störung“ verwendet, wobei zwischen einer „einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ und einer „hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens“ unterschieden wird.

[5] Barkley, Russel, A., 2005, Das große ADHS-Handbuch für Eltern

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Vergleich differenter Ansätze zur Verursachung von Attention Deficit Disorder einschließlich ausgewählter Interventionsmaßnahmen
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Institut für Grundschulpädagogik Uni Koblenz)
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
115
Katalognummer
V84774
ISBN (eBook)
9783638884587
ISBN (Buch)
9783638920612
Dateigröße
1069 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit vergleicht die aktuellen differenten Ansätze der Verursachung von ADS und ADHS. Darüberhinaus werden in ihr die unterschiedlichen Phänomenologien von AD(H)S, die neusten Erkenntnisse aller "Glaubensrichtungen", die Schwierigkeiten einer Diagnostik, sowie ausgewählte medizinische, therapeutische, psychotherapeutische sowie pädagogische Interventionsmöglichkeiten thematisiert.
Schlagworte
Vergleich, Ansätze, Verursachung, Attention, Deficit, Disorder, Interventionsmaßnahmen
Arbeit zitieren
Ute Völker (Autor:in), 2005, Vergleich differenter Ansätze zur Verursachung von Attention Deficit Disorder einschließlich ausgewählter Interventionsmaßnahmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84774

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