Das Marionettentheater im Bildungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und "Über das Marionettentheater"

Rolle und Funktion


Hausarbeit, 2007

16 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1 Das Marionettentheater in Wilhelm Meisters Kindheit
1.1 Neue Regeln für den Körper des Schauspielers

2 Ästhetisches Paradox in Kleists „Über das Marionettentheater“

3 Das Marionettentheater im Bildungsdiskurs des 18. Jahrhunderts

4 Schluss

Einleitung

Das Marionettentheater weckt bei vielen Menschen lebhafte Erinnerungen an ihre Kindheit, an ganze Nachmittage, die man mit den Puppen zubrachte, um, zusammen mit Freunden, das ein oder andere kleine Stück für die Familie aufzuführen. In diesem unschuldigen Rahmen konnte, vom Teufel über den Polizisten bis hin zur Prinzessin, jede beliebige Identität angenommen und durchgespielt werden. Oftmals zögerte man nicht, sich selbst zur Puppe zu machen und mit vollem Körpereinsatz eine eigene Darbietung der Figur zu liefern.

In der Zeit der Aufklärung, des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts, der Bildung eines neuen Bürgertums und des Individuums an sich, spielte das Marionettentheater eine besondere Rolle. Durch die verschiedenen, teilweise paradoxen, kulturellen Erscheinungen des 18. Jahrhunderts[1], begegneten dem damals vorherrschenden Weltbild oft gegenläufige Ansichten. Der Körper – und Bildungsdiskurs der Aufklärung wirft bezüglich der Marionetten die Frage auf, wer anmutiger sein kann – der Mensch oder die Marionette? Außerdem kann gefragt werden, inwieweit die aufklärerischen Ideologien der Gesellschaft den Menschen selbst zur Marionette machen.

Im Folgenden soll versucht werden, die Einflüsse dieser Zeit auf das Marionettentheater und die daraus resultierende Funktion in der Gesellschaft zu erläutern. Für einen intertextuellen Vergleich dienen als Primärtexte Johann Wolfgang von Goethes

Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“[2] und Heinrich von Kleists „Über das Marionettentheater“[3].

1 Das Marionettentheater in Wilhelm Meisters Kindheit

Das Wilhelm Meister, der Protagonist des 1795 / 96 in vier Bänden erschienenen Romans, in seiner Kindheit mit dem Marionettentheater in Berührung kommt, wird zunächst durch seine Mutter ermöglicht, welche für ihn und seine Geschwister an Heilig Abend ein Puppenspiel organisiert. Zwischen zwei Türpfosten errichtet, „baute sich ein Portal in die Höhe, das von einem mystischen Vorhang verdeckt war.“[4] Man spielte das Stück „David und Goliath“, welches Wilhelm nicht zuletzt durch die „wunderlichen Sprünge der Mohren und Mohrinnen, Schäfer und Schäferinnen, Zwerge und Zwerginnen“[5] die Zeit im leeren, neuen Haus versüßte.

Als sich am nächsten Morgen keinerlei Spuren der vorabendlichen Ereignisse mehr auffinden lassen, empfindet Wilhelm bereits nach seinem ersten Kontakt mit dem Puppenspiel einen so tragischen Verlust, dass, „wer eine verlorne Liebe sucht, [...] nicht unglücklicher sein“[6] kann. Gegen die Prinzipien des Vaters, dass zuviel Vergnügen eben dessen Wert zunichte mache, findet Wilhelm zur Freude nach einiger Zeit ein weiteres Puppenspiel statt, welches nun nach dem anfänglich bestaunenden Amüsement, Fragen nach den Zusammenhängen und dem Funktionieren des Theaters aufwirft. Der junge Wilhelm durchschaut ganz richtig, dass die Puppen weder von selbst reden, noch sich bewegen können. Sein Verstand ist sich der faszinierenden Illusion bewusst, welche das Marionettentheater hervorruft und er möchte deren Funktionieren in aufklärerischer Manier ganz durchschauen und verstehen. Die Tatsache, dass er sich wünscht, „zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich [seine] Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu genießen“[7], stellt für den jungen Protagonisten jedoch ein Rätsel dar.

Als Wilhelm nach Ende der Vorführung heimlich hinter den Vorhang schaut, sieht er, wie jede einzelne Marionette wieder in einer Kiste verstaut wird. Der rein mechanisch-funktionale Charakter und die damit verbundene Unbelebtheit der Fadenpuppen tritt durch diese ernüchternde Beobachtung in den Mittelpunkt und schürt in Wilhelm den Drang nach Wissen. Der aufklärerische Trieb des Kindes Wilhelm ist so groß, dass es ihm, „nachdem [es] etwas erfahren hatte“[8], vorkommt, „als ob [es] gar nichts wisse“[9].

Einige Zeit nach der zweiten Aufführung kann der junge Meister in einer günstigen Minute unbemerkt das Theaterskript zu „David und Goliath“ aus der Vorratskammer entwenden und nutzt nun jeden freien Augenblick zum Auswendiglernen und Wiederholen des Schauspiels. Er malt sich aus, mit welcher Freude er „die Gestalten dazu mit [seinen] Fingern beleben könnte“[10], spielt verschiedene Ideen durch und versetzt sich selber in die Rolle der Helden. David, als „erste[r] Held Meisters“[11], gefährdet durch sein Handeln „die Herrschaft der Väter, der Könige“[12] und verhilft durch seinen Sieg „einer neuen Moral zur Geltung“[13]. Die Identifikation Wilhelms mit einer solch aufgebieterischen Figur in seiner heimischen Umgebung impliziert eine „Neuordnung von Autoritätsbegriffen“[14] und lässt die ersten Triebe einer „bürgerlichen Identität“[15] gedeihen.

Als Wilhelm die Möglichkeit bekommt, in einem leerstehenden Zimmer selber mit den Marionetten zu üben, betritt er mit Ehrfurcht und voller Freude den kleinen Stufenvorsprung, welcher den Blick über das kleine Theater ermöglicht. Der Perspektivwechsel vom Zuschauer zum „Überschauer“ gibt ihm das Gefühl in „Geheimnisse“[16] eingeweiht zu sein. Am nächsten Tag darf Wilhelm in einer Aufführung vor Publikum mit der Marionette den Jonathan spielen, was er auch vorbildlich tut, bis er „in dem Feuer der Aktion“[17] die Fadenpuppe fallen lässt. Indem der junge Protagonist mit seiner Hand in den Sichtbereich des Publikums greifen muss und somit „ein großes Gelächter“[18] verursacht, wird der Bruch zwischen Illusion und Wahrheit anschaulich. Das „Mechanische“ steht dem „Natürlichen“ direkt gegenüber. Das komische Element der menschlichen Erscheinung, welches durch das Gelächter des Publikums Ausdruck findet, steht der ernsten Kränkung des jungen Puppenspielers entgegen. Wilhelm ist zwar geknickt wegen seines kleinen Malheurs, aber im Großen und Ganzen konnte er die mechanischen Marionetten genau so einsetzen, wie er es sich in Gedanken vorgestellt hatte.

Über den Frühling wird es Wilhelms Hauptbeschäftigung, die Welt des Marionettentheaters nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Seine schöpferische „Einbildungskraft brütet [...] über der kleinen Welt“[19] und nach und nach entstehen aus „Pappe, Farbe und Papier“[20] verschiedene Dekorationen und Bühnenbilder. Er beobachtet, wie seine Schwestern ihre Puppen an- und auskleiden und beginnt dieses auf seine Marionetten zu übertragen. Die Kleider der Helden werden neu geschneidert, man „sparte sich etwas Geld, kaufte neues Band und Flittern [und] bettelte sich manches Stückchen Taft zusammen“[21]. Dieser, für die Entwicklung eines Kindes und die Ausbildung seiner Persönlichkeit, seiner Identität wichtige Prozess, findet bei Wilhelm statt und bringt „täglich mehr Anhänglichkeit für das enge Plätzchen“[22] hervor. Er geht vollkommen im Spiel mit den Marionetten auf, durch die sich für ihn eine ganz neue Welt eröffnet, in der er die Fäden ziehen und sich gleichzeitig selbst in jede beliebige Rolle hinein versetzen kann.

Als der junge Protagonist die Geschichte von Chlorinde und Tancred kennen lernt, bilden sich ihm diese Eindrücke „dunkel zu einem Ganzen in der Seele“[23] und er beschließt voller Eifer, diese, diesmal in persona, zusammen mit seinen Freunden, auf der Bühne zu spielen. Hals über Kopf werden die Bühne, Kostüme und Schauspieler organisiert und die Rollen verteilt. Jedoch kommt es, dass die Truppe „in der Hitze der Erfindung“[24] an dem Vorhaben scheitert. Die „Lebhaftigkeit der Ausführung“[25] verhindert einen klar strukturierten Auftritt der Schauspieler und so „standen alle erstaunt [und] fragten sich einander, was zuerst kommen sollte?“[26]

Wilhelm und seine Gefährten sind allerdings überzeugt, jeder müsse sie dafür nehmen, wofür sie sich ausgäben[27] und zollen der Schauspielnachhilfe seitens des Artillerie-Lieutenants nur wenig Dank, da sie „die theatralischen Künste schon besser als er zu verstehen“[28] glauben. Allerdings ist es Wilhelm nicht möglich, auf der Bühne selber so zu wirken, wie er es zuvor mit den Marionetten vollbringen konnte.

1.1 Neue Regeln für den Körper des Schauspielers

Diese Problematik der Unfähigkeit von Schauspielerei lässt sich in der deutschen Aufklärung wieder finden, wie Lessing anmerkt:

Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es von Alters her eine solche Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr, sie ist verloren; sie muß ganz von neuem wieder erfunden werden.[29]

Als scheinbare Konsequenz auf diese Zustände versuchte man, dem Schauspieler ein Regelwerk an die Hand zu geben, welches die korrekte und perfektionistisch ausgeführte Bewegung aller Körperteile garantieren und dem Künstler selbst in Fleisch und Blut übergehen sollte. Jede einzelne Bewegung soll vorausgeplant, diszipliniert und somit improvisationsfrei sein. Goethe selbst äußert sich diesbezüglich in seinem Werk „Regeln für Schauspieler“. Der Schauspieler solle sich hüten „vor angewöhnten Gebärden, Stellungen, Haltungen der Arme und des Körpers“[30] Man habe keine Zeit während einer Aufführung an seinen Bewegungsangewohnheiten zu feilen, so wie es Wilhelm Meister und seinen Freunden widerfährt, sonst verliere man den Blick für das Wesentliche.

Alles solle mit System ablaufen:

Fortan leitet sich das spontane kinetische Zeichen, die Bewegung, von algorithmischer Überlegung ab – der Zufall wird abgeschafft. Der Auftritt des Schauspielers hat in allen seinen Phasen kalkulierte semiologische Matrizen abzubilden.[31]

Dieses, von Shahar durch naturwissenschaftliches Vokabular charakterisierte Verständnis von der reinen Funktion des Körpers auf der Bühne, erweckt die Vorstellung eines „leblosen“ Instrumentariums. Wie ein ferngesteuertes, unmündiges Medium hat er fehlerfrei zu funktionieren, seine Bewegung soll sich wie ein „methodisches Rechenverfahren“[32] vollziehen, sein Auftritt ein Zeichensystem darstellen, welches „zusammengehörende Einzelfaktoren darstellt.“[33]

Die Reaktion der Schauspieler selbst auf diese Anforderung, „nur als Marionetten, als [...] mechanische Manipulationen bewegte[r] Körper zu dienen, spiegelte heftige Verbitterung wieder.[34]

[...]


[1] Shahar, Galili: Verkleidungen der Aufklärung. Narrenspiele und Weltanschauung in der Goethezeit. Göttingen: Wallstein 2006. S. 33.

[2] Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 10. Auflage. München: dtv September 2004.

[3] Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater und andere Prosa. Durchgesehene Ausgabe 2002. Stuttgart: Reclam 2005.

[4] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 13. Kap. 2

[5] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 18. Kap. 3.

[6] Ebd. S. 18.

[7] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 19. Kap. 4.

[8] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 20. Kap. 4.

[9] Ebd. S. 20.

[10] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 22. Kap. 5.

[11] Shahar, G.: Verkleidungen der Aufklärung. S. 149

[12] Ebd. S. 149

[13] Ebd. S. 149

[14] Shahar, G.: Verkleidungen der Aufklärung. S. 150.

[15] Ebd. S. 149

[16] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 23. Kap. 6.

[17] Ebd. S. 23.

[18] Ebd. S. 23.

[19] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 24. Kap. 6.

[20] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 25. Kap. 6.

[21] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 25. Kap. 6.

[22] Ebd. S. 25.

[23] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 29. Kap. 7.

[24] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 30. Kap. 7.

[25] Ebd. S. 30.

[26] Ebd. S. 30.

[27] Vgl. Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 32. Kap. 8.

[28] Goethe, J.W.: Wilhelm Meister. S. 32. Kap. 8.

[29] Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie [1769]. Stuttgart: 1995. S. 508.

[30] Goethe, Johann Wolfgang: Regeln für Schauspieler. In: Sämtliche Werke. München: 1985.

[31] Shahar, G.: Verkleidungen der Aufklärung. S. 108.

[32] [Art.] Algorithmisch. In: LexiROM © 1995 Microsoft Corporation und Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG.[32]. Mannheim: 1995.

[33] [Art.] Matrix. Ebd.

[34] Vgl. Shahar, G.: Verkleidungen der Aufklärung. S 114.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Das Marionettentheater im Bildungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und "Über das Marionettentheater"
Untertitel
Rolle und Funktion
Hochschule
Universität Münster  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Seminar: Subjekt - Bildung - Institution. Goethes Wilhelm Meister
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
16
Katalognummer
V84334
ISBN (eBook)
9783638892407
ISBN (Buch)
9783638893350
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Gute intertextuelle Verbindung über eine anspruchsvolle Problematik. Der Akzent liegt aber etwas zu sehr bei Kleist. Gerade im Wilhelm Meister ist doch die Frage von Selbst - und Fremdsteuerung inhaltlich und ästhetisch zentral.
Schlagworte
Rolle, Funktion, Marionettentheaters, Bildungsdiskurs, Jahrhunderts, Beispiel, Goethes, Wilhelm, Meisters, Lehrjahre, Heinrich, Kleists, Marionettentheater, Seminar, Subjekt, Bildung, Institution, Goethes, Wilhelm, Meister
Arbeit zitieren
Annika Onken (Autor:in), 2007, Das Marionettentheater im Bildungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und "Über das Marionettentheater", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84334

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