Ehe- und Scheidungsverhältnisse in Goethes „Wahlverwandtschaften“ und Thomas Manns „Buddenbrooks“


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Zwischen Fiktion und Realität: Literatur als Zeitzeugnis?

2. Ehe im Wandel: Die Situation zum Ende des 18. Jahrhunderts

3. Ehe und Scheidung in den „Wahlverwandtschaften“
3.1 Eduard und Ottilie
3.2 Charlotte und der Hauptmann
3.3 Mittler
3.4 Graf und Baronesse
3.5 Bewertung

4. Ehe in der bürgerlichen Familie

5. Der Verfall der bürgerlichen Familie in den „Buddenbrooks“
5.1 Liebesheirat vs. Materielle Absicherung: Antonie wird zu Frau Grünlich
5.2 Antonie und Permaneder
5.3 Antonies „dritte Ehe“

6. Zur Situation der Scheidungskinder in den Romanen

7. Biographische Hintergründe
7.1 Goethe und die Utopie der romantischen Liebe
7.2 Thomas Mann und seine Familie

Literaturverzeichnis

...der Dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockene Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt... (Büchner, S. 410)

1. Zwischen Fiktion und Realität: Literatur als Zeitzeugnis?

Wenn von Literatur die Rede ist, werden damit vor allem fiktive und poetische Texte assoziiert. So heißt es in Killys Literaturlexikon über den Literaturbegriff:

„Durch den Aufstieg von Philosophie u. Wissenschaft (...) wird die L. zunehmend aus dem Bezirk des »vom Logos kontrollierten Wissens« herausgedrängt u. auf die »irrationalen Bereiche des Psyche« beschränkt, (...) Als bloße »Erfindung« wird die L. (schon in der Poetik des Aristoteles) weiter von der auf Faktenerkenntnis gerichteten Geschichts-schreibung als »Lüge« oder »Schein« von der auf Wahrheit gegründeten Philosophie abgesetzt...“ (Lamping, S. 29)

Diese scharfe Trennung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung wirkt bis in die heutige Zeit hinein, auch wenn es in der Vergangenheit bereits Versuche einer Annäherung gegeben hat. Ein Beispiel dafür ist Georg Büchner, der die Grenze zwischen Literatur und Geschichtsschreibung verwischt, indem er den dramatischen Dichter selbst als „Geschichtsschreiber“ bezeichnet. Er sieht den Autor also nicht als bloßen Geschicht en schreiber, wie es im traditionellen Literaturverständnis üblich war, sondern stellt ihn sogar noch über diesen, indem er ihm die Eigenschaft zuspricht, realgeschichtliche Inhalte in eine unterhaltsame Form zu bringen und somit Geschichte neu zu erschaffen. Der Autor ist somit nicht mehr nur ein Verfasser fiktiver Texte, sondern dokumentiert auch realgeschichtliche Ereignisse.

Vor diesem Hintergrund wird in der folgenden Arbeit versucht, aus Goethes „Wahlverwandtschaften“ und Thomas Manns „Buddenbrooks“ Erkenntnisse über die Scheidungsproblematik in den jeweiligen Epochen zu gewinnen. Es mag unnötig erscheinen, sich angesichts stets wandelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse mit so alten und darüber hinaus literarischen Texten zu befassen, denn schließlich ist Scheidung ein Thema, das vor allem in das 20. und 21. Jahrhundert zu gehören scheint und auch erst seit dieser Zeit wissenschaftlich erforscht wird. Ich vertrete jedoch die These, dass beide Texte nicht nur in ihrer Zeit fortschrittlich waren, sondern uns auch für die heutige Zeit noch interessante Erkenntnisse liefern können, die vielleicht sogar über das hinausgehen, was aus der Geschichtsschreibung bekannt ist. Um besser beurteilen zu können, was in den Romanen den allgemeinen Erkenntnissen entspricht und wo die Autoren ihre subjektiven Eindrücke verarbeitet haben, werden nicht nur die Verhältnisse in den Romanen, sondern auch die rechtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe in den jeweiligen Epochen skizziert.

2. Ehe im Wandel: Die Situation zum Ende des 18. Jahrhunderts

Goethes „Wahlverwandtschaften“ sind in einer Zeit des Umbruchs entstanden. Einerseits wurde noch an traditionellen Vorstellungen und Standesgrenzen festgehalten, zum anderen gab es mit der Einführung des Preußischen Allgemeinen Landrechtes (1794) zahlreiche Reformen, was die gesetzliche Festlegung von Ehe und Scheidung betrifft. Ehescheidung gehörte Ende des 18. Jahrhunderts zwar noch nicht zum Alltag, doch sie war durchaus möglich.

Achter Abschnitt. Von Trennung der Ehe durch richterlichen Ausspruch.

- 668. Eine an sich gültige Ehe kann durch richterlichen Ausspruch wieder getrennt werden.

Ursachen zur Ehescheidung.

1) Ehebruch (...)
2) Bösliche Verlassung (...)
3) Versagung der ehelichen Pflicht (...)
4) Unvermögen (...)
5) Raserey und Wahnsinn (...)
6) Nachstellungen nach dem Leben (...)
7) Grobe Verbrechen (...)
8) Unordentliche Lebensart (...)
9) Versagung des Unterhalts (...)
10) Veränderung der Religion (...)
11) Unüberwindliche Abneigung (...)

(Duncker. S. 1-5)

König Friedrich II hatte bereits 1783 „durch eine Kabinettsorder den Weg zu einer Art von Zerrüttungsprinzip für das Ehescheidungsrecht gewiesen...“ (Bloch, S. 1412). Diese Weisungen wurden später im Allgemeinen Landrecht aufgegriffen, wodurch ein Grundstein für die Modernisierung der Gesellschaft in Richtung der heutigen Verhältnisse gelegt werden. Obwohl die Scheidungsthematik also durchaus ein Diskurs der Zeit war, ist die Situation keineswegs mit heutigen Verhältnissen vergleichbar.

Aus heutiger Sicht herrschten stabile Verhältnisse: Die Ehescheidung ist noch die große Ausnahme. Um 1850 wurden in Preußen, bei einer Einwohnerzahl von etwa 15 Millionen Menschen, pro Jahr nur etwa 3000 Ehen geschieden. 1988 waren es für die Bundesrepublik – bei etwa der vierfachen Einwohnerzahl – über 122.000 Scheidungen. (Bloch, S. 1410)

Hinzu kommt, dass trotz dieser fortschrittlichen Tendenzen noch weitgehend das traditionelle Eheverständnis vorherrschte, welches ebenfalls im Allgemeinen Landrecht festgelegt war.

- 1 Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung der Kinder.
- 2 Auch zur wechselseitigen Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden.
- 25 Personen, welche wegen Ehebruchs geschieden wurden, dürfen diejenigen, mit welchen sie den Ehebruch getrieben haben, nicht heiraten.
- 30 Mannspersonen von Adel können mit Weibspersonen aus dem Bauer- oder geringerem Bürgerstande keine Ehe zur rechten Hand schließen. (Schönpflug)

Diesem traditionellen Verständnis stand zwar auch in der Realität die neue Idee einer romantischen Liebesehe entgegen, doch in den meisten Fällen blieb es bei der Idee. Eine Liebesheirat war aufgrund von Standesgrenzen (§30) oder materieller Aspekte nur in den seltensten Fällen zu verwirklichen und blieb meist Utopie. Eine gute Ehe bedeutete vor allem Kinderreichtum bei materieller Absicherung. Scheidung war zwar theoretisch möglich, doch innerhalb der Gesellschaft stark tabuisiert. Somit war es undenkbar, eine scheinbar intakte Ehe aufgrund eines Liebesverhältnisses aufzulösen, wie es in den „Wahlverwandtschaften“ angedacht wird.

3. Ehe und Scheidung in den „Wahlverwandtschaften“

In Goethes „Wahlverwandtschaften“ sind zahlreiche Diskurse wie Gartenbau, Architektur, Chemie, Pädagogik, Liebe und Ehe miteinander verwebt. Aus allen Bereichen lassen sich zeitgenössische Diskussionen nachvollziehen, auch wenn die Themen nicht, wie in einem Geschichtsbuch, thematisch aufgeschlüsselt, sondern kunstvoll miteinander verflochten sind und sich sogar teilweise überlagern. Das folgende Zitat zeigt besonders eindrucksvoll die Technik Goethes, verschiedene Diskurse miteinander in Verbindung zu bringen.

... eigentlich sind die verwickelten Fälle die interessantesten. Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nähern stärkern, entferntern geringern Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken. (WV, S. 35)[1]

Dieses Zitat entstammt nicht etwa einem Gespräch über Ehescheidung, was bei dem Titel dieser Arbeit wohl am naheliegendsten wäre, sondern es bezieht sich auf die Reaktionen chemischer Elemente. Die chemische Gleichnisrede in den Wahlverwandtschaften lässt sich allerdings auf die Figuren des Romans übertragen und wird zu einer Metapher für deren Eheverhältnisse. So entsprechen die vier Hauptcharaktere den Elementen A (Charlotte/„Luftsäure“), B (Kalkerde/Eduard), C (Schwefelsäure/Hauptmann) und D (Ottilie/„ein Viertes“).[2] Wenn also von Scheidung und Verwandtschaft die Rede ist, ist damit nicht nur die chemische Gleichung, sondern auch die Beziehung zwischen den Figuren gemeint. Diese These ist nicht nur in der Wissenschaft anerkannt[3], sondern wird auch im Roman selbst propagiert. So stellt Charlotte bereits im folgenden Absatz selbst einen Bezug von der Chemie zur Ehescheidung her. „Kommt das traurige Wort, rief Charlotte, das man leider in der Welt jetzt so oft hört, auch in der Naturlehre vor?“ (WV, S. 35) Die chemische Gleichnisrede wird somit zu einer „...Chiffre für die Elementarkraft der menschlichen Leidenschaft.“ (Leinbach, S. 45) Ähnlich, wie sich die Figuren den unterschiedlichen chemischen Elementen zuordnen lassen, gibt es Entsprechungen in Bezug auf die Ehevorstellungen. So werden in den „Wahlverwandtschaften“ verschiedene Auffassungen von Ehe skizziert und in einer Art Experiment auf ihre Tauglichkeit überprüft.

In den folgenden Abschnitten wird gezeigt, wie sich die traditionelle, sittliche Ehe und die neue Idee einer leidenschaftlichen Liebesehe gegenüber stehen, und wie sie vom Roman selbst bewertet werden.

3.1 Eduard und Ottilie

Eduard verkörpert im Roman die Vorstellung einer romantischen Liebesheirat. Bevor er diese Position einnimmt, erlebt er aber noch zwei andere Formen der Ehe. Bereits in seiner Jugend verband ihn eine „herzliche“ Liebe zu Charlotte, doch beide wurden aufgrund materieller Interessen der Eltern anderen Partnern zugeführt.[4] Beide stehen zunächst also in einem traditionellen Eheverhältnis, das auf materielle Interessen gegründet ist. Nach dem Tod (!) ihrer Ehepartner gehen sie schließlich doch noch eine Verbindung ein und heiraten trotz anfänglicher Bedenken Charlottes. Bei dieser Ehe kann von einer leidenschaftlichen Liebesheirat jedoch keine Rede sein. Die Beziehung gründet auf der Erinnerung an die frühere Liebe und gleicht eher einem freundschaftlichen Beisammensein, was auch die lange Kinderlosigkeit in der Ehe beweist.[5] Weitere Indizien für die Zerbrechlichkeit dieser Ehe sind die räumliche Trennung von Eduard und Charlotte gleich zu Beginn des Romans, sowie deren fast statische Lebensweise.

Schon auf der ersten Seite des Romans wird der Leser mit Eduards und Charlottes Lebensweise vertraut gemacht, der man eine gewisse Unzufriedenheit und Unbeweglichkeit nicht absprechen kann. Der reiche, ‚im besten Mannesalter‘ stehende Eduard scheint nichts Besseres zu tun zu haben, als während der schönsten Nachmittagsstunde ‚frisch erhaltene Pfropfenreiser auf junge Stämme zu bringen‘. (Hess, S. 161)

So ist es nicht verwunderlich, dass er sich schon bald zu der jungen und aufblühenden Schönheit Ottiliens hingezogen fühlt. Es ist jedoch nicht nur ihr Äußeres, dass Eduard anzieht, er fühlt sich ihr auch im Wesen verbunden (vgl. Hess S. 160). Das scheinbare Ideal einer romantischen Liebesheirat endet im Roman jedoch in einer Katastrophe. Nach dem Tod des kleinen Otto tritt Ottilie in Askese und stirbt schließlich an Entkräftung. Ihre Beziehung zu Eduard entspricht gegen Ende nicht mehr dem romantischen Liebesideal, sondern eher der höfischen Minne des Mittelalters. Eduard verehrt die hohe frouwe Ottilie, die für ihn im irdischen Leben allerdings unerreichbar bleibt. Erst im Tod kann eine Vereinigung der beiden stattfinden.

[...]


[1] WV steht im folgenden für: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Stuttgart 2002.

[2] vgl. WV S. 33ff und Hoffmann S. 425.

[3] vgl. Hoffmann, Wiethölter.

[4] vgl. WV S. 7.

[5] vgl. Geerdts, S. 119.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Ehe- und Scheidungsverhältnisse in Goethes „Wahlverwandtschaften“ und Thomas Manns „Buddenbrooks“
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Nachscheidungs- und Stieffamilien im Spiegel von Märchen, Familienromanen, Kinderbüchern, biographischen Texten und/oder Fallgeschichten
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
19
Katalognummer
V84217
ISBN (eBook)
9783638004046
ISBN (Buch)
9783638911580
Dateigröße
539 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ehe-, Scheidungsverhältnisse, Goethes, Thomas, Manns, Nachscheidungs-, Stieffamilien, Spiegel, Märchen, Familienromanen, Kinderbüchern, Texten, Fallgeschichten
Arbeit zitieren
Maria Benz (Autor:in), 2006, Ehe- und Scheidungsverhältnisse in Goethes „Wahlverwandtschaften“ und Thomas Manns „Buddenbrooks“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84217

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