Niki de Saint Phalle - Die Motivation ihrer Arbeit aus ihrer Biographie


Examensarbeit, 2005

67 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhalt

1 Vorwort

2 Psychologische und kunstwissenschaftliche Vorüberlegungen
2.1 Zur Psychologie eines Künstlers
2.2 Zur Schaffensmotivation eines Künstlers
2.3 Zur Herangehensweise an ein künstlerisches Werk aus kunstwissenschaftlicher Sicht

3 Ein Überblick über Leben und Werk der Künstlerin Niki de Saint Phalle
3.1 „Les années 1930-1949“
3.2 Les tirs - die Schiessbilder
3.3 Bräute, Gebärende, Huren
3.4 „Die Nanas an die Macht“
3.5 hon - „Die größte Hure der Welt“
3.6 Le paradis fantastique
3.7 Die Köpfe
3.8 Die „verschlingenden Mütter“
3.9 „Kunst für Kinder“ - die ersten Architekturprojekte
3.10 Daddy - die Filme
3.11 Il Giardino dei Tarocchi - der Tarotgarten
3.12 Die Skinnies
3.13 La Fontaine Stravinsky
3.14 AIDS und die Obélisques
3.15 Les tableaux éclatés
3.16 Californian diary

4 Niki de Saint Phalle - Die Motivation ihrer Arbeit im Kontext ihrer Biographie
4.1 Vorüberlegungen
4.2 Niki de Saint Phalle schießt auf ihren Vater
4.3 Niki de Saint Phalle sprengt Jean Tinguely

5 Zusammenfassung

6 Quellenverzeichnis

„ Meine Arbeit ist autobiographisch, sie ist meine Verbindung zur Wirklichkeit “ (Niki de Saint Phalle 2001, 27)

1 Vorwort

Die Betrachtung eines künstlerischen Werkes unter Berücksichtigung der Biographie des Künstlers ist eine von vielen Möglichkeiten der Kunstbetrachtung. Viele Künstlerpersönlichkeiten legen eine solche Herangehensweise nahe.

Man denke an die mexikanische Künstlerin Frida Kahlo (1907 - 1954), die nach einem schweren Busunfall 18 Mo- nate im Bett liegen muss. Sie beginnt, erst den Gipspanzer, der ihren Körper umgibt, zu dekorieren, dann ihre Füße zu zeichnen und schließlich, als ihr Vater ihr eine Staffelei am Bett anbringt, unter Zuhilfenahme eines Spiegels sich selbst zu malen.

Man denke an das Gemälde Selbstbildnis mit verbundenem Ohr Vincent van Goghs von 1889, das er nach einem Streit mit seinem Freund und Künstlerkollegen Gauguin in der Provence anfertigt. In seiner Wut hat sich der Künstler den unteren Teil seines linken Ohres abgeschnitten. Auf dem Selbstportrait ist er mit weißem Verband zu sehen. Van Gogh erstellt in seinem Leben unzählige Selbstportraits, welche allesamt seine aktuelle Verfassung zum Ausdruck bringen sollen. Zu seinem letzten Selbstbildnis von 1889 schreibt er seinem Bruder Theo folgende Zeilen: „Heute

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Vincent van Gogh: Selbstbildnis mit verbundenem Ohr, 1889

schicke ich dir mein Selbstportrait, man muss es eine Weile ansehen - ich hoffe, Du siehst, dass mein Gesichtsausdruck viel ruhiger geworden ist, obwohl der Blick haltloser ist als früher, wie mir scheint.“ (van Gogh in Walther 1986, 72)

Man denke an die vielen Reiseskizzen und Aquarelle von August Macke, die durch seine TunisReise 1914 inspiriert werden, an die durch Reisen nach Panama, Tahiti und die Martinique beeinflussten Gemälde Paul Gauguins, an die durch den Selbstmord eines früheren Kameraden hervorgerufene Blaue Phase Pablo Picassos, an das Werk von Henri de Toulouse-Lautrec, der zeit seines Lebens sein Umfeld, das Paris des ausklingenden 19. Jahrhunderts, und besonders den Nachtclub Moulin Rouge mit seinen Tänzerinnen malte.

Zeitgenössische Künstler bedienen sich noch direkter der biografischen Inspiration. Im Jahre 1995 schockiert Tracey Emin durch die Installation eines Zeltes, auf dessen Innenwände sie mit Stoffres- ten die Namen ihrer Liebhaber appliziert hat.1 Der Brite Richard Billingham zeigt auf der 1997 in London von Charles Saatchi inszenierten Kunstshow Sensation intimste Fotografien von seinen Eltern.2 Ron Mueck verblüfft durch die lebensechte Nachbildung seines eigenen Vaters auf dem Totenbett in einem Format von 20 x 102 x 38 Zentimetern.3 Und zuletzt überzeugt der deutsche

Photograph Wolfgang Tillmans nicht nur die Jury des Turner-Preises 2000 mit seinen eindringlichen und intimen Bildern, die Szenen und Stillleben aus seinem privaten Umfeld zeigen.4 Mit dieser Arbeit möchte ich - in Anbetracht der genannten Künstler und ihrer Werke - die These aufstellen, dass die Biographie eines Künstlers einer der wichtigsten Motivationsfaktoren für sein kreatives Schaffen sein kann.

Am Beispiel der französisch-amerikanischen Künstlerin Niki de Saint Phalle werde ich versuchen diese These zu untermauern. Es soll untersucht werden, wodurch die Künstlerin motiviert und inspiriert wurde, sich selbst in ihren Werken zum Ausdruck zu bringen und damit in einen „kreativen Dialog“ (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 10) mit ihrer Umwelt zu treten. Mehr noch: Es soll dargestellt werden, dass sich de Saint Phalle hauptsächlich aufgrund der traumatischen Erlebnisse in ihrer Kindheit für ein Leben als Künstlerin entschied.

Warum bietet es sich an, Niki de Saint Phalle zur Begründung und Illustration dieser These heran- zuziehen? De Saint Phalle zählt zu den bekanntesten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhun- derts. Die Künstlerin distanzierte sich von der kühlen Kultur der Kunst in Museen und schuf unzäh- lige Außenraumplastiken. Vor allem dadurch brachte sie ihr nicht nur optisch, sondern auch taktil erfahrbares, ausdrucksstarkes Werk Menschen jeden Alters, jeder Kultur und Religion nahe. De Saint Phalle erschuf ein Oeuvre von gigantischem Ausmaß. Ihr Werk ist geprägt von extremer Flexibilität und Wandelbarkeit. Es umfasst die vielfältigsten künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und beinhaltet Skulpturen, Architekturen, Malereien, Drucke, Collagen, Assemblagen, kinetische Objekte, Leuchtskulpturen, Bücher, Filme und Gebrauchsgegenstände. Aber nicht nur in der Nut- zung verschiedenster künstlerischer Techni- ken, sondern auch inhaltlich und formal ist de Saint Phalles Schaffenswerk einzigartig: Die Künstlerin ist in der Vielfalt ihrer künstleri- schen Schaffensphasen kreativer als Picasso. Sie scheute sich nicht, einen erfolgreich ein- geschlagenen Weg zu verlassen, um neue Ausdrucksformen zu finden.5

Ihre Arbeiten, die einen hohen Wiedererken- nungswert besitzen, sprengen, das Format betreffend, jeden Rahmen.6 Ihre künstlerische Zusammenarbeit mit Jean Tinguely besitzt ei-ne Intensität, wie sie in der Geschichte der

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Tracey Emin: Everyone I Have Ever Slept With 1963-1995, 1995

Kunst selten zu finden ist. Eine der besonderen Fähigkeiten der Künstlerin bestand darin, im Team zu arbeiten. Dadurch ergaben sich lebenslang enge Kooperationen mit Künstlerkollegen wie Rico Weber, Sepp Imhof, Per Olof Ultvedt, Daniel Spoerri und Bernhard Luginbühl wie auch Freunden (Prof. Dr. Silvio Barandun, Mario Botta), und Mitarbeitern (Ricardo Menon, Venera Finocchiaro).

De Saint Phalle veranstaltete mit ihren Schiessaktionen bereits eine Form des happenings, bevor sich dieser Begriff überhaupt erst gebildet hatte. „Mit Niki de Saint Phalle trat ein Künstlerkonzept in die Öffentlichkeit, das deutlich machte, dass auch nach dem Verfertigen von Kunstwerken das Künstlersein nicht endet. In ihren Aktionen wurden Handlungsmuster begreifbar, die fortan die 1960er Jahre wirklich bestimmen sollten; Performance, Aktionen und Happening sind Begriffe, die später Inhalte einer neuen Szene von zeitgenössischer Kunst werden sollten.“ (Krempel 2001, 29) Mit ihren Gedanken zur Rolle der Frau und den daraus resultierenden künstlerischen Werken7 war sie ihrer Zeit ebenso voraus wie beispielsweise mit ihrer Aufklärungsarbeit zur AIDS-Epidemie.8 Ih- re Arbeit weist eine nicht zu unterschätzende politische Dimension auf.9 De Saint Phalle setzte sich zeit ihres Lebens für gesellschaftliche Minderheiten wie Schwarze10, Arme und Homosexuelle ein.11

De Saint Phalle schuf bis ins hohe Alter z. T. gigantische Skulpturenprojekte. Selbst wenn sie in ihren letzten Lebensjahren häufiger auf frühere künstlerische Ausdrucksweisen zurückgriff, fand sie doch immer neue Variationsmöglichkeiten. Die Künstlerin arbeitete mit einer an Besessenheit grenzenden Leidenschaft und setzte mit ihrer Arbeit schlussendlich sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel.

De Saint Phalle wurden bereits zu Lebzeiten eine Vielzahl von Ausstellungen und Retrospektiven von bedeutenden Museen in aller Welt gewidmet (vgl. Hulten 1992, 291ff.). Ihr Oeuvre ist heute hauptsächlich in Hannover, Nizza und Stockholm zu sehen, weiterhin werden jedoch Ausstellungen und Retrospektiven über die Künstlerin organisiert.12 Es existiert bereits heute eine umfangreiche Literatur über die Künstlerin (vgl. Hulten 1992, 300ff.).

Für die Beschäftigung mit de Saint Phalle spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die anfangs von mir aufgestellte These, die Biographie eines Künstlers könne seine künstlerisches Arbeit signi- fikant beeinflussen, fast an jeder Phase von de Saint Phalles Werk belegen lässt (vgl. Niemeyer- Langer 2003, 9f.).

Die kreative Arbeit de Saint Phalles steht in direktem Zusammenhang mit ihrer Biographie. Es ist unmöglich, einzelne Werke oder Schaffensperioden angemessen zu verstehen, wenn sie durch eine klassische, ausschließlich beschreibende und sich auf das im Werk Sichtbare beschränkende Weise betrachtet werden. In dieser Arbeit wird deshalb die Behauptung aufgestellt, dass de Saint Phalles Schaffen sich in seiner Vielschichtigkeit am ehesten erfassen lässt, wenn in einer Betrachtung die biographischen Hintergründe berücksichtigt werden.

De Saint Phalle überzeugt zwar auch durch die gestalterische Qualität ihrer Werke, diese zeigt sich jedoch eher in der unkonventionellen, fast kindlich unverbrauchten Herangehensweise der Autodidaktin,13 welche sich klassischen Bewertungsschemata (mit ihrer Frage nach dem bewussten Einsatz von Licht oder einer Bildkomposition) entzieht. Ausschlaggebend ist jedoch vielmehr die Intensität ihres kreativen Mitteilungsbedürfnisses14 und die obsessive Beschäftigung mit den verschiedensten künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Bedeutung der Biographie auf das kreative Schaffen eines Künstlers am Beispiel der Künstlerin Niki de Saint Phalle zu untersuchen. Um ge- nauer einschätzen zu können, in welchem Zusammenhang Künstlerbiographie und künstlerisches Werk stehen, ist es zunächst einmal notwendig, sich ein Bild von dem Bereich zu machen, über den gesprochen wird. Deshalb werden in Kapitel 2 zunächst einige wichtige kunstpsychologische wie auch kunstwissenschaftliche Grundlagen und Vorüberlegungen dargestellt werden. Daraufhin erscheint es zunächst angebracht, sich genauer mit der Biographie vertraut zu machen. Deshalb soll in Kapitel 3 ein Überblick über den Lebenslauf und das Werk der Künstlerin Niki de Saint Phal- le erfolgen. Dabei soll bereits in Bezug auf Kapitel 2 die enge Verbindung von Leben und Werk aufgezeigt werden. Im vierten Kapitel wird die Bedeutung biografischer Faktoren für das Werk der Künstlerin anhand von zwei Beispielen genauer untersucht. Schließlich beinhaltet das fünfte Kapi- tel eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit.15

2 Psychologische und kunstwissenschaftliche Vorüberlegungen

Die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Fragestellung lässt sich teilweise dem Bereich der Kunstpsychologie zuordnen. Da in Kapitel 3 und 4 biografische Einflüsse auf das künstlerische Schaffen der Künstlerin Niki de Saint Phalle untersucht werden sollen, scheint es an dieser Stelle sinnvoll, einige allgemeine Überlegungen zur Person des Künstlers (2.1) und zu dessen Schaffensmotivation (2.2) aus psychologischer Sicht darzulegen. Eine weitere Herangehensweise an die Thematik ist aus kunstwissenschaftlicher Sicht über die Kunstbetrachtung möglich. Verschiedene Aspekte der Kunstbetrachtung sollen deswegen in Kapitel 2.3 erläutert werden.

2.1 Zur Psychologie eines Künstlers

Bevor die Suche nach einer spezifischen Psychologie des Künstlers begonnen werden kann, stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt eine Künstlerpsychologie? Unterscheidet sich die Psychologie eines Künstlers - also Schriftstellers, Musikers, bildenden oder darstellenden Künstlers - von der eines Menschen, der nicht künstlerisch tätig ist? Und nur wenn dem so sein sollte: Inwieweit und durch welche Eigenschaften zeichnet sich ein Künstler als solcher aus?

In der Literatur der Kunst- und Künstlerpsychologie finden sich verschiedene Untersuchungen zur Persönlichkeit von Künstlern. Einige Studien zum ästhetischen Erleben belegen, dass sich künstle- risch aktive Menschen in ästhetischen Fragen von der Vergleichsgruppe signifikant unterschei- den.16 Götz und Götz untersuchen 1973 an 100 Kunststudenten der Düsseldorfer Kunstakademie die Zusammenhänge von Persönlichkeitsstruktur und künstlerischer Begabung. Das Ergebnis der Studie zeigt, dass die von den Dozenten der Akademie als „künstlerisch begabt“ eingestuften Testpersonen signifikant stärker introvertiert und labil sind als die „unbegabten“. Eine weitere Stu- die mit professionellen Künstlern kommt zu dem Ergebnis, dass Künstler tendenziell einzelgänge- risch, leicht aggressiv, hochsignifikant introvertiert und labil sind.17 Mit diesen Untersuchungen scheint eine spezielle Künstlerpsychologie erwiesen. Die Studien sind in ihrer auf subjektiven Ein- schätzungen beruhenden Beweisführung jedoch auch leicht kritisierbar.

Nach Mayer-Hillebrand zeichnet sich der Künstler im Vergleich zu einem nicht kreativ tätigen Men- schen durch eine gesteigerte Erlebnisfähigkeit und ein „stärkeres und empfänglicheres Gemütsle- ben“ (Mayer-Hillebrand 1966, 64) aus. Derselben Meinung ist Brentano, der behauptet, dass der Künstler nichts als „eine sehr feine Empfindlichkeit für das ästhetisch Wirksame“ (Brentano 1959, 88) benötigt. Diese ermöglicht ihm, das ästhetisch Bedeutsame zu erkennen und daraufhin darzu- stellen. Der Künstler wird wegen seines empfänglicheren emotionalen Zustandes zu intensiverer und ausgeprägterer emotionaler Tätigkeit angeregt als ein Nicht-Künstler.18 Allerdings wird er durch sämtliche Erlebnisse und Erfahrungen innerlich auch stärker ergriffen und erschüttert. Bren- tano behauptet in diesem Zusammenhang, dass ein Künstler alle Gefühle und Stimmungen durch- leben muss, um überhaupt künstlerisch tätig sein zu können (vgl. ebd.). Zur gesteigerten Erlebnis- fähigkeit kommt nach Mayer-Hillebrand noch eine gewisse bei Künstlern fast pathologische Unruhe und Unzufriedenheit, die in der „leidenschaftlichen Beschäftigung“ (Mayer-Hillebrand 1966, 65) mit bestimmten Themen mündet, die intensiv und konstant auf ein Ziel gerichtet sind. Der Prozess der Zielerreichung wird begleitet von dem Drang, sich ausdrücken zu wollen, ein Zustand, der von Künstlern selbst oft als „Besessenheit“ oder „inneres Getriebenwerden“ beschrieben wird.

Die vorangegangenen Darstellungen legen die oft diskutierte Frage nach der Bedeutung von psy- chischer Stabilität nahe. Der Theorie einer notwendigen Ich-Stabilität (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 14) scheint die Behauptung Ulrich Krafts zu widersprechen, dass „extreme Stimmungsschwankun- gen, Manien, Wahnvorstellungen, Alkohol- oder Drogensucht (…) auch heute noch das Leben vie- ler kreativer Köpfe“ prägen (Kraft 2004, 46). Der Mediziner und Wissenschaftsjournalist untersucht 2004 den Zusammenhang von Geisteskrankheit und Kreativität und stellt sich dabei die Frage, ob sich „ein Zusammenhang zwischen mentalen Störungen und herausragendem kreativem Potenzial wissenschaftlich belegen“ lässt (ebd.). Nach Kraft analysierte bereits Freud Werk und Biographie berühmter Künstler und Schriftsteller. Er untersuchte die Künstlerbiographien gezielt nach psycho- logischen Störungen und wurde nicht selten fündig. Doch auch aktuellere, systematischere Unter- suchen setzen sich mit der Thematik auseinander.19 Aus diesen Untersuchungen kann geschlos- sen werden, dass es einen Zusammenhang zwischen psychischer Instabilität und kreativem Po- tenzial gibt (vgl. Jamison 1996). Kraft beschreibt den Zusammenhang auf folgende Weise: Men- schen mit bipolaren Störungen besitzen in ihren manischen Phasen die gesteigerte Fähigkeit, di- vergent zu denken. „Ihr Gehirn arbeitet auf Hochtouren, produziert am laufenden Band unkonventi- onelle Ideen und macht auch vor den weitläufigsten Assoziationen nicht Halt.“ (Kraft 2004, 49) Der Überschuss an Gedanken regt zu kreativen Leistungen an. Denn auch wenn viele Einfälle verwor- fen werden müssen, so fördern sie in ihrer Vielfältigkeit die Entstehung neuer Ideen.20 Es scheint also belegbar, dass sich seelische Konflikte bis hin zu ernsteren psychischen Problemen begünsti- gend auf die Kreativität einer Person auswirken können. Trotzdem kann natürlich nicht verallge- meinernd gesagt werden, dass alle Künstler unter seelischen Störungen leiden oder aber im Umkehrschluss psychisch kranke Menschen durchweg künstlerisch aktiv sind.

2.2 Zur Schaffensmotivation eines Künstlers

Interessant erscheint nun die Frage, wieso Künstler das tun, was sie tun: Kunst (er-)schaffen.

Was motiviert einen Menschen, „Kunst“ bzw. „ein Kunstwerk“ zu erschaffen? Welche sind die Vor- aussetzungen für den Gestaltungsprozess und wie läuft dieser ab? Ich möchte im Folgenden auf den Ursprung und die Dynamik bildnerischen Schaffens aus kunstpsychologischer Sicht eingehen. Die Frage nach den Grundlagen kreativen Handelns ist für die Psychoanalyse seit langer Zeit von hohem Interesse. Bereits Freud nahm sich der Analyse künstlerischer Kreativität an. Er untersucht 1910 neben Leonardo da Vinci in mehr als 300 Psychobiographien kreativer Persönlichkeiten und kommt zu dem Schluss, dass die Tätigkeit des Künstlers hauptsächlich als Sublimation ungestillter Libidowünsche zu interpretieren sei.21 Dieser Ansatz Freuds ist in der neueren Psychoanalyse je- doch umstritten. Grundsätzlich gibt es bei der Frage nach der Motivation des Künstlers in den jün- geren Entwicklungen der Psychoanalyse zwei verschiedene Ansätze, welche sich durch die stärke- re Betonung auf die Es- bzw. die Ich-Funktionen voneinander unterscheiden. In den Es- psychologischen Annahmen wird das Kunstschaffen als „Abwehr unbewusster Triebansprüche“ (Kobbert 1986, 49) betrachtet. Meist werden in der frühen Kindheit erlebte Verlusterlebnisse als Motiv zu kreativer, schöpferischer Arbeit gesehen.

Aktuell wird den Ich-psychologischen Annahmen mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Sie besagen, dass das Kunstwerk „das Mittel des Künstlers zur Bannung chaotischer Kräfte in seinem Innern“ (Kobbert 86, 50) ist. Damit ist das künstlerische Schaffen ein Weg, unbewusste Wünsche und Motive durch Ordnung (in einem Kunstwerk) an die Realität anzupassen, unbewusste Gefühle zu regulieren und damit auch zu beherrschen.

Die gesteigerte Erlebnisfähigkeit als Voraussetzung für kreatives Arbeiten wurde bereits im voran gegangenen Kapitel erwähnt. Nach Niemeyer-Langer ist außerdem „ein gewisser innerer Halt, eine Ich-Stabilität“ Vorraussetzung, damit sich ein Mensch im kreativen Prozess öffnen kann (Niemeyer- Langer 2003, 14). Holm-Hadulla erklärt dazu: „Aus psychoanalytischer und motivationspsychologi- scher Sicht ist zusammenzufassen, dass kreative Persönlichkeiten neben ihrem Talent eine gewis- se Ambivalenz- und Frustrationstoleranz besitzen. Sie müssen Unsicherheit und gespannte Erwar- tung ertragen und dabei arbeiten können. Zweitens müssen sie, während sie sich dem kreativen Prozess überlassen, eine gewisse Entfernung vom eigenen Selbst ertragen können.“ (Holm- Hadulla 2000, 76)

Zur ungehinderten Entfaltung kreativer Potenziale muss der Künstler jedoch eine gewisse innere Freiheit besitzen, die freie Assoziationen und unkonventionelle Überlegungen zulässt: „Um etwas Neues ins Leben zu rufen, bedarf es der Möglichkeit eines freien Spielraumes, vor allem innerlich. Weiterhin bedarf es der Fähigkeit, in diesem Spielraum neue Verknüpfungen herstellen zu können, sich Verrücktheiten und Einfälle gestatten zu dürfen, ‚frei zu assoziieren’, ohne den Prozess durch Bewertungen oder Normen behindern zu lassen.“ (Niemeyer-Langer 2003, 13f.) Erika Landau unterscheidet zwei Zugangsformen, welche den kreativen Schaffensprozess beschreiben: den organisierten und den inspirierten Zugang (vgl. Landau 1969, 121). Der Prozessverlauf bei einem organisierten Zugang beginnt mit einer Vorbereitungsphase, in welcher der Problembereich und die darin enthaltenen Variablen genau analysiert werden. Das bildnerische Problem wird dadurch präziser definiert. Eine darauf folgende produktiven Phase beinhaltet das bewusste Umstrukturieren der eigenen Ideen. Und zuletzt in der Entscheidungsphase werden Lösungsmöglichkeiten gegeneinander gewichtet, erprobt und realisiert.

Der inspirierte Zugang wird in fünf Phasen unterteilt. In einer Präparationsphase sammelt der Künstler Informationen und Materialien. Diese Phase kann ein zeitlich begrenzter Zeitraum, der ei- nen Schaffensprozess einleitet, oder aber die gesamte bisherige Erfahrung der kreativen Person mit dem gewählten Thema sein. Die Inkubationsphase kann als Phase des „Ausbrütens“ gesehen werden; rein äußerlich geschieht darin kein Lösungsfortschritt. Trotzdem vollziehen sich in dieser Phase schwer nachweisbare Verknüpfungs- und Strukturierungsprozesse. In der Inspirationsphase hat der Künstler schließlich - meist, wenn er sich mit ganz anderen Dingen beschäftigt - eine plötz- lich und unfreiwillig auftauchende Einsicht oder Idee. Dieser Einfall wird in der Evaluationsphase auf seine Tauglichkeit und die Realisationsmöglichkeit geprüft. Falls sich an dieser Stelle Reali- tätswiderstände herausstellen, beginnt der Künstler erneut in einer Präparations- oder Inkubations- phase. Falls der Einfall für realisierbar erachtet wird, erreicht der Künstler in der Verifikationsphase eine adäquate Übertragung der Idee in das jeweilige Kommunikationsmedium.

Diese Phasen dürfen nicht als lineare Abfolgen gesehen werden. Zudem sind dem Künstler die einzelnen Phasen in den wenigsten Fällen bewusst. Wohl deshalb sprechen Künstler in vielen Fällen davon, dass der künstlerischen Schaffensprozess vom „Unbewussten“ gelenkt wird und sich deshalb außerhalb ihrer bewussten Kontrolle vollzieht.

2.3 Zur Herangehensweise an ein künstlerisches Werk aus kunstwissenschaftlicher Sicht

Die Betrachtung von Kunst in der kunstwissenschaftlichen Kunstbetrachtung kann von verschiedenen Seiten erfolgen kann. Kunstbetrachtung kann beispielsweise auf ästhetischer, kompositorischer oder Aussageorientierter Ebene erfolgen.

In der kunstwissenschaftlichen Betrachtung eines Kunstwerkes gibt es die klassische Herange- hensweise der Bild- oder Skulpturenbetrachtung. Diese geschieht zunächst beschreibend und be- achtet ausschließlich das Sichtbare. Dabei werden verschiedene Aspekte eines Kunstwerkes ge- nauer untersucht: Die äußere Form des Werkes, der dargestellte Inhalt, der Einsatz von Farbe, Kontrasten und Licht und die vom Künstler angelegte Komposition. In den meisten Fällen erfolgt hierauf eine Interpretation, die die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksmittel mit dem darge- stellten Inhalt in Verbindung bringt und daraus ihre Schlüsse zieht. Erweiternd können vor einer In- terpretation noch der Lebenslauf des Künstlers, seine zeitgeschichtliche Einordnung und seine so- zialen Bezugspunkte dargestellt und in die Interpretation aufgenommen werden. Hierbei wird der beeinflussenden Wirkung von Biographie, Geschichte, Zeit und sozialem Umfeld auf den Künstler ein für das Kunstwerk bedeutsamer Platz eingeräumt.

In einer biografischen Kunstbetrachtung gibt es verschiedene biografische Faktoren. Ein wichtiger Faktor können zeitgeschichtliche Ereignisse sein. Solche zeitgeschichtlichen Ereignisse sind Kriege (vgl. Pablo Picasso: Guernica, 1937 oder George Grosz), politische Entscheidungen oder wissenschaftliche Entdeckungen. Als solch einen zeitgeschichtlich-biografischen Einfluss auf de Saint Phalles Werk ist mit Sicherheit die Entdeckung der Immunschwächekrankheit AIDS zu betrachten, welche - wiederum durch andere unten genannte biografische Faktoren bedingt - zu dem Buch AIDS. You can ´ t catch it holding hands führt.

Ein weiterer biografischer Faktor können k ö rperliche Befindlichkeiten wie Krankheit (vgl. die Biographie der Frida Kahlo), Behinderung (vgl. Henry de Toulouse-Lautrec), Sucht oder psychologische Störungen (vgl. Edvard Munch) sein. Gesundheitlich gesehen ist die durch die Arbeit mit giftigem Polyester ausgelöste schwere Lungenkrankheit ein Faktor, der de Saint Phalle zum einen zwingt, einen Ortswechsel von Europa nach Florida, Kalifornien, vorzunehmen, was thematisch gesehen wiederum Auswirkungen auf ihr Werk hat (vgl. Californian diary, 1993-1995). Zum anderen führt die durch die Krankheit ausgelöste Atemnot zu einer völlig neuen Art der Skulptur und damit einer ganzen Schaffensperiode, den Skinnies.

Zuletzt können soziale Strukturen Faktoren biografischer Kunstbetrachtung sein. Diese sozialen Strukturen haben in der biografischen Kunstbetrachtung bedeutsame Einflussmöglichkeiten auf das kreative Schaffen eines Künstlers und setzen sich im Allgemeinen aus dem familiären Umfeld (vgl. Otto Dix: Die Eltern des Künstlers, 1877 oder Richard Billingham: Untitled, 1993-1995) dem Freundes- und Bekanntenkreis und berufsbedingten sozialen Kontakten zusammen.

3 Ein Überblick über Leben und Werk der Künstlerin Niki de Saint Phalle

Nachdem im vorangegangenen Kapitel zentrale theoretische Grundlagen dargestellt und einige methodische Aspekte erörtert wurden, steht im Zentrum dieses Kapitels eine tour d ’ horizon über Leben und Werk der Künstlerin Niki de Saint Phalle. Um die Beziehung zwischen der Biographie und dem künstlerischen Werk de Saint Phalles aufzeigen zu können und um zu verdeutlichen, dass die verschiedenen Schaffensperioden durch biografische Ereignisse initiiert, motiviert und/oder beeinflusst werden, ist es zunächst wichtig, das Leben und Werk der Künstlerin ausführ- lich zu betrachten. Deshalb versuche ich im Folgenden, einen angemessenen Überblick über die Biographie de Saint Phalles und ihr umfangreiches Oeuvre zu geben. Ich werde dazu ihr Leben nicht unter dem privaten Aspekt, sondern aus einer künstlerischen Perspektive in verschiedene Phasen einteilen.22 Diese dienen der groben Strukturierung der turbulenten Biographie. Trotz der werkorientierten Gliederung soll besonderen Wert auf die private Komponente von de Saint Phalles Leben gelegt werden, welche sich für die der Arbeit zugrunde liegende Fragestellung als beson- ders relevant erweist. Die Informationen hierfür beziehe ich hauptsächlich aus den beiden in deut- scher Sprache erschienenen Biographien (vgl. Becker 1999 und Schröder 2000), einer „psychody- namischen Betrachtung“ (Niemeyer-Langer 2003) de Saint Phalles und einer von der Künstlerin verfassten Autobiographie (vgl. de Saint Phalle 2000).23 Zudem geben insbesondere die Briefe (vgl. de Saint Phalle 1992 144ff.) und zwei Filmdokumentationen (vgl. Möller/Mathews 1987 sowie Schamoni 1995) Einblick in das Leben der Künstlerin.24

Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass sich die meisten Annahmen der beiden erwähnten Biographien wie auch eigene Ausführungen und Folgerungen auf Äußerungen der Künstlerin in gesprochener (vgl. Möller/Mathews 1987; Schamoni 1995) oder schriftlicher Form (vgl. de Saint Phalle 2000; de Saint Phalle 1992, 144ff.) beziehen. Diese autobiografischen Informationen der Künstlerin erweisen sich als ausgesprochen nützlich für die Betrachtung und das Verständnis ihrer Biographie und ihres Werkes, geben jedoch allein eine subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit wieder und sind deshalb nur mit Vorsicht zu genießen.25

Ich werde de Saint Phalle nicht in ihrer Rolle als „starke“ oder „emanzipierte“ Frau betrachten, da ich die Thematisierung von Geschlechtszugehörigkeiten in diesem Falle für eher nebensächlich er- achte.26 Die Bedeutung Niki de Saint Phalles liegt weniger in ihrer Rolle als „emanzipierte“ Frau, sondern vielmehr in ihrer Rolle als eine der kreativsten und vielfältigsten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.27

3.1 „Les années 1930-1949“

Niki de Saint Phalle wird am 29. Oktober 1930 als Catherine Marie Agnès Fal de Saint Phalle in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren. Sie ist das zweite von fünf Kindern des Comte André Marie Fal de Saint Phalle und der amerikanischen Schauspielerin Jeanne Jaqueline (geb. Harper).28 Ihr Vater ist Leiter der Filiale des familieneigenen Bankhauses in New York, der Saint Phalle & Company. Ein Jahr vor de Saint Phalles Geburt, 1929, verliert die Familie durch den Börsencrash in New York ihr gesamtes Vermögen. Der Comte versucht nach dem Ende von Saint Phalle & Company im Frühjahr 1931 einen Neuanfang als Börsenmakler.

Niki de Saint Phalle beschreibt ihre Mutter als sehr schöne, elegante Frau.29 Diese bemerkt während ihrer zweiten Schwangerschaft, dass ihr Mann ihr untreu ist.

De Saint Phalle verbringt ihre ersten drei Jahre mit ihrem älteren Bruder John bei den Großeltern väterlicherseits in Nièvre, Frankreich. Den Großvater beschreibt de Saint Phalle als besonders streng (vgl. de Saint Phalle 2000, 20). 1933 zieht die Familie nach Greenwich, Connecticut. Sie verbringt die Sommermonate alljährlich auf Ch â teau de Filerval, dem Besitz des Großvaters Do- nald Harper, in Frankreich. Marie Agnès wird im vierten Lebensjahr, nach ihrer Rückkehr aus Frankreich, von ihrer Mutter in „Niki“ umgetauft. 1937 siedelt die Familie nach New York über und wohnt fortan in einem Appartement an der East 88th Street. Dort besucht de Saint Phalle die für ih- re strenge moralische Erziehung bekannte Klosterschule Sacred Heart. Doch die junge de Saint Phalle will sich dem dortigen Wertesystem nicht beugen. Sie wird 1941 von der Schule verwiesen und zieht daraufhin zu ihren Großeltern mütterlicherseits, die Frankreich kriegsbedingt verlassen haben, nach Princeton/New Jersey. Dort besucht sie eine Public School. Schon 1942 zieht de Saint Phalle zurück zu ihren Eltern nach New York und besucht dort die Brearley School. 30 Später wechselt sie auf die Klosterschule in Suffren/New York. 1946 verbringt die Familie ihren Sommer- urlaub nach acht Jahren zum ersten Mal wieder in Frankreich. De Saint Phalle lernt die Stadt Paris kennen und lieben. Sie verliebt sich in ihren sieben Jahre älteren Cousin Jacques. Nach mehreren Schulwechseln macht sie schließlich 1947 an der Mädcheninternatsschule Oldfield School in Mary- land ihr Abitur.

Danach beginnt de Saint Phalle eine kurze, aber erfolgreiche Karriere als Photomodell.31 1948 ist sie auf den Titelblättern der Zeitschriften Vogue und Life zu sehen und posiert u.a. für Cartier. Ihre Karriere wird unterbrochen, da sie sich mit 17 Jahren in den ein Jahr älteren Harry Mathews32 verliebt. Er beeindruckt sie durch sein athletisches Äußeres und seine intellektuelle Art. Die beiden heiraten am 6. Juni 1949 in der City Hall - sehr zum Missfallen ihrer Eltern. Niki de Saint Phalle nimmt den Namen ihres Ehemannes an und nennt sich fortan Niki Mathews.33 Es folgt 1950 der Umzug nach Cambridge in Massa- chusetts, wo die ersten Ölbilder und Guachen der Künstlerin ent- stehen.34

1951 bringt de Saint Phalle in Boston ihre Tochter Laura Mathews zur Welt. Die Familie zieht 1952 nach Paris in eine Wohnung in der Rue Jean Dolent. De Saint Phalle besucht dort eine Schauspiel- schule, während ihr Ehemann Musik studiert. Nach einem schweren psychischen Zusammenbruch 1953 kommt sie in eine Klinik in Niz- za. Dort wird sie nach klassischen Methoden behandelt: Sie erhält Elektroschocks. Doch die dort ebenfalls angebotene Maltherapie wird zum Ausgangspunkt einer neuen Karriere. Nach zwei Wochen Therapie entscheidet sich de Saint Phalle gegen die Schauspielerei und für ein Leben als Künstlerin.35 Mathews bricht ebenfalls sein Studium ab und schreibt seinen ersten Roman. Er gibt de Saint Phalle sämtliche Freiheiten für ihre künstlerischen Aktivitäten.

Niki de Saint Phalle besucht niemals eine Kunstschule oder Univer- sität. Sie lässt Überlegungen diesbezüglich fallen, nachdem ihr der

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Niki de Saint Phalle: Family Portrait, 1954-55

amerikanische Maler Hugh Weiss - für einige Jahre ihr Mentor - rät, den autodidaktischen Stil bei- zubehalten. De Saint Phalle lässt sich auf Anraten des Malers hin stark von Kunstwerken in Muse- en beeinflussen.

1954 lernt sie den Künstler Jean Tinguely und seine Frau, die Künstlerin Eva Aeppli, kennen, die aus der Schweiz nach Paris in die Impasse Ronsin gezogen waren. Im September des gleichen Jahres zieht die Familie Mathews nach Deyà, Mallorca. Dort wird 1955 ihr Sohn Philip Mathews geboren. Eine Reise nach Spanien macht die Künstlerin mit den Kunstwerken des Prado bekannt und begeistert sie für Gaudí, dessen Park Guell sie als ebenso inspirierend für ihr späteres skulpturales Werk bezeichnet wie auch den Palais id é al von Ferdinand Cheval.

1956 hat de Saint Phalle in Sankt Gallen ihre erste und auch einzige Ausstellung der 1950er Jahre. Sie zeigt dort ihre Ölgemälde. Im August kehrt die Familie nach Paris zurück und wohnt nun in der Rue Alfred Durand-Claye. 1959 findet im Mus é e d ´ Art Moderne de la Ville de Paris eine Ausstellung mit de Kooning, Pollock, Rauschenberg und Johns statt, die die Künstlerin stark be- einflusst. Ähnlich der Combine Paintings von Robert Rauschenberg beginnt sie nun eben- falls, Collagen zu fertigen. Die Künstlerin benutzt nicht mehr wie bisher Öl-, sondern Guache- und Lackfarben. Sie kauft Alltags- gegenstände und montiert sie zu imaginären Landschaftsreliefen. Das Thema Gewalt hält in Form von Spielzeugmessern, -beilen und -pistolen Einzug in ihr Werk.36

Die Tatsache, dass de Saint Phalle zu die- ser Zeit nicht als Künstlerin beachtet wird,

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Niki de Saint Phalle: Night Experiment, um 1959

treibt sie dazu an, bis zum Äußersten zu gehen. Um sich vollständig ihrer Kunst widmen zu können, führt sie 1960 die Trennung von ihrer Familie herbei. Mathews zieht mit den Kindern in die Rue Varenne. Gegen Ende des Jahres zieht de Saint Phalle in die Impasse Ronsin, wo sie sich ein Atelier mit Tinguely teilt. Durch ihn lernt sie Pontus Hulten kennen, den Direktor des Moderna Mu seet in Stockholm. Ein Jahr später lässt sie sich von Harry Mathews scheiden. Dieser übernimmt die Erziehung der Kinder. Nach ihrer Scheidung von Harry Mathews nimmt Niki Mathews wieder ihren alten Namen de Saint Phalle an.37

Die Collagen und Assemblagen werden immer mehr zum Ausdruck von de Saint Phalles Gefüh- len.38 Nach einer unglücklich endenden Affäre mit einem Künstler entsteht 1961 die Arbeit Portrait of my lover. Der Kopf der mit einem weißen Herrenhemd und Krawatte dargestellten Person be- steht aus einer montierten Zielscheibe, die mit Pfeilen beworfen werden kann. Tinguely und Spoerri sind von dem Werk so begeistert, dass sie es in der Gruppenausstellung Comparaisons: Peinture. Skulpture im Februar 1961 im Mus é e d ´ Art Moderne de la Ville de Paris ausstellen. Es ist de Saint Phalles erster großer Erfolg.

Bereits in ihren ersten Arbeiten, den Ölbildern, nimmt de Saint Phalle direkten Bezug zu ihrer Biographie: Es ist offensichtlich, dass die familiäre Situation mit Mathews und den Kindern in Werken wie family portrait oder La f ê te inhaltlich einen Ausdruck findet. Gleichzeitig deutet die detailverliebte Malweise bereits die später dominante Gestaltungstechnik mit ornamentalen Mustern (z.B. als Bemalung der Nanas) und der Verkleidung von Skulpturen mit Mosaik (z. B. im Tarot-Garten) an. In den Collagen und Assemblagen lässt de Saint Phalle sich stark von Künstlern und deren Werken beeinflussen. So übernimmt sie zunächst schlichtweg die Arbeitstechniken von Rauschenberg, dessen Werk sie beeindruckt. Doch sehr schnell fließen eigene Bildideen in die entstehenden Werke ein: Die Verwendung von Gegenständen, die Gewalt symbolisieren, macht die Arbeiten inhaltlich zu eigenständigen Kunstwerken.

Es ist interessant, dass das sich von den Collagen und As- semblagen formal deutlich abhebende Werk Portrait of my lover, welches inhaltlich wie auch in der Wahl der Materialien den bisher direktesten Bezug zur Biographie der Künstlerin aufweist, auch deren erster Erfolg wird. Die Künstlerin muss feststellen, dass ihr dieser künstlerische Erfolg, den sie in dieser Schaffensphase so ersehnt hat, durch die direkte Thematisierung ihrer privaten Konflikte über die Kunst zuteil wird.

Ein weiterer positiver Effekt ist die therapeutische Wirkung dieser künstlerischen Auseinandersetzung. De Saint Phalle beschreibt dies in einem Brief an Pontus Hulten: „Ich fand

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Abb. 5: Niki de Saint Phalle: Saint S é bastien or Portrait of my Lover, 1961

Spaß daran, Pfeile nach seinem Kopf zu werfen. Es war eine erfolgreiche Therapie, und ich begann, mich von ihm zu lösen.“ (de Saint Phalle 1992, 156) Sie setzt die Thematisierung privater und somit biografischer Ereignisse von nun an mehr oder weniger gezielt ein.

3.2 Les tirs - die Schiessbilder

Im Entstehungsjahr von Portrait of my lover kommt de Saint Phalle auch die Idee zu einem Bild, das blutet, wenn man auf es schießt.39 Sie fertigt das erste ihrer sogenannten Schiessbilder: Auf einer Holzplatte werden diverse Gegenstände sowie mit Farbe gefüllte Beutel, Spaghetti und Eier befestigt und mit Gips übergossen. Die erste Schiessaktion muss jedoch in Ermangelung eines Gewehrs verschoben werden.

Im Oktober 1960 gründet der Kunstkritiker Pierre Restany die Gruppe der Nouveaux R é alistes. Vo- rausgegangen war dem eine Ausstellung in der Mailänder Galerie Apollinaire, die den Begriff Nou- veau R é alisme prägte. Die Gründungsversammlung mit Künstlern wie Spoerri, Tinguely, Arman, Dufrêne und Rotella findet im Haus von Yves Klein statt. Niki de Saint Phalle veranstaltet dort ihre erste von insgesamt 12 Schiessaktionen (zwischen 1961 und 1963) und wird sofort in den Kreis der Nouveaux R é alistes aufgenommen.

Im selben Monat verliebt sich die Künstlerin in Jean Tinguely. Damit ist der private Grundstein für eine jahrelange künstlerische Zusammenarbeit gelegt.

Im Februar 1961 findet im Kreise von Künstlerkollegen eine zweite Schiessaktion statt. Jeder der Anwesenden darf mit dem Gewehr auf das Gipsrelief schießen. De Saint Phalle berichtet von der großen Faszination, die die Schiessaktion auf sie ausübt.

De Saint Phalle und Tinguely werden von Pontus Hulten zur Teilnahme an der Ausstellung Bewo gen - Beweging in Amsterdam, Stockholm und zuletzt Humlebaek in Dänemark eingeladen. De Saint Phalle stellt ihr Portrait of a Lover aus, das wiederum von den Besuchern mit Pfeilen beschossen werden darf, und bereitet weitere Schiessaktionen vor. Am 12. März schießt sie in Amsterdam auf fünf kleinere Formate. Anwesend ist W. Seitz vom Museum of Modern Art in New York. Für Stockholm wünscht sich Hulten größere Formate. Am 23. Mai 1961 schießt de Saint Phalle in der Nähe des Moderna Museet auf über zwei Meter hohe, weiße Gipsreliefs. Sie freundet sich mit Jasper Johns und Robert Rauschenberg an.

Vom 30. Juni bis zum 12. Juli findet de Saint Phalles erste Einzel- ausstellung in der Pariser Galerie J statt. De Saint Phalle stellt dafür drei großformatige tirs her. In der Tirs à volont é genannten Ausstel- lung können die Besucher selbst zum Gewehr greifen und auf die Kunstwerke schießen. Die Vernissage wird ein großer Erfolg: Sie ist bestens besucht, die Schiessbilder finden allesamt Abnehmer (u. a. erwirbt auch Rauschenberg eines) und die Kritiken sind überwiegend wohlwollend. Es erscheinen hunderte von Zeitungsartikeln und das Fernsehen berichtet über das Ereignis. Die Schlagzeile „Gräfin Niki malt mit dem Karabiner“ von Siegfried Kühn im Offenburger Tage- blatt geht in die Literatur ein.

Zur Eröffnung des von Restany veranstalteten Festival des Nou- veaux R é alistes am Abend des 13. Juli findet in der Abbaye Rose- land die nächste Schiessaktion statt. Alle Mitglieder der Nouveaux R é alistes sind anwesend. De Saint Phalle und Tinguely werden Sal-

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Abb. 6: Niki de Saint Phalle: Tir, s é ance 26. juin 1961, 1961

vador Dalí vorgestellt, der sie einlädt, einen Toro de Fuego für einen Stierkampf in Figueras zu konstruieren. Das Künstlerpaar nimmt an und fertigt aus Gips und Papier einen lebensgroßen Stier, der, gefüllt mit Feuerwerkskörpern (ähnlich wie bei den Verbrennungsaktionen Bernhard Lu- ginbühls), zum Ende des Stierkampfes in der Arena zum Explodieren gebracht wird. Die tirs entwi- ckeln sich rasch weiter. Die Formate werden immer größer, die Farbeffekte immer raffinierter. Wannenförmige Elemente sollen Farbe auffangen und durch Latten und Rohre weiterleiten. Spray- dosen werden eingebaut.

Im Oktober 1961 stellt de Saint Phalle ihre Assemblagen in der Ausstellung The Art of Assemblage im Museum of Modern Art in New York aus. Die Ausstellung wandert danach in das Dallas Muse- um für Contemporary Art und das San Francisco Museum of Art. Zur ersten Schiessaktion in den USA am 4. März 1962 im Strandhaus der Galeristin Virginia Dawn in Malibu/Kalifornien trägt de Saint Phalle einen engen, weißen Lederanzug. Das Publikum wird nun nicht mehr in die Schiess- aktion einbezogen.

Doch nicht nur für de Saint Phalle ist die Zerstörung von Kunst als eigentlicher künstlerischer Akt ein Thema.40 Am 21. März 1962 hilft de Saint Phalle ihrem Partner Jean Tinguely bei dessen Kunstaktion Study for the End of the World No. 2. Gemeinsam bauen sie in der Wüste von Nevada eine gigantische Szenerie aus Schrott und ausrangierten Gebrauchsgegenständen zu- sammen. In Anwesenheit der Presse wird das Werk Stück für Stück von Tinguely in die Luft gesprengt.

De Saint Phalle schockiert bisher primär durch die radikale Ausdrucksform ihrer Kunst. Doch sie provoziert nun auch verstärkt inhaltlich: Sie beschließt, auf die Kirche zu schießen. Es entstehen neue Schiessbilder in Form von go- tischen Flügelaltären. Sie sind bestückt mit re- ligiösen Gegenständen, aber auch mit Ma- schinenpistolen und Ungeheuern. Die Künstle- rin will auf Missstände der Kirche aufmerksam machen, die sie in ihrer Zeit als Klosterschüle-

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Abb. 7: Niki de Saint Phalle: Altarbild für die Galeria Vittore, Mailand 1970

rin erlebte.41 Niki de Saint Phalle hat 1962 mit ihren Altarbildern eine Einzelausstellung in der Gale- rie Rive Droite in Paris. Die Ausstellung ist ein weiterer Erfolg. Sie trifft dort den Galeristen Alex- andre Iolas, der ihr im Oktober eine weitere Ausstellung in New York verschafft und sie fortan un- terstützt.

Niki de Saint Phalle berichtet, dass sie sich in dieser Zeit abhängig fühlt von den Schiessaktio- nen.42 Sie beschließt, sich von der künstlerisch ausgedrückten Gewalt abzukehren. Im Mai 1963 soll deswegen die vorerst letzte Schiessaktion in Los Angeles stattfinden. De Saint Phalle hat dafür ein gigantisches Werk mit den Maßen 2,76 x 6,11 Meter aus fünf nebeneinander gesetzten Holzta- feln geschaffen. Es heißt King Kong und zeigt „in Leserichtung die Tragik des Menschen von sei- ner Geburt bis zur Vernichtung der Welt“ (Becker 1999, 52). Zu sehen ist links der Kreislauf der Entwicklung mit Geburt, Kindheit, Jugend, Liebe und Heirat. In der Mitte befindet sich eine Reihe von Politikergesichtern wie Nikita Chruschtschow, John F. Kennedy, Mao Tse Tung, Fidel Castro und Karl Marx und darunter eine Reihe von Totenköpfen. Und auf der rechten Seite schreitet ein großes Monster, King Kong, auf eine Stadt zu, die von Flugzeugen attackiert wird. Das Werk wird nach dem Beschuss von Hulten für das Moderna Museet aufgekauft.

Das Schiessbild hat sich damit inhaltlich stark gewandelt: Besteht es zu Beginn nur aus Fundstü- cken, die scheinbar wahllos nebeneinander montiert und durch den Gipsüberzug fast unkenntlich gemacht werden, so stellt King Kong eine gut erkennbare Szenerie dar. Aus dem abstrakten wird ein gegenständliches Relief. Zwar werden immer noch Alltagsgegenstände und Plastikspielzeug verwendet; diese werden jedoch auf Gerüsten aus Drahtgeflecht so angebracht, dass sie in ihrer Zusammensetzung und Vielfalt zu Monster, Braut, Gebärender und Baum werden. Die weiße Far- be haben die tirs behalten.43

3.3 Bräute, Gebärende, Huren

1963 ziehen de Saint Phalle und Tinguely auf einen Bauernhof nach Soisy-sur- É cole, einem kleinen Dorf südlich von Paris. Auf die Schießbilder folgt nun eine Phase, in der sich de Saint Phalle mit den verschiedenen Rollen der Frau auseinander setzt.44 Von den reliefar- tigen Schiessbildern kommt die Künstlerin nun zu freistehenden Skulpturen. In den nächsten zwei Jahren, 1963 und 1964, entstehen in ei- ner „weißen Periode“ lebensgroße Bräute.45 Sie bestehen aus Drahtgeflecht und tragen

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Abb. 8: Niki de Saint Phalle: La mari é e à cheval, 1963-97

weite, weiße Brautkleider. Eine von ihnen - die Skulptur „Le cheval et la mariée“ aus dem Jahre 1963 - sitzt auf einem mit unzähligen farbigen Gegenständen verkleideten Drahtpferd. (vgl. Becker 1999, 57f.)

Neben den weißen Bräuten entstehen weiterhin Reliefe, die u. a. Gebärende und Huren darstel- len.46 Die dominierenden Farben sind schwarz, weiß und rot. Die Figuren werden aus immer klein- teiligeren Gegenständen, vor allem intakten und zerlegten Babypuppen, Plastikblumen, - totenschädeln, -pistolen und -spielzeugfiguren gestaltet.47 Als neues Gestaltungsmittel überzieht de Saint Phalle einzelne Teile der Figuren mit einem Geflecht aus Wolle, das an Würmer oder Maden erinnert.

Die Werke haben eine extrem abstoßende Wirkung. Die Körper der Frauen wirken gehäutet und damit schutzlos, übersät von Wunden und Würmern, die Gesichter scheinen schmerzverzerrt, lei- dend und maskenhaft. Auf einige dieser Werke schießt de Saint Phalle. Wie bei den tirs wird durch das Schießen Farbe im Inneren der Skulpturen freigegeben und verwandelt dadurch die zuvor meist weiße Oberfläche. De Saint Phalle nennt diese Werke shooting paintings. Die leidend dargestellten Bräute artikulieren auf künstlerischer Ebene die Gefühle de Saint Phalles vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebens. Die Tatsache, dass sie bereits mit 25 Jahren Ehefrau und Mutter zweier Kinder ist, löst bei der Künstlerin die Befürchtung aus, sie könne denselben ge- sellschaftlich erwarteten, einzwängenden Lebenslauf wie ihre Mutter einschlagen, die sie wegen eben dieser Frauenrolle stets verachtet hat. Die schmerzverzerrten Gebärenden lassen ein Leben als Mutter ebenso wenig in positivem Licht erscheinen. Es ist möglich, dass de Saint Phalle mit ih- ren dargestellten Frauenfiguren sich selbst darstellt. Unterstreichen würden diese Vermutung die Erläuterungen von Kretschmann, der nach langjähriger Arbeit mit Vergewaltigungsopfern erläutert, dass dieses Opfer das Bild, das der Täter von ihm entwirft, in der Regel auch introjiziert: „Das Opfer besteht darauf, das zu sein, was der Täter durch die Vergewaltigung aus ihm gemacht hat, also eine minderwertige Existenz ohne eigene Rechte, eine Frau, die es gewollt und verdient hat.“ (Kretschmann 1993, 50) Un- ter diesem Aspekt wären auch die Abbilder der Huren, die z. T. sogar verstümmelte Glied- maßen haben, zu verstehen. Mit der künstlerischen Darstellung verschiedener Frauentypen scheint sich de Saint Phalle also auf eine Suche nach ihrer eigenen Rolle als Frau zu begeben. Nach der Darstellung verschiedener Frauen-

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Abb. 9: Niki de Saint Phalle: Autel de femmes, 1964

rollen und der damit einhergehenden persönlichen Auseinandersetzung und Positionierung ist de Saint Phalle scheinbar bereit für eine Veränderung in ihrem Werk (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 76). Diese macht sich bereits formal in Astarte ´ s Wake von 1965 bemerkbar, einem Tryptichon von 2,44 x 3,66 Metern auf Holz. Zwei der dargestellten Frauenfiguren beginnen sich aus dem Relief zu lö- sen. Der Oberkörper einer rosa kaschierten Frau auf der linken Seite beugt sich aus dem Bild, die Arme haben keine Verbindung mehr zum Hintergrund. Der linke Fuß einer weiteren weiblichen Fi- gur ragt scheinbar in einer Tanzbewegung in den Raum. Beide Frauen haben die statische Haltung der bisherigen Skulpturen verlassen, sie setzen zu ausladenden Bewegungen an und sie haben anstelle des Gewirrs von Insekten und Babypuppen eine weiche Oberfläche aus Stoff. Dadurch verlieren sie ihre abschreckende Wirkung und sind damit als Vorreiter der Skulpturen zu sehen, die die Künstlerin de Saint Phalle fortan weltweit berühmt machen: die Nanas.48

3.4 „Die Nanas an die Macht“

De Saint Phalle wird 1964 von einer Zeichnung des befreundeten Künstlers Larry Rivers zu einer neuen Schaffensphase inspiriert. Dieser hatte sei- ne hochschwangere Frau Clarice, ebenfalls eine enge Freundin de Saint Phalles, gezeichnet. Die aufrechte, wohlgerundete Frau auf der Zeichnung motiviert sie zu einer farbenfrohen Collage auf ei- ner weitere Bleistiftzeichnung Rivers´. Der Körper der Frau ist nun nicht mehr mit Totenköpfen und Pistolen, sondern mit Rosen und farbenfrohen flo- ralen Mustern bedeckt.

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Abb. 10: Niki de Saint Phalle: Black nana, 1973

Die Skulpturen, die de Saint Phalle daraufhin fertigt, zeigen „keine Spur mehr von Morbidität und Vergänglichkeit, statt dessen ausgelassene Heiterkeit. (…) Die Körper der weiblichen Figuren sind noch tailliert, ihre Schenkel und Becken kräftig, die Brustkörper von etwas kleineren Proportionen. Mit ihrer Größe nehmen sie gerade noch menschliches Maß ein“ (Becker 1999, 66). De Saint Phal- le fertigt in ihrem Atelier eine Vielzahl von Nana -Figuren. Sie formt diese aus dem von ihr schon früher verwendeten Maschendraht und überzieht sie mit farbenfrohen Stoffstücken, Garn und Pa- piermaché. Bei der Gestaltung der Skulpturen bezieht de Saint Phalle auch ihre Freundin Clarice und ihre Kinder ein, welche die Nanas nach Anweisung bemalen dürfen. Die Skulpturen bewegen sich im Raum, als würden sie keine Schwerkraft kennen. Sie sitzen auf dem Boden, tanzen in der Luft, nur auf einer Metallstange stehend, oder machen Kopfstand. Auf die Darstellung von Ge- sichtszügen wird verzichtet. Die Nanas tragen Titel wie Elizabeth, Clarice oder Clarissa. Im Sep- tember 1964 präsentiert Iolas in Paris die ersten Nanas der Öffentlichkeit.49

Die Reaktionen der Kritiker sind konträr. Aber die Ausstellung wird bestens besucht.50 Ein Jahr später sind die Nanas in der ersten Boutique Yves Saint Laurents in Paris zu sehen. Und schließlich zeigt sie Iolas vom 29. März bis 23. April 1966 in seiner New Yorker Galerie zum ersten Mal dem amerikanischen Publikum, welches sie erstaunt und bewundernd aufnimmt.51

3.5 hon - „Die größte Hure der Welt“

Zur selben Zeit werden Martial Raysse, Claes Ol- denburg, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely von Pontus Hulten eingeladen, eine Skulptur für das Moderna Museet zu bauen. Raysse und Oldenburg lehnen ab, doch de Saint Phalle überzeugt Tinguely, nach Stockholm zu fahren. Gemeinsam mit dem skandinavischen Künstler Per Olof Ultvedt und Hul- ten wird eine Lösung für die schwierige Aufgabe ge- sucht. Nach mehreren Tagen hat Hulten die Idee ei- ner Riesen-Nana. Die Künstler nehmen den Vor- schlag an. De Saint Phalle kommt die Idee einer be- gehbaren heidnischen Göttin. Sechs Wochen wird an der Skulptur mit einer Länge von 28,70 m, einer Höhe von 6,10 m und einer Breite von 9,15 m gear- beitet. Ein Schweizer Künstler, Rico Weber, wird zur

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Abb. 11: Verstärkung des Teams hinzugezogen. Er wird de Niki de Saint Phalle: hon, 1966

Saint Phalle von nun an ihr ganzes Leben als Assistent und enger Freund begleiten.

Die liegende Nana wird von Tinguely zunächst aus sechs Tonnen Stahlrohr geschweißt. Das Stahlgerüst wird zunächst mit Hühnerdraht und dann mit in Leim getränkten Stoffbahnen kaschiert. Die Figur wird von de Saint Phalle, assistiert von Weber, nach einem Modell bemalt. Im Inneren der Nana arbeiten Tinguely und Ultvedt.

Das Projekt ist für den Museumsdirektor Hulten ein großes Wagnis und wird streng geheim gehalten. Als nach den Reden zur Eröffnung der Ausstellung am 9. Juni der Vorhang gehoben wird, sind die Besucher zunächst geschockt. Die Skulptur hon, schwedisch für „sie“, liegt mit weit gespreizten Beinen auf dem Rücken. Sie soll durch ihre leuchtend grüne Vagina

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Abb. 12: André Masson: Erotisches Land, 1939

betreten werden52 und bietet dem Besucher in ihrem Körper verschiedene Attraktionen.53 Am rechten O- berschenkel steht geschrieben „Honi soit qui mal y pense“.54

hon wird in drei Monaten von insgesamt 1 000 000 Besuchern gesehen. Eine Ampel vor dem Ein- gang muss den Einlass regeln. Die Ausstellung ist ein großer Erfolg und Hulten muss seinen Ar- beitsplatz nicht aufgeben. Die Presse berichtet ausführlich. Es wird von der „größten Hure der Welt“ gesprochen. Nach drei Monaten wird die Skulptur bis auf ihren Kopf, der im Moderna Museet verbleibt, komplett zerstört.

hon ist die Erfüllung eines Kindheitstraumes de Saint Phalles: „Ich werde die größten Skulpturen meiner Generation machen. Größer, höher und stärker als die der Männer.“ (de Saint Phalle 1992, 145) Der Konflikt mit den Männern wird nun nicht mehr in Form von künstlerisch ausgedrückter Gewalt, sondern auf einer Ebene der Rivalität fortgeführt.

Der immer noch andauernde Konflikt zeigt sich deshalb bei hon in dem schon fast größenwahnsinnigen Bedürfnis nach einem Übertrumpfen der männlichen Kollegen und Rivalen auf der Ebene des Formates. Woher die Künstlerin die Idee nimmt, sie könne durch gigantische Formate den imaginären Kampf gegen die Männer gewinnen, bleibt indes ungewiss. Bereits im März 1966 hat de Saint Phalle mit Tinguely und Martial Raysse die Bühnengestaltung des Balletts L ´É loge de la Folie unter der Choreografie des Tänzers Roland Petit realisiert. De Saint Phalle hat Papiermaché- Nanas gefertigt, die den Tänzern als Partnerinnen dienen. Nun, nach dem

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Abb. 13: Niki de Saint Phalle: hon (Arbeitsskizze), 1966

großen Erfolg von hon wird de Saint Phalle von dem Theaterregisseur Rainer von Diez gebeten, ein kleine Fassung von hon als Bühnendekoration für die Komödie Lysistrata von Aristophanes zu entwerfen. De Saint Phalle fertigt auch passende Kostüme. Die Aufführung ist ein Skandal, wird jedoch vom Publikum als solcher begeistert aufgenommen, so daß Lysistrata allabendlich ausver- kauft ist.

De Saint Phalle ist inspiriert, ein eigenes Bühnenstück zu schreiben und verfasst MOI. 55 Von Diez schreibt das Stück zu ICH um und inszeniert es für die documenta 4. De Saint Phalle gestaltet das aufwändige Bühnenbild. Das Stück wird am 28. Juni 1968 im Kasseler Staatstheater uraufgeführt. gibt und einen Münzfernsprecher besitzt. Die Geräusche aus der Liebeslaube werden heimlich in die rechte Brust übertragen, wo sich eine Colabar befindet. Die leeren Flaschen werden im Verdauungstrakt von einer Maschine Tinguelys zermalmt. Im rechten Schenkel befindet sich eine Rutsche für Kinder. Und schließlich durch die „Nabelschnur“ gelangt der Besucher auf die Aussichtsplattform „Blaue Veranda“ auf dem Bauch von hon.

3.6 Le paradis fantastique

1967 erhalten de Saint Phalle und Tinguely den Auftrag von der französischen Regierung, die Gestaltung des Dachgartens des französischen Pavillons für die Expo 1967 in Montreal zu übernehmen. Die Künstlerin fertigt neun große Figuren, von denen sechs mit Tinguelys kinetischen Maschinen kombiniert werden. De Saint Phalle schneidet die Skulpturen wie La b ê te gentille, La Nana sur la t ê te oder La baigneuse aus wetterfestem Styropor. Dieses bemalt sie mit Polyesterfarben, auf bei ihr eine allergische Reaktion auslösen.

Die Nanas sind nun bereits fülliger geworden. La grosse Nana zeigt keine erkennbaren Extremitäten mehr - aus einem gewaltigen Körper ohne Beine wachsen mehrere rund- liche Formen, die an gewaltige Brüs- te oder an einen Kopf erinnern. De Saint Phalle benutzt nun auch die zur damaligen Zeit modernen fluo- reszierenden Neonfarben.

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Abb. 14:Niki de Saint Phalle & Jean Tinguely: Le paradis fantastique attaqué par Jean Tinguely, 1967

Das Gemeinschaftswerk heißt Das Niki de Saint Phalle & Jean Tinguely: Le paradis fantastique attaqu é par Jean Tinguely, 1967 phantastische Paradies attackiert von Jean Tinguely und kann vom 28. April bis 27. Oktober 1967 auf der Dachterrasse des Pavillons bewundert werden. „Es symbolisiert ein Liebesspiel zwischen Jean und Niki oder, allgemein ausgedrückt, den Kampf der Geschlechter. Seine maskulinen, schwarzen Maschinen griffen die heiter-bunten Riesenskulpturen an. Sie neckten und ärgerten sie oder spießten sie sogar auf.“ (Becker 1999, 91) Das paradis fantastique bringt dem Künstlerduo den internationalen Durchbruch. Es wird Ende 1967 in Buffalo, im Innenhof der Albright-Knox Art Gallery, gezeigt und schließlich im Frühjahr 1968 im New Yorker Central Park. De Saint Phalle lässt aus diesem Anlass aufblasbare Nanas in den Größen 45, 60 und 130 Zentimeter und in den Farben gelb, blau und pink fertigen. Nach einer aufwändigen Restaurierung findet das paradis fan- tastique zuletzt einen Platz im Moderna Museet in Stockholm.

Das Amsterdamer Stedelijk Museum will im August 1967 eine erste Retrospektive de Saint Phalles präsentieren. Da die Künstlerin sich nicht gerne mit älteren Werken konfrontiert sieht, schafft sie neue Objekte. Die neuen Nanas sind aus einem anderen Werkstoff gefertigt: aus Polyester.56 Für die Ausstellung, die den Titel Nanas an die Macht tragen soll, fertigt de Saint Phalle die Brunnenfi- gur Teresita, welche in einem See hinter dem Museum platziert werden soll, und ihre zweite be- gehbare Architektur, ein Nana-Haus. “Ungefähr vier Meter hoch erhob es sich über einem weiten Gebäuderock mit kugelförmigen Ausbuchtungen, die sich nur aufgrund der Platzierung als Brüste, Bauch, Hüften und Kopf interpretieren ließen. Die Verteilung der Volumina ähnelte jener bei der großen Nana in Montreal, nur griff sie jetzt deutlicher in alle Richtungen aus. Die Bemalung enthielt nur noch wenige Kreisformen und gar keine größeren stabilisierenden Flächen mehr. Die Oberflä- che war vollständig mit feingliedrigstem Dekorum geschmückt.“ (Becker 1999, 93) Die Skulptur kann durch eine Tür im Rücken betreten werden. Im Inneren befinden sich eine Liege und eine kleine Bar. Die Besucher können sich ausruhen und Musik von einem Plattenspieler hören. Zum ersten Mal stellt de Saint Phalle außerdem eine farbige Nana, die Black Venus (1965), aus. Die Ausstellung ist beim Publikum beliebt. Kritiker werten die Arbeiten jedoch als „Puppen bzw. Pup- penstube für Erwachsene“ (ebd., 94) ab.

Nach der Ausstellung in Amsterdam werden die Nanas in einer erweiterten Ausstellung unter dem- selben Titel in Düsseldorf gezeigt, wo de Saint Phalle neun Skulpturen verkauft, davon zwei für je- weils 20 000 DM. Es folgen mehrere Nana -Ausstellungen, die jedoch eine Vielzahl an Ausstel- lungsobjekten erfordern. De Saint Phalle arbeitet bis zur totalen Erschöpfung an ihrem Traum der omnipräsenten Nana.

Die Stoff- Nanas, hon, das paradis fantastique wie auch die Nana -Figuren für das Theater können unter eine große Werksphase zusammengefasst werden. Sie ist vermutlich die bedeutendste und berühmteste Phase in de Saint Phalles Werk, und die Künstlerin wird sich zeit ihres Lebens darauf beziehen.

Nach wie vor stellt die Selbstreflexion die zentrale Motivation für die Arbeit de Saint Phalles dar. Nach einem schmerzhaften Erleben der eigenen Rolle als Frau scheint ein positiveres Selbstbild zu der Form der Nana zu führen: „Plötzlich war der Schmerz vorüber, ich stand da und machte Fi- guren der Freude. (…) Ein neues Kapitel in meinem Leben begann und das hieß Nanas. (…) Sie verherrlichten die Frauen, die vielen Schwangerschaften und glorifizieren die Mutterschaft. (...) Ei- nige machte ich so groß, dass ein Mann klein neben ihnen war.“ (de Saint Phalle in: Schamoni 1995)

Die Nanas scheinen also gegenüber den extrem negativ besetzten Bräuten, Gebärenden und Hu- ren ein positives Extrem zu verdeutlichen. Die Darstellung der übermäßig mütterlichen, warmen, fröhlichen und auch beschützenden Frauengestalt (wie beim Nana -Haus oder auch bei hon) kann eine „bessere“ Mutter versinnbildlichen - eine Mutter, die besser ist als die eigene. Durch eine „Restaurierung oder Konstituierung verlorener oder fehlender weiblicher Anteile im Selbst“ (Nie- meyer-Langer 2003, 82) kann de Saint Phalle zu einer Loslösung von ihrer Mutter gelangen. Durch die Nanas wird von der Künstlerin also wiederum eine private konflikthafte Auseinandersetzung - in diesem Falle mit der Mutter - zu einem über die Kunst öffentlich ausgetragenen Konflikt: Die Loslö- sung von der eigenen Mutter wird in de Saint Phalles Kunst unter dem Kampfruf Les nanas au pouvoir zur Loslösung der Frau aus veralteten gesellschaftlichen Rollen stilisiert. Zugleich symboli- sieren die Nanas die Frauenrolle, die de Saint Phalle nun selbst verkörpert: Selbstbewusst, fröh- lich, im gleichwertigen Kampf und Liebesspiel mit den Gegenspielern, den Männern. Dieser Lie- beskampf zweier sich ebenbürtiger Personen wird besonders im paradis fantastique deutlich.

Doch nach sieben Jahren Partnerschaft und gemeinsamem Schaffen mit Jean Tinguely bahnt sich ein Bruch in der Beziehung an. Beide Künstler sind zu dem Zeitpunkt weltweit etabliert und verbringen viel Zeit mit der Umsetzung ihrer Kunst. Tinguely muss sich an verschiedensten Orten aufhalten, da er immer neue Lager für seine Schrottmaterialien und seine vollendeten Skulpturen benötigt. Und er hat in seiner Ge- burtsstadt Fribourg, in der er eine Wohnung besitzt, eine neue Muse gefunden: Micheline Gygax.57 De Saint Phalle ist zunächst schwer getroffen und vertieft sich daraufhin in das Schreiben fiktiver Briefe an Jean Tinguely, die zwischen 1968 und 1969 als Serigrafien he- rausgegeben werden.58 Somit trägt de Saint Phalle - nach den Schiessbildern, die sich auf einen persönlichen Konflikt mit ihrem Vater beziehen - ein weiteres Mal einen persönli- chen Konflikt vermittelt über ein Kunstwerk in die Öffentlichkeit.

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Abb. 15: Niki de Saint Phalle: My love we won ´ t, 1969

1969 reist de Saint Phalle nach Indien. Zwar ruht ihre Arbeit für eine Weile, doch beginnt bereits im selben Jahr die Arbeit an dem ersten Architekturprojekt der Künstlerin. Der Regisseur Rainer von Diez bittet de Saint Phalle, auf seinem Grundstück in Südfrankreich drei begehbare Architekturen zu bauen. De Saint Phalle arbeitet mit Unterstützung von Rico Weber drei Jahre bis zur Fertigstel- lung des Projektes im Jahre 1971. Es entstehen die silberne Skulptur La sorci è re, die ein Bad be- herbergt, Le r ê ve de l ´ oiseau, eine Küche, die von einer Nana, einem Vogel und einem Drachen bewacht wird, sowie Big Clarice, ein Nana -Haus mit einem geräumigen Wohnzimmer im Inneren. Ebenfalls 1969 beginnen die illegalen Arbeiten an Tinguelys Werk Le Cyclope im Wald von Fontai- nebleau, an dem sich de Saint Phalle durch die Gestaltung der Außenfassade (als einäugiges Ge- sicht aus Spiegeln) beteiligt. Die Arbeiten an Le Cyclope werden 15 Jahre dauern. Unterstützt wird Tinguely außerdem von Rico Weber und Bernhard Luginbühl, aber auch von Larry Rivers und Da- niel Spoerri.

1970 findet das 10jährige Jubiläum der Nouveaux R é alistes in Mailand statt. Bei der Eröffnung des von Pierre Restany und Guido Le Noci organisierten Festivals schießt de Saint Phalle noch einmal auf eine Altar-Assemblage. In Paris zeigt Iolas die Arbeit La r ê ve de Diane. Die Skulpturen dieser Arbeit haben die fröhliche Ausstrahlung der Nanas verloren. Es erscheint wieder das bekannte Mo- tiv des Monsters, eine Pistole sowie eine aufgespießte rote Figur sind außerdem zu sehen. Auf dem Boden liegt unter einem schwarzen Kreuz eine schlaff wirkende schwarze Nana in einem rosa Kostüm.

3.7 Die Köpfe

Zwischenzeitlich beginnt de Saint Phalle in Soisy die Arbeit an menschengroßen Kopf-Skulpturen aus Polyester. Le t é moin (1970/71) oder Grande t ê te (1970) besitzen im Vergleich zu den Nanas ausgeprägte Gesichtszüge. „Traurig und deformiert blicken sie drein. Die asymmetrische Verzerrung ist hier expressiv gesteigert. (…) Draußen auf der Wiese platziert wirken die großen Köpfe wie jene auf den Osterinseln, mit einem Unterschied: Diese waren leuchtend bunt angemalt. Aber trotz ihres farbenfrohen Anstriches schienen sie Hoffnungslosigkeit auszudrücken.“ (Becker 1999, 111) De Saint Phalle schreibt über ihre neuen Werke: „Den Nanas mit ihren winzigen Köpfen und gewaltigen Körpern folgen die riesigen Frauenköpfe ohne Körper. Werden uns diese Göttinnen des Verstan- des einen neuen Weg weisen können? Ich glaube nicht, denn sie haben ihre Körper verloren.“ (de Saint Phalle 1987, 21) Die kurze Werkphase der Köpfe scheint eine provokative Antwort auf die Kri- tik an dem „stecknadelgroßen“ Kopf der Skulptur hon zu sein.59

3.8 Die „verschlingenden Mütter“

Ebenfalls 1970 beginnt für de Saint Phalle eine neue wichtige Schaffensphase: Sie entwickelt die verschlingenden Mütter,60 die aus mehrteiligen Plastiken bestehen und meist ganze Szenerien bil- den. Wie die Nanas werden sie aus Polyester ge- formt, unterscheiden sich aber in ihrer Aussage und

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Abb. 16: Niki de Saint Phalle: Le t é moin, 1979/71

ihrem Ausdruck massiv von vorangegangenen Arbeiten. Es werden Frauen gezeigt, die die bisher gezeigten Lebensphasen wie Kindheit, Jugend, Ehe und Mutterschaft bereits hinter sich haben. Sie sind zu sehen bei „Ersatzhandlungen aller Art, die über die Sexualität und Fruchtbarkeit hinaus weisen“ (Krempel 2001, 56). Das Verschlingen von Essen, das Schminken und sich Unterhalten mit einer Freundin sind Aktivitäten des Zeitvertreibes. Die Arbeit Tea party, ou le th é chez Angelina (1971) zeigt zwei ausladend kräftige Frauen im fortgeschrittenen Alter, mit altmodischen Kostümen und heruntergezogenen Mundwinkeln. Sie sitzen an einem mit Mustern überzogenen Tisch und trinken Tee. Sie wirken „unzufrieden, überdrüssig, gefräßig und verhärmt“ (Niemeyer-Langer 2003, 93). Den ebenfalls Tee trinkenden und Kuchen essenden Devouring mothers (1970) malt de Saint Phalle schwarze Falten um Augen, Nase und Mund. Und schließlich entsteht 1971 Les funerailles du p è re, eine Szene, die das Begräbnis „des Vaters“ - vermutlich ist hiermit ihr eigener Vater ge- meint - zeigt: Eine bieder wirkende Frau mit den Maßen von 2,50 Metern Höhe und 1,80 Metern Breite steht in einem silbernen Kostüm mit ihrer schwarzen Handtasche vor dem blauen Sarg ihres Mannes. Der schlanke „Poor Daddy“ (de Saint Phalle 1987, 106) wirkt in dem noch schmaleren Sarg wie eingezwängt. Aus seinem Kopf wächst eine goldene Pflanze, die ein rotes Baby trägt. Hinter dem Sarg steht ein 2,50 Meter hohes goldenes Kreuz, an dem ein roter Vogel mit breiten Schwingen scheinbar gekreuzigt wurde. Die Arbeit entsteht anlässlich des Todes von de Saint Phalles Vater. Die Künstlerin nimmt damit „aktiv Abschied von dem Mann, der sie als kleines Mäd- chen missbraucht hatte“ (Krempel 2001, 56).

Wiederum ist es die Galerie Iolas, die die neuen Werke de Saint Phalles im November 1971 zeigt. Die Kritiker und das Publikum sind entsetzt. Doch de Saint Phalle lässt sich nicht beirren. Im April 1973 werden die Mütter bei Gimpel und Weitzenhofer in New York gezeigt. Unter den Gästen ist zum ersten Mal de Saint Phalles Mutter. Sie ist empört. Auch Tinguely reagiert geschockt auf die Arbeit Th é chez Angelina. Er wirft de Saint Phalle mitsamt der Skulptur für kurze Zeit aus dem Atelier (vgl. de Saint Phalle 1998, 33).

Nach Niemeyer-Langer „will de Saint Phalle diese Figuren gesellschaftskritisch verstanden wissen. Der Überdruss der westlichen Kon- sumgesellschaften sei ihr besonders nach ih- rer kürzlichen Indienreise aufgestoßen.“ (Nie- meyer-Langer 2003, 93) Jedoch formuliert de Saint Phalle selbst die Frage, ob mit den ver- schlingenden Müttern etwa sie selbst oder ihre Mutter dargestellt sei. Besonders letzteres scheint bei der Betrachtung von Les funerail-

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Abb. 17: Niki de Saint Phalle: Les fun é railles du p è re, 1971

les du p è re eine durchaus nahe liegende Vermutung. Niemeyer-Langer schreibt den Verschlingen- den Müttern aus psychoanalytischer Sicht eine besondere Rolle zu: „Über die so wesentlichen Werke der Verschlingenden Mütter, welche gern in den Kurzdarstellungen über die Künstlerin ’ver- gessen’ werden, ist meiner Meinung nach erst der eigentliche integrative Akt der schmerzvollen Auseinandersetzung mit dem mütterlichen Introjekt gelungen. Haben die Nanas immer noch Züge eines idealisierten Selbstbildes verkörpert, so können in den Verschlingenden Müttern auch nega- tive weibliche Identifizierungen aufgedeckt und humorvoll betrachtet werden.“ (Niemeyer-Langer 2003, 93f.)

1970, im Entstehungsjahr der Verschlingenden Mütter, reisen de Saint Phalle und Tinguely nach Ägypten. Die Künstlerin arrangiert sich mit Micheline Gygax und pflegt nun eine Freundschaft mit ihr. Am 13. Juli 1971 heiraten Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely in Soisy-sur-École. Im glei- chen Jahr bringt de Saint Phalles Tochter Laura Condominas, die mit ihrem Ehemann Laurent Condominas auf Bali lebt, die Enkelin Bloum zur Welt. Niemeyer-Langer vermutet, dass sich de Saint Phalle eine Wiedergutmachung der eigenen Fehler als Mutter wie auch ein weiteres eigenes

Kind mit Tinguely wünscht und sieht darin und in der liebevollen Auseinandersetzung mit der Enke- lin die Motivation de Saint Phalles für eine neuartige Form von Kunstwerken (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 96).61

3.9 „Kunst für Kinder“ - die ersten Architekturprojekte

Auf Anfrage des Bürgermeisters von Jerusalem, Teddy Kollek, beginnt de Saint Phalle 1971 die Arbeit an einer monumentalen Skulptur für Kinder. Ein riesiger Kopf, aus dessen Maul drei Rutschen in Form von roten Zungen zum Boden führen, soll in einem Armenviertel Jerusalems den Kindern als Spielhaus dienen. Das Werk wird unter Mithilfe von Tinguely,62 Weber und dem jungen Künstler Paul Wiedemer 1972 fertig gestellt. De Saint Phalle benennt das Monster nach der jüdischen Sagengestalt „Golem“.63 Eine weitere Architektur für Kinder entsteht 1973 im belgischen Seebad K nokke-le Zoute. Der belgische Maler Roger Nellens bittet de Saint Phalle um ein Drachenhaus für seine Kinder. Dragon, eine sechs Meter hohe und 33 Meter lange Skulptur, wird ein komplett ausgestattetes Spielhaus für Kinder. Es gibt

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Abb. 18: Niki de Saint Phalle: Golem, 1972

zwei Schlafräume hinter den Augen des Drachen, eine Küche, ein Bad und ein großes Kinderspielzimmer. Aus dem leuchtend roten Maul des Dragon ragt eine zur Rutsche umfunktionierte Zunge. Tinguely und Weber sind wieder an der Gestaltung des Eisengerüstes, welches mit Beton verkleidet wird, beteiligt. De Saint Phalle bemalt den weißen Körper des Drachen schließlich mit Fabelwesen, floralen Mustern, Sternen und einer Nana.

De Saint Phalle produziert auch Skulpturen von kleinerem Ausmaß: Ebenfalls 1973 gibt die Porzellanmanufaktur Rosenthal eine limitierte Auflage von 200 in weißem Gold gegossenen Nanas heraus. Sie sind nur 12,4 Zentimeter groß und mit Punkten, Blumen und einem großen Herz bemalt. Auch der erste Schmuck de Saint Phalles entsteht: Die Künstlerin entwirft Nana -Broschen, ein „Tränencollier“ und Manschettenknöpfe.

1974 führt de Saint Palle einen Auftrag der Stadt Hannover aus, das Leineufer mit drei Nanas zu verschönern. Die Figuren sollen etwa fünf Meter hoch sein. Es entstehen eine tanzende, weiße Fi- gur mit einem Hosenträgeranzug, eine türkisfarbene siamesische Nana und eine ausladende, stehende Nana in der Art der Nanahäuser. Sie sind nach drei hannoverschen Königinnen benannt: Caroline, Charlotte und Sophie.

Der Polyesterfabrikant Robert Haligon übernimmt seit 1972 die Herstellung der Polyesterhohlfor- men. Dadurch kann de Saint Phalle weiterhin den Werkstoff einsetzen, ohne ihre Lungen zu zer- stören. Die Oberfläche der von Haligon gefertigten Skulpturen gewinnt deutlich an Spannung. Die Struktur des Maschendrahtgerüstes, das bisher durch die ebenfalls strukturgebenden Glasfaser- schichten hindurch zu sehen war, weicht nun einer spiegelglänzenden Oberfläche. Die drei Nanas von Hannover stehen auf relativ hohen Betonsockeln und sind dadurch - im Unter- schied zu den bisherigen Werken de Saint Phalles - der haptischen Erkundung weitestgehend ent- zogen. Bei der Anlieferung und Aufstellung der Figuren sind missmutige Äußerungen einiger Stadtbewohner zu hören (vgl. Schamoni 1995). Doch wenig später gelten die Nanas als das Wahr- zeichen der Stadt. Für den Mut, trotz Protesten den Nanas einen prominenten Platz im Stadtbild gegeben zu haben, bleibt de Saint Phalle der Stadt Hannover ihr Leben lang verbunden. 1976 er- hält die Künstlerin den Auftrag zu einer weiteren Großplastik. Die Universität in Ulm entscheidet sich 1977 für die Polyesterskulptur Le po ê te s ´ amuse. Nach der Fertigstellung wird das Werk zu- erst im Kloster Wiblingen, dann 1979 im Stuttgarter Schlossgarten und erst 1980, nach Fertigstel- lung des Universitätsgeländes, an seinem Platz in der Nähe der Universität aufgestellt.

3.10 Daddy - die Filme

Im Juli 1972 mietet de Saint Phalle das Ch â teau de Mons bei Grasse in Südfrankreich. Dort dreht sie ihren ersten Film, Daddy, in Zusammenar- beit mit Peter Whitehead und unter Mitwirkung von Mia Martin, Clarice Rivers und Rainer von Diez. Der Film ist in schwarz/weiß und in Farbe gedreht und dauert 90 Minuten. Wie der Titel bereits andeutet, rechnet de Saint Phalle darin auf verstörende und aggressive Weise mit ihrem Vater ab. Sie selbst spielt in dem Film die Hauptrolle und zwingt darin einen Mann zu demütigenden Handlungen. So muss die den eigenen Vater darstellende Person wie ein Hund auf allen vieren laufen und bel- len. (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 99) Schließlich wird der Vater umge- bracht. Der Film endet mit den Worten: „Daddy, ich hasse Dich.“ (de Saint Phalle 1973) Daddy wird im November im Hammer Cinema in

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Abb. 19: Niki de Saint Phalle: Daddy, 1973

London gezeigt. 1973 entsteht in Soisy und New York eine überarbeitete Version von Daddy. Viele Freunde und Verwandte wirken mit, so auch de Saint Phalles Tochter, Laura Condominas, Marina Carella, Jacqueline Monnier, Bernhard Luginbühl, Jean-Yves Mock, Andree Puttmann, Daniel Spoerri, Jean Tinguely und andere.

1975 schreibt de Saint Phalle das Drehbuch zu Cam é lia et le dragon/Une r ê ve plus long que la nuit. In dem daraus entstehenden, 90minütigen Farbfilm karikiert de Saint Phalle Männer als kriegstreibende, wollüstige Wesen.64 Viele Freunde beteiligen sich an dem Projekt, für dessen Ausstattung de Saint Phalle einige Möbelstücke entwirft.

Auch wenn die Arbeit an den Filmen de Saint Phalle mas- siv einnimmt, gelingt die mit den Filmprojekten angestrebte heilende Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen in ihrer Kindheit nicht (vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit). Den Grund für das Misslingen sieht Niemeyer-Langer in der Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit dem Vater im Film aus- schließlich auf darstellende und enthüllende Weise ge- schieht. Es erfolgt aber keine transformierende, symbolisie- rende Verarbeitung, wie dies bei den bisherigen künstleri- schen Auseinandersetzungen der Fall war. Die Künstlerin entscheidet sich dafür, mit dem Filmemachen aufzuhören, und wendet sich wieder den Skulpturen zu.

Diese Zeit wird von de Saint Phalle als „sehr schwer“ be- zeichnet (vgl. de Saint Phalle 1998, 37). Zu dem enttäu- schenden Effekt der Filme kommt, dass ihr Sohn Philip in eine nervöse Depression verfällt und ihre Schwester Eliza- beth mit 36 Jahren stirbt. Außerdem kommt Milan, der Sohn von Tinguely und Micheline Gygax, zur Welt.

De Saint Phalle wird wenig später wegen schwerer Lun- genschäden, die von den schädlichen Polyester-

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Abb. 20: Niki de Saint Phalle: Film-Still aus Daddy, 1972

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Abb. 21: Niki de Saint Phalle: Koloriertes Film-Still aus Daddy, 1972

Ausdünstungen herrühren, in ein Krankenhaus in Arizona gebracht. Sie schwebt in Lebensgefahr und erhält starke Medikamente, die sie ins Delirium setzen. Sie malt sich ihr Begräbnis aus und bit- tet Tinguely, sie nach ihrem Tod auf einem großen Scheiterhaufen im Wald neben dem Cyclope zu verbrennen (vgl. de Saint Phalle 1998, 38). Als de Saint Phalle das Krankenhaus wieder verlassen kann, ist ihre Atemkapazität stark verringert. Das Jahr 1976 verbringt de Saint Phalle auf Anraten der Ärzte zum größten Teil in der Abgeschiedenheit von St. Moritz in den Schweizer Bergen. Sie kämpft mit einer schweren Lebenskrise und wird von Selbstmordgedanken geplagt.65 De Saint Phalle verliebt sich in den 22 Jahre jüngeren Dichter Constantin Mulgrave, mit dem sie eine vier- jährige Beziehung eingeht.66 Während der Zeit in St. Moritz trifft sie eine Freundin aus New York, Marella Caracciolo. De Saint Phalle erzählt ihr von ihrem Traum, einen Skulpturengarten zu bau- en.67 Wenig später stellen die Brüder von Marella, Carlo und Nicola Caracciolo, ein Stück Land in der Toskana zur Verfügung. Es ist dies der Beginn eines gigantischen Kunstprojektes:

3.11 Il Giardino dei Tarocchi - der Tarotgarten

1977 entschließt sich de Saint Phalle zum Bau eines Tarot-Gartens; 1978 nimmt sie die Arbeit an dem Projekt auf.68 Ricardo Menon wird de Saint Phalles Assistent, Mitarbeiter und enger Freund.69 Das von Carlo und Nicola Caracciolo zur Verfügung stehende Stück Land liegt in der Nähe von Capalbio, am untersten En- de der Toskana. De Saint Phalle skizziert erste Modelle zu den Tarot-Karten,70 die sie in Form von z. T. begehbaren Skulpturen darstellen will. Die Künstlerin leidet jedoch zu die- ser Zeit an schmerzhafter Arthritis.71 Ungeachtet der Erkran- kung werden 1979 die Fundamente zum Tarot-Garten gelegt. 1981 mietet sich de Saint Phalle ein Haus in der Nähe des Tarot-Gartens. Sie engagiert Hilfskräfte aus der Umgebung, die ihr bei der Realisierung des Gartens helfen sollen. Von nun an arbeitet eine feste Equipe im Garten, zu der die Handwerker Claudio und Ugo Celletti,72 Marco Iacotonio, Gi- ampero Ottavi und Tonino Urtis gehören. Im selben Jahr be- ginnt Tinguely - gemeinsam mit dem so genannten All Star Swiss Team, das aus ihm, Sepp Imhof und Rico Weber be- steht - mit dem Schweißen der Tarot-Skulpturen. Sie bauen Eisenarmierungen für Die Sphinx, Die Hohepriesterin und den Magier. 1982 übernimmt der niederländische Künstler Doc

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Abb. 22: Niki de Saint Phalle: Die Herrscherin (Die Sphinx), 1980-98

Winsen, assistiert von Tonino Urtis, das Schweißen der weiteren Architekturen. Ende 1982 wird Zement auf die mit feinem Gitter bezogenen Stahlgerüste aufgetragen.

Ein Jahr später zieht de Saint Phalle in die Skulptur Die Herrscherin (Die Sphinx). Sie richtet sich darin eine komplette Wohnung ein.73 Die Künstlerin beschließt, für die Verkleidung der Betonskulpturen Spiegel, Glas und Keramik zu verwenden. Menon stellt de Saint Phalle die römische Keramiklehrerin Venera Finocchiaro vor,74 die fortan sämtliche Keramikarbeiten übernimmt. Seit 1984 arbeitet de Saint Phalle fast ausschließlich am Tarot-Garten. Sie zieht sich für die nächsten Jahre weitestgehend aus der Kunstszene zu- rück.75

Ricardo Menon geht 1986 zurück nach Paris, um dort eine Schauspielschule zu besuchen. Er ist aufgrund seiner AIDS-Erkrankung nicht mehr in der Lage, weiter im Tarot-Garten zu arbeiten. Menon stellt de Saint Phalle Marcelo Zitelli vor, der ihr neuer Assistent wird. Die kleineren Tarot-Skulpturen werden in Paris un- ter der Mithilfe von Zitelli angefertigt und von Robert Haligon in Polyester gegossen. Die meisten der Arbeiten werden danach mit

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Abb. 23: Niki de Saint Phalle: Die Hohepriesterin und Der Magier, 1980-98

Glasmosaik aus Murano, der Tschechoslowakei und Frankreich verkleidet. Dabei wird de Saint Phalle von Pierre Marie Le Jeune unterstützt, der bereits die Skulpturen des ein Jahr zuvor fertig gestellten Stravinsky-Brunnens in Paris (s.u.) bemalt hatte. Er mosaisiert mit seiner Frau Isabelle Der Teufel, Die Welt, Der Tod, Der Eremit und Das Orakel. 1997 errichtet der Architekt Mario Bot- ta, ein Freund de Saint Phalles, eine Mauer aus einheimischem Stein mit einem kreisförmigen Eingangstor.

Als der Tarot-Garten am 18. Mai 1998 offiziell eingeweiht wird, ver- bergen sich hinter Bottas Schutzwall nun 22 durch Tarotkarten inspi- rierte Kunstwerke. Darunter sind begehbare Architekturen sowie klei- ne und große Skulpturen. Die meisten Arbeiten sind mit Spiegeln und Keramiken verkleidet. Zentrale Architekturen sind Der Magier (Karte No.1), ein silbern verspiegelter Kopf mit einer darauf sich in den Himmel streckenden, ebenfalls verspiegelten Hand sowie Die Ho- hepriesterin (Karte No. 2) die mit dem Magier eine Einheit bildet. Die Hohepriesterin besteht ebenfalls aus einem türkis verkleideten Kopf

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Abb. 24: Palazzo Orsini, Bomarzo, 16. Jhd.

mit einem weit geöffneten Mund,76 aus dem Wasser über eine breite Treppe mehrere Meter in ein großes, kreisförmiges Bassin fließt. Die Kaiserin (Karte No. 3), die aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur ägyptischen Darstellung auch Die Sphinx genannt wird, hat de Saint Phalle hier als eine riesige schwarze Nana-Sphinx mit blau spiegelndem Haar und einer roten Krone auf dem Kopf geschaffen. Die M äß igkeit (Karte No. 14) ist ein kuppelförmiger Bau, auf dessen Dach eine ultramarinblaue Polyes- ter- Nana mit zwei goldene Flügeln steht. Im Innern befindet sich ein mit Spiegeln, unzähligen Herzen und Blumen und einem Re- genbogen aus Glas verzierter Andachtsraum. Auf einem Altar ste- hen die Keramik Schwarze Madonna und gerahmte Photos von Tinguely77 und Menon.

Das Gartenprojekt nimmt 15 Jahre von de Saint Phalles Leben in Anspruch. Immer wieder hat die Künstlerin in dieser Zeit mit finan- ziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Zur Finanzierung des mehrere Millionen Dollar teuren Unternehmens kreiert de Saint Phalle ein Parfüm.78 Sie entwirft ein Flakon in Blau, das von zwei ineinander verschlungenen Schlangen gekrönt wird (vgl. de Saint Phalle 1994). Die Anregung dazu kommt von der amerikanischen Unter- nehmerin Jacqueline Cochran. Die Einnahmen aus diesem Parfüm finanzieren zwei Drittel des Tarot-Gartens. Des Weiteren stellt sie so genannte multiples, in Serie produzierte, kleine Skulpturen her (vgl. de Saint Phalle 1999, 3). Bis zum Tod der Künstlerin im Jahre 2002 und auch danach wird der Tarot-Garten weiter ausgebaut.

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Abb. 25: Niki de Saint Phalle: Der Turm von Babel und Der Herrscher, 1980-98

Vorbilder für dieses Gesamtkunstwerk findet de Saint Phalle in der Architektur von Gaudí, dem Facteur Cheval und in den phantastischen Gärten von Villa d'Este und besonders von Bomarzo: „Italien verfügt über eine bedeutende Tradition phantastischer Gärten; die berühmtesten sind der Park der Villa d´Este und Bomarzo, 90 Autominuten von meinem Tarot-Garten entfernt. Bomarzo übt auf mich eine besondere Anziehungskraft aus. Eine der zentralen Figuren meines Gartens, die Hohepriesterin mit dem geöffneten Mund - aus dem einmal Wasser kommen und über die Stufen fließen wird - stellt eine Hommage an diese geheimnisvollen Skulpturen sowie an die Villa d´Este dar. Das Träumerische der Gärten von Bomarzo mit ihren Meerjungfrauen, Giganten, Ungeheuern und dem Fallenden Turm hat auf mein Werk abgefärbt.“ (de Saint Phalle 1987, 149f.)

Insgesamt kann der Tarot-Garten als eine Art Lebenswerk der de Saint Phalle gesehen werden. Er stellt keine neue Schaffensphase dar, sondern vereint vielmehr viele vorher angeeignete künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten an einem Ort Die zugrunde liegenden Karten des Tarot sind zwar inhaltlich eine deutliche Inspirationsquelle. Eine neue Formen- oder Symbolsprache hat de Saint Phalle mit dem Tarot-Garten jedoch nicht erfunden.

Materialtechnisch legt der Garten die Grundlage für die meisten nachfolgenden Arbeiten. De Saint Phalle hat die Technik des Mosaiks entdeckt. Die Verkleidung ihrer Skulpturen mit Keramiken, Spiegeln und/oder Glas wird bis zu ihrem letzten Werk ihre Arbeit dominieren. Die Künstlerin berichtet immer wieder davon, einen starken inneren Drang zu verspüren, sich künstlerisch auszudrücken. Sie redet dabei auch von Besessenheit. Niemeyer-Langer sieht den Ursprung in der konflikthaften Beziehung zur Mutter der Künstlerin. Diese habe de Saint Phalle be- reits als Kind den Eindruck vermittelt, sie sei Schuld an dem Bankrott der Familie und den elterlichen Problemen. Sie nimmt an, dass de Saint Phalle sich durch die Kunst ein Exis- tenzrecht erwerben oder verdienen will. De Saint Phalle un- termauert auf deutliche Weise diese These: „Ich würde meiner Mutter das Gegenteil beweisen. Ich würde mein Leben damit zubringen, zu beweisen, dass ich das RECHT hatte, zu EXIS- TIEREN. Ich würde sie eines Tages dazu bringen, stolz auf

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Abb. 26: Niki de Saint Phalle: Der Herrscher (Detail), 1980-98

mich zu sein, indem ich berühmt und reich würde. Ich hatte die Fähigkeit, etwas zu erreichen, das musste ich beweisen.

Eines Tages würde ich den größten Skulpturengarten seit Gaudís Parc Güell bauen. O.K., vielleicht hatte ich den Bankrott der Saint Phalle Bank mit mir gebracht, aber ich würde viel berühmter werden als die Bank meines Vaters.“ (de Saint Phalle 1992, 147) Da der Künstlerin anscheinend die Erfahrung, um ihrer selbst willen geliebt zu werden, nicht widerfuhr, entwickelt sie bereits in der Kindheit ein primär narzisstisches Defizit (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 48). Dieses bewirkt, dass sich de Saint Phalle ihr Existenzrecht erkämpfen will. Sie versucht dies mit der Entwicklung und schließlich auch Umsetzung von Größenphantasien wie dem Tarot-Garten. Solche Größenphantasien können in unsicheren Phasen eine stabilisierende und katalysierende Funktion besitzen und schützen letztlich vor Resignation. (vgl. Kraft 2001, 149ff.)

Betrachtet man das Werk de Saint Phalles vor und nach der Erstellung des monumentalen Tarot- Gartens, so scheint sich diese Überlegung zu bestätigen: Während die früheren Arbeiten oft ge- prägt sind von künstlerischer Auseinandersetzung mit sich selbst, so hat die Künstlerin in späteren Jahren anscheinend zu einer inneren Ruhe gefunden, die es ihr ermöglicht, mit ihrer Arbeit auf an- dere Menschen positiv zuzugehen (vgl. die AIDS-Aufklärungsarbeit oder die friedensstiftend ange- legte Arche Noah).

3.12 Die Skinnies

Aus ihrer Lebenskrise von 1976 bis 1977 entstehen neue künstlerische Konzepte wie die Skinnies: dünne, skelettartige und einer linearen Zeichnung gleichende Skulpturen, die zwischen ihren farbi- gen Verstrebungen hauptsächlich aus Luft bestehen. Dieses Element ist neuerdings das zentrale Thema der Künstlerin, nachdem sie durch ihre geschädigten Lungen Schwierigkeiten hat, genü- gend Atemluft zu bekommen. Dieses Mal drückt sich der biografische Einflussfaktor, die schwere Lungenkrankheit und die daraus resultierende Sauerstoffarmut, in einer formal neuen Darstellung aus. Die Künstlerin beschreibt anschaulich die Beziehung der neuen Skinnie -Skulpturen zu ihrer Lebenssituation: „Die Erdmütter sind durch meine Skinnies ersetzt worden. Eine ganz neue Stimmung! Die Skinnies atmen. Es handelt sich um Luftskulpturen mit mythologischen Themen. Durch sie hindurch sind der Himmel oder Pflanzen sichtbar. Ich lade den Betrachter dazu ein, mit mir durch meine Skulpturen zu schauen. Die Luft ist in mein Le- ben getreten. Durch die Arbeit mit Polyester waren meine Lungen stark geschädigt worden. Tiefes Atmen, Übungen, Spazieren gehen und das Gefühl, der Natur stärker verbun- den zu sein, all das hat mich verändert. Diese Skulpturen sind Spiegel dieser Veränderung.“ (de Saint Phalle 1987, 110)

1988-89 entstehen in Zusammenarbeit mit Tinguely die col- laborations: Große Skulpturen, zum Teil mit Licht versehen, sind auf Maschinen von Tinguely befestigt und werden von diesen in Bewegung versetzt. Es entstehen u. a. La grande t ê te (1988), L ´ Illumination (1988), Le dragon (1988) und Le Grand Oiseau Amoureux, eine fast acht Meter hohe Polyes- terskulptur des Liebesvogels, die vor und zurück fährt und sich heute in der Accademia di architettura in Mendrisio befindet.

3.13 La Fontaine Stravinsky

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Abb. 27: Niki de Saint Phalle: New man is coming, 1980

1981 wird Jean Tinguely von Pierre Boulez, dem Komponisten, Dirigenten und Direktor des Musikinstituts des Centre Georges Pompidou in Paris beauftragt, die vernachlässigte Place Igor Stra vinsky wieder zu beleben. Boulez stellt sich ein Projekt ähnlich dem Basler Fastnachtsbrunnen von Tinguely vor. Dieser beschließt, zusammen mit de Saint Phalle einen weiteren Brunnen zu realisieren. Ebenso wie der Platz, auf dem das Werk stehen soll, soll auch der Brunnen nach dem Komponisten Igor Stravinsky benannt werden. 1982, während sich de Saint Phalle mitten im Bau des Tarot-Gartens befindet, beginnen die beiden Künstler ihr wohl schönstes Gemeinschaftswerk, den Bau und die Gestaltung des Stravinsky-Brunnens.

In einem 36 x 16,5 Meter großen Wasserbassin, das vollständig von einer Sitzgelegenheit aus ge- schwungenen Stahl umgeben ist, befinden sich 16 Maschinenskulpturen von Tinguely79 und 9 Po- lyesterskulpturen von de Saint Phalle.80 Diese drehen und/oder bewegen sich größtenteils und ver- spritzen Wasserstrahlen in alle Richtungen. Der Brunnen ist das letzte große Gemeinschaftswerk des Künstlerpaares. Bei der Eröffnung am 16. März 1983 meint der damalige Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac, Paris sei um ein Lächeln reicher geworden. (vgl. Chirac 1983, 89)

Dank Tinguely wird das Projekt La fontaine Stavinsky auch zu de Saint Phalles Projekt. Dadurch, dass Tinguely seine Künstlerkollegin um eine Zusammenarbeit bittet, initiiert er die damit entstehenden neuen Arbeiten de Saint Phalles. Beeinflusst werden die Skulpturen durch das Werk Igor Stravinskys (so entsteht u. a. die neue Figur des Feuervogels nach Stravinskys gleichna- migem Ballett). Der Feuervogel findet auch Einzug in den Tarot-Garten. Dort steht er auf einem hohen Tor und stellt die Tarot-Karte Die Sonne dar. Das Motiv des Vogels findet sich auch in der in verschiedenen Größen ausge- führten Skulptur des Oiseau Amoureux wieder. Die Skulpturen des Stravinsky-Brunnens zeichnen sich nicht durch eine neue, eigen- ständige Formensprache aus. Aus dem bishe- rigen, an Symbolen reichen Werk schöpft de Saint Phalle auch die Ausdrucksform der

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Abb. 28: Niki de Saint Phalle & Jean Tinguely: La fontaine Stravinsky, 1983

Brunnenskulpturen. Niemeyer-Langer sieht die Gemeinschaftsarbeit von Tinguely und de Saint Phalle als „romantisches Liebesspiel“ (Niemeyer-Langer 2003, 123). Anders als beim Paradis Fantastique bekämpfen sie (bzw. die Skulpturen) sich nicht mehr, sondern bilden eine ausgeglichene Einheit. „Sie verbildlichen das sprühende Leben eher liebevoll, manchmal flirtend, gebend und nehmend, miteinander und auseinander.“ (ebd., 124)

Das Liebesspiel findet tatsächlich jedoch nur im künstlerischen Bereich statt. Tinguely lernt die 34 Jahre jüngere Bulgarin Milena Palakarkina kennen und verliebt sich in sie. De Saint Phalle zeigt in ihrer Kunst keine Regung auf dieses Ereignis. Doch ist sie schwer gekränkt, als Tinguely mit seiner neuen Gefährtin auch gemeinsame Kunstprojekte realisiert (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 126). Diese Tatsache wirkt sich vermutlich darauf aus, dass de Saint Phalle bei der Planung des TinguelyMuseums in Basel sämtliche Arbeiten Palakarkinas entfernt.

3.14 AIDS und die Obélisques

1986 entsteht in Zusammenarbeit mit Silvio Barandun das Aufklärungsbuch AIDS. You can ´ t catch it holding hands. Es wird in fünf Sprachen übersetzt und erscheint in einer Auflage von 70 000 Ex- emplaren. Die überarbeitete Fassung des Buches heißt Le SIDA, tu ne l ´ attraperas pas und wird an Schüler in ganz Frankreich verteilt. Die Veröffentlichung übernimmt die Agence francaise de lut- te contre le Sida. Gleichzeitig bringt de Saint Phalle den von ihrem Sohn Philip Mathews produzier- ten, achtminütigen Trickfilm „Le sida, tu ne l´attraperas pas“ heraus. Der Film orientiert sich an den Bildern des Buches. Sie entwirft Plakate, Sticker und sogar Kondome im Kampf gegen AIDS. Inte- ressanterweise entsteht 1986 auch eine Relief-Assemblage-Arbeit, die sich Pest nennt und auf der linken, mit Totenköpfen eingerahmten Seite des Querformats eine riesige rote Spinne zeigt, die im Begriff ist, Unmengen von Babypuppen zu verschlingen.

Den Anstoß für die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema AIDS gibt Barandun. De Saint Phalle beschreibt in dem Buch „Aventure Suisse“ die initiierende Funktion des Arztes: „Ich war 35, als ich den renommierten Immunologen Prof. Silvio Barandun kennen lernte. Er ist ein guter Freund geworden und hat mich unzählige Male wegen Lungenleiden, Asthma und anderer Krank- heiten im Berner Tiefenauspital betreut. (…) Barry verstand die Künstler, und das Gespräch mit ihm war immer spannend und bereichernd.(…) Dann bat mich Barry um eine Serigrafie für seine Stiftung für Krebsforschung. Es entstand eine ganze Reihe grafischer Arbeiten, Kombinationen aus Worten und Bildern. Das war 1967. (…) 1982 bat mich Barandun, bei der Realisierung eines humanitären Projekts mitzuhelfen. Er sprach von einer schrecklichen Seuche, die sich anschicke, die Welt zu entvölkern. Meine Kunst sollte helfen, die schwarze Botschaft farbenfroh zu vermitteln. Meine Familie und meine Umgebung dachten, ich sei verrückt, Barry sei noch verrückter und das alles sei lächerlich. Ich inves- tierte ein Jahr in dieses Projekt. Es war sehr schwierig, en richtigen Ton- fall zu finden. Wenig später verlor ich

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Abb. 29: Niki de Saint Phalle: Aids. You can ´ t catch it holding hands, 1986

zahlreiche Freunde: Sie starben an AIDS.“ (de Saint Phalle 1998, 33ff.) Die Tatsache, dass man ihrem Freund und ehemaligem Mitarbeiter Ricardo Menon 1986 die Diagnose stellt, HIV-positiv zu sein, mag die Arbeit an dem Aufklärungspro- jekt entscheidend motiviert haben. Menon stirbt 1989 an den Fol- gen von AIDS.82 Er wird auf dem Cimetière de Montparnasse in Paris beerdigt. De Saint Phalle stellt dort 1990 die Grabfigur einer Katze und eine Tafel mit der Inschrift „pour notre grand ami RI- CARDO. mort trôp tôt, jeune, aimé et beau“ auf.

In den folgenden Jahren entstehen eine Reihe von Ob é lisques, phallusförmigen großen Skulpturen, die meist farbenfroh mit Spie- Abb. 30: Niki de Saint Phalle: Ob é lisque aux serpents, 1987 geln und Glassteinen verkleidet oder bemalt sind. Die Objekte er- innern an die in AIDS gezeichneten Vorschläge für Präservative mit Mustern und Motiven (vgl. de Saint Phalle 1986/87, 26).

Ein Jahr später erhalten de Saint Phalle und Tinguely von dem französischen Präsidenten Francois Mitterand den Auftrag für einen Brunnen in Château-Chinon, wo Mitterand Bürgermeister war. Sie entwerfen ein Wasserbassin mit Gemeinschaftsskulpturen, die sich bewegen und ähnlich der Fon- taine Stravinsky Wasser verspritzen. Weitere Werke dieser Zeit sind der für das Schneider Children ´ s Hospital auf Long Island entworfene Brunnen in Form eines 5,50 Meter hohen Schlan- genbaumes 83 und die Großskulptur L ´ Oiseau Amoureux für das Goethe-Institut in Osaka 1989. De Saint Phalle entwirft außerdem kleine Statuen ägyptischer Gottheiten in Bronze. 1991 entsteht die meterhohe Skulptur Temple Id é al. Sie entspricht de Saint Phalles Vorstellung von einem Tempel für alle Religionen.

Im selben Jahr stirbt Micheline Gygax unerwartet an einer Embolie infolge einer Operation (vgl. Schröder 2000, 215). De Saint Phalle nimmt mit Tinguely an der Beerdigungsfeier teil. Nur zwei Monate später stirbt auch Tinguely im Alter von 66 Jahren an den Folgen eines Hirnschlages. Die letzten geplanten Gemeinschaftswerke werden nicht mehr ausgeführt. Am 4. September 1991 führt de Saint Phalle den Trauerzug durch Fribourg, die Geburtstadt des Künstlers, an. Tinguely hatte seine Beerdigung als gigantisches Abschiedsspektakel minutiös geplant.

Nach dem Tod ihres Ehemannes kümmert sich de Saint Phalle um das Überleben und die würdige Präsentation seines Werkes. Die Frage des Verbleibs der Werke in der von Tinguely angemieteten und zum Ausstellungsraum umfunktionierten Verrerie oder in einem eigenen TinguelyMuseumsbau wird von de Saint Phalle - entgegen kritischer Stimmen aus Tinguelys Freundes- und Kollegenkreises - zugunsten des Neubaus entschieden. Dieser wird von den Firmeninhabern der Hoffmann-La Roche AG, dem Dirigenten Paul Sacher und seiner Frau Maja Sacher, einer Freundin Tinguelys, finanziert. Am 3. Oktober 1996 wird das von dem italienischen Architekten Mario Botta entworfene Tinguely-Museum in Basel eröffnet. De Saint Phalle hat dem Museum etliche Werke aus ihrem und Tinguelys Privatbesitz überlassen.

Im selben Jahr lässt de Saint Phalle Tinguelys Le Cyclope, den der Künstler bereits dem französischen Staat geschenkt hatte, fertig stellen. Sie organisiert eine große Einweihungsfeier, bei der auch der französische Staatspräsident Francois Mitterand anwesend ist.

3.15 Les tableaux éclatés

Nach Tinguelys Tod entsteht de Saint Phalles erste kinetische Skulptur, das Portrait Jean I (M é ta-Tinguely) (1991). Es erscheint in verschiedenen Fassungen. Die einzelnen Elemente des Bildes, vorrangig aus dem Kopf Tinguelys ragende Räder in verschiede- nen Größen, werden von einem Motor, der sich hinter dem Bild versteckt, bewegt. 1992-93 erweitert de Saint Phalle diese Bildform und erfindet die tableaux é clat é s. Es handelt sich um kinetische Reliefs oder aber bewegliche Gemälde. Die auf dem Bild darge-

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Abb. 31: Niki de Saint Phalle: La danse, 1993

stellten Figuren sind, zunächst für den Betrachter nicht erkennbar, aus verschiedenen Teilen zu- sammengesetzt und werden, ebenfalls mechanisch gesteuert, in verschiedene Richtungen ausein- ander gesprengt. Einige Werke dieser Schaffensperiode, die im Kapitel 4 ausführlicher vorgestellt werden soll, sind Ganesh (1992), T ê te à T ê te (1992) und La Danse (1993). Erste tableaux é clat é s werden 1994 in der Galerie Maxwell Davidson und der Galerie James Goodman in New York ge- zeigt.

3.16 Californian diary

De Saint Phalles Gesundheitszustand wird so schlecht, dass sie aufgrund der geschädigten Lungen nur noch mit Sauerstoffflasche Leben kann. Von ärztlicher Seite wird ihr ein Umzug in ein anderes Klima nahe gelegt. Deshalb, „aber ein wenig auch auf der Suche nach ihrer amerikanischen Identität, aus Sehnsucht nach den Wurzeln ihrer Kindheit und Jugend und ihrer Zeit als junger Ehefrau mit Harry Mathews, die sie bis 1952 in den Vereinigten Staaten verlebte“ (von Plessen 1992, 11), entschließt sich de Saint Phalle 1994, nach San Diego in Kalifornien zu ziehen. Dort gelingt es ihr, durch lange Spa- ziergänge am Strand und die gesunde Meer- luft, ohne Sauerstoffflasche zu leben. Nach ihrer Regeneration auf ihrem Wohn- und Ar- beitssitz La Jolla im Süden Kaliforniens wagt sich de Saint Phalle an neue Projekte. Es entsteht eine große Anzahl von Serigrafien

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Abb. 32: Niki de Saint Phalle: Queen Califia, 1995

und Lithografien. Diese unterscheiden sich thematisch oftmals von den bisherigen Arbeiten. Es entsteht eine Serie zum Thema Sport,84 zur neuen Heimat Kalifornien,85 die Arbeit Californian dia ry,86 eine buddhistisch inspirierte Lithografiereihe,87 es entstehen Lithografien und Serigrafien mit Tieren88 sowie eine Serie von Drucken mit den im Tarot-Garten dargestellten Archetypen der Tarot-Karten.89 Als neues Werkmaterial kommt in Kalifornien die selbstklebende Hologramm- und Spiegelfolie hinzu, die de Saint Phalle in verschiedensten Farb- und Strukturvariationen verwendet (besonders in der Reihe der Drucke zu ihrem Tarot-Garten) und die vermutlich den glitzernden Effekt der dortigen Spiegelmosaike imitieren sollen.

Während der Zeit in Californien entstehen auch zwei weitere Parkprojekte, ähnlich dem Tarot- Garten in Italien. 1995 beginnt die Zusammenarbeit mit Mario Botta an dem Skulpturen- und Achi- tekturprojekt Noah ´ s Ark in Jerusalem, das die Jerusalem Foundation in Auftrag gegeben hat. Botta entwirft einen lichtdurchlässigen, in die Erde eingelassenen, schiffsförmigen Bau aus hellem Stein. De Saint Phalle entwirft zu Bottas „Arche“ 21 farbige, an Tiere erinnernde Fabelwesen, die das umliegende Terrain bevölkern. Ein neuer Werkstoff prägt diese Arbeit: Kleine, runde Steine und wertvolle Halbedelsteine werden mosaikartig zur Verkleidung der Skulpturen verwendet.90 Die Arche Noah wird am 30. Mai 2001 eingeweiht.

Diese Arbeit scheint auf den ersten Blick ausschließlich ein Auftragswerk zu sein. Bei näherem Betrachten erkennt man jedoch, dass Noah ´ s Ark einen politischen Zweck verfolgen soll. Das friedlich und harmonisch wirkende Werk wird von de Saint Phalle mitten in einen der Konfliktherde der Welt gesetzt: nach Jerusalem, an die Grenze zwischen Israel und Palästina. Die Arche Noah ist für sie wie für Botta ein Symbol des Friedens (vgl. Pardey 2001, 25). Niemeyer-Langer verdeutlicht, dass de Saint Phalle in ihrer Kunst - nach langer Auseinandersetzung mit ihren Widersachern - nun auf einer anderen Ebene arbeitet. Diese Arbeit ist wohl zum ersten Mal nicht in erster Linie biografisch inspiriert. De Saint Phalle erklärt ihren Wunsch, mit ihrer Kunst Positives bei dem Betrachter zu bewirken, als initiierenden und motivierenden Faktor: „Nachdem ich diese schießende Rebellin in der Kunst gewesen bin, gebe ich heute nach einem langen Weg in der Kunst der Gesellschaft etwas zurück. Ich habe den Wunsch, den Menschen Freude zu geben. Und der Zorn - na ja, ich glaube heute gibt es anderes zu tun. Ich bin nicht gegen den Zorn, er ist sehr hilfreich und manchmal notwendig, aber heute, denke ich, gibt es andere Dinge zu tun. Da, wo ich heute in mei- ner persönlichen Entwicklung stehe, ist es sinnvoller, Dinge zu tun, die die Menschen zusammenbringen.“ (de Saint Phalle 2001, 69)

Ein weiteres großes Parkprojekt entsteht von 2000 bis 2003 in Escondido, Californien: Zu Ehren der schwarz-indianischen Queen Califia, einer legendären Königin Kaliforniens, entsteht ein Denkmal mit einem Durchmesser von 125 Metern. Eine Vogel- skulptur, auf deren Rücken die Queen Califia steht, ist kreisförmig umgeben von acht riesigen Totem-Pfählen. Das Rund ist wieder- um umgeben von einer 400 Fuß langen, niedrigen Schlangen- mauer, welche gleichzeitig als Sitzgelegenheit dient. (ähnlich wie bei La Fontaine Stravinsky und Gaudís Parc Güell)

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Abb. 33: Niki de Saint Phalle: Califia, 2000-03

Verstärkt finden die neu entdeckten Glassteine Verwendung bei der Verkleidung der inzwischen computerunterstützt gefertigten Polyesterskulpturen. Inhaltlich erinnert das aus der Mythologie ent- nommene Thema an die ebenfalls mythischen Tarot-Karten. Die als mächtige Königin dargestellte Figur der Califia erinnert jedoch auch an die Thematik der verschiedenen Rollen der Frau und die „Vorboten des Matriarchats“,91 die Nanas.

De Saint Phalle beschreibt, dass sie von der indianischen Kultur, auf welche sie in ihrer Zeit in Kalifornien und den USA stößt, zu diesem Garten inspiriert wird: „Für mich ist im Moment die indianische Kultur eine nicht endende Quelle, über die ich lese und Filme sehe, ich treffe mich und spreche mit Indianern. Die mündliche Tradition bei ihnen lebt und wird meinen neuen Garten inspirieren. Das ist meine neue Passion.“ (de Saint Phalle 2001, 71)

Neben der Arbeit an den beiden Architekturprojekten entstehen weitere größere oder kleinere Skulpturen: 1996 entsteht auf einem Privatgrundstück in San Diego Gila, ein Spielhaus für Kinder. Es ist 3,63 Meter hoch und 9,09 Meter lang und stellt einen Drachen dar. Er ist mit Spiegeln, Glas und Steinen bedeckt. 1997 gibt die Schweizer Eisenbahn eine Skulptur für den im November neu eröffneten Bahnhof in Zürich in Auftrag. L ´ Ange Protecteur ist eine 10 Meter große Nana-Skulptur mit Flügeln und hängt an der Decke des Hauptbahnhofs von Zürich. Inspiriert durch ihre Enkelkin- der, die väterlicherseits farbiger Herkunft sind,92 entsteht eine Reihe von Skulpturen zum Thema Black Heroes. De Saint Phalle fertigt mit den überlebensgroßen Polyesterfiguren eine Hommage an farbige Künstler wie Miles Davis, Louis Armstrong und Josephine Baker an. Ferner entsteht ein fünf Meter hoher, mit Spiegelmosaiken verkleideter Totenkopf. Sein Inneres dient als Meditations- raum.93

Das letzte vollendete Werk de Saint Phalles ist die Gestaltung der Grotte der Herrenhäuser Gärten in Hannover. Die Künstlerin verkleidet die drei Räume des Gebäudes mit Spiegelmosaiken und Skulpturen. Im Oktober 2001 erhält de Saint Phalle den Premium Imperiale. Am 17. November desselben Jahres macht sie Hannover und dem dortigen Sprengel Museum eine großzügige Schenkung. Hannover besitzt damit neben dem Mus é e d ´ Art Moderne et d ´ Art Contemporain in Nizza und dem Moderna Museet in Stockholm die umfangreichsten Sammlungen des Oeuvres de Saint Phalles.

Am 22. Mai 2002 stirbt Niki de Saint Phalle in La Jolla/San Diego im Alter von an 71 Jahren an den Folgen der schweren Lungenerkrankung.

4 Niki de Saint Phalle - Die Motivation ihrer Arbeit im Kontext ihrer Biographie

4.1 Vorüberlegungen

Neben der Kunst wird das Leben Niki de Saint Phalles insbesondere - wenn nicht sogar haupt- sächlich - von sozialen Beziehungen geprägt: „Menschen sind wichtig. Sie sind wesentlich, aber nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist die Arbeit, die totale Besessenheit, der Virus. Jean sagt, Kunst ist eine Krankheit: Entweder du hast sie, oder du hast sie nicht. Ich war schwer krank. Ich bin es immer noch. Ich kann mit Problemen leben, ich kann mit Schmerzen leben. (…) Ich kann mit Einsamkeit leben, aber ich kann nicht ohne meine Arbeit leben.“ (de Saint Phalle 2000, 121)

Die folgenden Ausführungen fokussieren deshalb auf soziale Faktoren im Leben der Künstlerin, indem zwei Menschen aus dem Umfeld der de Saint Phalle in ihrer Bedeutung für das Schaffen der Künstlerin näher betrachtet werden.

Ich habe mich für zwei Männer entschieden: Den Comte André Marie Fal de Saint Phalle, den Vater der Künstlerin, und Jean Tinguely, den langjährigen Lebensgefährten, Freund und wichtigsten Künstlerkollegen de Saint Phalles.94

Die Auswahl dieser Personen geschieht aufgrund deren besonderer Anschaulichkeit für die zu un- tersuchende Thematik. Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, müssen weite- re wichtige Bezugspersonen de Saint Phalles in dieser Analyse vernachlässigt werden. Es wäre z. B. sehr interessant, detaillierter aufzuzeigen, inwiefern die problematische Auseinandersetzung der Künstlerin mit ihrer Mutter u. a. zur Werkphase der verschlingenden Mütter führt und an der Moti- vation zu dem Tarot-Garten in der Toskana beteiligt ist (vgl. Kapitel 3). Es wäre aufschlussreich, die Rolle des ersten Ehemannes Harry Mathews und sein Auftreten in den ersten Gemälden de Saint Phalles zu beleuchten (z. B. in La f ê te, ca. 1953-55, oder in Family portrait, ca. 1954-55). Es wäre einleuchtend, den Einfluß des Museumsdirektors Pontus Hulten, der z. B. die Idee zu de Saint Phalles skandalösestem Werk, der Skulptur hon, hat und die herausragende Arbeit damit ini- tiiert,95 sowie die Bedeutung des Freundes und Arztes Silvio Barandun als initiierender, motivieren- der wie auch beratender Partner bei der Arbeit an dem Buch AIDS. You can ´ t catch it holding hands (1986) darzulegen. Und nicht zuletzt müsste auf zahlreiche Künstlerkollegen, wie z. B. Jas- per Johns, Robert Rauschenberg (vgl. Becker 1999, 30), Ricardo Menon oder Rico Weber hinge- wiesen werden, die als Vorbilder, Freunde oder auch Arbeitspartner de Saint Phalles Werk mit prägten.

Um eine Beziehung zwischen künstlerischem Werk und den oben genannten Personen aufzuzeigen, werde ich zunächst nach den gemeinsamen biografischen Daten suchen, möchte diesen Informationen erklärende oder interpretierende Aussagen der Künstlerin sowie Sekundärliteratur gegenüberstellen und schließlich jeweils eine Interpretation wagen.

4.2 Niki de Saint Phalle schießt auf ihren Vater

Im folgenden Kapitel versuche ich zu zeigen, inwiefern traumatische Erlebnisse in der Kindheit de Saint Phalles maßgeblich dazu beitragen, dass sie sich für ein Leben als Künstlerin entscheidet und dass die aus den Erlebnissen resultierende problematische Beziehung zum Vater zu der Entstehung der Schaffensphase der tirs führt.

Niki de Saint Phalles Vater, der Comte André Marie Fal de Saint Phalle, ist das achte Kind des französischen Landedelmannes Comte Pierre de Saint Phalle und sein siebter Sohn. Er wird 1906 in eine bedeutende französische Adelsfamilie hineingeboren, deren Ursprünge sich bis auf die Kreuzzüge zurückverfolgen lassen. Dementsprechend hoch sind die an ihn gestellten Erwartungen. Das Unternehmen der Familie, Saint Phal-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 34: André Marie Fal de Saint Phalle

le & Company, gehört zur New Yorker Börse. Es wird von den Brüdern Claude und Fal in den frü- hen 1920er Jahren gegründet. Die Brüder Francois und Alex steigen später in das Geschäft ein. André Marie Fal lernt das Geschäft ab etwa 1925 in der New Yorker Filiale kennen; ab 1927 leitet er diese Filiale. Das Unternehmen ist eines der ersten, das im Ausland mit amerikanischen Aktien handelt. Es besitzt eine große Stammkundschaft in vielen wichtigen Städten Europas und erwirt- schaftet dadurch große Gewinne. Durch den Börsencrash am so genannten Schwarzen Dienstag 1929 verliert das Unternehmen etwa die Hälfte seines Vermögens. Der schwedische Unternehmer und „Zündholzkönig“ Ivar Kruger erwirbt 1930 einen großen Anteil der Firma und entlässt alle de Saint Phalle-Brüder bis auf Claude und Alex. André Marie Fal ist zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt. Er tritt in die Firma Fenner & Beane ein und macht einen Neuanfang als Börsenmakler. 1931 geht Saint Phalle & Company Bankrott und schließt. Der Verlust des gesamten Familienvermögens ist ein schwerer Schlag für alle Beteiligten. (vgl. de Saint Phalle 2000, 12f.)

Die Mutter der Künstlerin, Jeanne Jacqueline de Saint Phalle, kommt - trotz massiver ehelicher Schwierigkeiten - für den Ehemann auf. Noch während der Schwangerschaft mit Niki de Saint Phalle bemerkt sie, dass ihr Mann sie mit anderen Frauen betrügt.96 Niki de Saint Phalle fühlt sich für den Bankrott der Bank und die elterlichen Probleme verantwortlich.97

1933 zieht die Familie nach Greenwich, Connecticut, da sie sich das teure Leben in New York nicht mehr leisten kann. Die Geschäfte des Vaters laufen nach einiger Zeit bereits wieder so gut, dass ein Umzug zurück nach New York im Jahre 1937 möglich ist.

Die Eltern sind ungewöhnlich streng und züchtigen ihre Kinder nicht nur mit Ohrfeigen. Die Mutter schlägt ihrer Tochter die Borsten ihrer Haarbürste ins Gesicht. Der Vater straft mit einer Rute und peitscht das Mädchen, bis dessen Beine bluten.98 Niemeyer-Langer bezeichnet die Erziehungsweise des Vaters als „sexuell sadistisch getönt“ (Niemeyer-Langer 2003, 37).

Doch de Saint Phalle liebt ihren Vater.99 Sie bewundert seine politischen Ansichten100 und seinen derben Humor101. Durch eine Reihe traumatischer Ereignisse wandelt sich ihr Verhältnis zu ihm: De Saint Phalle wird im Sommer 1942 von ihrem Vater mehrfach sexuell missbraucht.102 Sie hat keinen Ansprechpartner, dem sie diese traumatischen Erlebnisse erzählen könnte. Sie be- zeichnet das Schweigen als ihre Überlebensstrategie und verdrängt das Erlebte.103 De Saint Phalle flüchtet einerseits in eine imaginierte Welt: „Über diese schwierigen Jahre der Pubertät hinweg ret- tete mich eine imaginäre und geheime magische Box, die ich unter meinem Bett versteckt hielt. Niemand außer mir konnte diese Box sehen. Wenn ich allein war, öffnete ich sie und alle Arten von erzählte sie mir, ALLES SEI MEINE SCHULD; ich brachte Ärger. (…) O.k., vielleicht hatte ich den Bankrott der Saint Phalle Bank mit mir gebracht, aber ich würde viel berühmter werden als die Bank meines Vaters.“ (de Saint Phalle 1992, 147) außergewöhnlich gefärbten Fischen, Geistern und wilden süß duftenden Blumen purzelten heraus.“ (de Saint Phalle 2000, 103)104

Doch sie versucht andererseits auch, durch das Stehlen von Süßigkeiten und Comicbüchern auf sich aufmerksam zu machen. Außerdem entwickelt sie nervöse Ticks, die jedoch nicht verstanden werden und z. B. dazu führen, dass sie alleine in der Küche essen muss.105 Deshalb begeht sie im Alter von 14 Jahren „ihre erste künstlerische Tat“ (Niemeyer-Langer 2003, 39): Sie bemalt die Feigenblätter vor den Geschlechtsteilen der griechischen Skulpturen in ihrer zweiten Schule, der Brearley School, mit roter Farbe.106 Diese Tat lässt sich als Hilfeschrei verstehen und deutet symbolisch auf den erlebten Missbrauch hin. Die Schule erkennt, dass de Saint Phalle psychiatrisch behandelt werden sollte, und legt dies den auch Eltern nahe. Der Vater überredet seine Frau jedoch, die Tochter auf ein anderes Internat zu schicken.

Auch auf der Internatsschule Oldfields in Maryland sorgt de Saint Phalle für einen Skandal. Sie verfasst eine pornografische, mehrere Seiten umfassende Schrift und lässt sie unter ihren Mitschülerinnen kursieren.107 Das Schriftstück fällt den Lehrern in die Hände. Der Schulleiter droht de Saint Phalle mit Schulverweis.

In ihrer Jugend besucht de Saint Phalle freiwillig mehrere Psychiater. Diese verunsichern sie jedoch mit ihrer Meinung, dass sie, das Opfer des Verbrechens, das Geschehene selbst mit herausgefordert habe. Der einzige Ort, an dem sie die Möglichkeit hat, ihre Gefühle auszudrücken, ist die schulinterne Theatergruppe.108

In Folge des Missbrauchs beginnt de Saint Phalle im Alter von 20 Jahren auf ihrer oberen Lippe zu kauen. Bis zu ihrem 40. Lebensjahr ist ihr deswegen eine zweite Oberlippe entstanden, die sie o- perativ entfernen lassen muss. Niemeyer-Langer sieht in dieser autoaggressiven Handlung die Qualen des selbst auferlegten Schweigens: „Bevor sie etwas sagt, zerbeißt sie sich eher die Lip- pen.“ (Niemeyer-Langer 2003, 40) De Saint Phalle vermutet 1994 ebenfalls einen symbolischen Grund für ihre Selbstzerstörungsversuche: „Der Sommer der Schlangen war es, als mein Vater, dieser Bankier, dieser Aristokrat sein Geschlecht in meinen Mund steckte. Mit 20 gewöhnte ich mir an, auf meiner oberen Lippe herumzukauen. (…) Ich trug meine Schande im Gesicht.“ (de Saint Phalle 1995, 114)

Mit 22 Jahren erleidet de Saint Phalle einen Nervenzusammenbruch und kommt in eine psychiatri- sche Klinik in Nizza. Es ist nicht eindeutig überliefert, worin der Grund für den Zusammenbruch liegt, zumal sich die Künstlerin dazu nicht äußert. Niemeyer-Langer vermutet „eine Erkrankung aus dem schizoaffektiven Formenkreis“ (Niemeyer-Langer 2003, 43). Die Psychoanalytikerin sieht in de Saint Phalles Kindheit eine „schizoid gefärbte Art des sozialen Rückzuges“ (ebd.) und stellt eine Depression fest, „bei der eher eine tiefe Leere im Vordergrund steht auf dem Boden einer primären narzisstischen Verletzung“ (ebd.). Diese Faktoren könnten neben einer „gewissen genetischen Disposition (u. a. auch in Form einer hohen Sensibilität)“ (ebd.) und äußeren Auslösern zu einem solchen Zusammenbruch führen.

De Saint Phalle ist noch damit beschäftigt, eine Verarbeitungsmöglichkeit für ihr eigenes Leid zu finden (vgl. ebd.). Niemeyer-Langer vermutet, dass „das Verbrechen des Vaters an seiner Tochter einem realen Objektverlust mindestens gleich“ (ebd.) komme. De Saint Phalle habe also in einer Zeit, in der sie besonderen Schutz benötigte, nicht nur ihren Vater, sondern auch ihr vorher eher idealisiertes, heiles Bild von ihm verloren.

Als äußeren Auslöser eines Nervenzusammenbruchs identifiziert Niemeyer-Langer - auf der Basis der 1954/55 entstandenen Malerei Family portrait - de Saint Phalles Überforderung in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau . Der Künstlerin fehle eine „positive Identifizierung“ (Niemeyer-Langer 2003, 46), ein sorgendes und emotional adäquat reagierendes Muttervorbild. Da sie dieses Vorbild nicht von ihrer Mutter vorgelebt bekommen habe, sei es ihr nun schwer möglich, eine gute Mutter für ihr eigenes Kind zu sein. Auch ein positives Vatervorbild fehle der Künstlerin. Ihr Mann Harry Mathews kann ihr keine adäquate Alternative zum Vater bieten. Niemeyer-Langer bemerkt dazu: „Erkennbar ist in jedem Fall, dass das Vaterbild der Künstlerin nicht sehr stützend und tragfähig ist und offen- sichtlich auch nicht durch Harry Mathews ausreichend modifiziert werden kann.“ (Niemeyer-Langer 2003, 45) Ihr Ehemann Harry Mathews, den die Psychoanalytikerin als „schön, hochsensibel, in seiner damaligen Handlungsfähigkeit eher zögerlich und immer wieder depressiv verstimmt“ (ebd.) charakterisiert, könne also auch nicht als Schutz und Halt gebender Vater und Ehemann gesehen werden. Dies führt bei de Saint Phalle zu großer Hilflosigkeit.

Über den Aufenthalt in der Klinik schreibt de Saint Phalle: „1952, mit 22 Jahren, wurde ich nach ei- ner Behandlung mit zehn Elektroschocks und einer Verabreichung von Insulin aus einer psychiatri- schen Klinik in Nizza entlassen. Der Aufenthalt dort war mir insofern gut bekommen, als ich meine Leidenschaft für die Malerei entdeckt und beschlossen hatte, mein Theaterstudium abzubrechen, um nur noch zu malen. Als ich die Klinik verließ, war ich endlich bereit, mich von dem Waffenarse- nal zu trennen, das ich immer bei mir in der Tasche trug und das mir ein Gefühl von Schutz gege- ben hatte: eine ungeladene Pistole, eine große Schere und Rasierklingen.“ (de Saint Phalle 1995, 114)

Die Künstlerin hat während dem Klinikaufenthalt erfahren und gelernt, ihre bisher versteckten Ge- fühle wie Angst, Zorn, Gewalt, aber auch Hoffnung und Freude durch künstlerisches Schaffen zum Ausdruck zu bringen. Die kreative Tätigkeit wird für de Saint Phalle zur Therapie (vgl. Magnagu- agno 2001, 6),109 wobei insbesondere die künstlerische Verarbeitung ihrer Gefühle für sie lebens- wichtig wird.110 Für de Saint Phalle ist es deshalb keine freie Entscheidung, wenn sie ihr Theater- studium abbricht und sich einem Leben als Künstlerin zuwendet: „Ich war eine zornige junge Frau, doch gibt es viele zornige junge Männer und Frauen, die trotzdem keine Künstler werden. Ich wur- de Künstler, weil es für mich keine Alternative gab - infolgedessen brauchte ich auch keine Ent- scheidung zu treffen. Es war mein Schicksal. Zu anderen Zeiten wäre ich für immer in eine Irren- anstalt eingesperrt worden - so aber befand ich mich nur kurze Zeit unter strenger psychiatrischer Aufsicht, mit zehn Elektroschocks usw. Ich umarmte die Kunst als meine Erlösung und Notwendig- keit.“ (de Saint Phalle 1987, 46)

Es entstehen zunächst Ölbilder, die sich mit ihrer Familiensituation beschäftigen. Die Darstellung beengender Verhältnisse, wie sie de Saint Phalle ihr Leben lang bei ihren Eltern und nun auch in ihrer eigenen Familie feststellt, führt möglicherweise zu einer Form der Selbstreflexion und damit schließlich zur Trennung von Harry Mathews und den Kindern.111 Dabei ist zu beachten, dass de Saint Phalle mit Mathews kein unglückliches Leben führt. Ganz im Gegenteil hat sich mit ihm doch ein Leben nach ihren Vorstellungen selbst eingerichtet. Jedoch mag sie die Befürchtung gehabt haben, „wie ihre Eltern nicht im Paradies, sondern in einem äußerlich perfekten Leben zu landen.“ (Niemeyer-Langer 2003, 59) Becker deutet diesen Ausbruch aus einer heilen Welt auch als eine Hinwendung zur Kunst und einem Leben als Künstlerin: „Für sie war dieser Ausbruch der letzte entscheidende Schritt ihrer unwiderruflichen Hinwendung zur Kunst und einer endgültigen Abkehr von den vorgezeichneten Bahnen eines gewöhnlichen Familienlebens.“ (Becker 2000, 14) Ein als harmonisch erlebtes Familiengefüge erscheint de Saint Phalle folglich als kontraproduktiv für eine Karriere als Künstlerin. Die Annahme Beckers wird in einem fiktiven Brief de Saint Phalles an Jean Tinguely untermauert: „Während der elf Jahre, die ich mit Harry zusammen verbrachte, habe ich mich keinen Moment gelangweilt. Ich liebte meine Kinder und meine Arbeit, mein Leben war aus- gefüllt. Von Zeit zu Zeit ging mir jedoch der Gedanke durch den Kopf: Paradies … Wie gerne wür- de ich in die HÖLLE hinabsteigen, um die HÖLLE kennen zu lernen! Vielleicht würden mir sehr schmerzhafte Erinnerungen aus der Vergangenheit dabei begegnen. Ich wollte nicht in der Hölle bleiben, aber ich wollte in die Tiefen hinabsteigen.“ (de Saint Phalle 1992, 156)

Nach einer unglücklichen Affäre mit einem verheirateten Mann entsteht die Arbeit Saint Sebastien or Portrait of my Lover. 112 Das Werk kann als deutlich biografisch beeinflusst eingestuft werden, da es sich thematisch direkt auf eine bestimmte Person aus de Saint Phalles Leben bezieht, den Kon- flikt mit dieser Person auf künstlerischem Wege verarbeitet und sogar in der Materialwahl Bezüge zu dem Konfliktpartner herstellt (vgl. de Saint Phalle 1992, 156). Nach Becker zeichnet sich das Werk „durch eine intensive Verbindung von Kunst und Leben (…) aus“ (Becker 1999, 21; Hervor- hebung P. Z. E.). De Saint Phalle erfährt an Portrait of my Lover wiederum die therapeutische Kraft der Kunst: „Ich fand Spaß daran, Pfeile nach seinem Kopf zu werfen. Es war eine erfolgreiche The- rapie, und ich begann, mich von ihm zu lösen.“ (de Saint Phalle in: Niemeyer-Langer 2003, 62) Bei der Ausstellung von Portrait of my Lover fällt de Saint Phalle ein Gipsrelief des Künstlers Bram Bogart auf. Ihr kommt die Idee, das Bild bluten zu lassen.113 Sie hat damit die Werke ihrer ersten großen Schaffensphase erfunden, die tirs (Schiessbilder). De Saint Phalles Schiessbilder überzeu- gen so sehr, dass sie in den Kreis der Nouveaux R é alistes aufgenommen wird. „Hier fand sie das Klima, das ihre psychischen Probleme, entstanden aus ihrer engen großbürgerlich-katholischen Erziehung und den damit verbundenen Rollenklischees, in kreative Energie umzusetzen und damit zu verarbeiten half. Dies war zunächst nur in einer aggressiven, zerstörerischen Generalabrech- nung möglich, in der all die Tabus und Obsessionen thematisiert wurden, die ihren psychischen Zusammenbruch verschuldet hatten. Insofern ist diese frühe Werkphase der Schiessbilder und As- semblagen auch Selbsttherapie, die notwendig war, um die späteren fröhlichen Nanas und phan- tastische Architekturen überhaupt zu ermöglichen.“ (Schulz-Hoffmann 1987, 13) Die Künstlerin verspürt beim Schiessen - ähnlich wie bei dem Werfen von Pfeilen auf Portrait of my Lover - ein Gefühl von therapeutischer Befreiung.114 Niemeyer-Langer sieht die Motivation für die Schiessbilder hauptsächlich im Missbrauch in der Kindheit und in der jahrelang unterdrückten Wut. „Niki de Saint Phalle findet endlich eine vehemente, bisher einmalige Ausdrucksform für ihre unge- heure Wut über sadistische Demütigungen, Unverständnis und Missbrauch. Es wird nicht nur deut- lich gezeigt, was passiert und was der Künstlerin einst selbst seelisch widerfahren ist; diesmal ge- schieht der Akt öffentlich, mit einem Publikum, welches einbezogen wird. Schockartig erlebt der Betrachter die tödliche Destruktion archaischer Wut, die aber gleichzeitig etwas Neues, noch Blu- tendes, noch Eiterndes hervorbringen kann. Die Künstlerin entdeckt ein Medium, in dem Dritte un- mittelbar erfahren, was ihr als kleines Mädchen angetan worden ist. Gleichzeitig wird die Situation jetzt, im Sinne einer Identifikation mit dem Aggressor, umgekehrt. Niki de Saint Phalle selbst ist die Handelnde, die Herrin über Leben und Tod.“ (Niemeyer-Langer 2003, 63)115 De Saint Phalle berichtet selbst von der übergroßen Macht der ihr innewohnenden Gewalt116: „Als ich im letzten Winter nach Stuttgart kann, sah ich am Flughafen eine Anzahl Photos junger Terro- ristinnen. Mir wurde bewusst, wie viel Glück ich gehabt hatte, einen pazifistischen Ausdruck meiner inneren Gewalt gefunden zu haben.“ (de Saint Phalle 1987, 14)

Die Künstlerin geht sogar so weit zu behaupten, dass sie ohne die Kunst zur Terroristin geworden wäre: „Anstatt ein politischer Terrorist zu werden, bin ich ein Terrorist der Kunst geworden.“ (de Saint Phalle 1980) Diese innere Gewalt, die von Niemeyer-Langer auch als unterdrückte „ungeheure Wut“ (Niemeyer-Langer 2003, 63) bezeichnet wird, kann sie durch ihre Kunst, in diesem Falle die Schießbilder, auf kreativem Wege thematisieren und damit auch therapeutisch verarbeiten. Wogegen richtet sich nun diese innere Ge- walt? De Saint Phalle rechnet in den tirs schonungslos mit denjenigen Personen ab, die sie für das Leid auf der Welt verantwort- lich macht. Sie richtet diese durch ihre Schiessaktionen gleichsam hin. „Niki de Saint Phalle hat die Patriarchen, Politiker, die Kirche, die Monstren, die Frauen zu Gegenständen ihrer Attacken gemacht. Dabei trat sie im weißen Hosenanzug auf, mit Revolver und Gewehr. Als Rächerin für all die Verletzungen, die man ihr angetan hatte, stand sie vor den kunstvoll gebauten Altären und Bildern und tötete jene, die für

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Abb. 35: Niki de Saint Phalle beschießt Tir tableau Sunset Strip, 1962

sie das Böse repräsentieren.“ (Krempel 2001, 42)117 Dass das Ziel ihrer Gewalt vor allem Männer sind, berichtet die Künstlerin selbst: „1961 schoss ich auf: Papa, alle Männer, kleine Männer, große Männer, bedeutende Männer, dicke Männer, Männer, meinen Bruder, die Gesellschaft, die Kirche, den Konvent, die Schule, meine Familie, meine Mutter, alle Männer, Papa, auf mich selbst, auf Männer.“ (de Saint Phalle 1987, 52) Pierre Restany weiß um de Saint Phalles Probleme mit Män- nern: „Niki hatte ja auch eine ganze Menge von Rechnungen mit der Welt der Männer zu beglei- chen, bevor sie zum großen Schlag ausholte und den Karabiner ergriff.“ (Restany 1987, 30) Er glaubt auch zu wissen, dass der Hass auf „alle Männer“ (de Saint Phalle 1987, 52) von dem Hass auf ihren Vater rührt. Er verweist auf die nach den tirs entstehenden Assemblagen, wenn er schreibt: „Als Niki nicht mehr aufhören konnte, ihren Vater zu töten, entsprang ihren zarten Händen ein ganzes Höllenvolk Furcht erregender Ungeheuer.“ (Restany 1987, 30)

Auch de Saint Phalle konkretisiert 1996 in einem Interview mit H. Sorge, dass ihr Vater das primäre Ziel ihrer Wut darstellt: „Es war der Aufstand gegen meine Eltern, gegen die Klosterschule, in die man mich gesteckt hatte, und auch gegen meinen Vater, der nicht nur alle Hausangestellten ver- führte, sondern auch mich, seine damals elfjährige Tochter.“ (Sorge 1996, 46) Sie sucht - wie bei Opfern sexueller Gewalt üblich - auch an sich selbst eine Schuld an dem Missbrauch: „Der Rauch erweckte den Eindruck von Krieg. Das Bild war das Opfer. WER war das Bild? Daddy? Alle Männer? Kleine Männer? Lange Männer? Große Männer? Fette Männer? Männer? Mein Bruder John? Oder war ICH das Bild?“ (de Saint Phalle 1992, 161)

Die weitreichenden Auswirkungen eines Missbrauches auf das weitere Leben des Opfers sind viel- fach dargelegt worden und können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter aufgeführt werden. Auch de Saint Phalle scheint offensichtlich lange Zeit ihres Lebens unter den traumati- schen Erlebnissen zu leiden. Da ihr niemals angemessen professionelle, therapeutische Hilfe zuteil wird, hilft sie sich nach dem Zusammenbruch selbst, indem sie sich für ein Leben als Künstlerin entscheidet. Eine erste Erfahrung mit der therapeutischen Wirkung des kreativen Schaf- fensprozesses hat sie in der Nervenklinik gemacht. Diese Erfahrung wird durch die Arbeit an Portrait of my Lover und an den tirs wiederholt und von der Künstlerin auch als positiv erlebt. Die künstlerische Verarbeitung empfindet de Saint Phalle als lustvoll: „Ich schoss, weil es Spaß machte und mir ein tolles Gefühl gab. Ich schoss, weil mich die Beobachtung faszinierte, wie das Gemälde blutet und stirbt. Ich schoss um dieses magischen Moments willen. Ekstase“ (de Saint Phalle 1987, 52). Neben dem lustbringenden Effekt der kreativen Auseinandersetzung wird de Saint Phalle für ihre künstlerische Arbeit zudem von ihrem sozialen Umfeld belohnt: Endlich, zum ersten Mal seit ihrer Kindheit, „durch die gezielt hergestellte Ö ffentlichkeit in ihren Aktionen, durch die weltweite Reaktion der Presse darauf, wurde die über die Kunst hinausgehende Botschaft er Künstlerin auch wirklich gesehen und gehört.“ (Krempel 2001, 47; Hervorhebung P. Z. E.) Auch die Tatsache, dass sie als einzige Frau in den Kreis der Nouveaux R é alistes aufgenommen wird, bestätigt de Saint Phalle in ihrer Rolle als Künstlerin.

Dass die Auseinandersetzung mit dem Vater durch die tirs noch nicht an ein Ende gelangt, zeigen auf anschauliche Weise spätere Arbeiten wie Les funerailles du p è re oder der Film Daddy. Den- noch scheint an dieser Stelle die Frage nach der Bedeutung des Vaters für Leben und Werk der de Saint Phalle ausreichend erörtert. Aus den vorangegangenen Ausführungen kann geschlussfolgert werden, dass der Nervenzusammenbruch der Künstlerin von den bisher (mehr oder weniger erfolg- reich) verdrängten Erlebnissen ihrer Kindheit herrührt. Diese gewinnen durch de Saint Phalles Doppelrolle als Mutter und Ehefrau erneut an Bedeutung und werden nochmals verstärkt. Aus dem psychischen Zusammenbruch erwächst die scheinbar unfreiwillige Entscheidung de Saint Phalles, ein Leben als Künstlerin zu führen. Ihr Vater, André Marie Fal de Saint Phalle, spielt für das frühe Werk sowohl initiierend (als Auslöser des traumatischen Konfliktes) wie auch motivierend (als be- vorzugtes Objekt der künstlerisch-kreativen Auseinandersetzung) somit eine bedeutende Rolle.

4.3 Niki de Saint Phalle sprengt Jean Tinguely

Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle lernen sich 1954 in Paris kennen.118 De Saint Phalle besucht ihn in seinem Atelier und ist fasziniert von Tinguelys Arbeit.119 Sie will sofort eine seiner Ar- beiten kaufen. Tinguely wiederum nimmt sie und ihre Arbeit als Künstlerin ernst. Dies ist für die Künstlerin zu Beginn ihrer Kar- riere von großer Bedeutung. De Saint Phalle initiiert den fortan regen Dialog zwischen ihr und Tinguely, in dem sie ihn provo- ziert: „Ich erzählte Dir von Gaudí und Facteur Cheval, die ich beide soeben entdeckt hatte. (…) Dann provozierte ich Dich, in- dem ich behauptete, Cheval sei ein viel größerer Bildhauer als Du. ’Ich habe noch nie von diesem Idioten gehört’, riefst Du, und Du bestandest darauf: ’Lass uns gleich hinfahren und ihn anse- hen!’ Das taten wir.“ (de Saint Phalle 1992, 153f.) Die beiden Künstler pflegen fortan eine feste Freundschaft; sie führen ange- regte Diskussionen über ihre Vorbilder, ihre Arbeit und die Kunst (vgl. de Saint Phalle 1992, 158). Bereits 1955 hilft Tinguely de Saint Phalle bei der Herstellung von deren erster Skulptur.120 Er

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 36: Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely beim Bau von Golem, 1972

übernimmt die Schweißarbeiten an dem eisernen Gerüst. Tinguely führt die Künstlerin in den Kreis seiner Künstlerkollegen ein. Zunächst stellt er sie seinem Freund Daniel Spoerri vor. Sie ist faszi- niert von dessen Arbeitsweise. Auch Arman und Yves Klein lernt de Saint Phalle durch Tinguely kennen. Diese Kontakte führen 1960 zur Aufnahme de Saint Phalles in die Gruppe der Nouveaux R é alistes. Tinguely ist auch für de Saint Phalles ersten Ausstellungserfolg mit verantwortlich. De Saint Phalle erinnert sich daran in einem Brief an Tinguely: „Einmal kamst Du mit Daniel Spoerri in mein Atelier. Ihr entdecktet das Objekt und fandet es beide so toll, dass Ihr es sofort für die neue Kunstausstellung der Nouveaux Réalistes haben wolltet. Ich war hocherfreut.“ (de Saint Phalle 1992, 156) Bei dem „Objekt“ handelt es sich um die Arbeit Portrait of my Lover. Ende des Jahres 1960 zieht de Saint Phalle in die Impasse Ronsin, wo sie sich ein Atelier mit Tin- guely teilt. Im selben Monat verliebt sich die Künstlerin in Jean Tinguely.121 Fortan erfolgt eine ge- genseitige Inspiration, Motivation und Unterstützung auf verschiedenen Ebenen. Auf privater Ebe- ne sind die beiden mehrere Jahre ein Liebespaar. Sie leben lange Zeit zusammen und heiraten schließlich 1971. Nach dem Ende der partnerschaftlichen Beziehung nur etwa zwei Jahre später, besteht jedoch bis zum Tod Tinguelys im Jahre 1991 weiterhin eine enge und tiefe Freundschaft. Trotz der Trennung bleibt das Künstlerpaar verheiratet. De Saint Phalle wird von Tinguely als alleinige Verwalterin seines Oeuvres bestimmt.

Auf beruflicher Ebene sind die Künstler füreinander Partner in der Arbeit, Assistenten und auch Ri- valen. Initiiert von Tinguely oder de Saint Phalle entstehen in den gemeinsamen Jahren unter- schiedliche, z. T. gigantische Skulpturen- und Architekturenprojekte. In den ersten Jahren der Zu- sammenarbeit nehmen gemeinsame happenings einen wichtigen Platz im gemeinsamen kreativen Schaffen ein: De Saint Phalle und Tinguely führen beispielsweise die Weltuntergangsstudien Etude pour une fin du monde No 1 am 22. September 1961 im Louisiana Museum in Kopenhagen und Study for an end of the world No 2 am 21. März 1962 in der Wüste von Nevada durch. Es folgen diverse gemeinsame Theaterinszenierungen und Ballette.122 Das Künstlerpaar spornt sich von nun an gegenseitig zu immer größeren Projekten an. De Saint Phalle und Tinguely motivieren und un- terstützen sich gegenseitig bei Großprojekten wie hon in Stockholm, Le paradis fantastique für die Weltausstellung in Montreal, Le Cyclope im Wald von Milly-la-Forêt bei Paris, dem Golem in Jeru- salem, Le Dragon in Knokke-le-Zoute, dem Giardino dei Tarocchi in der Toskana und zuletzt der Fontaine Igor Stravinski in Paris.

Jean Tinguely ist ohne Zweifel neben dem Vater der Künstlerin der wichtigste Mann in de Saint Phalles Leben. Er ist Niki de Saint Phalle zeitlebens eine der wichtigsten Inspirations- und Motiva- tionsquellen. Er beeinflusste sie durch seine Kunst, seine Ansichten und seine Persönlichkeit. Tin- guely ist für de Saint Phalle auf privater Ebene nicht allein Liebhaber und Ehemann, sondern auch enger Freund. Auf beruflicher Ebene nimmt er sowohl die Rolle des Konkurrenten wie auch des Arbeitspartners und Assistenten ein.123

Auf der partnerschaftlichen Ebene wird de Saint Phalle beispielsweise durch die Trauer über Tinguelys neue Bekanntschaft Micheline Gygax zu einem Briefprojekt inspiriert, das sie hauptsächlich in den Jahren 1968 bis 1969 anfertigt. Die entstehende Dreiecksbeziehung belastet die Künstlerin stark. Sie beginnt sich zurückzuzie- hen und zeichnet eine Serie von fiktiven Brie- fen an Jean Tinguely. Diese fragen in Text und Bild nach den Aktivitäten des Geliebten (My love what are you doing?, 1968), imagi- nieren die Situation nach einer Trennung („ my love we won ´ t …, 1968), erinnern an alte Zei- ten (could we have loved?, 1968, last night I had a dream, 1968 und remember?, 1969) und fragen nach der Zukunft (what shall I do now that you ´ ve left me?, 1970). Die Briefe drücken den Schmerz, den die Künstlerin über den Verlust des Partners empfindet, sowie ei- ne tiefe Liebe zu Tinguely aus. Später initiiert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 37: Niki de Saint Phalle: My love what are you doing?, 1969

Tinguely durch eine schwere Krankheit den Bau der Kapelle Die M äß igung im Tarot-Garten. Sie entsteht als Dank an die Schwarze Madonna, zu der de Saint Phalle um Heilung gebetet hatte. Auf beruflicher Ebene erfährt de Saint Phalle von Tinguely zunächst große Unterstützung, die sie in ihrer Arbeit motiviert. Tinguelys Wertschätzung gibt ihr die Energie, in ihrem künstlerischen Schaffen fort zu fahren.124 Wie bereits erwähnt, ist Tinguely maßgeblich an de Saint Phalles Eintritt in die Pariser Kunstszene beteiligt. Später lässt er sich von der Idee eines zu beschießenden Bildes anstecken und unterstützt die Künstlerin in der Umsetzung ihrer Idee.125

In den folgenden Gemeinschaftsprojekten ist Tinguely oft in einer Rolle des Assistenten oder Mit- arbeiters zu erleben. Er übernimmt die technische Umsetzung von de Saint Phalles Ideen. Die Künstlerin fertigt beispielsweise beim Bau des Tarot-Gartens lediglich kleine Entwürfe, die Tinguely daraufhin dank seiner künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten mit einem hohen Maß an räumlichem Vorstellungsvermögen proportional genau in überlebensgroße Architekturen transfor- miert. Tinguely übernimmt beim Tarot-Garten, wie auch bei hon oder dem Golem das Schweißen der Metallgerüste, die später von einer Beton- oder Polyesterschicht umgeben werden.

Gleichzeitig entstehen Arbeiten, die als Gemeinschaftswerke ein gleichberechtigtes Wirken der beiden Künstler erfordern. Dabei ist es interessant, dass die beiden Künstler sowohl in ihrer Per- sönlichkeit als auch in ihrem künstlerischen Ausdruck verschiedener nicht sein könnten. Die beiden kommen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. De Saint Phalle ist in einer Adelsfamilie groß geworden. Sie kennt sämtliche Umgangsformen, spricht mehrere Sprachen fließend und kann sich auf gewählte Weise sprachlich ausdrücken. Tinguely hingegen kommt aus einem ärmlichen Elternhaus und ist sprachlich nicht besonders talentiert. Er besitzt jedoch die Freiheit, „ungeachtet der Meinung anderer, bedingungslos das zu tun, was er für richtig hält, sowohl in seinem Leben als auch in seiner Kunst“ (Niemeyer-Langer 2003, 55). De Saint Phalle ist das Korsett aus gesell- schaftlichen Normen und moralischen Werten, in das sie gezwängt wurde, seit ihrer Kindheit ver- hasst. „Die Echtheit und erbarmungslose Ehrlichkeit in Jean Tinguely löst bei Niki de Saint Phalle, die ihr Leben lang unter ihren an gesellschaftlichen Zwängen orientierten Eltern gelitten hat, nicht nur eine tiefe Be- wegtheit aus, sie ist auch Anreiz, ihr eige- nes Rebellentum noch radikaler zu leben“ (Niemeyer-Langer 2003, 56). Nach Nie- meyer-Langer ist es für de Saint Phalle ein neues und äußerst befreiendes Gefühl, sich mit Tinguely auch ungestraft daneben benehmen zu können (vgl. Niemeyer- Langer 2003, 55).126 Beide genießen es

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 38: Niki de Saint Phalle: Miss Helvetia, 1993

fortan, durch ihre gemeinsamen Kunstwerke die Öffentlichkeit zu schockieren. „Was Jean und mich besonders verband, war, dass wir beide es genossen, ’Les Enfants Terribles’ der Kunst zu sein. Wir wurden zum nicht gewalttätigen Bonnie-und-Clyde-Kunstteam. Jeder ermutigte die Verrückt- heiten des anderen. Wir befanden uns in einem ständigen Wettstreit, einander zu übertrumpfen.“ (de Saint Phalle 2000, 106)

Auch auf künstlerischer Ebene verwenden de Saint Phalle und Tinguely verschiedene Ausdrucks- weisen, die sie in ihrer Zusammenarbeit niemals aufgeben.127 De Saint Phalle fertigt zumeist far- benfrohe Skulpturen oder Bilder aus verschiedensten, meist haptisch schmeichelnden Materialien. Ihr Partner bedient sich sein Leben lang des dunklen und kalten Werkstoffes Metall und fertigt dar- aus „Maschinen, die zu nichts nutze sind“ (Tinguely 1995). Genau diese Verschiedenartigkeit im Ausdruck scheint jedoch die Inspirationsquelle für das gemeinsame Werk zu sein. Besonders in den Arbeiten Le paradis fantastique und La fontaine Stravinsky wird der inspirierende gemeinsame Dialog, den die Künstler auf sprachlicher Ebene führen, auch in der gemeinsamen Kunst fortge- setzt. Niemeyer-Langer spricht von einem „Liebesdialog“, der den größten Teil der Karriere de Saint Phalles ausmacht (vgl. Niemeyer-Langer 2003, 152). „Intuitiv erkennen und lieben sie sich gegenseitig über ihre Kunst. (…) Darüber hinaus vermögen sie ihre Liebesbeziehung mit ihren sich gegenseitig befruchtenden Werken zu symbolisieren, für sich und für andere“ (Niemeyer-Langer 2003, 153). Die Kunst macht es möglich, dass das Künstlerduo den kreativen Liebesdialog auch nach der Trennung auf partnerschaftlicher Ebene fortführt: „Diese Beziehung dauerte unser ganzes Leben, trotz aller Stürme und Probleme. Die Kunst war die große Liebe im Leben Jeans und in meinem Leben. Die Kunst und der Respekt füreinander, sie sind der rote Faden in unserm Leben“ (de Saint Phalle 1998, 42).

Die Bedeutung, die Tinguely und de Saint Phalle füreinander auf der beruflichen Ebene als Künst- ler haben, wird von Pardey erläutert: „Die Art der Zusammenarbeit der zwei Künstler, deren Werk äußerlich ja ganz verschieden scheint, wurde bei jedem Projekt neu bestimmt. Es gab Momente, in denen sich der eine dem anderen ganz unterordnete und als Helfer agierte, es gab aber ebenso viele Gelegenheiten, bei denen die zwei Künstler als gleichberechtigtes Paar, als gegenseitig sich ergänzende kreative Einheit auftraten. Im Zentrum der Zusammenarbeit stand der Respekt, den die zwei sich entgegenbrachten, und das Vertrauen in die künstlerische Leistung und in die Quali- tät der Ratschläge des andren. Die Inspiration, die sie aus ihren Begegnungen und Gesprächen zogen, kann gar nicht bedeutend genug bewertet werden. Dies ist sicher der wichtigste (wenn auch am wenigsten sichtbare) Teil ihrer künstlerischen Be- ziehung“ (Pardey 2001, 20f.).

Die eng verwobene gegenseitige Unter- stützung,128 die gegenseitige Inspiration und Motivation und gemeinsame Be- geisterung für die Kunst kann in all ihren Facetten im Rahmen dieser Arbeit nicht dargelegt werden.129 Deswegen möchte ich abschließend lediglich auf eine Pha- se im Werk der de Saint Phalle fokus-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 39: Niki de Saint Phalle: Jean II (M é ta-Tinguely), 1992

sieren, die jedoch besonders deutlich dem inspirierenden Einfluss Tinguelys unterliegt:

Nach Tinguelys Tod 1991 findet de Saint Phalle zu neuen Ausdrucksformen in ihrer Kunst. Es ent- steht de Saint Phalles erste kinetische Skulptur, das Portrait Jean I (M é ta-Tinguely) (1991).130 Es erscheint in verschiedenen Fassungen. Die einzelnen Elemente des Bildes, vorrangig aus dem Kopf Tinguelys ragende Räder in verschiedenen Größen, werden von einem Motor, der sich hinter dem Bild versteckt, bewegt. De Saint Phalle greift hiermit also erstmals sowohl inhaltlich als auch gestaltungstechnisch Tinguelys Werk auf. Sie versieht das Portrait ihres Mannes mit einem ele- mentaren Bestandteil von Tinguelys Kunst: dem Rad.131 Ähnlich wie in Tinguelys Arbeiten ist es auf dem Portrait in verschiedenen Variationen zu sehen. Zusätzlich jedoch macht sich de Saint Phalle Tinguelys wichtigstes Gestaltungselement, die Bewegung, zu eigen und lässt die Räder sich drehen. 1992-93 erweitert sie diese Bildform und erfindet die Werke ihrer letzten neuen Schaffens- phase, die tableaux é clat é s. Es sind Bilder oder Reliefe, deren Motive in einzelne Teile zerfallen und sich wieder zusammenfügen. Die auf dem Bild jeweils dargestellten Figuren sind, zunächst für den Betrachter nicht erkenntlich, aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt und werden, eben- falls mechanisch gesteuert, in verschiedene Richtungen auseinander gesprengt.

Die tableaux é clates sind sowohl privat als auch beruflich, sowohl formal als auch inhaltlich von Tinguely inspiriert. De Saint Phalle verarbeitet nach Niemeyer-Langer mit den Arbeiten den Tod ihres Lebensgefährten. „Mit ihrer Erfindung der tableaux é clat é s, verspielten Reliefs aus bewegli- chen Teilen, zeigt sie schließlich sich und ihren verinnerlichten Jean Tinguely in einem Kunstwerk“ (Niemeyer-Langer 2003, 152). Die Künstlerin formuliert dies auch in eigenen Worten: „A travers mes nouvelles oeuvres, Jean, nous continuons à collaborer. Tu es toujours présent même si ces tableaux ne te ressemblent pas (…) Une photo cellule électrique les met en marche, donc il suffit que quelqu´un marche devant pour qu´ils s´animent” (de Saint Phalle 1993, 14f.).

Obwohl die neuen Kunstwerke weiterhin eindeutig als Werke von de Saint Phalle zu erkennen bleiben und obwohl de Saint Phalle in keinster Weise von der ihr eigenen Bilder- und Formenspra- che abkommt, drücken die Arbeiten den tiefen und umfassenden Einfluss Tinguelys auf Niki de Saint Phalles Leben und Schaffen in anschaulicher Weise aus. Sie können damit zur Illustration der inspirierenden und motivierenden Rolle Jean Tinguelys hervorragend herangezogen werden.

5 Zusammenfassung

In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, den Zusammenhang von Biographie und künstlerischem Schaffen am Beispiel von Niki de Saint Phalle zu untersuchen. Die dabei zugrunde gelegte Annahme lautete, dass Niki de Saint Phalles Kunst nur dann angemessen zu verstehen ist, wenn biographische Faktoren berücksichtigt werden.

Niki de Saint Phalle scheint eine Künstlerin zu sein, die in mehrerlei Hinsicht dem traditionellen Bild eines Künstlers widerspricht und deren Werk sich somit vorschnellen Interpretationen entzieht. De Saint Phalle zu einer Gallionsfigur der Frauenbewegung zu stilisieren, die ihr künstlerisches Schaffen in den Dienst einer politischen Sache (der „Befreiung der Frau“) stellte, erweist sich damit insofern als verfehlt, als de Saint Phalle ihre provokativen Arbeiten selbst aus ihrer Biographie her- aus begründet. So sind beispielsweise die Nanas keinesfalls als Skulpturen einer in sich abgeschlossenen Schaffensphase zu betrachten, sondern müssen - damit ihre vollständige Bedeutung erfasst werden kann- in einer Reihe von Erfahrungen und Entwicklungen auf künstleri- erfasst werden kann - in einer Reihe von Erfahrungen und Entwicklungen auf künstlerischer wie auch privater Ebene gesehen werden. Wichtige Einflussfaktoren für Werke de Saint Phalles waren die schwierige Beziehung zu dem Vater, die weitestgehend passive Rolle ihrer Mutter und die un- terstützende und motivierende Funktion ihres Partners und Künstlerkollegen Jean Tinguely. Es ist jedoch zu beachten, dass de Saint Phalle selbst ihre Motivation im Nachhinein begründet. Ihre Biographie gewinnt erst aus der Retrospektive an Plausibilität. Leben und Werk der Niki de Saint Phalle stellen deshalb keine Kontinuität dar und bilden zusammen ein geschlossenes Gan- zes, sondern sind von Brüchen und Diskontinuitäten gekennzeichnet.132 Einen direkten, linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Leben und Werk herzustellen, erweist sich vor die- sem Hintergrund als problematisch. Es wäre ferner unangebracht, eine ausschließlich therapeuti- sche Funktion im künstlerischen Schaffen de Saint Phalles zu sehen. Damit würde man dem Oeuv- re de Saint Phalles, die ihre vielfältigen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten lebenslang unter Beweis stellt, nicht gerecht werden.

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass persönliche Erfahrungen und Erlebnisse für Niki de Saint Phalle inspirierend, motivierend und innovierend waren.

Dies wurde in ausführlicherer Form am Beispiel zweier biografisch interessanter Personen dargelegt. Die herausgearbeitete Wirkung der beiden Männer auf das künstlerische Schaffen der Künstlerin unterstreicht die Annahme, dass die Betrachtung der Biografie zum Verständnis der Kunst von Niki de Saint Phalles unumgänglich ist.

6 Quellenverzeichnis

Ausstellungskataloge:

(geordnet nach Erscheinungsjahr)

1980a: Niki de Saint Phalle. Retrospektive 1954-80.

Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg, 19. Oktober - 30. November 1980

Neue Galerie der Stadt Linz, 11. Dezember 1980 - 31. Januar 1981

Kunsthalle Nürnberg, 20. Februar - 19. April 1981

Haus am Waldsee Berlin, 01. Mai - 14. Juni 1981

Kunstmuseum Hannover, 28. Juni - 23. August 1981

Texte von Hesse, Hulten u. a., Oberhausen

1980b: Niki de Saint Phalle.

Centre Georges Pompidou, 02. Juli - 01. September 1980

Hrsg.: Hulten, Pontus; Mock, Jean-Yves.

1983 : Jean Tinguely. Niki de Saint Phalle. Strawinsky-Brunnen Paris.

Hrsg.: Bezzola, Leonardo. Benteli Verlag Bern

1987: Niki de Saint Phalle. Bilder - Figuren - Phantastische Gärten.

Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, 26. März - 21. Juni 1987

Hrsg.: Schulz-Hoffmann, Carla. Prestel Verlag München

1992: Niki de Saint Phalle.

Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn, 19. Juni - 2. November 1992

Konzeption der Ausstellung und des Kataloges: Hulten, Pontus Hatje, Bonn

1993: Niki de Saint Phalle. Tableaux é clat é s.

Editions de la Différence Paris

1996: Museum Jean Tinguely Basel: Die Sammlung

Katalog zur Eröffnung des Museums

Hrsg. Wyss, Monika

Benteli Verlag Bern, 1996

1997a: Niki de Saint Phalle. Il Giardino dei Tarocchi.

Orbetello, Polveriera Guzman, 12. Juli - 10. September 1997

Hrsg.: Mozzanti, Anna

Edizioni Charta, Milano

1997b: Niki de Saint Phalle. Dear diary.

Hrsg.: Kunstverein Wolfsburg

1997c: Sensation. Young British Artists from the Saatchi Collection.

Royal Academy of Arts London, 18. September - 28. Dezember 1997

1998: Niki de Saint Phalle. The Tarot Garden.

Orbetello, Polveriera Guzman, 12. Juli - 10. September 1997

Hrsg.: Mozzanti, Anna

Edizioni Charta, Milano

1999: Niki de Saint Phalle. Liebe, Protest, Phantasie.

Ulmer Museum, 26. September - 21. November 1999

Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen am Rhein, 26. März - 14. Mai 2000

Hrsg.: Reinhardt, Brigitte

Bonn

2000: L ´ esprit de Tinguely.

Kunstmuseum Wolfsburg 20. Mai - 03. Oktober 2000

Museum Jean Tinguely, Basel, 15. November 2000 - 22. April 2001

Hrsg.: van Tuyl, Gijs

Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit

2001a: Niki de Saint Phalle. La F ê te.

Sprengel Museum Hannover, 19. November 2000 - 25. Februar 2001

Hrsg.: Krempel, Ulrich

Hatje-Cantz, Ostfildern-Ruit

2001b: Niki de Saint Phalle.

Museum Jean Tinguely, Basel, 26. September 2001 - 17. Februar 2002

Hrsg.: Krempel, Ulrich

Hatje-Cantz, Ostfildern-Ruit

2002a: Von Niki Mathews zu Niki de Saint Phalle. Gemälde der 1950er Jahre.

Sprengel Museum Hannover, 11. Dezember 2002 - 27. April 2003

Hrsg.: Krempel, Ulrich

Sprengel Museum Hannover

2002b: Niki de Saint Phalle. La donation.

Musée D´Art Moderne et D´Art Contemporain, Nizza, 17. März - 27. Oktober 2002

Hrsg.: Naef, Georges

Naef-Kister SA, Genf

2002c: Luginbühl, Bernhard und Ursi. mont vully 2002 SIGNAL luginbühl & co.

B. & U. Luginbühl, Mötschwil

2003a: Die Geburt der Nanas. Die Kunst der Niki de Saint Phalle in den 1960er Jahren. Sprengel Museum Hannover

Hrsg.: Krempel, Ulrich

2003b: Niki de Saint Phalle. La Grotte.

Hrsg.: Landeshauptstadt Hannover, Fachbereich Umwelt und Stadtgrün; Sprengel Museum Hannover

Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit

Primärliteratur:

(geordnet nach Erscheinungsjahr)

De Saint Phalle, Niki (1980) In: Hesse, Hulten u. a.: Niki de Saint Phalle. Retrospektive 1954-80. Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg, 1980.

1987a: De Saint Phalle, Niki:

Aids. You can ´ t catch it holding hands. Verlag C. J. Bucher, München und Luzern.

1987b: De Saint Phalle, Niki:

Aids. Vom Händchenhalten kriegt man ´ s nicht. Verlag C. J. Bucher, München und Luzern.

1992: De Saint Phalle, Niki: Briefe. In: Hulten, Pontus: Niki de Saint Phalle. Hatje Bonn, 1992.

1993a: De Saint Phalle, Niki:

tableaux é clat é s. Editions de la Différence, Paris.

1993b: De Saint Phalle, Niki; Condominas, Laurent:

m é chant m é chant et les jouets perdus. Editions de la Différence, Paris.

1994 : De Saint Phalle, Niki:

Mon secret. Editions de la Différence, Paris.

1995: De Saint Phalle, Niki:

Mein Geheimnis. Dt. Erstübersetzung von Asma Semler. In: Brigitte, Heft 5/1995 , Seiten 112-116.

1998: De Saint Phalle, Niki

Aventure Suisse. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage . Benteli Verlag, Bern.

1999a: De Saint Phalle, Niki; Pietromarchi, Giulio (Photographien):

Der Tarotgarten. Dt. Übersetzung von H. von Gemmingen . Benteli Verlag, Bern.

1999b: De Saint Phalle, Niki: Nikiüber Niki. In: Reinhardt, Brigitte (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Liebe, Protest, Phantasie. Ulmer Museum Bonn, 1999.

2000: De Saint Phalle, Niki:

Traces. Remembering 1930 - 1949. Sylvio Acatos Verlag, Lausanne; 2000

Sekundärliteratur

(geordnet nach Autor)

Barkow, Nick: Das Lied vom traurigen Sonntag. ` Verlag Hamburg, 1999.

Becker, Monika: Starke Weiblichkeit entfesseln. Niki de Saint Phalle. Econ & List Taschenbuchverlag Verlag München, 1999.

Bode, Peter M.: Niki de Saint Phalle. Triumph der drallen Nanas. In: ART, 10/1999. Gruner + Jahr AG&CO Hamburg, 1999.

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Dokumentarfilm:

Jürgen Möller und Philip Mathews (1987): Niki de Saint Phalle. Ein Portrait mit einem Rahmen versehen. Reportage, gezeigt am 03. 11. 87 in der Fernsehsendung ARD Kulturwelt.

Peter Schamoni (Drehbuch und Regie) (1995): Niki de Saint Phalle: Wer ist das Monster - Du oder Ich?.

Bildnachweis

Abb. 1) Walther, Ingo F.: Vincent van Gogh. Bebedikt Taschen Verlag Köln, 1986. S. 59.

Abb. 2) Sensation. Young british artists from the Saatchi Collection. Royal Academy of Art London, 1997. S. 79.

Abb. 3) Loewer, Catherine: Niki de Saint Phalle. Monographie. Sylvio Acatos, 2001. S. 71.

Abb. 4) Loewer, Catherine: Niki de Saint Phalle. Monographie. Sylvio Acatos, 2001. S. 106f.

Abb. 5) Loewer, Catherine: Niki de Saint Phalle. Monographie. Sylvio Acatos, 2001. S. 120

Abb. 6) Loewer, Catherine: Niki de Saint Phalle. Monographie. Sylvio Acatos, 2001. S. 209

Abb. 7) Schulz-Hoffmann, Carla (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Bilder-Figuren-Phantastische Gärten. Prestel-Verlag, 1987. S. 16.

Abb. 8) Krempel, Ulrich (Hrsg.): Niki de Saint Phalle, 2001. S. 141.

Abb. 9) Schulz-Hoffmann, Carla (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Bilder-Figuren-Phantastische Gärten. Prestel-Verlag, 1987. S. 74.

Abb. 10) Reinhard, Brigitte (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Liebe, Protest, Phantasie.

Ulmer Museum 1999. S. 44.

Abb. 11) Sprengel Museum Hannover: Niki de Saint Phalle. La Grotte. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit. S. 20.

Abb. 12) Muthesius, Angelika; Riemschneider, Burkhard (Hrsg.): Erotik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Benedikt Taschen Verlag, Köln, 1998. S. 62.

Abb. 13) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 64.

Abb. 14) De Saint Phalle, Niki: Aventure Suisse. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage . Benteli Verlag Bern, 1998. S. 72.

Abb. 15) De Saint Phalle, Niki: Aventure Suisse. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage . Benteli Verlag Bern, 1998. S. 10.

Abb. 16) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 239.

Abb. 17) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 242.

Abb. 18) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 97.

Abb. 19) Reinhard, Brigitte (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Liebe, Protest, Phantasie. Ulmer Museum 1999. S. 140.

Abb. 20) Reinhard, Brigitte (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Liebe, Protest, Phantasie. Ulmer Museum 1999. S. 138.

Abb. 21) Reinhard, Brigitte (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Liebe, Protest, Phantasie. Ulmer Museum 1999. S. 140.

Abb. 22) Imwinkelried, Rita: Ein magischer Garten der Mutter-Göttin. in: ART, Ausgabe 6/1993. Gruner + Jahr Verlag, Hamburg, 1993. S. 41.

Abb. 23) Philippe Zwick Eby 2004

Abb. 24) Schulz-Hoffmann, Carla (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Bilder-Figuren-Phantastische Gärten. Prestel-Verlag, 1987. S. 22.

Abb. 25) Urtis, Antonio, Postkarte ohne Angabe

Abb. 26) Philippe Zwick Eby 2004

Abb. 27) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 254.

Abb. 28) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 129.

Abb. 29) De Saint Phalle, Niki: Aids. You can ´ t catch it holding hands. Bucher, München und Luzern. 1986. Titel

Abb. 30) Reinhard, Brigitte (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Liebe, Protest, Phantasie. Ulmer Museum 1999. S. 64.

Abb. 31) De Saint Phalle, Niki: tableaux é clat é s. Editions de la Difference Paris, 1993. S. 55.

Abb. 32) Kunstverein Wolfsburg (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Dear diary. Wolfburg, 1997. S. 47.

Abb. 33) o.A.

Abb. 34) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 20.

Abb. 35) Loewer, Catherine: Niki de Saint Phalle. Monographie. Sylvio Acatos, 2001. S. 248.

Abb. 36) Hulten. Pontus (Hrsg.): Niki de Saint Phalle. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1992. S. 97.

Abb. 37) Krempel, Ulrich (Hrsg.): Niki de Saint Phalle, 2001. S. 208.

Abb. 38) De Saint Phalle, Niki: Aventure Suisse. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage . Benteli Verlag Bern, 1998. S. 72.

Abb. 39) De Saint Phalle, Niki: tableaux é clat é s. Editions de la Difference Paris, 1993. S. 10.

[...]


1 Tracey Emin: Everyone I Have Ever Slept With 1963-1995, 1995

2 Richard Billingham: Untitled, 1993-95

3 Ron Mueck: Dead Dad, 1996-97

4 So geschehen z.B. bei der Arbeit Deer Hirsch, 1995

5 „Niki und Jean haben sich zu keinem Zeitpunkt verkauft, indem sie sich dem Geschmack eines Publikums angepasst haben. Sie nutzten die Phasen ihrer erfolgreichen Kunst zur Finanzierung der von ihnen als notwendig erachteten Konzepte“ (Becker 1999, 114)

6 „Das ist überhaupt die größte Bildhauerin, die wir haben. (…) Sie hat eine Monumentalität entwickelt, die menschennah bezogen ist. Also menschlich nah bleibt, aber rücksichtslos groß.“ (Jean Tinguely in: Möller/Mathews 1987)

7 Die Ausstellung in der Galerie Iolas in Paris 1965 mit dem Titel Les nanas au pouvoir nimmt bereits Gedanken der zwei Jahre später einsetzenden Frauenbewegung vorweg (vgl. Pfleger 1997, 10).

8 So merkt de Saint Phalles Arzt und Freund Silvio Barandun an: „Ich kenne keinen Künstler bzw. Künstlerin der Gegenwart, der sich so bereitwillig und so uneigennützig in den Dienst der Benachteiligten gestellt hat“ (de Saint Phalle 1998, 69).

9 „So ist die Anteilnahme der Niki de Saint Phalle an der Welt immer eine persönliche wie politische gewesen: Und aus solcher doppelter Anteilnahme erklären sich auch die vielfältigen, privaten wie objektiven Äußerungen über Politik und Soziales“ (Krempel 2001, 64)

10 De Saint Phalle erklärt ihre Sympathien für Menschen mit schwarzer Hautfarbe („Black is beautiful“) aus ihrer Kindheit: „Als ich zehn Jahre alt war, hatten wir eine schwarze Köchin. Sie war dick, schön und warm. Sie backte mir Kuchen. Ich fühlte mich in der Küche bei ihr geborgen. Ich liebte sie.“ (de Saint Phalle 1980, 37) Zu vermuten ist, dass die schwarze Köchin de Saint Phalle ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme gab, das jene bei ihrer Mutter vermisste.

11 De Saint Phalle über ihre Aufklärungsarbeit zur Immunschwächekrankheit AIDS: „Wenn wir vor etwas Angst haben, dann suchen wir oft nach einem Feind. Wir dürfen nicht wieder wie sonst gegen Sexualität als solche, gegen Homosexuelle, Schwarze, Drogenabhängige oder die Juden losgehen. Mäßigung ist jetzt angesagt. Wir dürfen nicht wieder den Fanatikern das Wort überlassen. (de Saint Phalle 1987, 130)

12 So fand in Nürnberg vom 21. Oktober 2004 bis 9. Januar 2005 eine Ausstellung früher Werke und Druckgrafik de Saint Phalles aus der Sammlung des Mus é e d ´ Art Moderne et d ´ Art Contemporain in Nizza statt.

13 „Die verschiedensten Ausdrucksweisen eines unverbildeten, naiven Formenvokabulars treten zutage: Elemente prähistorischer Malerei, exotischer oder archaischer Kunst fließen ebenso wie die Sprache der Comic Strips und die Volkskunst in die Bildwelt von Niki de Saint Phalle ein.“ (Pfleger 1997, 8)

14 „Im Vordergrund dieses Kunstschaffens steht ein elementares Ausdrucksbedürfnis, das sich der unterschiedlichsten Medien wie auch Materialien bedient.“ (Pfleger 1997, 10)

15 Aus Gründen der Lesbarkeit tauchen Zusatzinformationen, die die folgenden Ausführungen zwar ergänzen, aber zum Verständnis der Argumentation nicht zwingend sind, in Fußnoten auf. Der Lesbarkeit ist ebenfalls geschuldet, dass verwendete Zitate nach der neuen Rechtschreibung wiedergegeben werden.

16 1970 untersuchen H. J. Eysenck und Maureen Castle das ästhetische Erleben von 777 Kunststudenten und 356 Studenten anderer Fächer. Die Studenten sollen verschiedenste abstrakte Formen - Polygone - nach dem Kriterium aesthetic pleasingness beurteilen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich signifikant: Die Kunststudenten bevorzugen die einfacheren, klaren Polygone, während die Kontrollgruppe komplexere, gegenständlichere Polygone bevorzugt. Eine Untersuchung von Barron und Welsh (1952) unterstützt dieses Ergebnis. J. C. Rosen stellt sich daraufhin die Frage, ob die unterschiedlichen Präferenzen als Begabung und damit unabhängig von einem Kunststudium zu werten seien oder ob man diese als Trainingseffekt zu betrachten habe. Er untersucht deswegen Studienanfänger, Kunststudenten im fortgeschrittenen Stadium und ausgebildete Kunstlehrer auf ihre „künstlerische Wahrnehmung“. Tatsächlich ergeben sich für die drei Künstlergruppen kaum nennenswerte Unterschiede, wohl aber für die Testgruppe, die sich signifikant unterscheidet.

17 1979 untersuchen Götz und Götz 147 Künstler, 110 Künstlerinnen und 300 Nichtkünstler auf Neurotizismus (labil-stabil) und Extraversion (extravertiert-introvertiert).

18 „Vielleicht ist dies das Kennzeichen eines Künstlers. (…) Antennen, die normalerweise eingezogen sind…“ (de Saint Phalle 2000, 121)

19 In den 70er Jahren werden an der University of Iowa von der Psychiaterin Nancy Andreasen systematische Untersuchungen zum Verhältnis von mentalen Störungen und kreativem Potenzial vorgenommen. Eine Gruppe von dreißig Schriftstellern wird anhand von Fragebögen auf psychische Erkrankungen untersucht. Das Ergebnis ist eindeutig: 80% der Autoren geben an, regelmäßig unter Stimmungsstörungen zu leiden, während dies in der Kontrollgruppe nur bei 30% der Personen der Fall ist. 43% der Künstler haben außerdem die diagnostischen Kriterien manisch-depressiver Erkrankungen erfüllt; in der Vergleichsgruppe ist dies nur bei 10% der Personen der Fall. 1983 untersucht die Psychologin Kay Redfield Jamison 47 britische Maler und Dichter auf „mood disorders“. Diese Stimmungsstörungen sind durch depressive Phasen gekennzeichnet, welche „mindestens zwei bis vier Wochen andauern und das tägliche Leben des Patienten massiv beeinträchtigen“ (Kraft 2004, 47). Dabei unterscheidet man zwischen unipolaren Störungen, welche ausschließlich die depressiven Phasen beinhalten, und den bipolaren Störungen, welche für ein Schwanken zwischen depressiven und euphorischen Phasen stehen. Jamison fand heraus, dass die Künstler dreißig Mal so oft unter Stimmungsschwankungen litten wie die Kontrollgruppe.

20 Eine Studie von Shelley Carson der Harvard University und Jordan Peterson der University of Toronto ermittelt 2003 die sogenannte latente Inhibition von Studenten mit „außergewöhnlichen schöpferischen Leistungen“ und einer Kontrollgruppe. Dieser Begriff bezeichnet den kognitiven Mechanismus, der aus den stetig auf das Gehirn einströmenden Daten die erfahrungsgemäß unwichtigen herausfiltert. Bei den „kreativen Studenten“ ist dieser Mechanismus nach den Ergebnissen der Studie wesentlich weniger ausgeprägt. „Auf dem Weg zum Geniestreich hilft diese Eigenschaft. Kreative Menschen erhalten wegen der geringen latenten Inhibition einfach mehr Eindrücke aus der Umwelt. Diese Zusatzinformationen nutzen sie offenbar, um originelle, innovative Gedanken zu entwickeln.“ (Kraft 2004, 51)

21 Freud vertritt die Meinung, dass der Künstler unbewusste Triebe und Wünsche („Es“), welche vom „Ich“ nicht zugelassen werden, durch sein Kunstwerk in einer Form zum Ausdruck bringt, die den sozialen Normen, widergespiegelt durch das „Über-Ich“, nicht entgegenstehen.

22 Es ist selbstverständlich, dass die Übergänge dieser Phasen fließend sind. Die Einteilung in verschiedene Schaffensphasen dient hauptsächlich der Übersichtlichkeit.

23 2000 erscheint die von der Künstlerin verfasste, streckenweise handgeschriebene und aufwändig mit Photos und Zeichnungen illustrierte Biographie Traces - remembering 1930 -1949.

24 Die Künstlerin schreibt eine Vielzahl von fiktiven Briefen, die niemals abgeschickt werden. Die Adressaten sind der Künstlerin sehr eng verbundene Personen: Ein Brief ist an de Saint Phalles langjährigen Lebensgefährten und Künstlerkollegen Jean Tinguely gerichtet (Cher Jean, 1990); weitere Briefe an den Direktor des Stockholmer Moderna Museet, Pontus Hulten (Dear Pontus, 1991), an ihre Freundinnen Clarice (Dear Clarice, 1966), Marina (Ch é re Marina) und Marella (Dearest Marella, 1990) und an ihre Mutter (Dear mother).

25 Die Briefe sind von Anfang an für die Veröffentlichung bestimmt und können somit auch unter Berücksichtigung ihrer Wirkung auf die Öf- fentlichkeit verfasst worden sein. Es ist wahrscheinlich, dass de Saint Phalle ihre Rolle als Person in der Öffentlichkeit bewusst wahrnahm und auch Karriere fördernd einsetzte. Andererseits bemerkt de Saint Phalle im Vorwort ihrer Autobiographie „Traces. Remembering 1930- 1949“, deren zweiter Teil nie erscheint, dass sie sich bei der Arbeit an dem Buch auch an der Erinnerung ihrer beiden Brüder John und Ri- chard und ihrem Cousin Jacques orientierte und dabei feststellte: „Sowohl ihre Wahrnehmungen als auch ihre Interpretationen waren ganz anders als meine. Aus unseren Gesprächen haben sich ganz neue Ansichten ergeben. WIRKLICHKEIT? WAHRHEIT? WAHRNEHMUNG?“ (de Saint Phalle 2000, 5).

26 Erstaunlicher Weise legen beide in deutscher Sprache erschienenen Biographien (Becker 1999; Schröder 2000) Wert auf die Rolle der Künstlerin als so genannte „emanzipierte“ Frau, eine Rollenzuweisung, welche die Künstlerin zeit ihres Lebens zu vermeiden versuchte. „Ein Kampf der Geschlechter oder eine strenge Trennung des typisch Männlichen und Weiblichen strebte die Künstlerin (…) niemals an, vielmehr hat sie in ihren Arbeiten stets versucht, beide Seiten zu versöhnen.“ (Pfleger 1997, 10)

27 Hierbei handelt es sich um den Untertitel der von de Saint Phalle verfassten Autobiographie „Traces“ (de Saint Phalle 2000).

28 De Saint Phalles Bruder John ist zwei Jahre älter, ihre Schwester Claire sechs Jahre, Elizabeth acht Jahre und Richard dreizehn Jahre jünger.

29 „Du warst so schön, Mutter, wir waren alle in dich verliebt, außer Vater, glaube ich.“ (de Saint Phalle 2000, 128)

30 “Brearley, eine progressive Schule, die mein Leben veränderte. Ich liebte Brearley, das ich während zwei Jahren besuchte, nachdem ich aus der Klosterschule ausgewiesen worden war. Brearley ermutigte mich zu schreiben und zu schauspielern. Mein erstes Theaterstück handelte von den Hexen von Endor. Dort rezitierten wir auch Shakespeare. Ich weiß noch, dass ich im Agamemnon von Euripides die Königin Klytämnestra spielte. Auf dieser Schule habe ich auch meine ersten Gedichte verfasst“ (de Saint Phalle 2000, 64)

„Ich besuchte sehr gerne die öffentliche Schule (welche Erleichterung nach dem Kloster!). Es hatte dort Jungs und ich war schon verrückt nach ihnen.“ (de Saint Phalle 2000, 135)

31 “Ich war 17 und ging tanzen. Dabei traf ich einen Mann, der mir von seiner Modeagentur erzählte und mich fragte, ob ich interessiert wäre. Ich sagte ja. Er war nett, er gefiel mir und es sah nach Vergnügen aus, denn ich war narzisstisch, eitel und ich wollte gerne Geld verdienen. So begann ich eine Karriere als Fotomodell, die andauerte, bis ich 25 war. (…) Es gefiel mir und gefiel mir doch nicht. (…) Es war eine schnelle und einfache Art Geld zu verdienen. Ich nahm es nie sehr ernst, und ich wusste, dass ich es nicht sehr lange machen würde. Ich wusste immer noch nicht, was ich machen wollte. (de Saint Phalle 2000, 157)

32 Harry Mathews wird 1930 in New York geboren. Er wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Mit 18 Jahren lernt er Niki de Saint Phalle kennen und heiratet sie 1950. Sie ziehen nach Cambridge in Massachusetts, wo Mathews an der Harvard University Musik studiert. Nach dem Umzug nach Paris 1951 beginnt er eine Dirigentenausbildung und schlägt dann eine erfolgreiche Laufbahn als Schriftsteller ein. 1956 werden erste Gedichte veröffentlicht. 1962, ein Jahr nach der Scheidung von Niki de Saint Phalle, erscheint Mathews´ erster Roman „The Conversions“. Es folgen fünf weitere Romane, ein sechster ist in Arbeit. 1978 nimmt Mathews eine Lehrtätigkeit in französischer Literatur, vergleichender Literaturwissenschaft und kreativem Schreiben in den USA auf. Er ist heute mit der französischen Schriftstellerin Marie Chaix verheiratet.

33 Zum besseren Verständnis wird im Folgenden nur der Geburtsname der Künstlerin - de Saint Phalle - erwähnt.

34 Die Werke der frühen 50er Jahre sind meist verschollen oder die Besitzer nicht mehr aufzufinden. Das erste in der Monografie (Loewer 2001) aufgeführte Werk ist das Ölbild Fruits et vin, das um 1952-54 entstand. Weitere Arbeiten dieser Zeit sind Asseyez-vous madame, ebenfalls um 1952-54, La f ê te, um 1953-55 und Family Portrait, das um 1954/55 entsteht. De Saint Phalle über ihre ersten Arbeiten: „Meine frühen Bilder enthalten viele Ideen, an denen ich in meinem späteren Leben weitergearbeitet habe.“ (de Saint Phalle 1987, 50)

35 Die Ursachen des Klinikaufenthaltes und seine Bedeutung für de Saint Phalles Werk werden in Kapitel 4. ausführlich behandelt.

36 „Zum ersten Mal sah ich Werke von Jackson Pollock, Willem de Kooning und anderen. Ich war total überwältigt. Im Vergleich dazu erschie- nen mir meine Bilder auf einmal sehr klein. (…) Ich begann Reliefs imaginärer Landschaften mit Objekten herzustellen, ich hörte auf, in Öl zu malen und benutzte Guache und Lackfarbe. Ich kaufte in Geschäften Spielzeug und gebrauchte Gegenstände auf dem Flohmarkt - haupt- sächlich Dinge, die mit Gewalt zu tun hatten wie Beile, Messer und Pistolen. Es machte Spaß und war aufregend. Ich liebte diese neue direk- te Art, mich selbst auszudrücken, anstatt monatelang langsam und geduldig an meinen Ölbildern zu malen.“ (de Saint Phalle 1992, 155)

37 „Es ist ein sehr lustiger Name, besonders in anderen Sprachen. So wurde in Deutschland behauptet, ich hätte mir einen pornografischen Künstlernamen ausgesucht, da die Leute dachten, dass ´Saint Phalle´ für ´Heiliger Phallus´ steht.In Frankreich ist das ein alter aristokratischer Name. Meine Vorfahren haben an den Kreuzzügen teilgenommen. Meine Familie war etwas schockiert darüber, dass man sich vorstellen könne, es handele sich um einen pornografischen Namen. Aber das Missverständnis ist erklärbar: Ich habe eben sehr provozierende, erotische Dinge gemacht.“ (de Saint Phalle in: Möller/Mathews 1987)

38 „Ich fing an, meine Aggressionen in meine Arbeit einfliesen zu lassen. Ich schuf Objekte von Tod und Verwüstung. Eines enthielt die Pistole, die ich gekauft hatte, um meinen Liebhaber symbolisch zu Töten. Der Mond in diesen Bildern war immer schwarz und trug Spuren von Gewalt. ja, ich war dabei, in die Hölle hinab zu steigen.“ (de Saint Phalle 1992, 157)

39 Auch die Hintergründe zu dieser Idee werden in Kapitel 4 genauer untersucht.

40 Auch der Schweizer Künstler Bernhard Luginbühl stellt aus einfachen Holzleisten, inzwischen unter Mithilfe seiner Söhne, gigantische, mit sich drehenden Rädern versehene und mit aufwändigem Höhenfeuerwerk bestückte Skulpturen her, die daraufhin feierlich abgebrannt wer- den. Luginbühl über die Verbrennung der Skulptur „Signal“ am 27. September 2002 auf dem Mont Vully in der Schweiz: „(E)in Stein fiel mir vom Herzen, als die Figur, das heiße Monster, in sich zusammen fiel und zum glühenden Teppich wurde.“ (Luginbühl 2002, 305)

41 Die Motive für diese Schiessaktionen gegen tradierte christliche Symbole und Bilder reichen bis in die Kindheit der Künstlerin: „Die ersten Jahre meiner Schulzeit verbrachte ich im Kloster zum Heiligen Herzen in New York City. Als ich noch ein Kind war, entschied ich mich, eine Heilige zu werden. Mit 15 Jahren stellte ich die ersten Fragen: Warum führten Menschen, die Gott liebten, Kriege im Namen der Religionen? Warum kleideten sich Nonnen schwarz? Mochte Gott vielleicht keine Farben? Warum waren sie gegen Sex? Gegen das Leben? War das wirklich Gottes Botschaft? Ich habe niemals auf Gott geschossen. Ich schoss auf die Kirche. Ich verherrlichte die Kathedrale.“ (de Saint Phalle 1987, 16-17)

42 „Ich fühlte mich wie ein Drogenabhängiger. Nach jedem Schiessen fühlte ich mich vollkommen stoned. Ich war total süchtig nach diesem makabren und doch freudigen Ritual. Ich kam an den Punkt, wo ich die Kontrolle verlor. Mein Herz klopfte während des Schiessens. Ich zitterte vor und während der ganzen Performance. Ich war wie in Ekstase. Ich verliere nicht gerne die Kontrolle. Das macht mir Angst, und ich hasse den Gedanken, von etwas abhängig zu sein. (de Saint Phalle, 164)

43 Auf die Bedeutung der Biographie für die Werkphase der tirs werde ich in Kapitel 4 detaillierter eingehen.

44 „Ich fing an, nach meiner Identität als Frau zu suchen und die verschiedenen Rollen zu wiederholen, die ich gespielt habe - die wir Frauen spielen.“ (de Saint Phalle 1980, 21)

45 „Die Braut ist schön. Sie ist so gewaltig wie eine Göttin. Sie trägt ein wunderbares Kleid. Sieh genauer hin, sie ist verschreckt, sie ist traurig. Kleine Babys krabbeln über ihr Kleid. Wird sie dieser Rolle entrinnen können?“ (de Saint Phalle 1980, 29)

46 De Saint Phalle stellt gebärende Frauen u. a. in Birth (Study for King Kong) (1963), Ghea (Accouchment blanc) (1964) sowie in Accouchement rose (1964) dar; Huren werden z. B. in Crucifixion (ca. 1965) dargestellt. Neben Spielfiguren aller Art benutzt de Saint Phalle nun ungewöhnlich farbenfrohe Stoffreste, etwa, um Unterwäsche oder Strapse anzudeuten. Diese sind teilweise mit weißen Spitzen eingefasst. Dadurch wirkt das Muster wie ein Mosaik (ähnlich wie bei Gaudí)). Weitere Reliefmotive sind Monster (z. B. Dragon de Berlin, 1963, ein shooting painting, das für eine Fernsehaufzeichnung gefertigt wird. Während der Performance kriechen weiße Mäuse aus der Skulptur, welche daraufhin auch beschossen wird und schwarze Farbe „blutet“), Köpfe (z. B. Portrait de Eva Aeppli, ca. 1964; Copernicus, 1963; Docteur Mabuse, 1964) und Herzen (z. B. Pink Heart, 1964; Couronne mortuaire, 1964).

47 „Diese überwiegend aber nicht immer weißen Bilder stellen eine neue Sicht der Welt der Erwachsenen dar. Ich benutze all diese Spielsachen, weil sich in den Spielsachen die Welt wieder spiegelt. Pistolen, Babys, Soldaten, Schmetterlinge, Blumen und Spinnen. Aus meiner Kinderwelt schaffe ich ein neues Bild. Archimboldo hat mich (…) sehr beeinflusst.“ (de Saint Phalle in: Möller/Mathews 1987)

48 „Les Nanas au pouvoir“ ist der Titel der ersten Retrospektive de Saint Phalles vom 26. August bis 15. Oktober 1967 in Amsterdam.

49 „Im französischen Sprachgebrauch ist der Begriff der Nana einer, der viele Aspekte hat. Die femme fatale wird mit ihr ebenso beschrieben wie die Vergänglichkeit und die versucherische Qualität der Frau. Edouard Manets berühmtes Bild Nana von 1877 stellt die Figur einer Kokotte in sehr modernem Blick in das Blickfeld des Betrachters. Das Bild sorgte für einen sensationellen Skandal, ebenso wie Emile Zolas gleichnamiger Roman. Seit dieser Zeit ist der Begriff der Nana als eine sehr schillernde, vielfältig deutbare Bezeichnung für eine moderne, selbstbewusste, erotische und gleichzeitig ein wenig verruchte Frau im französischen Sprachgebrauch.“ (Krempel 2003)

50 „Meine ersten Nanas waren aus Wolle und Stoff. Die Farben waren weich. Sie waren noch nicht sehr groß, doch hatten die meisten von ihnen viel Bewegung in ihren Posen. Einige rannten, andere standen auf dem Kopf. Einige standen als Schwangere da. Ale schienen sich zu amüsieren. Als sie zum ersten Mal in der Öffentlichkeit gezeigt wurden, verursachten sie großes Aufsehen.“ (de Saint Phalle 1980, 34)

51 „Böse Zungen behaupteten, sie sei die größte Hure der Welt, weil sie in drei Monaten 100 000 Besucher hatte.“ (de Saint Phalle 1992, 169)

52 Der überdimensionale, liegende Frauenkörper stellt ein beliebtes Motiv in der bildenden Kunst dar. Beispielsweise zeigt Gustave Courbet in seinem Gemälde Der Ursprung der Welt (1866) die Geschlechtsteile einer auf dem Rücken liegenden Frau mit weit gespreizten Beinen aus demselben Blickwinkel, wie der Besucher de Saint Phalles Skulptur hon wahrnimmt, wenn er den Raum betritt. Das Motiv wiederholt sich bei der sitzenden Studentin von Gerhard Richter (1967), einer Bleistiftzeichnung Pablo Picassos (Ohne Titel, 1971) und schließlich bei André Massons Tuschezeichnung Kaskade von 1938. In letzterem Werk wird der Körper der Frau als Landschaft inszeniert. Die Vagina ist als Grot- te dargestellt, in die ein Weg hineinführt und die somit - ähnlich de Saint Phalles’ hon - betreten werden kann. Masson fertigt ein Jahr später eine ähnliche Federzeichnung mit dem Titel Erotisches Land. Das Bild der durch ihre Vagina betretbaren Frau findet sich auch in dem 2002 erschienenen Film Hable con ella (Sprich mit ihr) von Pedro Almodóvar wieder. Darin wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der durch einen ihm verabreichten Trank zum Winzling schrumpft und in einer Szene des Films durch die Vagina ganz im Körper seiner Frau ver- schwindet.

53 Im Inneren der Riesen- Nana befinden sich im Eingangsbereich ein Aquarium mit Goldfischen und ein versilbertes Schaufelrad einer Was- sermühle. Über Treppen gelangt man in den linken Arm, in dem in einem Kino mit zwölf Plätzen Greta Garbos erster Film Luffarpetter gezeigt wird. Im Kopf befindet sich ein bewegliches, hölzernes Hirn, in der linken Brust ein Planetarium. In der linken Hüfte ist die Skulptur Radio Stockholm zu sehen und im Knie gibt es eine „Bank der Verliebten“, die mit Musik beschallt wird, Ausblick auf die „Galerie der Fälschungen“

54 „Ein Schelm sei, wer Schlechtes dabei denkt.“

55 Das Theaterstück bedeutet für de Saint Phalle eine weitere „Abrechnung mit den Verhältnissen aus ihrer Kindheit. Sie ließ in ihrem Stück eine Wohltätigkeitsmagistratin auftreten, die die Züge ihrer eigenen Mutter Jeanne Jacqueline de Saint Phalle trug. Mit ihr verband Niki eine Hassliebe“ (Becker 1999, 100). De Saint Phalle sieht ihre Mutter als Gefangene einer ihr von der Gesellschaft auferlegten Rolle. Sie wirft ihr vor, „ihre Erziehung nur darauf ausgerichtet zu haben, sie zu einer gesellschaftsfähigen Dame zu machen und dabei ihre individuellen Wünsche und die Sehnsüchte nach Geborgenheit ignoriert zu haben“ (ebd., 101). Jeanne Jacqueline de Saint Phalle ist Verfechterin einer strengen Moral und der klassischen Rollenverteilung von Mann und Frau. De Saint Phalle, die für die Befreiung der Frau aus ebendiesen Verhältnissen kämpft, fühlt sich von ihrer Mutter missverstanden.

56 Auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihre Skulpturen für eine Aufstellung unter freiem Himmel zu produzieren, ist de Saint Phalle auf den neuen Werkstoff Polyester gestoßen. Das warme, leicht zu verarbeitende und äußerst stabile Material war für die Zwecke der Künstlerin per- fekt. Von nun an überzieht de Saint Phalle die Drahtgerüste mit in Kunstharzlack getränkten Stücken Glasfaserstoff. Bereits wenige Lagen des schnell härtenden Materials machen die Skulpturen wetterfest und stabil. Damit eröffnet sich der Künstlerin eine Vielzahl neuer Gestal- tungsmöglichkeiten. Doch die schwer giftigen Dämpfe des Polyesters schädigen ihre Lungen stark. „Als man 1942 die mechanischen Eigen- schaften von Polyesterharzen durch Verstärkung mit Glasfasern erheblich verbessert hatte, hatte man keine zivilen Verwendungsmöglichkei- ten im Sinn, sondern militärische. Die erste Verwendungsart bestand in der Herstellung von kugelförmigen Hüllen, so genannten Radomen, für Sender und Empfänger. Polyester war ein amerikanisches Produkt und es dauerte noch zehn Jahre, bis es einigermaßen bezahlbar wur- de. Als Duroplaste eroberte sich das Material dann in den sechziger Jahren den Weltmarkt. (…) Die Erfahrungen im direkten Umgang mit flüssigem Polyester befanden sich zu diesem Zeitpunkt immer noch im Stadium des Experiments.“ (Becker 1999, 96) De Saint Phalle arbeitet deswegen mit Atemschutzmaske und Sauerstoffgerät.

57 „Als Jean 1968 Micheline Gygax in seinem Haus in Freiburg unterbrachte, war ich eifersüchtig und unglücklich. Doch nach der ersten Phase der Eifersucht wurden Micheline und ich Komplizinnen.“ (de Saint Phalle 1998, 31)

58 Vgl. hierzu Kapitel 4.2 dieser Arbeit.

59 Dieser Begriff wird von Schulz-Hoffmann verwendet (vgl. Schulz-Hoffmann 1987, 105).

60 „Als ich die Skulpturen ’Verschlingende Mütter’ machte, fragte mich Mutter: ’Bin ich das, Liebling?’ Und ich sagte: ’Oh nein, Mutter, GANZ UND GAR NICHT.’ … Ich log. Dann ging mir auf, dass wir alle verschlingende Mütter sind. Mutter verschlang mich, und ich meinerseits glaubte zu wissen, was das Beste für meine Kinder war.“ (de Saint Phalle 2000, 127)

61 Diese Bezeichnung einer künstlerischen Werkphase de Saint Phalles stammt von Niemeyer-Langer (vgl Niemeyer-Langer 2003, 96).

62 Tinguely verarbeitet eine Unmenge an Stahl, die doppelte Menge als ursprünglich angenommen. Darauf angesprochen meint er, dass der Golem so massiv gebaut wurde, damit er einen Bombenangriff überstehen und dann als Schutzbunker dienen könne. (vgl. Becker 1999, 121f.)

63 Bereits im Mittelalter taucht in der jüdischen Literatur die Sage vom Golem auf, einem künstlichen Wesen aus Lehm von außergewöhnli- cher Größe und Kraft, das von Weisen und Magiern mittels Buchstabenmystik erschaffen wurde, und das als Retter der Juden in Zeiten der Verfolgung fungierte. Laut Barkow bedient sich der Rabbi Löw der fiktiven Figur des Golem, um gegen die Morde von Christen an Juden in Prag zu Zeiten Rudolfs II. (1552 - 1612) vorzugehen. Er habe sich in die Altneusynagoge zurückgezogen und von dort „diskret verbreiten lassen, von jetzt an werde ein Golem die Gemeinde schützen.“ (Barkow 1999, 231) Dieses Gerücht habe solche Angst in der Stadt verbreitet, dass der Rabbi am 23. Februar 1590 zum Kaiser gebeten wird. Dieser verspricht ihm und seiner jüdischen Gemeinde Frieden, wenn Löw den Golem wieder abschaffe. Der Frieden hält bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Prag im März 1939 (vgl. Barkow 1999)

64 „Ich bat Jean und Luginbühl, einen komischen Krieg zu inszenieren, der den Krieg im Allgemeinen ins Lächerliche ziehen sollte; mit Begeisterung ließen sie sich darauf ein. Ja, im Film ist das Bild der Männer, die die Welt zerstören, Teil des Initiationsprozesses eines Mädchens, das zur Frau wird. Gleichzeitig ist es ein böser Kommentar über die Gesellschaft.“ (de Saint Phalle 2000, 351)

65 „Ich wurde von der Idee verfolgt, am Fuß des Gletschers zu sterben, eins zu werden mit seiner ewigen Schönheit und mich mit den Sternen zu vereinen. Zum Glück hinderte mich eine Lungenentzündung daran, eine unwiderrufliche Dummheit zu begehen. Ich fand mich also aufs neue im Tiefenauspital wieder.“ (de Saint Phalle 1998, 40-42)

66 „Dieser Mann war schön, empfindsam, intelligent und ein Arbeitstier. (…) Ich lebte auf.“ (de Saint Phalle 1998, 41)

67 „Im Jahre 1955 reiste ich mit meinem Mann, Harry Mathews, nach Barcelona. Als ich dort den herrlichen Parc Güell von Gaudí besuchte, begegnete ich meinem Lehrmeister und zugleich meinem Schicksal. Ich erbebte. Ich wusste, dass auch ich eines Tages einen Vergnügungspark bauen würde. Eine kleine Paradiesecke. Eine Begegnung zwischen Mensch und Natur. 24 Jahre später begann das größte Abenteuer meines Lebens: der Tarot-Garten.“ (de Saint Phalle 1999, 2)

68 „Mein erster Gedanke war, einen Garten der Götter, einen mythologischen Garten anzulegen. Später, und das ist eine merkwürdige Ge- schichte, hatte ich angefangen, mich für Tarot zu interessieren. Das war so Anfang der 60er Jahre. Danach habe ich mir Literatur besorgt, habe für mich und meine Freunde in den Karten gelesen und habe mich zunehmend für die philosophische und visuelle Seite dieser Karten interessiert. Gegen Ende der 70er Jahre habe ich begonnen, Tarots als Skulpturen anzufertigen, eigentlich ohne zu überlegen. Sie waren in meinem Inneren und sie begannen herauszukommen. In dieser zeit begann ich mit konkreten Entwürfen. Im Grunde wurde alles spontan geboren. Es war ein großes Abenteuer. Ich habe mich dabei sehr verändert. Meinen Lebensstil, meine Mentalität. Und ich muss sagen, dass ich jetzt einen Traum auslebe. Und ich bin glücklich, dass das Schicksal mir erlaubt hat, diesen Traum zu verwirklichen.“ (de Saint Phalle in: Möller/Mathews 1987)

69 „Während dieser Zeit stand mir mein Mitarbeiter, Ricardo Menon, immer zur Seite; er war mein Koch, mein Chauffeur, Schweißer, Gärtner (er machte einfach alles!). Er hatte ein unglaubliches Gefühl dafür, wenn ich mich in Gefahr befand, und er bewachte mich mit der Eifersucht eines Tigers. Seine Liebe und Hingabe machten mir Mut, den Garten zu beenden. Ricardo war jung und gutaussehend. Er hatte genügend Charme, um den Erzengel Gabriel zu verführen. Er verließ Paris, das er liebte, um mit mir mitten in einem trockengelegten Sumpf zu arbeiten. Das war nicht leicht für ihn. NIE während der schrecklichen Jahre meiner Arthritis, als meine Freunde mich nicht mehr besuchten (wer will schon jemanden, den er bewundert, als Krüppel sehen?) VERLIESS ER MICH. Ricardo brachte oft seine Freunde mit. Er trug mich sogar auf seinen Armen zu meiner Badewanne, als ich nicht mehr gehen konnte.“ (de Saint Phalle, 180)

70 De Saint Phalle erklärt in einem in mehreren Sprachen aufgelegten Katalog zum Tarot-Garten (de Saint Phalle 1999) die Entstehung der Tarotkarten: „Die Ursprünge des Tarot oder Tarock sind von Geheimnissen umwoben. Offenbar übermittelten die Hohepriester der altägypti- schen Pharaonen ihr Geheimwissen mit Hilfe bildlicher Symbole, aus denen sich die 22 Arcana Maiora des Tarot entwickelt haben könnten. Wie manche glauben, nahm Moses diese Karten, die er von den ägyptischen Hohepriestern erhalten hatte, mit sich ins Gelobte Land.“ (de Saint Phalle 1999, 70) Sie fährt fort, indem sie die Bedeutung der Karten für ihr eigenes Leben darlegt: „Durch das Tarot fand ich zu einem größeren Verständnis der geistigen Welt und der Probleme des Lebens. Es schärfte meinen Blick für die Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen, um, von Prüfung zu Prüfung weiter schreitend, am Ende des Spiels den inneren Frieden und den Paradiesgarten zu finden.“ (ebd.)

71 „Ich konnte kaum laufen oder meine Hände bewegen, doch ich arbeitete unter Schmerzen weiter. Nichts konnte mich aufhalten. Ich war wie besessen. Ich fühlte, dass der Bau dieses Gartens mein Schicksal sein würde, wie groß auch die Schwierigkeiten wären.“ (de Saint Phalle 1999, 4)

72 „Ugo, der Briefträger, war der erste, der für mich gearbeitet hatte. Er begann mit dem Bau der Wege und diente sich allmählich hoch. So versah er die Eisenkonstruktionen mit dem Drahtgitter, auf das der Zement gespritzt wurde. Später fragte er mich, ob er die Spiegel- und Ke- ramikstückchen auf die Skulpturen setzen dürfe. Ugo wurde zu einem wahren Spiegelpoeten. Ständig befürchtete er, es gäbe keine Arbeit mehr für ihn. Ich legte das feierliche Versprechen ab, dass es jedes Jahr etwas Neues zu tun gäbe, und dass ich, sollte mir nichts mehr ein- fallen, eine Chinesische Mauer um den Garten errichtete, die zu vollenden mehrere Generationen in Anspruch nähme.“ (de Saint Phalle 1999, 71)

73 „In der Spielkarte der Kaiserin richtete ich meine Wohnung ein. Ich lebte und schlief im Inneren der Mutter. Die Kaiserin wurde zum Zentrum des Gartens. Sie war der Ort, wo ich mit der Arbeitsequipe zusammentraf, wo wir gemeinsam Kaffee tranken, wo ich aß und die Modelle für die anderen Karten schuf.“ (de Saint Phalle 1999, 4f.)

74 „Sie sollte die Töpferin des Gartens werden, in dessen Welt sie völlig eintauchte. Sie lebte im Garten und entsprach meiner Bitte, neuartige Dinge zu schaffen, die es zuvor in der Keramik noch nicht gegeben hatte. Ihre herrlichen Arbeiten sprechen für sich selbst. Sie hatte mehrere Assistentinnen, darunter Paola, Patrizia und Gemma. Manchmal arbeitete die ganze Equipe am Töpferofen. Nachdem uns Venera wieder verlasen hatte, führte die Equipe die Töpferarbeiten fort.“ (de Saint Phalle 1999, 72)

75 „Die völlige Hingabe an die Arbeit war die einzig mögliche Weise, de Garten zu bauen.“ (de Saint Phalle 1999, 5)

76 Diese Kopfskulptur mit dem weit geöffneten Mund erinnert stark an eine Steinskulptur in dem Garten von Bomarzo, von dem de Saint Phalle nach eigenen Worten deutlich beeinflusst war.

77 Die Kapelle erbaut de Saint Phalle als Dank an die Madonna, die sie um Heilung bittet, als Jean Tinguely schwer erkrankt ist: „During the creation of the Garden, he (Tinguely) underwent a serious operation, life-threatening, but recovered. And Niki dedicated to him the chapel she built in the garden.“ (Venera Finocchiaro in: Mazzanti 1998) Vgl. hierzu auch Niemeyer-Langer 2003, 124.

78 „Da klingelt das Telefon, wunderbarer Weise war da jemand, der wollte, dass ich ein Parfum mache, ein Flakon. Ein Sammler, der eine Parfumfabrik leitete, hatte die Idee gehabt. Heutzutage sind die Fläschchen so hässlich, warum sollte man nicht hübsche Formen nehmen wie um 1930, wo es so hübsche Fläschchen gab. ’Niki, wollen sie ein Parfum machen?’ - ’Ja fein, das ist eine gute Idee.’ Ich habe mir den besten Anwalt gesucht, um mein künstlerisches Urheberrecht schützen zu lassen, den Anwalt von Max Ernst und ich habe ihm gesagt: ’Mach mir einen sehr guten Vertrag, so kann ich meinen Garten finanzieren.’“ (de Saint Phalle in: Möller/Mathews 1987)

79 Z. B. Ragtime, La Clef du Sol oder La Grenouille (vgl. Bezzola (Hrsg.) 1983)

80 Z. B. L ´ Oiseau de Feu, Le Chapeau de Clown und L ´ El é phant (vgl. ebd.)

81 Barandun kann als Initiator des umfangreichen graphischen Werkes von de Saint Phalle gelten: „1968 war ich wegen einer Krankheit im Hospital. Mein Doktor und Freund bat mich, einen Siebdruck zugunsten der Krebsforschung zu erstellen. Dieser Siebdruck wurde mein erster Brief. Ich hatte so viel Spaß bei seiner Erstellung, dass ich eine ganze Serie von Briefen in Angriff nahm.“ (de Saint Phalle 1999, 128)

82 „Ricardo, der gesündeste Mann der Welt, wurde vor zwei Jahren von AIDS dahingerafft. In der Kapelle der Mäßigkeit, einer der Tarotkarten, steht auf dem Altar der Schwarzen Madonna ein Photo von Ricardo. Ich gehe oft zu ihm, ICH FÜHLE NOCH IMMER SEINEN SCHUTZ.“ (de Saint Phalle 1992, 180)

83 Diese Skulptur steht in mosaisierter Form auch im Tarot-Garten und beherbergt die Skinnie -Figur des Gehängten.

84 Es entstehen z.B. Football (1992), Volleyball (1993) und Football (vert) (1994).

85 Ein beliebtes Motiv sind die zum Death Valley führenden, schroffen Felsen und die sich im Wasser befindenden (Killer-)Wale (vgl. Shamu (1994), Queen Calafia (1994), Killer-Whale (1995) und Borego (1996)).

86 1993-1995 entsteht eine Grafikmappe aus acht Serigrafien mit dem Titel Californian diary. Diese enthält Arbeiten wie O rder and Chaos (1994), Telephone (1994) und Black is Different (1994). Die querformatigen Serigrafien sind ähnlich den Briefen aus den späten 70er Jahren mit kunstvoll geschriebenem Text, das weiße Papier überziehenden, floralen Mustern sowie kleineren und größeren farbigen Zeichnungen bedeckt. Die meisten der Texte beginnen mit „Dear diary…“ und behandeln verschiedenste Themen. Die Arbeiten werden 1997 in der Aus- stellung „Dear diary“ des Kunstvereins Wolfsburg gezeigt und sind in dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung zu sehen.

87 Die Arbeiten im Format von ca. 48 x 60 cm heißen z.B. The Spiritual Feast (1999), The Third Eye (1999) und Buddha (1999).

88 Hierzu zählen z.B. Ostrich (1995), Rhinoceros (1995) und L ´ ours bleu (1994).

89 Die meist hochformatigen Lithografien haben dieselben Titel wie die Karten der Großen Arkana des Tarot: L ´ Estrella (1997), The Falling Tower (1997), The Sun (1998) und The Hanged Man (1999).

90 „Ich fand hier wunderbare Materialien, die meine gesamte Palette verändert haben; hier findet man Steine, für die man sterben könnte. Natürlich hat das meine Arbeit verändert, ich formuliere wieder Landschaften, auch wenn sie Tiere darstellen; irdische Landschaften. Diese wunderbaren Steine aus aller Welt kaufen wir lastwagenweise. Also, wenn ich in unser Atelier im Flugzeughangar fahre, um festzulegen, wel- che neuen Steine wir in einer Arbeit benutzen werden, fühle ich mich wie ein Kind in einem Bonbonladen. Weil es da all diese wunderbaren grünen und roten Steine gibt, und Steine aus Indien und Steine aus China, aus Amerika und Deutschland und England, aus aller Welt.“ (de Saint Phalle 2001, 71)

91 „Ich sehe sie (die Nanas) als Vorboten eines neuen matriarchalischen Zeitalters, von dem ich glaube, dass es die einzige Antwort ist.“ (de Saint Phalle 2003)

92 „Schwarz bin auch ich jetzt, mit meinem Urenkel Djamal. Das ist neu, und ich mag es.“ (de Saint Phalle 1997, 40)

93 Die Arbeit gehört heute zur Schenkung Niki de Saint Phalle in Hannover.

94 Männer spielen eine wichtige Rolle in de Saint Phalles Leben. Bereits früh orientiert sie sich an ihnen. „Als Kind konnte ich mich weder mit meiner Mutter, noch mit meiner Großmutter identifizieren, weder mit meinen Tanten, noch mit den Freundinnen meiner Mutter. Sie schienen ein ziemlich unglücklicher Haufen. (…) Ich wollte nicht so wie sie werden, Wächterinnen des Herdfeuers; ich wollte die Welt, und die Welt gehörte den MÄNNERN. (…) Die Rollen der Männer schienen wesentlich mehr Freiheiten zu gewähren, und ICH WAR ENTSCHLOSSEN, DIESE FREIHEIT ZU MEINER EIGENEN ZU MACHEN.“ (de Saint Phalle 1992, 148f.) In „Californian diary“ (1993-1995) beschreibt die Künstlerin die Bedeutung der Männer für ihre Kunst: „Meine Männer (diese Bastarde) waren meine Musen. Das Leiden, das sie auslösten, und die Rache, die ich nahm, nährten viele Jahre lang meine Kunst. Ich danke ihnen.“ (de Saint Phalle 1997, 34) Selten werden Männer von de Saint Phalle künstlerisch auch als Männer (vgl. „Le poête et sa muse“, 1973 oder „Adam et Eve (Das Picknick)“, 1985/1989) dargestellt. Trotzdem nehmen sie in Form von Metaphern einen nicht unbedeutenden Platz in de Saint Phalles Kunst ein: „Ich habe mich oft gefragt, wa- rum in meinen Arbeiten so wenig Männer vorkommen. Wenn sie nett sind, dann sind sie Tiere und Vögel; sind sie grässlich, dann sind sie Monster.“ (de Saint Phalle 1997, 22) Obwohl de Saint Phalle dank ihrer äußerst selbstbewussten Nanas als eine Vorreiterin der Frauenbewe- gung gilt, will sie sich von dieser, die Männer oftmals ausgrenzenden Bewegung nicht vereinnahmen lassen: „Erst kürzlich lehnte Niki de Saint Phalle die Teilnahme an einer Ausstellung ab, in der nur Künstlerinnen vertreten sein sollten. Sie braucht die Gegenüberstellung und den Vergleich mit männlichen Künstlern, alles andere ist für sie nicht akzeptabel.“ (Grosenick 1992, 145) Privat nehmen verschiedene Män- ner entscheidende Rollen in ihrem Leben ein: „Ich wählte interessante, oft sogar brillante Männer. Alle waren Schürzenjäger. Ich war faszi- niert von ihrer augenscheinlichen Stärke, ihrem Selbstvertrauen, ihrer Offenheit, ja sogar von ihren Schnell-Auszieh-Techniken, die dazu bei- trugen, mich zu befreien.“ (de Saint Phalle 1997, 34)

95 Des Weiteren fördert er durch seine lebenslange Unterstützung die Karriere der Künstlerin wie sonst nur der Galerist Alexandre Iolas, welchem ebenfalls hinreichende Beachtung gebührte.

96 „Für Vater war es, wie für die meisten Franzosen, normal, außerhalb der Ehe Affären zu haben. Da Vater nur wenig freie Zeit hatte, fand er es einfacher, die Dienstmädchen und Mutters Freundinnen zu Hause zu verführen… Dies war jedoch werde für sie noch für uns angenehm. Am Sonntag ging er selten zur Messe. Er blieb lieber zu Hause und versuchte das Dienstmädchen zu verführen. Mutter entdeckte seine Affären manchmal, was zu ziemlichen Reibereien führte.“ (de Saint Phalle 2000, 83)

97 „Ich wurde 1930 geboren. EIN DEPRESSIONSBABY. Während meine Mutter mich erwartete, verlor mein Vater ihr ganzes Geld. Zur sel- ben Zeit entdeckte sie, dass mein Vater FREMDGING. Sie weinte alles in ihre Schwangerschaft hinein. Ich fühlte diese TRÄNEN. Später

98 De Saint Phalle schreibt in „Traces“ (2000) an ihren Bruder John: „Erinnerst du dich, John, dass man uns oben beim Rauchen erwischte und Vater und Onkel Donald zwei Äste eines Baumes absägten, welche sie als Ruten zerschnitten, und uns schlugen? (…) Ich konnte die anderen im andren Raum schreien hören. Wenn sie schrieen, hörte das Schlagen auf. Ich entschloss mich, NICHT zu schreien. Endlich hörte er auf. Es tat mir einige Tage lang weh.“ (de Saint Phalle 2000, 82) De Saint Phalle kann ihrer strengen Erziehung jedoch auch Positives abgewinnen. Sie erzählt: „Im Grunde finde ich heute, dass ich eine tolle Erziehung genossen habe. Weil sie mir viel Widerstandskraft für das spätere Leben gegeben hat: Sie hat mich abgehärtet.“ (de Saint Phalle in: Möller/Mathews 1987)

99 Sie erinnert sich „auch an Vergnügliches… Du [gemeint ist der Bruder der Künstlerin, P. Z. E.], ich und Vater draußen auf dem Meer vor Long Island, wie wir zusammen gesegelt oder gefischt haben. Wir erinnern uns beide, wie aufregend das war. (…) Vater fuhr gerne bei stür- mischem Wetter hinaus. Er liebte das Risiko. Vielleicht habe ich damals eine Vorliebe dafür entwickelt, oder liegt es an den Genen?“ (de Saint Phalle 2000, 19)

100 „Ich erinnere mich, dass mein Vater, als ich zwölf war, eines Tages beim Mittagessen zu mir sagte: ’Es ist egal, wen du heiratest, Du kannst einen Schwarzen oder einen Asiaten heiraten… wenn du nur glücklich bist.’ Mutter kriegte einen Anfall und sagte: ’Wie kannst du nur so was zu meiner Tochter sagen? Das ist unmöglich!’ Vater sagte: ’Ich würde dir die Schwierigkeiten vor Augen führen, die du damit in der Gesellschaft, in der wir leben, haben würdest, aber ich wäre nicht dagegen.’ Ich war der gleichen Meinung wie Vater und bewunderte ihn, dass er das gesagt hatte. Dies war 1942. Vater war ein Revolutionär in einer rassistischen Gesellschaft.“ (de Saint Phalle 2000, 85)

101 Mehr als 50 Jahre später erinnert sich die Künstlerin noch an die Streiche, die der Vater mit ihrer Mutter spielt: „Erinnerst du (John) dich, dass er einmal künstlichen Kot kaufte und ihn auf den neuen Teppich legte? Mutter dachte, dass unser Hund Vic darauf geschissen habe. Wütend schimpfte sie darüber, während wir uns vor Lachen auf dem Boden wälzten. Erinnerst du dich an ihren Geburtstag, als Vater ein fur- zendes Ding aus Gummi kaufte und es unter das Kissen ihres Esszimmerstuhles legte? Als sie sich hinsetzte, produzierte es eine Reihe lau- ter und vulgärer Geräusche. Die Art von Geräuschen, die uns zu machen streng verboten war.“ (de Saint Phalle 2000, 106f.)

102 Erst 1994, de Saint Phalle ist zu diesem Zeitpunkt 64 Jahre alt, erscheint das Buch „Mon secret“ im Pariser Verlag Editions de la Diff é ren- ce. Es ist ein in Briefform verfasster Text, der an ihre Tochter Laura gerichtet ist. Darin berichtet die Künstlerin zum ersten Mal in unmissver- ständlicher Form, dass sie im Alter von 11 Jahren von ihrem Vater missbraucht wurde. Die Künstlerin beschreibt das Erlebnis zunächst meta- phorisch: „Liebe Laura, es war im Sommer der Schlangen. Jedes Jahr mieteten meine Eltern in den Sommermonaten ein Landhaus in Neu- england, einige Stunden von New York entfernt; jedes Mal in einer anderen Gegend. 1942 hatten sie ein hübsches weißes Holzhaus auf ei- nem großen Grundstück ausgesucht. Das Gras stand hoch. Es roch gut. Über den Feldern, in denen ich spazieren ging, lag eine tiefe, an- heimelnde Stille. Ich liebte es, in der Abenddämmerung den Himmel und die Wolken anzugucken. Ein grauer Felsbrocken versperrte mir den Weg, zu groß, um ihn zu übersehen. Darauf bewegten sich ganz langsam zwei riesige, ineinander verknäuelte schwarze Ottern, Mokassin- schlangen, todbringend giftig. Starr vor Schreck blieb ich stehen. Ich traute mich weder, mich zu rühren, noch zu atmen. Fasziniert sah ich damals dem Tod aus nächster Nähe ins Auge. War es der Tod oder der Tanz des Lebens? Ich blieb lange gebannt vor diesen Schlangen stehen. Es war, als wäre ich selbst zur Schlange geworden.“ (de Saint Phalle 1994) Die Künstlerin berichtet weiter davon, dass ihr älterer Bruder Jean ihr eines Tages eine tote Schlange ins Bett legt und sie vor Schreck zu ihrem 22 Jahre alten Cousin Charles-Henri flieht. Sie fleht ihn an, bei ihm übernachten zu können. „Als meine Eltern am nächsten Morgen erfuhren, dass ich bei meinem Cousin übernachtet hatte, waren sie schockiert. Unser Haus war durchdrungen von Moral und Anstand: erstickend wie ein Brutofen.“ (de Saint Phalle 1994) Diese im Hause de Saint Phalle übermächtige, omnipräsente Moral wird durch die anschließenden Handlungen des Vaters ad absurdum geführt: „In jenem Sommer steckte mein 35jähriger Vater seine Hand in meinen Schlüpfer, genauso wie diese grausigen Männer im Kino, die kleinen Mädchen auflauern. Ich war elf, sah aber aus wie 13. Mein Vater wollte eines Tages seine Angel aus einem Holzschuppen holen, in dem die Gartengeräte aufbewahrt wurden. Ich begleitete ihn … Plötzlich begannen seine Hände meinen Körper auf eine für mich vollkommen neue Art zu erforschen. In mir zog sich alles zusammen vor Scham, Lust, Beklemmung und Angst. Mein Vater sagte: ’Rühr dich nicht.’ Ich gehorch- te wie ein Roboter. Dann entwand ich mich ihm gewaltsam, trat ihn mit den Füßen und rannte bis zu Erschöpfung über die gemähten Felder. In jenem Sommer gab es mehrere solcher Szenen. Mein Vater hatte diese schreckliche Macht über mich, die Erwachsene über Kinder ha- ben. Ich konnte mich wehren, wie ich wollte, er blieb stärker als ich. Meine Liebe für ihn kippte in Verachtung. Er hatte mein Vertrauen in die Menschen gebrochen.“ (de Saint Phalle 1994)

103 „Ich war so wütend auf dich, Vater, enttäuscht und verängstigt. Instinktiv wusste ich, dass ich kein Wort sagen durfte. SCHWEIGEN.“ (de Saint Phalle 2000, 96) Vgl. auch Niemeyer-Langer 2003, 37.

104 Die Künstlerin fährt fort: „In dieser Box, die nur mir allein gehörte, versorgte ich Gedichte und hochfliegende Träume. Die Box war mein geistiges Zuhause. Der Beginn eines eigenen Lebens, in welches ’sie’ (unsere Eltern) sich nicht einmischen konnten. In die Box legte ich meine Seele. Ich begann mit der Box zu sprechen. Da ich mit meiner Familie keine vertiefte Beziehung haben konnte, begann ich mit mir selbst zu kommunizieren. Daraus entstand ein lebenslanges Bedürfnis nach Einsamkeit. Aus dieser Einsamkeit heraus, allein, werden die Ideen für meine Arbeiten geboren. Einsamkeit ist des Künstlers Freund. Meine magische Box ist immer noch unter meinem Bett. Ich öffne sie jeden Tag. Meine Struktur, mein Rückgrat, mein Skelett befinden sich in dieser Box. Manchmal ist sie voll Sand und ich bin nochmals fünf Jahre alt und baue Burgen und Traumpaläste. Meine Box ist der Ausgleich zur Erwachsenenwelt, mit der ich nur mit Mühe zurechtkomme und auf die ich nicht versessen bin. Die Box hat mich bewahrt davor, zynisch und desillusioniert zu werden. Es ist die Büchse der Pandora. Nach all den entflohenen Übeln bleibt darin die Hoffnung zurück.“ (de Saint Phalle 2000, 103)

105 „Besessenheit, es war die Zeit der Besessenheit. Ich begann abends bei Tisch mit meinen Eltern Ticks zu produzieren. Ich ruckte meine Ellenbogen gegen meinen Körper. Ich verzog mein Gesicht zu scheußlichen Grimassen und entspannte es wieder. Sie baten mich aufzuhören, aber ich konnte nicht. UFF! Schließlich hielten es Vater und Mutter nicht mehr aus und ich durfte allein in der Küche essen. Später in meinem Leben hatte ich in Augenblicken starker Anspannung immer wieder nervöse Ticks.“ (de Saint Phalle 2000, 113)

106 „Nach den Geschehnissen mit Vater… Phantasievolle Rache. Ich bemalte alle Feigenblätter der griechischen Statuen in Brearley mit roter Farbe. Das Extreme ist Teil der amerikanischen Vitalität und Teil seiner Probleme. Auch meiner. Gewalt. Meine eigene Gewalt ist mit meiner persönlichen Geschichte, Energie und meinem Temperament und der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, eng verknüpft. Später lebte ich meine Gewalt aus, indem ich auf Bilder schoss. Mord ohne Opfer.“ (de Saint Phalle 2000, 75)

107 „Meine Sinne waren von meinem Cousin Jacques entflammt worden und ich setzte mich hin und schrieb sechs oder sieben Seiten wilder Pornografie. Als ich Jahre später Marquis de Sade las, tönte es ähnlich. Es war eine Orgie von Liebe und Begierde. Ich habe keine Ahnung, woher ich diese Ideen hatte. Ich war unschuldig. Vielleicht hatte auch der Marquis de Sade nie sexuelle Erfahrungen gemacht! (…) Ehrlich, was ich getan hatte, begann mir Angst zu machen. Ich wollte nicht wie Vater werden. Es war eine große FURCHT in mir, wie Papa zu werden, ein Wüstling. Ich hatte Angst vor meinen erwachenden sexuellen Gefühlen in mir drin. Wirkliche Angst vor meiner Wildheit und ich wollte mich doch unter Kontrolle haben.“ (de Saint Phalle 2000, 152)

108 „Mit siebzehn habe ich die Schule verlassen, Das einzige wirkliche Mittel, das ich gefunden hatte, um die Gefühle, die ich in mir hatte, auszudrücken, war das Theater. Es gab Theatergruppen, und wenn jemand schreien, brüllen oder sich auf dem Boden wälzen sollte, dann wurde immer ich ausgewählt, weil es mir leicht fiel, meine Gefühle direkt auszudrücken.“ (de Saint Phalle in: Möller/Mathews 1987)

109 „Ich habe gelernt, durch meine Kunst die Dinge, vor denen ich mich fürchtete, zu bezwingen.“ (de Saint Phalle 2000, 75)

110 „ Natürlich ist es fürchterlich, wenn man spürt, wie der Wahnsinn und die Angst von einem Besitz ergreifen. In diesem Tief meines Lebens, in dieser so schmerzhaften Zeit, habe ich begonnen, alle meine Probleme zu zeichnen, meine Eltern, meine Ängste. Ich habe also nicht aufgehört, in Bildern auszudrücken, was ich fühlte. Und einen Monat später war mir klar, dass ich mit dem Theater aufhören würde, dass ich nichts anderes machen wollte als zeichnen. Nach dieser Depression wurde mir ganz klar, was mein Schicksal sein sollte. Denn danach begann das wahre Leben.“ (de Saint Phalle in: Möller/Mathews 1987)

111 In einem Brief an Pontus Hulten schreibt de Saint Phalle 31 Jahre später: „Eines Tages würde ich etwas Unverzeihliches tun. Das Schlimmste, was eine Frau tun kann. Ich würde meine Kinder für meine Arbeit verlassen. Ich würde mir selbst einen guten Grund geben, mich schuldig zu fühlen.“ (de Saint Phalle 1992, 147)

112 „Während dieser Zeit hatte ich eine kurze Affäre mit einem bekannten Künstler, der mir nachstellte. Er war verheiratet oder lebte zumindest mit jemandem zusammen, und seine Spezialität war es, Paare auseinander zu bringen und die Frauen von Freunden zu verführen. Ich war nicht in ihn verliebt, aber er band mich auf gewisse Weise an sich. Ich mochte diese Abhängigkeit überhaupt nicht, deshalb kaufte ich eine Pistole, um ihn symbolisch zu töten. Es waren keine Patronen in dem Revolver, aber ich hatte ihn in meiner Handtasche, und das gab mir ein besseres Gefühl. Eines Tages kam ich auf die Idee, ihn zu portraitieren. In einem Spielwarenladen kaufte ich eine Zielscheibe, auf die man Pfeile werfen konnte und fragte ihn, ob er mir eines seiner Hemden geben würde. Ich band dem Hemd eine Krawatte um und klebte alles auf eine Holzplatte. Ich nannte es Portrait of my Lover.“ (de Saint Phalle 1992, 156)

113 „Nicht sehr weit von meiner Arbeit entfernt hing ein vollkommen weißes Gipsrelief von einem Künstler namens Bram Bogart. Ich sah es an

- FLASH - was wäre, wenn das Bild bluten würde - verwundet wäre, so wie Menschen verletzt sein könnten. Das Bild wurde für mich zu einer Person mit Gefühlen und Empfindungen. Was wäre, wenn sich hinter dem Gips Farbe befände? Ich erzählte Jean Tinguely von dieser Vision und meinem Wunsch, ein Bild bluten zu lassen, indem ich auf es schoss. Jean war verrückt nach der Idee und schlug vor, dass ich gleich anfangen sollte.“ (de Saint Phalle 1992, 160)

114 „Ich schoss auf MICH SELBST. Die Gesellschaft mit ihrer UNGERECHTIGKEIT. Ich schoss auf meine eigene Gewalttätigkeit und die GEWALT der Zeit. Indem ich auf meine eigene Gewalt schoss, brauchte ich sie nicht länger mit mir herumzuschleppen wie eine Last. Wäh- rend der Jahre, in denen ich schoss, war ich keinen einzigen Tag krank. Es war eine großartige Therapie für mich.“ (de Saint Phalle 1992, 162)

115 Die Künstlerin bricht mit ihren Schießaktionen einige Tabus der damaligen Zeit. Sie betritt „absichtsvoll und anmaßend Männerterrain, verletzt die Exklusivität männlicher Kriegsführungs- und Hinrichtungsrituale“ (Krempel 2001, 46), macht Gewalt öffentlich und sogar „die Betrachter zu Komplizen ihrer gewaltsamen Akte (…); denn die Betrachter werden als Zuschauer einbezogen in den Akt der Vernichtung und der Erschaffung des neuen Bildes durch die Zerstörung des alten.“ (ebd.)

116 „Die Gewalt ist in mir. Und die Gewalt ist überall. Die Gewalt ist in den Strassen, die Gewalt ist im Krieg. Wir leben in einer Zeit furchtbarer Gewalt. Ich habe sie zuerst in New York erlebt, überall. Später fühlte ich Gewalt in mir gegen eine Gesellschaft, die solche Grausamkeiten zuließ. Gegen Gott hatte ich eine unglaubliche Wut. So habe ich diese Wut verstandesmäßig abreagiert, indem ich meine Aggressionen aus- gedrückt habe, ohne jemanden umzubringen. Es war wie eine Verwandlung aus dem Tode, indem man ein Werk ins Leben bringt.“ (de Saint Phalle 1987)

117 Krempel sieht die Farbe weiß als wichtiges Ausdrucksmittel für Unversehrtheit, Reinheit und jungfräuliche Unberührtheit. Die Zerstörung dieser weißen Bildoberflüche würde für de Saint Phalle aber „eine notwendige Aktion, Sinnbild für den symbolischen Ansturm gegen die Ge- walt in der Zeit, in der, Gesellschaft, in sich selbst.“ (Krempel 2001, 39) Die Künstlerin bestätigt die von Krempel vermutete Bedeutung der Farbe Weiß, wenn sie sagt: „Ich kleidete mich ganz in Weiß wie eine vestalische Jungfrau und massakrierte meine eigenen Bilder.“ (de Saint Phalle 1980, 20)

118 Jean Tinguely wird am 22 Mai 1925 im schweizerischen Fribourg geboren. Im selben Jahr zieht die Familie nach Basel. Tinguely wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater, Charles Tinguely, ist ein einfacher Arbeiter und von einer starken, autoritären Persönlichkeit. Seine Mutter, Jeanne-Louise Ruffieux, wird von ihrem Mann, einem Alkoholiker, nach streng patriarchalischen Regeln behandelt. Im Alter von 15 Jahren ist er Zeuge der Bombardierung Basels. Er muss miterleben, wie vor seinen Augen eine Frau mit Kind von einem Bobensplitter tödlich getroffen wird. 1941 beginnt Tinguely eine Lehre als Dekorateur in einem Warenhaus. Wegen Unpünktlichkeit und mangelnder Disziplin muss Tinguely die Lehrstelle 1943 wechseln. Er beginnt, Kurse in der Kunstgewerbeschule zu besuchen. 1944 tritt Tinguely dem illegalen Kommu- nistischen Jugendverband und etwas später der kommunistischen Partei der Arbeit bei. Er schließt seine Lehre ab. 1949 lernt Tinguely Daniel Spoerri und Eva Aeppli kennen. Er fertigt erste Skulpturen. Im Jahr 1951 heiraten Jean Tinguely und Eva Aeppli. Ihre Tochter Miriam wird geboren. Ein Jahr später ziehen sie nach Paris. 1954 hat Tinguely seine erste Ausstellung in der Pariser Galerie Arnaud. Er lernt Pontus Hul- ten kennen, mit dem er fortan eine lebenslange Freundschaft pflegt. Ein Jahr später trifft er auf Yves Klein und Niki de Saint Phalle. 1957 wird Tinguely bei einem Autounfall schwer verletzt. Er erholt sich nur langsam. In den folgenden Jahren stellt er u. a. in der Galerie Iris Clert, in der Düsseldorfer Galerie Schmela, auf der Biennale des Jeunes in Paris, im Opernhaus in Gelsenkirchen und im Institute of Contemporary Arts in London aus. Er begegnet Marcel Duchamp, Robert Rauschenberg, Jasper Johns und John Cage. 1960 zieht Tinguely mit Niki de Saint Phalle zusammen. Gemeinsam entsteht in der Wüste von Nevada die autodestruktive Skulptur End of the World No.2. Es folgen Ausstellungen auf der ganzen Welt. Die Nouveaux Réalistes werden gegründet. Mit Niki de Saint Phalle und Per Olof Ultveldt entsteht 1966 die begehbare Skulptur hon im Moderna Museet in Stockholm. Ein Jahr später bespielt das Künstlerpaar das Dach des französischen Pavillons der Welt- ausstellung in Montreal mit Le paradis fantastique. 1969 beginnt Tinguely mit befreundeten Künstlern die Großskulptur La T ê te (die später Le Cyclope genannt wird) im Wald von Milly-la-Fôret in der Nähe von Fontainebleau. An der Skulptur arbeitet er 20 Jahre bis zu ihrer Fertigstel- lung. 1970, zum zehnjährigen Bestehen der Nouveaux R é alistes, entsteht das Skandalwerk La Vittoria auf dem Mailänder Domplatz. Am 13. Juli 1971 heiratet Tinguely seine Partnerin Niki de Saint Phalle. Zwei Jahre später lernt er die Künstlerin Micheline Gygax kennen. Ihr ge- meinsamer Sohn Milan wird geboren. Am 30. August 1991 stirbt Jean Tinguely in Bern. In seiner Geburtsstadt Fribourg erhält er am 4. Sep- tember ein Staatsbegräbnis mit einem Umzug, den er selbst aufs Genaueste geplant hat. Nach seinem Tod, im Februar 1992, wird sein Sohn Sébastian von Milena Palakarkina geboren.

119 In einem fiktiven Brief von 1990 beschreibt de Saint Phalle ihr erstes Zusammentreffen mit ihrem späteren Partner und Künstlerkollegen: „Jean, ich erinnere mich noch sehr genau an das erste Zusammentreffen mit Dir und Eva Aeppli. Ich war 25 Jahre alt. Ich verliebte mich so- fort in Deine Arbeit. Dein Atelier sah aus wie ein riesiger Schotthaufen voll wunderbarer verborgener Schätze. Ein langes, schwarz-weißes Objekt, das sich bewegte, hing an der hinteren Wand Deines Ateliers. Ein kleiner Hammer schlug an eine Flasche, und zahlreiche kleine Rädchen mit Drähten wackelten und drehten sich. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen und war ganz verrückt danach. (…) Jean, Du sahst sehr gut aus. Du gingst wie ein Panther und hattest diese magnetischen Augen, die Du sehr genau einzusetzen wusstest. Ein sehr schöner, dunkler, gefährlich aussehender Mann. (…) Es entwickelte sich zwischen uns eine wirkliche Freundschaft, die auf unserer beider Leidenschaft für die Kunst beruhte.“ (de Saint Phalle 1992, 154)

120 „Die Plastik sah aus wie ein verrückt gewordener Baum. An seinen Ästen klebten alle möglichen Dinge einschließlich grell gefiederter Fischköder, buntem Papier und Farbe. Ich hatte den Kamin im Schlafzimmer meiner beiden kleinen Kinder, Laura und Philip, als Basis benutzt. Meine erste Skulptur sollte für sie sein.“ (de Saint Phalle 1992, 154)

121 De Saint Phalle schreibt 32 Jahre später an Tinguely: „Am Tag meines 30. Geburtstags, am 29. Oktober 1960, kaufte mir Harry eine wun- derschöne Jacke aus weißer, lockiger Lammwolle. Ich sah spektakulär darin aus, und Jean und Daniel (Spoerri) waren begeistert. Ich war sehr stolz auf meine neue Jacke. Daniel lud mich ein, mit ihm essen zu gehen. Ich nahm mit Vergnügen an und fragte mich insgeheim, ob er mein nächster Geliebter werden würde. Als Daniel weg war, Jean, kamst Du zu mir und sagtest: ’Ich verbiete Dir, mit ihm auszugehen.’ Ich war sehr überrascht und fragte: ’Warum?’ ’Ich will, dass Du mit mir zu Abend isst’, antwortetest Du. Ich wollte weder die Freundschaft zwi- schen Dir und Daniel zerstören noch meine zu Dir. Ich sagte: ’O.k., aber was erzähle ich ihm?’ ’Lüg´, erfinde irgendwas.’ Ich sah in Deinen Augen, dass sich etwas verändert hatte. Du schautest mich so anders an. Ich fragte Dich: ’Was ist los? Was geht hier vor?’ Du fuhrst fort: ’Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass er mit Dir in diesem schönen Mantel ausgeht. Das gefällt mir fast noch weniger, als dass er Dich anfassen könnte.’ Zwei Tage später konnte ich Deinen Augen nicht länger widerstehen. Du sahst mich auf eine neue Weise an, die ich sehr verwirrend fand. Wir verließen einander nicht mehr. (Es ist eben manchmal gefährlich, seiner Frau schöne Kleider zu kaufen.)“ (de Saint Phalle 1992, 158)

122 De Saint Phalle und Tinguely beteiligen sich am 4. Mai 1962 an der Theateraufführung The construction of Boston (a collaboration) von Kenneth Koch im Maidman Playhouse in New York. De Saint Phalle schießt darin auf eine mit Farbe gefüllte Venus von Milo. Tinguely baut quer über die Bühne einen Schlussvorhang aus Lichtbetonsteinen. Am 22. Dezember 1965 spielt de Saint Phalle selbst in dem Stück The Tinguely Machine Mystery or The Love Suicides at Kaluka von Kenneth Koch unter der Regie von Remy Charlip mit. Weitere Darsteller sind Larry Rivers und Richard Davis, sowie Maschinenskulpturen Tinguelys. Im März 1966 führt Roland Petit das Ballett Eloge de la Folie im Th é - â tre des Champs Elys é es in Paris auf. Die Bühnendekorationen werden von de Saint Phalle, Tinguely und Raysse gefertigt.

123 “They were a true ’power team’, a perfect couple. They would knock back to each other, as if in a game, trying to outdo each other. A rivalry that kept their friendship and their artistic bond alive.” (Rico Weber 1998, 100)

124 „Wir forderten uns ständig gegenseitig heraus… Es war eine sehr fruchtbare geistige Verbindung. Das Größte aber, das Du mir schenktest, war Dein Vertrauen in meine Arbeit“ (de Saint Phalle 1996, 17)

125 „Das dritte Mal traf ich sie an, da war sie bewaffnet mit einem komischen Stechmesser und einem geladenen Revolver in ihrer Tasche und hatte eine Wut… Ich wusste nicht, schießt sie auf was, auf mich oder auf einen anderen. Sie wollte einen sehr bekannten Maler erschießen, der sie irgendwie…, von mir aus gesehen hat der Mann irgendetwas Missliches getan. Sie war schussbereit und ich habe diese Kräfte, über die sie verfügte, diese Schießwut über mich gehen lassen und wir haben dann…, zusammen haben wir die ersten Schiessbilder so lang- sam… die Idee war von ihr und dann habe ich mitgearbeitet als Hilfstechniker wieder einmal bei der Niki, was ich oft gewesen bin.“ (Tinguely 1987)

126 „Ich glaube, ich habe mich an jenem Abend in Jean verliebt, als er mich zum Essen einlud und zum Schluss seine Zigarette im Butterteller ausdrückte. Er kannte keine gesellschaftlichen Tabus, und ich war fasziniert. Kein Wunder, bei dem Milieu, aus dem ich kam.“ (de Saint Phalle 1998, 29f.)

127 „Die Künstlerin und der Künstler bewahrten sich 41 Jahre vollständig ihre eigene Formensprache und Symbolik, ihre weiblich-feminin- selbstbewussten Polyester-, Gips- und Betonplastiken und seine männlich-ironisch-rostig-ungehobelten Maschinenskulpturen passten am Ende so wenig und so gut zusammen wie zu Beginn.“ (Pardey 2001, 25) „Trotz aller Nähe, trotz ihrer Liebe und Vertrautheit (oder vielleicht gerade deshalb) und trotz ihrer künstlerischen Verwandtschaft kam es nie zu einer ästhetischen Annäherung der zwei Oeuvres. Immer, auch in gemeinsamen Arbeiten, ist der jeweilige Anteil der zwei Partner sofort ersichtlich, nie ist es fraglich oder umstritten, wessen Hand welchen Teil der Skulptur (oder Brief-Zeichnung) geschaffen hat. Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely blieben sich selbst und ihrem eigenen Werk auch in enger Collaboration mit anderen Künstlern treu“ (Pardey 2001, 21).

128 „Ich habe auch alles für sie gemacht. Sie ist ein toller Künstler, sie ist ein toller Mensch, ein unheimlicher Kämpfer, die Niki. Sieht so relativ hübsch aus, man könnte sagen: ´sehr nettes Mädchen´. Halt halt, das ist natürlich ein Teufelskerl!“ (Jean Tinguely in: Möller/Mathews 1987)

129 „…we didn´t have much in common, except this wonderful world, because art was number one in Jean´s life and it is number one in my life, so even if we didn´t see each other for a while, like when Jean came back to get me to do the Stravinsky-fountain, I mean, one was get- ting the other one and there was a link, because there was always this stimulating effect we had on each other. It was very unique.” (de Saint Phalle in: Krempel 2001, 20)

130 „Zur Eröffnungsausstellung (im Tinguely Museum) gehörte M é ta-Tinguely, ein Vorläuferwerk der Tableaux é clat é s von Niki de Saint Phalle, die mit ihren Bewegungen in gewisser Weise posthume Collaborationen mit Jean Tinguely, auf jeden Fall aber liebevolle Abschiedswerke der Künstlerin von ihrem langjährigen Weggeführten sind.“ (Pardey 1991, 25)

131 Nicht nur die tableaux é clat é s beziehen sich auf Tinguelys Werk. Auch eine Reihe von späten Drucken, wie Jean in my heart (1992) oder Hommage à Jean (1992) nehmen das Rad, de Saint Phalles Symbol für Tinguelys Oeuvre, auf.

132 Zum Problem der Diskontinuität im Kontext einer Biographie und der Negativität der Erfahrung vgl. Buck 1975 sowie Bourdieu 1990.

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Niki de Saint Phalle - Die Motivation ihrer Arbeit aus ihrer Biographie
Hochschule
Universität der Künste Berlin  (Lehramt Bildende Kunst)
Note
1,1
Autor
Jahr
2005
Seiten
67
Katalognummer
V83985
ISBN (eBook)
9783638067164
ISBN (Buch)
9783656939498
Dateigröße
10314 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Niki, Saint, Phalle, Motivation, Arbeit, Biographie
Arbeit zitieren
Philippe Zwick Eby (Autor:in), 2005, Niki de Saint Phalle - Die Motivation ihrer Arbeit aus ihrer Biographie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83985

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