Ludwig der Fromme in den Darstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts nebst den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Einordnung in die allgemeine Rezeptionsgeschichte Ludwigs des Frommen

3. Ludwig der Fromme in der Geschichtsschreibung der Aufklärung
3.1 Geschichtsverständnis der Aufklärung
3.2 Ludwig der Fromme in der Geschichtsschreibung der Aufklärung

4. Ludwig der Fromme in der Geschichtsschreibung des Historismus
4.1 Geschichtsverständnis des Historismus
4.2 Ludwig der Fromme in der Geschichtsschreibung des Historismus

5. Fazit

6. Quellen- und Literaturverzeichnis
6.1 Quellen
6.2 Literatur

1. Einleitung

Existieren für Karl den Großen, „Symbolgestalt im historischen Bewußtsein zweier Völker [...] und als Ahnherr einer ersehnten Einheit Europas in Anspruch genommen“[1], unzählige wissenschaftliche Abhandlungen zur Person aber auch zur allgemeinen Rezeptionsgeschichte, war das Interesse für seinen Sohn und Nachfolger als Herrscher über das karolingische Gesamtreich Ludwig den Frommen bisher, vor allem was Untersuchungen zu seiner Rezeptionsgeschichte betrifft, außerordentlich gering. Hier sind lediglich die Werke Helene Siemes’[2], die sich mit der Darstellung Ludwigs in den zeitgenössischen Quellen befasst, Nelsen-Minkenbergs[3], die die Rezeptionsgeschichte von den zeitgenössischen Quellen bis ins 13. Jahrhundert untersucht, und Nikolaus Staubachs[4], der die deutsche und französische Ludwigrezeption vom frühen 17. bis ins 20. Jahrhundert bündig darstellt, zu erwähnen. Dies ist umso verwunderlicher, da gerade das Bild Ludwigs des Frommen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder bedeutend veränderte Akzentuierungen erhalten hat. Um diese Veränderungen im Ganzen grob überschauen zu können, wird unter Punkt 2 ein kurzer allgemeiner Überblick über die Rezeptionsgeschichte von den zeitgenössischen Darstellungen bis ins 20. Jahrhundert geliefert. Die Darstellungen Ludwigs aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind dann der eigentliche Gegenstand dieser Arbeit, wobei der Blick schon allein aus quantitativen Gründen auf die deutsche Geschichtsschreibung fokussiert wird. Ausnahmen bilden hier die Darstellungen Montesquieus und Voltaires die auf Grund ihrer exponierten Stellung in der europäischen Aufklärung nicht übergangen werden konnten.

Den Darstellungen des 18. bzw. 19. Jahrhunderts ist jeweils ein Kapitel über die entsprechenden geistesgeschichtlichen Strömungen der betreffenden Jahrhunderte vorangestellt (Punkt 3.1/4.1), um von einer bloßen Darstellung zu einem besseren Verstehen der verschiedenen Ludwigbilder zu gelangen. Dies ist umso interessanter, da gerade zwischen diesen Jahrhunderten der Bruch von vorkritischer und kritischer Geschichtsschreibung bzw. -wissenschaft liegt.[5] Die dann unter den Punkten 3.2 bzw. 4.2 folgenden Untersuchungen der Ludwigdarstellungen erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, da gerade im geistesgeschichtlichen Rahmen ein größerer Wert auf eine gründliche Untersuchung der entsprechenden Texte gelegt wurde, wodurch der Umfang dieser Arbeit auch mit der Beschränkung auf die hier vorgestellten Werke mehr als ausgelastet ist. Dennoch kann man sagen, dass die bedeutendsten Autoren bzw. Texte dieser Zeit Eingang in die Untersuchung gefunden haben. Die Darstellungen August Ludwig von Schlözers und Johann Christoph Gatterers werden – obgleich ihre Darstellungen der Ludwigzeit verschwindend gering ausfallen – ebenfalls behandelt, gelten sie doch als zwei der bedeutendsten Historiker der deutschen Aufklärung. Zudem können ihrer Werke als prototypische Umsetzungen der aufklärerischen Universalhistorien gelten, was insbesondere im Kontext dieser Arbeit von Interesse ist.

2. Einordnung in die allgemeine Rezeptionsgeschichte Ludwigs des Frommen

Einen hervorragenden Überblick über die Rezeptionsgeschichte Ludwigs des Frommen – ausgehend von den zeitgenössischen Darstellungen der Ludwigzeit bis hin zu den Darstellungen des 13. Jahrhunderts - gibt Heike Nelsen-Minkenberg.[6] Sie teilt diesen Zeitraum zusammenfassend in fünf Bereiche ein, deren erste Phase die zeitgenössischen Darstellungen in den Annalen und die der vier Biographen sind[7]. Ist der Grundtenor aller dieser Darstellungen gegenüber dem Kaiser positiv, so übertrifft das Kaiserbild der fränkischen Reichsannalen die anderen Darstellungen noch in den Lobgesängen, was kaum verwundern kann, handelt es sich bei den Annalen doch um ein fränkisches Herrschaftsinstrument. Die Annales Bertiniani und Fuldenses als auch der Biograph Astronomus üben hingegen vorsichtige Kritik an einer zu dominanten Milde des zweiten fränkischen Kaisers.[8] Ebenfalls einen großen Einfluss auf die weitere Ludwigrezeption hat das Werk des Astronomus auch in dem Punkt, dass er Ludwigs Frömmigkeit derart betont, dass er ihn selbst mehr als Priester denn als Kaiser wahrnimmt und darstellt: „Des Königs frommer Sinn war schon von früher Jugend an [...] besorgt, so daß man ihn nach seinen Werken eher einen Priester als einen König nennen möchte.“[9] Hinzu kommen die für die zukünftige Geschichtsschreibung wichtige, allerdings ebenfalls sehr vorsichtig formulierte Feststellung Thegans, Ludwig hätte „vielleicht seinen Räten mehr vertraut[...] als nötig [...].“[10]

Es folgen in der Darstellung Nelsen-Minkenbergs die historiographischen Werke der späten Karolingerzeit, welche die Herrschaftszeit Karls und Ludwigs als unmittelbare „Gegenwartsvorgeschichte“ zur eigenen Lebenswirklichkeit in Bezug setzen[11]. Hierbei entwickeln sich zwei Rezeptionsstränge, deren erster Ludwig als Sohn des Idealherrschers Karl eine ähnlich positive Darstellung wie dem übermächtigen Kaiser zukommen lässt. Auf der anderen Seite stehen aber auch Darstellungen, die den Kaiser – bei aller positiven Gesamtdarstellung, die man einem Kaiser stets zukommen ließ – abermals vor allem wegen zu großer Milde und mangelnder Tapferkeit vorsichtig kritisieren.

Es folgt der Zusammenbruch zunächst des karolingischen, dann des fränkischen Reichs und der Aufstieg der sächsischen Ottonen bzw. Luidolfinger[12]. Für diese Zeit konstatiert Nelsen-Minkenberg eine Rezeptionslücke bezüglich Ludwigs des Frommen, was mit einer starken Regionalisierung der Geschichtsschreibung in dieser Zeit zusammenhängt. Auch in den wenigen herausragenden Geschichtswerken dieser Epoche spielt Ludwig der Fromme kaum eine Rolle.

Dies ändert sich dann wieder zu Beginn des elften Jahrhunderts mit dem Wiederaufleben der Weltchroniken, in denen die Darstellungen Ludwigs des Frommen insbesondere im Zuge des Investiturstreits zunehmend funktionalisiert werden[13]. So bilden sich in diesem Jahrhundert wiederum zwei grundsätzliche Rezeptionsstränge heraus. Einerseits wird Ludwig zusammen mit Karl dem Großen als Reichsgründer und Verteidiger der Kirche geschildert, für andere Geschichtsschreiber stellt er hingegen „den Prototyp eines durch kirchliche Gewalten absetzbaren und judizierbaren Kaisers“[14] dar. Diese funktionale Einordnung Ludwigs in den Kontext der Auseinandersetzung zwischen weltlicher und geistlicher Machtverteilung hat allerdings grundsätzlich auch zur Folge, dass die Person Ludwig hinter die Institution Kaisertum zurücktritt, was somit zu einer Schematisierung des Ludwigsbildes führt.

Diese Entwicklung setzt sich dann im fünften von Nelsen-Minkenberg benannten Abschnitt – der Stauferzeit nebst dem französischen Pendant[15] – fort, so dass Ludwig der Fromme vor der Institution Kaisertum nahezu vollständig verblasst. Anders läuft diese Entwicklung allerdings im Westreich. „Hier wird Ludwig der Fromme zum Idealherrscher und französischen König stilisiert, was in Frankreich für die weiteren Jahrhunderte maßgeblich sein sollte.“[16]

Eine Untersuchung der Rezeptionsgeschichte Ludwigs des Frommen für das 14. und 15. Jahrhundert fehlt. Die Abhandlung Nikolaus Staubachs setzt mit dem nachreformatorischen Werk Johannes Letzners ein.[17] Dessen Darstellung Ludwigs des Frommen von 1604 feiert den Kaiser in panegyrischem Tonfall als Vollender der Sachsenmission und stellt ihn damit in eine Reihe mit Bonifatius und Karl dem Großen. Daneben ist auffällig, dass Letzner noch keinerlei kritische Distanz zu den zeitgenössischen Biographen und Annalen kennt und – was ebenfalls wie ersteres nicht verwundern kann – Gott, „ohn welches willen nichts geschehen kondt“[18], als Lenker der Ereignisse auftreten lässt. Leichten Tadel erfährt Ludwig lediglich in seiner zu großen Nachgiebigkeit gegenüber seiner zweiten Ehefrau Judith, die viel Unheil heraufbeschworen habe.[19] Ebenfalls noch erwähnenswert ist die schon auf die Regierungszeit Ludwigs übertragene Einteilung in Franzosen, denen der Kaiser nicht traue, und ‚Teutschen’, von denen Ludwig eine gute Meinung habe.[20] Zu dieser Erkenntnis kommt Letzner im Zusammenhang mit einer Passage des Astronomus[21], die auch noch von einigen Historikern der Aufklärung und des Historismus dankbar und unkritisch aufgenommen wird, wie im Folgenden zu zeigen ist.

Staubach fährt fort mit der Darstellung Johann Heinrich Boeclers von 1656, die ebenfalls ein sehr positives Bild des fränkischen Kaisers zeichnet, aber nicht umhin kommt, ein Scheitern Ludwigs zum Ende seiner Regierungszeit zu konstatieren. Die vielzitierte übertriebene Milde des Kaisers führt er nicht auf geistige Trägheit, sondern auf eine bewusste Demutshaltung zurück[22] und deutet sie damit positiv um. Besonders bemerkenswert ist Boeclers Feststellung, Ludwig sei gerade daran gescheitert, dass er nur seinen eigenen Vorstellungen gefolgt ist[23] - überwiegt doch generell die Ansicht, er stünde unter zu großem Einfluss seiner Berater.

Nach Boecler behandelt Staubach mit dem Geschichtswerk Leibniz’ die erste frühaufklärerische Darstellung Ludwigs, die auch in dieser Arbeit behandelt wird. Es sei nur schon vorweggenommen, dass das Bild Ludwigs aus dem 18. und 19. Jahrhundert ungleich schärfer und kritischer ausfallen wird als die Darstellungen Letzners und Boeclers, weshalb das Revisionsverfahren zu einer wieder eher positiven Sicht auf Ludwig den Frommen, welches Staubach mit den Darstellungen von François Louis Ganshof und Theodor Schieffer 1957 beginnen lässt[24], überhaupt erst als ein solches erkannt werden konnte. Während Ganshof schon die letzte Regierungsphase Karls des Großen als Dekomposition bewertet, hebt Schieffer die ‚ordinatio imperii’ als den Höhepunkt des karolingischen Zeitalters hervor.[25]

3. Ludwig der Fromme in der Geschichtsschreibung der Aufklärung

3.1 Geschichtsverständnis der Aufklärung

„Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“[26], schrieb der Berliner Spätaufklärer Friedrich Nicolai 1806. Die Entwicklungen, welche die Geschichte und mit ihr die Geschichtswissenschaft derart in den Mittelpunkt des Interesses haben rücken lasse, wurzeln im Humanismus und werden in der Aufklärung konsequent weitergeführt. Ausgangspunkt für eine neue Positionierung der Geschichtswissenschaft ist die allgemeine Säkularisierung des Denkens, die im Humanismus ihren Anfang nimmt, und, beginnend mit René Descartes, in der Aufklärung konsequent fortgeführt wird. Descartes formuliert 1637 in seinem „Discours de la Méthode“ die Idee der (radikalen) Kritik, wenn er schreibt, man solle „niemals eine Sache als wahr anerkennen, von der [man] nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist.“[27] Mit der Forderung einer vernunftmäßigen Überprüfung von allem, was bisher in reiner Gottes- bzw. Autoritätshörigkeit unhinterfragt hingenommen wurde, wurde die Möglichkeit einer grundlegenden Standpunktwandlung überhaupt erst bereitet. In der deutschen Frühaufklärung, die ungefähr auf die Jahrhundertwende vom 17. auf das 18. Jahrhundert zu datieren ist, werden die Folgen einer vernunftgesteuerten Kritik in der deutschen Literatur und Philosophie zumindest zaghaft erkennbar. Gott hat als Schöpfer der Welt zwar keinesfalls ausgedient, jedoch bemüht man sich seine Existenz mittels der Vernunft zu beweisen. Seine Existenz galt also nicht mehr als selbstverständlich. Auch der bedeutendste Philosoph der deutschen Frühaufklärung, Gottfried Wilhelm Leibniz, rechtfertigt in seiner „Theodizee“ die Existenz Gottes und bescheinigt ihm, ‚die beste aller möglichen Welten’[28] geschaffen zu haben. Wirkt der hier ausgedrückte radikale Optimismus zunächst eher hemmend auf die deutsche Aufklärungsbewegung, löst sich das Denken zur Mitte des Jahrhunderts, zusammenfallend mit der im europäischen Vergleich späten Konstituierung der Naturwissenschaften an einer deutschen Universität und dem Wirken des bedeutendsten deutschen Philosophen zwischen Leibniz und Kant – Christian Wolff -, zunehmend aus der Abhängigkeit von kirchlichen Dogmen und wird nach inneren Prinzipien der Vernunft ausgerichtet. Für die Geschichtswissenschaft ist das von größter Bedeutung, verschiebt sich damit auch das gesamte Geschichtsbild bzw. -verständnis. Mit der allgemeinen Säkularisation des Denkens wandelt sich das Geschichtsverständnis von der mittelalterlichen Heilsgeschichte, die die Geschichte zu einer Hilfswissenschaft der Theologie degradierte, zu einem von der Theologie unabhängigen Wissenschaftsbereich, der seinen Zweck in der irdischen Realität sieht. Muhlack bezeichnet diese Entwicklung als „immanente Wendung gegenüber dem christlich-theologischen Dualismus.“[29] Diese immanente Wendung der Aufklärung stößt allerdings an die neue Transzendenz eines absoluten, also außerhalb der Geschichte liegenden Vernunftideals, wie es u.a. Kant formulierte: „Die Geschichte bringt die Resultate menschlichen Handelns hervor, nicht aber die Werte, welche es steuern sollten.“[30] An diesem Punkt wird der Historismus noch einen Schritt weiter gehen und die immanente Wendung der Aufklärung vollenden (s. u.). Der irdische Zweck der Aufklärungsgeschichte liegt nicht mehr darin, die Allmacht Gottes und demgegenüber die Nichtigkeit des Menschen zu exemplifizieren, sondern in der Illustrierung exemplarischen Verhaltens und damit in einer Normierung des praktischen, individuellen Verhaltens. Eben dieses tugendhafte Verhalten ist in der Aufklärung, wie oben beschrieben, noch nicht geschichtlich, weshalb sich alle Zeitalter als Verhaltensmuster anbieten. Der Historiker soll also „über Tugend und Laster unterrichten, Beispiele guten und schlechten Verhaltens geben, Kenntnis der Zukunft ermöglichen, Bilder guter und böser Sitten malen [...]“[31]. Die Geschichtsauffassung wandelt sich in der Aufklärung somit zu einer didaktisch-pragmatischen Anschauung, ohne das christlich-theologische Geschichtsverständnis völlig zu verdrängen.[32] So ist wohl auch der eingangs zitierte Satz Nicolais zu verstehen: Die Geschichte zeigt den Menschen durch die Präsentation guter und schlechter Verhaltensmuster der Vergangenheit moralisches und richtiges Verhalten in der Gegenwart, beleuchtet den Menschen also den zu beschreitenden Weg.[33] Durch diese grundsätzlichen Änderungen des Geschichtsverständnisses bedingt, gibt es auch erhebliche inhaltliche Verschiebungen. Die profane Geschichte, die speziell im Mittelalter ein Schattendasein neben der heiligen Geschichte führte, wird zur Geschichte schlechthin, weshalb Muhlack von einer „Verabsolutierung profaner Geschichte“[34] spricht. Die Religions- bzw. Kirchengeschichte selbst ist nur noch einer von vielen Inhalten der profanen Geschichte, wie der aufklärerische Historiker August Schlözer darstellt:

„[...] nur wirklich grosse Handlungen, nebst den Triebfedern derselben, die theils in der Beschaffenheit seines [des Volkes] Landes, und der Menge seiner Bürger, theils in seiner Staatsverfassung, in seiner Gesetzgebung nach allen Zweigen der Politik, in seiner Cultur in Sitten, Religion, und Wissenschaften, und in seiner Industrie im Landbau, Handel, und Manufacturen, liegen, [sollen dargestellt werden].“[35]

Neben der Verschiebung des Geschichtszwecks in die irdische Realität und der damit verbundenen praktischen Nutzung von Geschichte, werden noch zwei weitere Punkte in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Geschichte vorangetrieben. So wächst in der Aufklärung die Erkenntnis, dass das Erkennen der Wirklichkeit von Standpunkt und Eigenschaften des betrachtenden Individuums abhängig ist. Der sogenannte Perspektivismus wird schon bei Leibniz formuliert und von Chladenius theoretisch weiterentwickelt, der den individuellen Standpunkt eines jeden Menschen als „Sehepunckt“[36] bezeichnet, von dem die Erkenntnis maßgeblich beeinflusst ist.

„Dagegen irren aber die sehr, die verlangt haben, daß ein Geschichtsschreiber sich wie ein Mensch ohne Religion, ohne Vaterland, ohne Familie anstellen soll; und haben nicht bedacht, dass sie unmögliche Dinge fordern.[...] Eine Erzehlung also mit völliger Abstraction von seinem eigenen Sehepunckte ist [...] nicht möglich.“[37]

Eine weitere Vervollkommnung von theoretischer Seite erhält die Geschichtswissenschaft von der neu entstehenden Geschichtsphilosophie zur Mitte des 18. Jahrhunderts, die den allgemeinen Fortschrittsgedanken – ebenfalls charakteristisch für die Epoche der Aufklärung[38] – systematisch auf die Geschichtswissenschaft überträgt. Als Begründer der Geschichtsphilosophie gilt Isaak Iselin[39], dessen Thema die Fortschrittsgeschichte der Menschheit ist.[40] Mit dem Postulat einer sich stetig fortentwickelnden Menschheit versuchen die Geschichtsphilosophen die empirischen Erkenntnisse der Historiker in ein teleologisches System zu integrieren, wie es nach Iselin insbesondere Kant – allerdings durchaus skeptischer – und Schiller formulierten: „So würde denn unsere Weltgeschichte nie etwas anderes als ein Aggregat von Bruchstücken werden und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen. [...], er [der philosophische Geist] bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte.“[41] Neben den großen Handlungen der eigenen Geschichte gerät zunehmend auch die Geschichte nicht-europäischer Völker in den Blickpunkt, die insbesondere den Geschichtsphilosophen Nahrung für eine spezielle Entwicklungsphilosophie der Menschheit gibt, wenn ‚neuentdeckte’ Naturvölker eine frühere Stufe der eigenen Entwicklung illustrieren.[42] Diese Vereinnahmung der Geschichte durch die Philosophie hat zur Folge, dass die Geschichtswissenschaft, nachdem sie sich von der Theologie emanzipiert hat, der Philosophie untergeordnet wird und damit weiterhin nicht über den Status einer Hilfswissenschaft hinauskommt. Durch den globalisierten Rahmen historischer Themen werden in der Aufklärung, in enger Anlehnung an die geschichtsphilosophischen Ideen, v.a. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Universal- bzw. Weltgeschichten verfasst, die keinen Wert auf eine gründliche Detailforschung legen, sondern eben im Aufzeigen aller bedeutenden weltgeschichtlichen Ereignisse gewisse regelhafte Abläufe herauszustellen versuchen. Hegel und später Marx konstruieren auf die Geschichtsphilosophie der Aufklärung aufbauend dann ein Geschichtsverständnis, in dem die Philosophie derart überwiegt, dass die empirischen Erkenntnisse nur noch Anschauungsmaterial für einen vernunftmäßig zu erfassenden Weltlauf sind. Da Hegel mit seiner Theorie damit weder explizit der Aufklärung noch dem Historismus zuzurechnen ist, wird sein Ludwigbild, so spärlich es auch ausfallen mag, ebenfalls unter Punkt 3.2 subsumiert.

[...]


[1] Boshof, Egon: Kaiser Ludwig der Fromme. Überforderter Erbe des großen Karl? In: Kraus, Thomas/Pabst, Klaus (Hg.): Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins. Bd. 103. Aachen, 2002. S. 7.

[2] Siemes, Helena: Beiträge zum literarischen Bild Kaiser Ludwigs des Frommen in der Karolingerzeit.

Freiburg, 1966.

[3] Nelsen-Minkenberg, Heike: David oder Salomon. Studien zur Rezeptionsgeschichte Kaiser Ludwigs des Frommen in der Historiographie des 9. bis 13. Jahrhunderts. Aachen, 2004. Die komplette Ausgabe dieser Dissertation ist kostenlos online einsehbar unter: http://sylvester.bth.rwth-aachen.de/dissertationen/2005/079/05_079.pdf (letzter Zugriff: 10.07.2007)

[4] Staubach, Nikolaus: „Des großen Kaisers kleiner Sohn“: Zum Bild Ludwigs des Frommen in der älteren deutschen Geschichtsforschung. In: Godman, Peter/Collins, Roger (Hg.): Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814-840). Oxford, 1990. S. 701-721.

[5] So belegt der englische Historiker Lord Acton die gesamte deutsche Geschichtsschreibung die vor dieser Trennlinie liegt mit „dem Verdikt der Bedeutungslosigkeit.“ Ebd.: S. 701/702.

[6] Nelsen-Minkenberg, Heike: David oder Salomon. Studien zur Rezeptionsgeschichte Kaiser Ludwigs des Frommen in der Historiographie des 9. bis 13. Jahrhunderts. Aachen, 2004.

[7] Vgl. für diese Phase: Ebd. S. 21-143 u. 364-366.

[8] So schreibt z.B. Astronomus: „Nur einer Schuld ziehen ihn seine Neider, der, dass er zu gütig gewesen wäre. [...] Vergib ihm diese Sünde.“ Astronomus: Vita Hludowici Imperatoris / Das Leben des Kaisers Ludwig. In: Buchner, Rudolf (Hg.): Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Bd. V: Quellen zu karolingischen Reichsgeschichte. 1. Teil. Darmstadt, 1968. S. 261.

[9] Ebd.: S. 285.

[10] Thegan: Vita Hludowici Imperatoris / Das Leben Kaiser Ludwigs (des Frommen). In: Buchner, Rudolf: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Bd. V: Quellen zu karolingischen Reichsgeschichte. 1. Teil. Darmstadt, 1968. S. 229.

[11] Nelsen-Minkenberg, Heike: David oder Salomon. Studien zur Rezeptionsgeschichte Kaiser Ludwigs des Frommen in der Historiographie des 9. bis 13. Jahrhunderts. Aachen, 2004. Vgl. zu dieser Phase: S. 144-180 u. 366-368.

[12] Vgl.zur dritten Phase: Ebd.: S. 181- 187 u. 368/369.

[13] Vgl. zu dieser vierten Phase: Ebd.: S. 188-246 u. 369-371.

[14] Ebd. S 370.

[15] Vgl. zur letzten Phase: Ebd.: S. 247-363 u. 372-377.

[16] Ebd.: S. 378.

[17] Staubach, Nikolaus: „Des großen Kaisers kleiner Sohn“: Zum Bild Ludwigs des Frommen in der älteren deutschen Geschichtsforschung. In: Godman, Peter/Collins, Roger (Hg.): Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814-840). Oxford, 1990. S. 701-721.

[18] Letzner, Johann: Chronica und historische Beschreibung / des Lebens / der Hendel und Thaten / des aller großmächtigsten und hocherleuchten andern und teutschen Röm. Key. Lodowici Pii Hildesheim, 1604. Vgl. hierzu u.a. auch: Ebd. S. 12 Rs, 15 Rs.

[19] „[...] was sie [Judith] dißfals ihrem Herrn Lodowico fürschlug und angab / das dürffte er nicht wider sprechen. Darumb ist auch viel dinges geschehen / das viel besser gewesen were / das mans unterlassen het. Und damit hat dieser Lodowig vieler Leut ungunst auff sich geladen.“ Ebd.: S. 30 VS.

[20] „[...] aber der Kaiser traute den Franzosen nicht / sondern wollt sich viel lieber den Teutschen vertrauen / [...]“ Ebd.: S. 21 Rs.

[21] „Als der Herbst nahte, wollten diejenigen, welche dem Kaiser feindlich gesinnt waren, irgendwo in Francien eine allgemeine Versammlung abhalten. Der Kaiser arbeitete jedoch dem heimlich entgegen, da er den Franken mißtraute und lieber den Germanen sich anvertraute. Und er setzte es durch, daß sich alles Volk in Nymwegen sammelte.“ Astronomus: Vita Hludowici Imperatoris / Das Leben des Kaisers Ludwig. In: Buchner, Rudolf (Hg.): Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Bd. V: Quellen zu karolingischen Reichsgeschichte. 1. Teil. Darmstadt, 1968. S. 337.

[22] Vgl.: Staubach, Nikolaus: „Des großen Kaisers kleiner Sohn“: Zum Bild Ludwigs des Frommen in der älteren deutschen Geschichtsforschung. In: Godman, Peter/Collins, Roger (Hg.): Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814-840). Oxford, 1990. S. 708.

[23] Vgl.: Ebd.: S. 709.

[24] Vgl.: Ebd.: S. 721.

[25] Vgl.: Nelsen-Minkenberg, Heike: David oder Salomon. Studien zur Rezeptionsgeschichte Kaiser Ludwigs des Frommen in der Historiographie des 9. bis 13. Jahrhunderts. Aachen, 2004. S. 6.

[26] Nicolai, Friedrich: Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freymaurer, veranlaßt durch die sog. historisch-kritische Untersuchung des Herrn Hofraths Buhle über den Gegenstand. In: ders.: Gesammelte Werke (hg. v. Bernhard Fabian und Marie-Luise Spieckermann). Bd. 5. Hildesheim, Zürich, New York, 1988 (reprographischer Nachdruck von Berlin, Stettin, 1806). S. 27.

[27] Descartes, René: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. (Original: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences. 1637 / Übersetzt von Lüder Gäbe.) Hamburg, Bad Honnef, 1978 (unveränderter Nachdruck von 1960). S. 15.

[28] „[...] deum ex infinitis mundis possibilibus optimum elegisse [...]“ Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Philosophischen Schriften. (Hg. v. C. J. Gerhardt.) Bd. 2. Hildesheim, 1960 (unveränderter Nachdruck von Berlin, 1879). S. 359.

[29] Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München, 1991. S. 28.

[30] Zitiert nach: Völkel, Markus: Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive. Köln, Weimar, Wien, 2006. S. 233/234.

[31] Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München, 1991. S. 54.

[32] Vielmehr hinkt die deutsche Aufklärungsentwicklung im europäischen Vergleich hinterher, weshalb sie auf dem Weg zur allgemeinen aber auch geschichtsspezifischen Säkularisation des Denkens am längsten bestimmten christlich-dogmatischen Vorstellungen anhängt. Vgl.: Ebd. S. 39-41.

[33] Ähnlich äußert sich Christoph Martin Wieland: „Um herauszubringen, was dem Menschen möglich ist, muß man wissen, was er wirklich ist und was er geleistet hat.“ Zitiert nach: Möller, Horst: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main, 1986. S. 144. Und Justus Möser: „Nach meinem Wunsch sollte auch der Bauer die Geschichte nutzen, um daraus sehen zu können, ob und wo ihm die politischen Einrichtungen Recht oder Unrecht tun.“ Zitiert nach: Kocka, Jürgen: Geschichte und Aufklärung. Göttingen, 1989. S. 143.

[34] Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München, 1991. S. 90 und 276.

[35] Schlözer, August Ludwig: Vorstellung einer Universal-Historie. Göttingen, 1772. S. 121/122.

[36] „Der Sehepunckt ist der innerliche und äußerliche Zustand eines Zuschauers, in so ferne daraus eine gewisse und besondere Art, die vorkommenden Dinge anzuschauen und zu betrachten, flüsset.“ Chladenius, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. S. 100.

[37] Chladenius, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. S. 151.

[38] Dieser Fortschrittsgedanke zeigte sich in Frankreich 1687, als Charles Perraud in einer Rede vor der Académie française die Vorbildfunktion der Antike in Frage stellte, da die Gegenwart dieser in nichts nach stehe. Der durch diese Rede entfachte Gelehrtenstreit ist als ‚Querelle des Anciens et des Modernes’ in die Geschichte eingegangen.

[39] Vgl.: Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München, 1991. S. 139.

[40] Die „herrschende Idee“ seines Werks ist es, den „Fortgang der Menschheit von der äussersten Einfalt zu einem immer höhern Grade von Licht und Vollkommenheit.“ zu zeigen. Iselin, Isaak: Über die Geschichte der Menschheit. 2 Bde., 5. Aufl., Basel, 1786 (unveränderter Nachdruck: Hildesheim, New York 1976). Bd. 1, S. XXXV.

[41] Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. In: ders.: Werke. Nationalausgabe. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Bd. 17, 1. Teil: Historische Schriften. Weimar, 1970. S. 373/374.

[42] Hierzu auch: Schiller: „Sie [die europäischen Entdeckungen] zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.“ Ebd.: S. 364. Und Turgot: „Auch heute noch vermittelt uns ein Blick auf die Erde die gesamte Geschichte der menschlichen Gattung, indem er uns die Spuren all ihrer Schritte und die Zeugnisse all ihrer durchlaufenen Stufen zeigt, von der Barbarei, die bei den amerikanischen Völkern noch immer fortlebt, bis hin zur Zivilisiertheit der aufgeklärtesten Völker Europas.“ Turgot, Anne Robert Jacques: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Hg. v. Johannes Rohbeck u. Lieselotte Steinbrügge. Frankfurt/Main, 1990. S. 198.

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Details

Titel
Ludwig der Fromme in den Darstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts nebst den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen
Hochschule
Universität zu Köln  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
Die karolingische Renaissance
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
37
Katalognummer
V83657
ISBN (eBook)
9783638000628
ISBN (Buch)
9783638910613
Dateigröße
584 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ludwig, Fromme, Darstellungen, Jahrhunderts, Voraussetzungen, Renaissance
Arbeit zitieren
Johannes Gramlich (Autor:in), 2007, Ludwig der Fromme in den Darstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts nebst den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83657

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