Albertines imaginierte Homosexualität im Spiegel der triangulären Struktur des Begehrens


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Albertine
2.1. Der Charakter Albertine
2.2. Die erste Begegnung zwischen Albertine und Marcel
2.3. Die Entwicklung der Beziehung

3. Homosexualität
3.1. Proust und die eigene Homosexualität
3.2. Albertine und die imaginierte Homosexualität

4. Eifersucht

5. Mediatoren

6. Das trianguläre Begehren in der Recherche

7. La danse contre seins

8. Schlussbetrachtung

Literatur

1. Einleitung

„Tatsächlich liegt in der Liebe beständiges Leiden beschlossen, das durch die Freude zwar neutralisiert, in bloß potentiellem Zustand erhalten und vertagt wird, das aber jeden Augenblick werden kann, was es seit langem wäre (hätte man nicht erlangt, was man ersehnt): entsetzlich“[1]

Die Liebe, die schönste Sache der Welt, ein entsetzliches Leiden? Wer kann denn so etwas behaupten? - Diese Worte stammen aus der Feder des französischen Autors Marcel Proust, aussprechen lässt er sie den Hauptprotagonisten seines Romanwerkes „A la Recherche du Temps perdu“ - Marcel. Allerdings spricht er in diesem Bezugsrahmen nicht von der wahren romantischen Liebe, wie man sie im Allgemeinen definieren würde, sondern vielmehr von „désir“, einem Begriff, der den der Liebe besonders in der französischen Moralistik des 20. Jahrhunderts mehr und mehr überlagert.[2] Durch diese Akzentuierung des „désir“ übernimmt die „Recherche“ deshalb eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der Liebesdiskurse des letzten Jahrhunderts[3] und soll in der hier vorliegenden Hausarbeit den Mittelpunkt darstellen, besonders in Bezug auf die beiden zentralen Themen Homosexualität und Imagination, die Proust in der „Recherche“ verarbeitet.

Laut Jeanine Huas präsentiert sich der Autor dieses Werkes als erster großer Romancier, der Homosexuelle offen darstellt, während der Schriftsteller Francois Porcher seinen Roman als „L’Edit de Nantes des anti-conformistes en amour“ bezeichnet, als einen Akt der Befreiung, auch wenn die verwendete Sprache noch als eher zurückhaltend zu beschreiben ist.[4] Im Folgenden soll auf dieser Basis die Beziehung zwischen Marcel und Albertine näher beleuchtet werden, die, wie später noch beschrieben wird, erst durch die imaginierte Homosexualität der jungen Frau und die dadurch hervorgerufene Eifersucht Marcels forciert aber auch zerstört wird. Zunächst soll deshalb die Person Albertine und die Entwicklung ihrer Beziehung zum Erzähler beschrieben, während danach die Themen Homosexualität und Eifersucht einer Untersuchung unterzogen werden. Schlussendlich werde ich mich näher mit der triangulären Struktur des Begehrens im Roman beschäftigen und diese durch die Interpretation einer Szene des Werkes näher erklären.

2. Albertine

2.1. Der Charakter Albertine

„Mais j’aimerais mieux vous présenter les personnages que vous ne connaissez pas encore, celui surtout qui joue le plus grand rôle et amène la péripétie, Albertine.“[5]

Der Charakter Albertine provoziert im Roman einen Strukturwandel in zweierlei Hinsicht. So sorgt sie auf der einen Seite auf der Ebene der Romanintrige für katastrophale Folgen und sprengt auf der anderen die ursprünglich intentional geschlossene Architektonik des Werkes. Allein durch ihr Wirken und die mit ihr verbundenen Geschichten um Gefangenschaft und Flucht verändern den Fortgang des Romans vollständig.[6]

Laut Volker Roloff ergibt sich die Figur Albertine:

„[...] aus einer ganzen Reihe von Assoziationen, sie erscheint zunächst als Produkt einer märchenhaft orientalischen Balbec-Imagination Marcels, als eine Figur der „art persan“, als antike Bacchantin; dann als eine Figur, die der Idôlatrie Giottos ähnlich ist, oder antiken Skulpturen wie z.B. den Koren, der Leucothea Virgils; sie erinnert an Michelangelo, erscheint als „ange musicien“, als biblischer Todesengel, als Heilige Cäcilia oder als eine Figur der Romane Dostojewskis oder der Geschichten von Tausend und einer Nacht.“[7]

Bestätigt wird der Eindruck ihrer Ambivalenz durch die Darlegungen Sophie Berthos, die die Art und Weise, in der der Erzähler Albertine als Kunstwerk verehrt und in verschiedensten Gemälden wiedererkennt, näher beleuchtet[8]:

„[Ich hatte mir] vorgenommen [...], Sammlungen anzulegen wie Swann, mir Bilder und Statuetten zu kaufen, [...]. Aber enthielt nicht mein Zimmer ein weit kostbareres Kunstwerk als all jene anderen? Dies Kunstwerk war Albertine.“[9]

So sind es ins Besondere vier Gemälde, die in Zusammenhang mit Albertines Namen im Roman vorgestellt werden. Beim ersten handelt es sich um die sogenannte „Miss Sacripant“ des Malers Elstir, in dem jene als eine Art „dandy femelle“ daherkommt, als die unerreichbare und rätselhafte, allerdings immer wieder entweichende Geliebte Marcels. Mit dem zweiten Gemälde, der „Idôlatrie“ Giottos, wird die teuflische Natur Albertines in Bezug auf ihre Untreue dargestellt, während sie in der „Austreibungsszene“ von Carpaccio, die Marcel allerdings erst im letzten Teil des Romans zum ersten Mal sieht, für einen kurzen Augenblick wieder aufersteht, um daraufhin endgültig in Vergessenheit zu geraten. Den Abschluss dieses Bilderkanons bildet das Engelfresko Giottos. Die Engel sind hier entsexualisiert dargestellt, was metaphorisch darauf hindeuten soll, dass sich der Erzähler mit der Vergangenheit versöhnt hat und seine Eifersucht in Bezug auf Albertine endlich zur Ruhe gekommen ist.[10]

Eingeführt wird die Figur der Albertine im Band „A l’ombre des jeunes filles en fleurs“, als sie, inmitten einer Gruppe junger Mädchen, am Strand des Kurortes Balbec entlang flaniert. Dieser Augenblick kann als Präludium der eifersüchtigen Episode Marcel-Albertine angesehen werden.[11] Bereits in dieser Szene umweht sie als „golfeuse brune au polo noir“ ein Hauch von Homosexualität, woraus deutlich wird, dass Proust ihre Figur wahrscheinlich absichtlich als vermutete imaginierte Homosexuelle angelegt hat, diesen Status allerdings erst allmählich herausarbeitet, also nicht direkt einführt. Zu erwähnen bleibt hier noch, dass der Charakter Albertine bei der Entstehung der Recherche zunächst Maria hieß und keinesfalls unter dem Verdacht stand, lesbisch zu sein. Ihren endgültigen Namen und die damit verbundenen individuellen Züge bekommt sie erst bei der Veröffentlichung des ersten Bandes der „Recherche“ „Du côté de chez Swan“ im Jahr 1913.[12]

2.2. Die erste Begegnung zwischen Albertine und Marcel

Proust legt die Liebe zwischen Albertine und Marcel in zwei verschiedenen Perioden an. Bei der Ersten handelt es sich um eine eher unschuldige, in der Albertine noch als Teil der Mädchengruppe am Strand von Balbec fungiert. Die Zweite beschreibt den erneuten Aufenthalt der beiden in diesem Kurort, der allerdings schon deutlich unter dem Schatten der Eifersucht steht.[13] Sich dessen selbst bewusst werdend, drückt der Erzähler diese Erfahrung mit den folgenden Worten aus:

„Mon hésitation entre les diverses jeunes filles de la petite bande, lesquelles gardaient un peu du charme collectif qui m’avait d’abord troublé, s’ajouta-t-elle aussi à ces causes pour me laisser plus tard, même au temps de mon plus grand - de mon second - amour pour Albertine, une sorte de liberté intermittente, et bien brève, de ne l’aimer pas?“[14]

Doch um einer genaueren Auseinandersetzung dieser Entwicklung nicht vorwegzugreifen, sollen zunächst die Anfänge der Beziehung zwischen Albertine und Marcel im Mittelpunkt meiner Ausführungen stehen: Kurz vor der Jahrhundertwende befindet sich der zu diesem Zeitpunkt 19-jährige Erzähler Marcel am Strand des französischen Badeortes Balbec. In einer Art „kinematographischem“ Schwenk, der stark an Baudelaires „Passantin“ erinnert, taucht plötzlich eine Gruppe von sechs unbekannten Mädchen im Blickfeld Marcels aus, lässt Begehren in ihm aufblitzen, um im nächsten Augenblick bereits wieder verschwunden zu sein. Bei ihnen absolute Körperkontrolle und sich dementsprechend ausdrückende Harmonie in ihren Bewegungen beobachtend, zieht das Verhältnis der jungen Frauen zu ihrem eigenen Körper den Erzähler magisch an. Außerdem scheint es ihm, dass die Mädchen die Welt um sich herum überhaupt nicht wahrnehmen, wofür er die Ursache in den „neuen Sportgewohnheiten“ von Frauen sucht. Sowohl ihr Einklang mit sich als auch ihre Zentriertheit auf sich werden allerdings erst durch den Missklang der Bewegungen der anderen Spaziergänger deutlich.[15] Diese Körperbeherrschung der Mädchen beschreibt Proust mit den Worten:

„[Die Mädchen schritten] mit der Beherrschung aller Gesten, die eine vollkommene Schmeidigung des eigenen Körpers und eine aufrichtige Nichtachtung gegenüber der übrigen Menschheit verleiht, ohne Zögern und ohne Steifheit geradeaus, wobei sie genau die Bewegungen ausführten, die sie ausführen wollten, in voller Unabhängigkeit aller ihrer Glieder voneinander und jener Unbeweglichkeit der größeren Körperpartie, die für gute Walzertänzerinnen so charakteristisch ist.“[16]

Zunächst zählt Marcel die Gruppe zum (Klein-)Bürgertum und hält die Mädchen für Freundinnen von Radrennfahrern, wird allerdings bereits kurze Zeit später eines besseren belehrt, als er beim Kennenlernen von Albertine erfährt, dass sie, genau wie er selbst, der französischen Bourgeoisie angehört. Die „Überflussöko-nomie“ der Mädchenkörper, der ein Übermaß an Jugend eigen ist, die unbedingt ausgegeben werden muss, wird in der Szene am Strand als voller Gegensatz zum eher kränklichen und gebrechlichen Körper des Erzählers eingeführt. Des Weiteren lösen sie bei ihm zivilisatorische, botanische, maritime und mythisch-sapphische Assoziationen aus, d.h. sie beeindrucken ihn mit ihrer Gesundheit, Sportlichkeit und Pflanzenhaftigkeit und erwecken in seiner Phantasie Meeres- und Griechenlandbilder.[17]

Die Kleidung der Mädchen lenkt das Auge des Erzählers in besonderem Maße auf sich. Proust setzt diese allerdings nicht nur in dieser Szene sondern im ganzen Roman exakt und intentional ein. Dabei sollen zwei gegensätzliche Funktionen erfüllt werden: zum einen verbinde die Mode das Individuum mit dem Kollektiv, zum anderen bietet sie ihm allerdings auch die Möglichkeit, sich von diesem zu unterscheiden[18]:

„Eine der Unbekannten schob mit einer Hand ihr Fahrrad vor sich her; zwei andere waren mit Golfschlägern ausgerüstet; ihr Anzug aber war völlig verschieden von dem der anderen jungen Mädchen in Balbec, von denen einzelne zwar dem Sport huldigten, aber ohne dafür eine Spezialkleidung anzulegen.“[19]

Wie hier deutlich wird, spricht Proust die neue Mode einiger junger Frauen an, bei sportlicher Betätigung darauf zugeschnittene spezielle Kleidung zu tragen und nimmt dabei Bezug auf die zu dieser Zeit aktuelle Diskussion, ob Frauen überhaupt „Männersport“ - in dem Falle Radfahren - ausüben sollten und ob sie dazu auch Hosen tragen dürften, gleichwohl sie dadurch ihre Weiblichkeit einbüßen könnten. Auffällig in der Szene der ersten Begegnung von Albertine und Marcel ist, dass gerade sie diejenige in der Gruppe der Mädchen ist, die ein Fahrrad mit sich führt. Zwar war nicht jede Rad fahrende Frau dieser Zeit lesbisch, allerdings fühlten sich diese natürlich besonders stark zu den „neuen Sportarten“ hingezogen. Albertines Fahrrad kann also durchaus als poetisches Zeichen ihrer vermuteten Homosexualität gewertet werden, da das neue weibliche Körperbild, dass sie in diesem Moment darstellt, einen Bruch mit der herkömmlichen Geschlechterordnung natürlich auch im sexuellen Sinne bedeutet. Offen bleibt allerdings ob Albertine in dieser Szene Hosen trägt.[20]

Die „Radfahrerin“ ist die einzige in der Mädchengruppe, die von Anfang an als Individuum wahrgenommen wird, d.h. ihre Kleidung wird erwähnt, sie spricht, schaut den Erzähler an und erhält später auch als Erste einen Namen, was in seiner Gesamtheit das Begehren des Erzählers forciert. Nur ihre Worte - „vivre sa vie“[21] -, die allerdings als prophetisch für die spätere Beziehung zwischen den beiden angesehen werden können und von ihr im Straßenjargon angeschlagen werden, dringen zu ihm vor. Seine Gefühle in diesem Moment beschreibt der Erzähler folgendermaßen:

[...]


[1] Zit. nach Roloff, Volker: Imaginäre Schauspiele des Begehrens. Zur (Inter-)Medialität der Erotik in der Recherche. In: Balke, Friedrich/Roloff, Volker (Hrsg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust. Wilhelm Fink Verlag, München 2003, S. 154.

[2] Vgl. Roloff, S. 143.

[3] Vgl. Warning, Rainer: Das Imaginäre der Proustschen „Recherche“. Mit einem Beitrag von Karlheinz Stierle zur Erinnerung an Hans Robert Jauß. Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 1999, S. 143.

[4] Vgl. Huas, Jeanine: L’homosexualité au Temps de Proust. Editions Danclau, Dinard 1992, S. 7 ff.

[5] Zit. nach Veltkamp, Ingrid: Marcel Proust. Eifersucht und Schreiben. Freiburger Schriften zur Romanistischen Philosophie, München 1987, S. 63.

[6] Vgl. Veltkamp S. 63.

[7] Roloff, S. 149, f.

[8] Vgl. Bertho, Sophie: Albertines Roman. Gemälde und Geheimnisse bei Proust. In: Balke, Friedrich/Roloff, Volker (Hrsg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust. Wilhelm Fink Verlag, München 2003, S. 119.

[9] Zit. nach Bertho, S. 119.

[10] Vgl. Bertho, S. 122, ff.

[11] Vgl. Veltkamp, S. 64.

[12] Vgl. Hartwig, Ina: Sexuelle Poetik. Proust, Musil, Genet, Jelinek. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1998, S. 62.

[13] Vgl. Veltkamp, S. 66.

[14] Zit. nach Veltkamp, S. 66.

[15] Vgl. Hartwig, S. 65 f.

[16] Zit. nach Hartwig, S. 66.

[17] Vgl. Hartwig, S. 66 f.

[18] Ebd., S. 67.

[19] Zit. nach Hartwig, S. 67.

[20] Vgl. Hartwig, S. 68.

[21] Zit. nach Veltkamp, S. 67.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Albertines imaginierte Homosexualität im Spiegel der triangulären Struktur des Begehrens
Hochschule
Universität Leipzig  (Romanistik)
Veranstaltung
Proust et le monde sensible
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V83064
ISBN (eBook)
9783638895415
Dateigröße
463 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Albertines, Homosexualität, Spiegel, Struktur, Begehrens, Proust
Arbeit zitieren
Eva Jannasch (Autor:in), 2006, Albertines imaginierte Homosexualität im Spiegel der triangulären Struktur des Begehrens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83064

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