Schicht, Struktur und Gattung: Zusammenhang der Begriffe


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1974

14 Seiten


Leseprobe


SCHICHT, STRUKTUR UND GATTUNG:

ZUSAMMENHANG DER BEGRIFFE[i]

Wolfgang Ruttkowski

Aus der Überzeugung heraus, dass der Gattungsbegriff nur im Vergleich mit dem Schicht- und Strukturbegriff befriedigend erklärt werden kann, soll hier eine Abgrenzung dieser drei häufig benutzten Termini versucht werden, die zugleich ihre gegenseitige Abhängigkeit erweist.

Schicht:

Das Schichtenmodell hat erst in der Ontologie Nicolai Hartmanns[ii], seine volle und konsequente Ausgestaltung erfahren. Hartmanns Kategorienanalyse stellt zugleich die Synthese aller vorhergehenden Schichtenvorstellungen dar. Da wir keine historische Darstellung geben wollen, genügt es, seine Hauptgedanken zu umreißen.

Danach ist die Welt ein Stufenreich. Die Stufen dürfen aber nicht mit den Klassen der Lebewesen verwechselt werden. "Die höheren Gebilde, aus denen die Welt besteht, Pflanze, Tier, Mensch und Volk sind selber geschichtet; die Schichten, aus denen sich die Welt aufbaut, sind auch in ihnen aufzuweisen. So ist der Mensch materielles, organisches, seelisches und geistiges Wesen, besteht aus vier Schichten. Und auch die Menschengemeinschaft, die griechische polis z. B., hat in ihrer geographischen Lage eine materielle Struktur, sie hat ihr organisches Leben, ihre Triebe und Bedürfnisse, aus denen ihre ökonomische Welt erwächst, und sie hat auch ein seelisches und ein geistiges Leben. Die höheren Tiere und das vorgeschichtliche geistlose Bewusstsein des Menschen haben drei Schichten, das niedere Tier und die Pflanze zwei. Der Extension nach ist die materielle Schicht die größte. Je höher die Schicht, umso weniger verbreitet ist sie. Nur auf einem kleinen Teil des anorganischen Seins baut sich das organische auf, wieder nur in den am höchsten entwickelten organischen Gebilden findet sich Seelisches, und nur in einer Art der beseelten Lebewesen gibt es Geist."[iii]

Wenn alle Gefüge der niederen Schicht Elemente zum Aufbau der höheren werden, spricht Hartmann von einem "Überformungsverhältnis" (zwischen der Materie und dem Anorganischen). Das "Überbauungsverhältnis" der beiden nächst höheren Stufen unterscheidet sich dadurch, dass bei ihm nur ein Teil der Kategorien der niedrigeren Schicht in die höhere eindringt. "Der prinzipielle Unterschied zwischen der seelischen und den beiden unteren Schichten besteht in der Unräumlichkeit, der Innerlichkeit der seelischen Inhalte (psychophysische Grenzscheide). Das Geistige hebt sich wiederum vom Seelischen vornehmlich ab durch seine Überindividualität."[iv]

Im Unterschied zu den einfachen Kategorien bestimmen die Fundamentalkategorien alle vier Schichten. Zu ihnen gehören die "kategorialen Gesetze," in deren Fixierung eine Hauptleistung dieses Systems liegt. Es ist letztlich für uns nicht wichtig, ob wir mit Hartmann in allen Einzelpunkten übereinstimmen und wie wir seine Schichten weiter unterteilen. Aus den "Gesetzen der kategorialen Dependenz" ergibt sich aber, dass die vier Hauptschichten zwar verschieden ausdifferenziert werden können (wie Hartmann selbst in seiner Ästhetik tut) - nicht aber in ihrer Reihenfolge vertauscht werden dürfen. Denn die niedere Schicht ist immer die stärkere (Gesetz der Stärke) und in sich autonom (G. der Selbständigkeit), bildet aber die Materie für die höhere (G. der Materie), die wiederum durch ihr "Novum" Spielraum für höhere Gesetzlichkeiten besitzt (G. der Freiheit).

Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass diese Schichtengesetzlichkeit sich in völliger Übereinstimmung mit den wichtigsten psychologisch-anthropologischen Schichtenmodellen befindet, deren Synthese und gründlichste Ausarbeitung wir Erich Rothacker verdanken [v]

Aber nicht nur für die allgemeine Ontologie hat Hartmann das umfassendste Schichtenmodell entwickelt, sondern auch für die Ästhetik.[vi] Das Kunstwerk ist Erzeugnis und Ausdruck des Menschen zugleich und deshalb ebenso geschichtet wie er.[vii] Dass die Schichten des Kunstwerks feiner ausdifferenziert werden, täuscht uns nicht darüber hinweg, dass sie auf den ontologischen beruhen.

Im Sprachkunstwerk unterscheidet Hartmann, von außen nach innen fortschreitend, sieben Schichten: 1. den realen Vordergrund oder die Realschicht (Wort und Schrift); 2. den irrealen Vordergrund oder die Zwischenschicht, die auch gelegentlich "zweiter Vordergrund erscheinender Wahrnehmbarkeit, unmittelbar anschaulich durch die Phantasie" genannt wird; gelegentlich spricht er auch von den "mittleren Schichten" und unterscheidet dann die "Sphäre des Äußeren, der körperlichen Bewegung, Stellung, Mimik, Rede" von der "Schicht der Handlungen, des äußeren Verhaltens, der Reaktionen und Aktionen" (3) und von dieser die "Schicht der seelischen Formung, der Gefühle und Stimmungen" (4) und die des Schicksals (5); vom irrealen Vordergrund hebt sich der "irreale Hintergrund" (oder "die letzten Hintergrundsschichten") ab, der ideenhaft und überempirisch ist, und zwar die "Schicht der individuellen oder Persönlichkeitsidee" (6) und die "Schicht des Allgemeinmenschlichen, der Ideen" (7).

Für das Sprachkunstwerk im Besonderen (und später auch in Ausweitung für andere Kunstarten) wurde jedoch noch ein weiteres Schichtenmodell entwickelt (wahrscheinlich unabhängig von Hartmann): Der polnische Philosoph Roman Ingarden[viii] unterscheidet nur fünf Schichten: 1. die der Wortlaute und der auf ihnen aufbauenden

Lautgebilde höherer Stufe; 2. die der Bedeutungseinheiten verschiedener Stufen, der Satzsinne und Satzzusammenhänge; 3. die der "mannigfachen schematisierten Ansichten, in welchen die im Werk dargestellten Gegenstände verschiedener Art zur Erscheinung gelangen", 4. die der dargestellten Gegenständlichkeiten und ihrer Schicksale, welche in den durch die Sätze entworfenen intentionalen Sachverhalten dargestellt werden; 5. die der ausgedrückten Idee, der metaphysischen Qualitäten, der Wesenheiten.

[...]


[i] Dieser Aufsatz erschien auch auf Englisch: „Stratum, Structure, and Genre; Interrelation of the Terms“ in: Beiträge zur Germanistik. The Proceedings of the Dept. of Foreign Lang. And Lits., College of General Education, University of Tokyo, XXI/1 (1973) 153-164.

[ii] Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriss der allgemeinen Kategorienlehre (Berlin, 3. Aufl., 1964).

[iii] Hartmann, Einführung in die Philosophie; Vorlesungsnachschrift (Hannover, 1949), Sn. 121-22.

[iv] Ebda., S. 126.

[v] Erich Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit (Bonn, 1938; 8. Aufl., 1969). Dort heißt es in der "Vorrede zur Sechsten Auflage" (111): "Die häufigen Vergleiche meiner Thesen über die Struktur der 'Persönlichkeit' (nicht der 'Seele'!) mit der Ontologie Nicolai Hartmanns suggerieren verwunderlicherweise durch das gemeinsam verwandte Wort 'Schicht' einen inneren Zusammenhang, der wenig durchdacht ist." Auf den Seiten 109 und 167 werden aber die ontologischen Gesetzlichkeiten Hartmanns zur Unterstützung der eigenen Thesen herangezogen. Vergl. außerdem den ersten Ansatz für dergleichen Modelle bei Hermann Hoffmann, Die Schichttheorie (Stuttgart, 1935), und die groß angelegte Synthese bei Philipp Lersch, Der Aufbau der Person (7. Aufl., München, 1966).

Vergl. außerdem meine Bücher: Typen und Schichten. Zur Einteilung des Menschen und seiner Produkte. München-Bern: Francke 1978 mit der dazugehörigen, umfassenden, erläuternden Bibliographie Typologien und Schichtenlehren in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit mehr als 3000 Titeln (engl., frz., dt.) Rodopi-Verlag, Amsterdam. 1974, sowie meine Aufsätze: “The Main Differences Between Roman Ingarden’s and Nicolai Hartmann’s Strata-Systems“ in: Acta Humanistica 19/3 Foreign. Langs. And Lit. Series No. 17 (Kyoto June 1990) 64-82; und “Die Schichtenfolge in der Dichtung” in: Zeitschrift für Ästhetik XIX/2 (1974) 159-169.

[vi] Nicolai Hartmann, Ästhetik (Berlin, 1953; 2nd ed., 1966).

[vii] Rothacker geht sogar noch weiter (ebda., S. 1 70): "[. . .] substantiellen und durch autonome Gesetzlichkeiten gekennzeichneten Schichten entsprechen die ihnen jeweils korrelaten 'Umwelten'.[ . .] Nur ihnen bestimmte Umkreise von Bedeutsamkeiten, die sie der Wirklichkeit, ihrem Wesengesetz entsprechend, abgewonnen haben, und welche ihnen ihre geistige Nahrung bieten."

[viii] Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk (Tübingen, 1931; 3. Aufl., 1965). Ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (Darmstadt, 1968). Ders., Untersuchungen zur Ontologie der Kunst (Tübingen, 1962).

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Details

Titel
Schicht, Struktur und Gattung: Zusammenhang der Begriffe
Hochschule
Kyoto Sangyo University  (German Department)
Autor
Jahr
1974
Seiten
14
Katalognummer
V8298
ISBN (eBook)
9783638153058
ISBN (Buch)
9783638799041
Dateigröße
464 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
The German Quarterly XLVII/1 (Jan. 1974) 34-44. Dieser Aufsatz erschien auch auf Englisch: 'Stratum, Structure, and Genre, Interrelation of the Terms' in: Beiträge zur Germanistik. The Proceedings of the Dept. of Foreign Lang. And Lits., College of General Education, University of Tokyo, XXI/1 (1973) 153-164.
Schlagworte
Strukturbegriff, Gattungsbegriff in Literatur, Schichtenpoetik
Arbeit zitieren
Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 1974, Schicht, Struktur und Gattung: Zusammenhang der Begriffe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8298

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