Die Erträge der historischen Familienforschung für eine Theorie des historischen Gedächtnisses

Der Nationalsozialismus in der deutschen Erinnerung


Hausarbeit, 2007

34 Seiten, Note: 1,25


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Die Theorie des Gedächtnisses
1. Kulturwissenschaftliche Aspekte und Befunde
1.1 Die Entwicklung der Theorie eines sozialen Gedächtnisses
1.2 Das soziale Gedächtnis der Familie
2. Gedächtnistheoretische Aspekte aus Neuro-, Kognitions- und
Sozialpsychologie
2.1 Die Gedächtnissysteme und die Funktionsweise der Erinnerung
2.2 Die Rekonstruktion der Erinnerung

II. Der Nationalsozialismus im sozialen Gedächtnis der Familie
1. Der Nationalsozialismus als Störfaktor der Identität
2. Die intergenerationelle Tradierung nationalsozialistischer Erinnerungen

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Auf dem Gebiet der Zeitgeschichte kann immer eine Durchdringung von Geschichte und Gedächtnis stattfinden. Auf der einen Seite steht dabei die wissenschaftliche Geschichts-schreibung, auf der anderen die lebendigen Erinnerungen der Zeitzeugen. So könnte man sich die Frage stellen, ob diese nicht für bestimmte gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse identische Inhalte haben müssten. Erinnert nicht der Zeitzeuge, der persönlich bei der Maueröffnung im Jahr 1989 anwesend war, das Gleiche wie der Historiker, der ein Buch darüber verfasst hat? Die Antwort fällt eindeutig aus: Nein. Der Inhalt des individuellen Gedächtnisses des Zeitzeugen kann mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung sogar in markanten Punkten differieren. Doch welche Seite hat eine größere Relevanz für die Erinnerung an ein gesellschaftlich bedeutsames Ereignis? Dies soll in der vorliegenden Arbeit am Beispiel des „Nationalsozialismus“ untersucht werden. Da jedoch die Zahl der Zeitzeugen dieses bedeutenden historischen Abschnitts immer weiter abnimmt, soll ein Hauptaugenmerk auf das historische Gedächtnis des zeitgenössischen Lesers geworfen werden, d.h. auf das der Kinder- und Enkelgeneration. Es soll dabei herausgefunden werden, woraus sich unser historisches Gedächtnis speist und wie groß die Einflüsse der wissenschaftlichen Geschichts-schreibung einerseits und der persönlichen Erinnerungen unserer Eltern und Großeltern andererseits darauf sind.

Für die vorliegende Arbeit wurde ein interdisziplinärer Ansatz gewählt, der sich zunächst mit Befunden aus Soziologie und Psychologie auseinandersetzt, um sich dann der historischen Familienforschung zu widmen. Die soziologische Gedächtnisforschung wurde bereits 1925 von Maurice Halbwachs und seinem Werk „Les Cadres sociaux de la Mémoire“ (dt.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen) eingeleitet und durch seine Schrift über das Kollektive Gedächtnis weitergeführt, die er jedoch nicht mehr beenden konnte, da er im Februar 1945 im Konzentrationslager Buchenwald den Tod fand. Erst viele Jahrzehnte später wurden seine Ansätze wieder aufgegriffen und hielten Einzug in die Schriften von Aleida und Jan Assmann, Pierra Nora und vielen anderen, wodurch die soziale Bedingtheit der Erinnerung von einer höchst kritisierten zu einer wissenschaftlich fundierten These wurde. Auch in der Psychologie gab es einen gedächtnistheoretischen Vorreiter, Sir Frederic C. Bartlett, der Halbwachs’ Theorie einer durch äußere Einflüsse veränderbaren, somit konstruk-tiven Erinnerung experimentell bestätigen konnte. Aufgegriffen wurden seine Ergebnisse in den siebziger Jahren von Endel Tulving, der zusätzlich die Existenz verschiedener Gedächtnissysteme herausfand und somit verschiedene Arten von Erinnerungen differen-zieren konnte. Seinen Ideen folgen heute Wissenschaftler wie Hans J. Markowitsch, der gemeinsam mit dem Soziologen Harald Welzer versucht, die Funktion des Gedächtnisses und seines Inhaltes, der Erinnerungen zu entschlüsseln. Welzer war es schließlich auch, der 2002 das Buch „Opa war kein Nazi“ veröffentlichte und so konkret in die psychologisch-historische Familien- und Gedächtnisforschung überleitete. Er führte Interviews mit mehreren Generationen innerhalb einer Familie zum Thema „Nationalsozialismus“ durch, wobei er die Zeitzeugen zunächst im Gespräch mit der gesamten Familie von dieser Zeit berichten ließ und später im Einzelinterview die Nachkommen von diesen dazu befragte. Hierbei stellte sich – nach Halbwachs – die Bedeutung der Einbindung in die soziale Gruppe der Familie heraus und der Einfluss dieser Erinnerungsgemeinschaft auf die Gedächtnisinhalte der Kinder und Enkel bezüglich des Nationalsozialismus. Wie sich dieser Einfluss bemerkbar macht und wie seine Relevanz einzuschätzen ist, soll im Folgenden auf der Grundlage von Welzers Studie analysiert werden.

Die Vorgehensweise wird wie folgt aussehen: Im ersten kulturwissenschaftlichen Kapitel werden zunächst verschiedene Gedächtniskonzepte vorgestellt, um schließlich einen tieferen Einblick in den Entwurf eines sozialen Gedächtnisses zu ermöglichen, welches einen für die Träger nicht bemerkbaren, aber dennoch nicht zu unterschätzenden Einfluss auf deren historisches Bewusstsein ausüben kann. Besonders wichtig für die vorliegende Arbeit wird dieses dann im Zusammenhang mit der Familie werden, so dass die Entstehung und die Funktion des sozialen Familiengedächtnisses in einem gesonderten Abschnitt behandelt wird, wobei Halbwachs’ grundlegende Unterscheidung zwischen dem Familiengedächtnis und der Zeitgeschichte an dieser Stelle vorgestellt werden soll. Den zweiten theoretischen Block bilden Neurowissenschaftliche, Kognitions – und Sozialpsychologie, da diese in weiten Teilen ineinander greifen. So sollen an dieser Stelle die Inhalte des Gedächtnisses, also allgemein die Erinnerungen in den Blick genommen werden und ihre Organisation in verschiedenen Gedächtnissystemen. Eingehender werden im Folgenden die expliziten, d.h. die bewussten Erinnerungen betrachtet, zu denen sowohl schulisches (historisches) Wissen, als auch persönliche Erinnerungen zählen, wobei hier wiederum ein besonderes Augenmerk auf die äußeren Einflüsse des Erinnerungsprozesses gelegt werden. In einem weiteren Abschnitt soll dann die Konstruktivität der persönlichen Erinnerungen sowie die darauf einwirkenden Faktoren genauer untersucht werden.

Der zweite große Teil der Arbeit widmet sich dann – auf der Basis obiger Resultate – konkret der sozialen Gruppe der Familie und deren Erinnerungen an den „Nationalsozialismus“. Hier soll zunächst die Problematik dieses Themas im Zusammenhang mit der Identität der Zeitzeugen aufgezeigt werden und ein erster Vorgeschmack auf die kritische innerfamiliäre Tradierung seiner Vorstellungen gegeben werden. Im Folgenden wird diese dann genauer betrachtet, d.h. sowohl ihre Voraussetzungen als auch ihre Funktionsweise. Hierbei wird ein wesentlicher Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen familiären Loyalitätsbindungen und dem Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen sowie die daraus resultierenden Tradierungsphänomene zu werfen sein. Es sollen also, vereinfacht gesagt, die Schwierigkeiten bei der Erinnerung des Einzelnen und seiner Familie an den Nationalsozialismus aufgezeigt werden, deren Auswirkungen auf die Tradierung zwischen den Generationen als auch auf das historische Gedächtnis von Kindern und Enkeln. In der abschließenden Schlussbetrachtung sollen dann die zentralen Ergebnisse zu der Frage nach den eventuell familiären Einfluss-faktoren auf das historische Gedächtnis präsentiert werden.

I. Die Theorie des Gedächtnisses

1. Kulturwissenschaftliche Aspekte und Befunde

1.1 Die Entwicklung der Theorie eines sozialen Gedächtnisses

Um in die kulturwissenschaftlichen Theorien der Gedächtnisforschung einzuführen, müssen zunächst die Arbeiten und Ergebnisse des ersten bedeutenden Forschers auf diesem Gebiet, des Soziologen Maurice Halbwachs, betrachtet werden. Auf seiner Theorie vom kollektiven Gedächtnis konnten viele Jahre später weitere Forscher ihre Gedächtniskonzepte aufbauen, um so die theoretischen Grundlagen zu erweitern und zu präzisieren. Hier wären sicher Pierre Nora und seine abstrakten lieux de mémoire sowie Aleida und Jan Assmann zu nennen, die einen weiteren zentralen Begriff, nämlich den des kulturellen Gedächtnisses prägten. Diesem gegenüber gestellt wurde schließlich das kommunikative Gedächtnis, von welchem man nach Welzer noch einmal ein soziales Gedächtnis abspalten konnte. Dieses gilt es im zweiten Teil dieser Arbeit zu untersuchen. Darum wird es zunächst wichtig sein, aus dem Dschungel der Gedächtniskonzepte herauszutreten und die für die vorliegende Arbeit wichtigsten Grund-thesen wie auch ihre Verbindungen untereinander strukturiert darzulegen, um auf diesen Grundlagen eine nachvollziehbare Theorie des sozialen Gedächtnisses aufbauen zu können.

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs begründete in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, indem er eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses entwarf. Kritisiert von Zeitgenossen wie Sigmund Freud und Henri Bergson, die das Erinnern als einen rein individuellen Vorgang verstanden[1], weitete er die zunächst womöglich ziemlich befremdlich anmutende Theorie aus. Man fragt sich, wie es möglich sein kann, dass ein Kollektiv – ohne realen Körper – ein Gedächtnis hat? Halbwachs erklärte dies folgendermaßen: Jede soziale Gruppe blickt gemeinsam auf die Vergangenheit zurück; sie behält jedoch nur das von der Vergangenheit, „was von ihr noch lebendig und fähig ist, im Bewusstsein der Gruppe, die es unterhält, fortzuleben.“[2] Das bedeutet, dass jedes Kollektiv eine eigene Vergangenheit erinnert bzw. eine eigene Vergangenheit rekonstruiert, wie sie für die gegenwärtigen Interessen der Gruppe nötig und sinnvoll erscheint. Die soziale Gruppe, so Halbwachs, erhält ihre Identität gerade dadurch aufrecht, dass sie eine Erinnerungsgemeinschaft bildet und sich durch das Lebendighalten der gemeinsamen Vergangenheit ihre Zusammengehörigkeit bestätigt. Die Existenz der Gruppe ist also sowohl an gemeinsame Erinnerungen gebunden wie auch an kommunikative Austauschprozesse darüber.

Es existieren schließlich unendlich viele kollektive Gedächtnisse, wobei jedes eine räumlich und zeitlich begrenzte Gruppe zum Träger hat. Träger eines kollektiven Gedächtnisses könnte beispielsweise eine Familie, ein Freundeskreis, eine Nation oder ein anderweitiger sozialer Verbund sein. Das Individuum, welches zum Beispiel Tochter, Schülerin und Deutsche zugleich sein kann, ist demnach jeweils Teil vieler verschiedener Kollektive und assoziiert somit seine eigenen Erinnerungen mit denen der auf es einwirkenden Umgebung. „Man versteht jeden einzelnen in seinem individuellen Denken nur, wenn man ihn in das Denken der entsprechenden Gruppe hineinversetzt. Man versteht die relative Kraft und das Kom-binationsvermögen seines individuellen Denkens nur dann richtig, wenn man das Individuum mit den verschiedenen Gruppen in Bezug bringt, zu denen es gleichzeitig gehört.“[3] Das bedeutet, dass jeder durch die ihn umgebenden sozialen Milieus in seinem Denken und ebenso in seinem Erinnern beeinflusst wird. Die Frage „Wie war es in Rom?“ könnte gegenüber der besten Freundin abends in einer Bar zu einem Bericht über das Partyleben und die Eigenarten italienischer Männer führen, während die gleiche Frage an der Universität durch den Dozenten aus der Kunstgeschichte zu einer Erinnerung an bedeutende Bauwerke führt. Man übernimmt also verschiedene Denkschemata aus seiner Umgebung, die dann sowohl die Wahrnehmung als auch die Erinnerung in bestimmte Bahnen lenken. Die cadres sociaux (Halbwachs), d.h. die sozialen Bezugsrahmen bilden somit das Grundgerüst für jede individuelle Erinnerung. Umgekehrt übt das individuelle Gedächtnis jedoch auch einen gewissen Einfluss auf die jeweiligen kollektiven Gedächtnisse, da jedes Gruppengedächtnis sich erst offenbart in den individuellen Gedächtnissen seiner Mitglieder. So ist „jedes individuelle Gedächtnis [...] ein „Ausblickspunkt“ auf das kollektive Gedächtnis; dieser Aus-blickspunkt wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen, und diese Stelle selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich mit anderen Milieus unterhalte.“[4] Individuelles und kollektives Gedächtnis stehen also in einer wechselseitigen Beziehung zueinander; übereinstimmen müssen sie jedoch nicht.

Gehen wir nun einen Schritt weiter und klären den Begriff des kulturellen Gedächtnisses, der sich als ein spezielles kollektives Gedächtnis erklären lässt. Jan Assmann, der den Begriff in den achtziger Jahren prägte, definierte das kulturelle Gedächtnis als der „jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, - Bildern und –Riten [...], in deren „Pflege“ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“[5] Das kulturelle Gedächtnis stützt sich also auf – als bedeutsam für die Gesellschaft empfundene – Fixpunkte und Wissensbestände, die durch Institutionalisierung wach gehalten werden. Es ist gekennzeichnet durch Geformtheit einerseits, beispielsweise durch Texte, Bilder oder Riten und durch Organisiertheit anderer-seits, die zum Beispiel durch Zeremonialisierung oder Archivierung von Texten erreicht wird. Ein drittes Merkmal wäre die Verbindlichkeit, d.h. der normative Anspruch des kulturellen Gedächtnisses.[6] Es hält also ähnlich wie andere kollektive Gedächtnisse fest, was in der Gruppe – in diesem Fall der Gesellschaft – erinnert werden darf und soll, wobei auch hier seine identitätsstiftende und -sichernde Funktion im Vordergrund steht. Das kulturelle Ge-dächtnis kann somit als ein Einflussfaktor auf das individuelle Gedächtnis betrachtet werden.

Ihm gegenüber stellte Assmann das kommunikative Gedächtnis, welches sich hingegen durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Unorganisiertheit und thematische Unfest-gelegtheit auszeichnet.[7] Es lebt lediglich durch die Kommunikation und die Interaktion seiner lebendigen Träger, die sich das Vergangene vergegenwärtigen. So bedarf es also der Existenz von lebenden, über ihre Erfahrungen kommunizierenden Gruppenmitglieder, wodurch es jedoch – im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis, in dem auch längst vergangene zentrale Ereignisse gespeichert sein können – zeitlich sehr begrenzt wird. Welzer bezeichnet es in diesem Zusammenhang gewissermaßen als das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft, da es etwa 80 Jahre bzw. 3-4 Generationen umfasst.[8] Es hat somit keine festen Fixpunkte; sein Zeithorizont wandert stattdessen mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit.[9] Das kom-munikative Gedächtnis ist im Verhältnis zum kulturellen Gedächtnis mehr selbstbestimmt, was bedeutet, dass in diesem Gedächtnis eine eigensinnigere Vorstellung der Gruppenmit-glieder darüber enthalten ist, was sie für erinnernswert und somit für identitätssichernd erachten. Denn die Mitglieder eines Kollektivs kommunizieren lediglich über diejenigen Erfahrungen und Erinnerungen, die sie für sich oder die Gruppe als bedeutsam empfinden. So zeichnet sich das kommunikative Gedächtnis mehr durch Alltagsnähe aus, während das kulturelle Gedächtnis mehr durch Alltagsferne gekennzeichnet ist.[10] Beiden gemeinsam ist jedoch, dass sie hauptsächlich intentional mit der Vergangenheit umgehen, d.h., dass die Träger beider Gedächtnisformen meist bewusst über Vergangenes kommunizieren und somit Bilder der Vergangenheit formen.

Das durch Welzer geprägte Konzept des sozialen Gedächtnisses unterscheidet sich nun an dieser Stelle von den beiden eben erklärten Gedächtnissen. Das soziale Gedächtnis besteht nämlich aus der Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder eines Kollektivs, die zwar durch ihre Kommunikation zu einer (fiktiven[11] ) Erinnerungseinheit verschmelzen, jedoch durch eine nicht-intentionale d.h. durch eine nicht auf Vergangenheitsvermittlung abzielende Kommunikation. Die Träger des sozialen Gedächtnisses machen also Erfahrungen im täglichen Umgang mit Dingen, die selbst ungewollt und unbewusst Geschichte und Ver-gangenheit transportieren, wie beispielsweise bestimmte Gerüche, die einen an einen längst vergangenen Ort, z.B. Omas Küche denken lassen. Das soziale Gedächtnis eines Kollektivs umfasst nun die Gesamtheit solcher Erfahrungen, die die Mitglieder desselben gemacht haben und die sie durch Kommunikation an das Kollektiv weitergeben.

Welzer zählt vier mögliche Medien der sozialen Praxis der Vergangenheitsbildung auf, die da wären: Interaktion, Aufzeichnungen, Bilder und Räume. Hier ist noch einmal wichtig zu erwähnen, dass es jeweils nur solche sein dürfen, die „ nicht zu Zwecken der Traditionsbil-dung verfertigt wurden, gleichwohl aber Geschichte transportieren und im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden.“[12] Ein Beispiel für die Interaktion als absichtsloses Medium zur Ver-mittlung der Vergangenheit könnte das Erzählen persönlicher Ereignisse sein, wie z.B. das erste Rendezvous der Großeltern. Hierbei würde man sicher einen beiläufigen und nicht zwangsläufig intendierten Abstecher in die Vergangenheit machen, da in der Erzählung der Großeltern sicherlich unbemerkt und unbeabsichtigt Gegebenheiten aus vergangener Zeit mitberichtet würden, wie etwa die Situation in deren Elternhaus um 1920 oder ähnliches, so dass den Zuhörern der Erzählung Geschichte vermittelt würde. Ebenso könnten durch Aufzeichnungen, wie beispielsweise alte Liebesbriefe, ältere Bilder oder auch Räume, wie Bauwerke oder eine Altstadt, Subtexte der Vergangenheit transportiert werden.[13] Das soziale Gedächtnis einer Gemeinschaft mag darum auch ein interessanter Fundus dafür sein und einen neuen Einblick darin geben, was wir Geschichtsbewusstsein nennen. Denn es beinhaltet ganz essentielle und ungelenkte Vorstellungen von der Vergangenheit, die jeden Menschen in seinem geschichtlichen Denken unbemerkt beeinflussen.

Bevor nun im nächsten Abschnitt das soziale Gedächtnis einer besonderen Erinnerungsge-meinschaft, der Familie, besprochen werden soll, scheint es wichtig, wesentliche Erkenntnisse der Gedächtnistheoretiker, die für den weiteren Verlauf der Arbeit unerlässlich sind, noch einmal kurz auf den Punkt zu bringen. Zum Ersten soll noch einmal betont werden, dass individuelles und kollektives Gedächtnis in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Dies bedeutet, dass sich die Erinnerungen des Individuums, je nachdem in welchem Lebensalter sich der Mensch befindet und von welchen sozialen Rahmungen er umgeben ist, verändern können. Die Erinnerungen und ihre Bedeutung für das Individuum sind also keine festen Größen, sondern befinden sich in einem steten Wandlungsprozess, indem sie sich danach ausrichten, was von gegenwärtigem Interesse für das Individuum ist. Eine weitere wichtige Erkenntnis liegt darin, dass der Einzelne, der Mitglied von vielen verschiedenen sozialen Gruppen zugleich ist, auch viele verschiedene Erinnerungen, womöglich auch zu einem einzigen Ereignis haben kann. So kann es möglich sein, dass sogar durchaus widersprüchliche Erinnerungen zu ein und demselben Zeitpunkt von einem Einzelnen abgerufen werden, ohne dass dieser die Gegensätzlichkeit seiner Erinnerungen bemerken muss.[14] Dieses Phänomen wird noch eine große Rolle bei den Erinnerungen an Nationalsozialismus und Holocaust spielen, je nachdem von welcher sozialen Gruppe aus die Erinnerungen angeregt werden. So wenden wir uns nun zunächst einmal einer konkreten Gruppe zu, der Familie, sowie ihrem sozialen Gedächtnis.

1.2 Das soziale Gedächtnis der Familie

Die Familie stellt ebenfalls ein Kollektiv dar, welches über ein soziales Gedächtnis verfügen kann. Träger sind in diesem Fall alle Verwandten, die den Erfahrungshorizont des Familien-lebens und den „Familiengeist“ teilen. Wie bei anderen sozialen Gedächtnissen umfasst auch das der Familie kein fest umgrenztes Inventar von Erinnerungen, sondern es gründet und erhält sich lediglich durch eine beständige memorative Kommunikation. Diese Vergegen-wärtigung der Vergangenheit geschieht innerhalb der Familie meistens unbeabsichtigt, da die Familienmitglieder während ihrer Gespräche in der Regel nicht das Ziel einer schulähnlichen Geschichtsvermittlung verfolgen. Stattdessen fließen auch hier – beispielsweise beim Mittags-tisch, bei Familienfeiern oder beim gemeinsamen Fernsehabend – unbemerkt Gegebenheiten aus der Vergangenheit mit ein. So zählen selbst die Jüngsten zu den Trägern des sozialen Gedächtnisses ihrer Familie, da diese zwar nicht das im Familienkreis Erinnerte selbst erlebt haben, da sie aber im Austausch lebendiger Erinnerungen mit ihren Vorfahren stehen.[15]

Dieser beständige Austausch über zentrale Begebenheiten oder Figuren innerhalb der Familiengeschichte dient einzig und allein dem Zweck, das familiäre Kollektiv erst als solches zu begründen, seinen Zusammenhalt zu sichern, d.h. es in seinem Selbstverständnis zu bestärken und seine Kontinuität zu gewährleisten. Eben darum werden dieselben Geschichten häufig wieder und wieder erzählt, da sie den Familienmitgliedern helfen, ihre Identität, sowohl als Gruppe als auch als Einzelperson zu sichern. In diesen Erinnerungen „drückt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus; sie reproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und ihre Schwächen. Wenn man sagt „In unserer Familie wird man alt“, oder „...ist man stolz“, oder „...bereichert man sich nicht“, so spricht man von einer natürlichen oder moralischen Eigenschaft, von der man annimmt, dass sie der Gruppe eigen sei und dass sie von ihr auf ihre Mitglieder übergehe.“[16] Das bedeutet, dass das Familiengedächtnis durch den kommunika-tiven Austausch über die in ihm enthaltenen Erinnerungen oder Elemente einen Rahmen herstellt, der grundlegend für die Sicherung des Selbstverständnisses ist und der dafür sorgt, dass die Familienmitglieder den Eindruck haben sich an dieselben Dinge auf dieselbe Art und Weise zu erinnern. Denn eben durch diese Fiktion eines gemeinsamen Erinnerungsinventars wird die Identität der Familie gesichert und durch das gemeinsame Gespräch darüber am Leben erhalten. Dabei werden die Erinnerungen möglichst beständig ausgetauscht und auch einander angeglichen.[17] Dadurch beinhalten sie auch eine kollektive Vorstellung von der Familie und jedes Mitglied der Erinnerungsgemeinschaft nimmt einen festen Platz in ihr ein und wird für die anderen zu einer Art Symbol, das sich auf die Beständigkeit und die Integrität der Gruppe stützen kann.[18] So geht man beispielsweise auch in der Regel von der moralischen Wesensart der eigenen Eltern aus, welche einen in der Vergegenwärtigung von Vergangenem auch in seinen Erinnerungen beeinflusst. Stellt man sie sich beispielsweise in einer Situation vor, die vor der eigenen Geburt liegt, so wird man die heutigen Auffassungen über ihre Wesenart, ihre symbolhafte Form ohne weiteres auf die Vorstellungen über sie in der Vergangenheit übertragen. Die Rolle der Emotion auf die Erinnerungen, welche in der Familie auch in besonderem Maße auf Loyalitätsverpflichtungen beruhen – dahingehend, dass man seine eigene Gruppe für integer halten muss, um sich selbst ebenfalls so sehen zu können – wird uns später noch im Zusammenhang mit den Zeitzeugen und möglichen Tätern

[...]


[1] Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, S.14.

[2] Halbwachs, M.: Das kollektive Gedächtnis, S.68.

[3] Halbwachs, M.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S.200.

[4] Halbwachs, M.: Das kollektive Gedächtnis, S.31.

[5] Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S.15.

[6] Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S.12-15.

[7] Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S.10.

[8] Welzer, H.: Das soziale Gedächtnis, S.13.

[9] Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S.11.

[10] Welzer, H.[u.a.]: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, S.12.

[11] Fiktiv deshalb, weil die einheitliche Erinnerung in der Erinnerungsgemeinschaft nie vollkommen erreicht werden kann, da jedes Mitglied der Gemeinschaft – durch unterschiedliche soziale Rahmen beeinflusst – in gewisser Weise doch individuell auf die Erinnerung zurückblickt.

[12] Welzer, H.: Das soziale Gedächtnis, S.16.

[13] Welzer, H.: Das soziale Gedächtnis, S.16-18.

[14] Althaus, C.: Geschichte, Erinnerung und Person. Zum Wechselverhältnis von Erinnerungsresiduen und Offizialkultur, S.593.

[15] Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, S.16.

[16] Halbwachs, M.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S.209f.

[17] Keppler, A.: Soziale Formen individuellen Erinnerns. Die kommunikative Tradierung von (Familien-) Geschichte, S.138f.

[18] Halbwachs, M.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S.227f.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Die Erträge der historischen Familienforschung für eine Theorie des historischen Gedächtnisses
Untertitel
Der Nationalsozialismus in der deutschen Erinnerung
Hochschule
Universität Trier
Veranstaltung
Traumatisierte Welt: Vergangenheitsbewältigung
Note
1,25
Autor
Jahr
2007
Seiten
34
Katalognummer
V82823
ISBN (eBook)
9783638885997
Dateigröße
624 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erträge, Familienforschung, Theorie, Gedächtnisses, Traumatisierte, Welt, Vergangenheitsbewältigung
Arbeit zitieren
Susanne Schake (Autor:in), 2007, Die Erträge der historischen Familienforschung für eine Theorie des historischen Gedächtnisses, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82823

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