Das Problem der Konkreten Poesie


Essay, 1989

21 Seiten


Leseprobe


DAS PROBLEM DER KONKRETEN POESIE

Der polnische Philosoph Roman Ingarden [1] hat als erster eingehend beschrieben, dass jedes literarische Werk "Unbestimmtheitsstellen" enthält, die von uns, den Lesern, ergänzt werden müssen. Mit "Unbestimmtheitsstellen" meinte er inhaltliche und gehaltliche Auslassungen (Einzelheiten oder Zusammenhänge, die nicht beschrieben werden), und zwar sowohl unfreiwillige (kein Autor kann alles beschreiben) wie auch gewollte Aussparungen. Die gesamte "rezeptionsästhetische" Schule der letzten Jahrzehnte [2], besonders Wolfgang Iser [3], haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Literatur als ästhetischer Gegenstand nicht nur im Text besteht, wie noch die formalistischen Schulen glaubten, besonders der New Criticism [4] und sein deutscher Ableger, die sogen. immanente Interpretation [5]. Literatur kommt statt dessen erst in der schöpferischen Mitwirkung des Lesers (allgemeiner: Rezipienten) zustande, eben beim Ausfüllen jener zuvor erwähnten Unbestimmtheitsstellen. Der aktivierende Charakter von Dichtung liegt gerade darin, dass sie uns zum "Mitdichten auffordert.

Die Frage muss jedoch gestellt werden, wie weit dieses zweifellos richtige Prinzip getrieben werden kann bzw. wie ausgedehnt die Unbestimmtheitsstellen sein dürfen, ohne dass wir verunsichert werden, weil wir uns vom Dichter im Stich gelassen fühlen. Wollen wir beliebig viel Freiheit? Sind etwa die "offensten" Texte die besten? Oder erwarten wir vom Autor, dass er uns wenigstens so weit leitet, dass sich nicht jeder Leser seinen eigenen Reim aus einem Text machen muss? Wollen wir nicht beim Lesen eines Textes von der Voraussetzung ausgehen, dass wenigstens in großen Umrissen andere Leser den gleichen Sinn aus ihm entnehmen können (und voraussichtlich werden)? Wollen wir vielleicht bei "lyrischen" Texten (was immer das ist) sogar manchmal das Erlebnis einer Gemeinschaft von gleichempfindenden potentiellen Lesern haben, wofür wiederum zuerst gleiches Verständnis des Textes Voraussetzung ist?

All diese Fragen nach den "Grenzen der Aussparung" hat m.W. noch niemand zentral und zugleich konkret gestellt, weshalb wir es uns hier vorgenommen haben. Wenn wir uns aber nach geeigneten Literaturgattungen umschauen, an denen wir diese Grenzen der Unbestimmtheitsstellen aufzeigen können, wählen wir natürlich zuerst die, in denen die semantische Unbestimmtheit oder Offenheit am weitesten getrieben ist; und zwar nicht aus Versehen, sondern im Prinzip. Das sind zweifellos die verschiedenen Formen der sogen. "konkreten Poesie" [6] sowie verwandter Richtungen [7]. Da es uns nicht um eine erschöpfende Auseinandersetzung mit allen Formen der konkreten Poesie geht, sondern um ein besseres Verständnis unserer Rezeptionsmöglichkeiten für dergleichen Literatur, braucht es uns nicht zu bekümmern, dass wir hier nur wenige Beispiele betrachten können. Es sollen allerdings repräsentative sein! Und diese wollen wir dann mit einigen Zitaten vergleichen, in denen hervorragende Vertreter der konkreten Poesie die Wirkungsweise und ‑ansprüche dieser Gattung zusammengefasst haben.

Beginnen wir mit dem Vergleich von zwei motivgleichen Gedichten: einem der berühmtesten Beispiele für Erlebnislyrik goethescher Prägung und einem der ersten und bekanntesten "konkreten Gedichte" [8] (Abb. 1 und 2). Am häufig interpretierten Gedicht Ein Gleiches ist hier nur Folgendes festzustellen: 1. Es deutet - trotz seiner Kürze - einen Weltausschnitt an (Gipfel, Wald, Wipfel, Vögelein). Damit gibt es der Phantasie des Hörers wenigstens eine Richtung, innerhalb derer sie sich ziemlich frei entfalten kann. Jeder wird sich die Abendlandschaft etwas anders vorstellen. Es wird jedoch in jedem Falle eine Abendlandschaft sein. - 2. Die Person des Autors (in der Verkappung seines "lyrischen Ichs") ist auch in diesem kurzen Gedicht noch da, und zwar auf unmittelbare und mittelbare Weise: unmittelbar in dem "Du", womit der Dichter sich selbst anspricht; mittelbar in der Blickverlagerung von der Ferne der "Gipfel" zur Nähe der "Wipfel" und schließlich zu sich selbst. - 3. Das Gedicht ist inhaltlich ein "memento mori"; auch in der zunehmenden Zeilenverkürzung seiner Sprache ist das eintretende "Schweigen" gestaltet. In gelungenen Gedichten wird immer wieder festgestellt, dass sie nicht nur über ein Erlebnis reden, sondern dieses auch in der Sprachform gestalten, z.B. in charakteristischen Veränderungen der Zeilenlänge, in sogen. "beschwerten Senkungen" [9], in der Durchbrechung des Versmaßes [10], in bedeutungsvollen Pausen.

Auf bedeutungsvolle Pausen hin wollen wir uns gleich noch ein weiteres motivverwandtes Gedicht anschauen, welches in mehrfacher Hinsicht zwischen denen von Goethe und Gomringer liegt: Ingeborg Bachmanns Reklame" [11](Abb. 3). Dieses Gedicht hat mit den meisten konkreten gemeinsam, dass man es nicht versteht, wenn man es nur hört. Denn man muss die schrifttechnische Abhebung der Reklame-Fetzen erkennen, die die persönliche Aussage der Sprecherin (sozusagen die "goetheschen Restbestandteile" des Gedichtes) umgeben. Das große Schweigen (des Todes), welches sogar den Lärm und die Hektik der Reklame auslöscht ist nun in diesem Gedicht durch das Wegbleiben der vorletzten Zeile ausgedrückt, die etwas unterbricht, woran wir uns bereits gewöhnt haben, durch das Verstummen der Reklame. Außerdem wird, wie im Goethegedicht, die letzte Zeile verkürzt. Interessant wird aber das Gedicht für uns hauptsächlich durch den Kontrast der oberflächlichen Reklame-Heiterkeit zur existentiellen Angst der Sprecherin, durch die Abhebung des Persönlichen, welches eben auch hier noch vorhanden ist, vom Bombardement durch das Unpersönliche. Und dieser für uns sinnlose Wortsalat der Reklame stellt, ebenso wie Goethes Abendlandschaft, eine Art Weltausschnitt dar; allerdings unserer modernen, nervenzerschleißenden Umwelt. Sie kann jedoch noch immer im Dichter ein (wenn auch negatives) Erlebnis auslösen, welches er in Sprache gestaltet.

In Gomringers Gedicht Schweigen [12] ist das nun anders. Ein Weltausschnitt kann mit einem einzigen Wort nicht mehr vermittelt werden. Und die Verfasser konkreter Lyrik wollen das auch ausdrücklich nicht [13]. Wenige Worte sollen "konkret", als solche, erfahren werden und nicht als Durchgangsstation zu Aussagen und Beschreibungen [14]. Wenn sie doch (syntaktisch-semantisch) zu Aussagen verbunden werden, soll dies durch den Leser geschehen, dem damit optimale Freiheit gelassen und der so zum "Mitdichten" aufgefordert wird [15].

Kommen wir also dieser Aufforderung nach! Was denken wir, wenn wir diese "Kombination" (Heißenbüttel) und "Konstellation" (Gomringer) eines vierzehnmal wiederholten Wortes betrachten? Zuerst wohl, dass hier das "Schweigen" gerade durch das Fehlen dieses Wortes ausgedrückt wird, anstatt durch das Fehlen anderer Worte, wie in den ersten beiden Gedichten. Das ist eine recht banale Beobachtung. Und es ist wohl die einzige, die jeder Leser machen kann.

Was sich anschließt - wenn sich überhaupt etwas anschließt - sind private Assoziationen, die mit dem Gedicht selbst wenig zu tun haben, durch dieses nur angeregt werden. So denke z.B. ich selbst, weil ich zufällig in Japan lebe und mich mit Zen beschäftigt habe, daran, dass alle Zen-Anhänger beteuern, man könne diesen nicht durch Worte vermitteln, sondern nur im Schweigen (der Meditation) erfahren, viele von ihnen dann aber ganze Bücher über ihn schreiben [16]. Die vierzehnfache Wiederholung des Wortes "Schweigen" ist für mich also das Geschwätz über "innere Stille" und dergleichen und das wirkliche Schweigen die Lücke im Gedicht, wo Sprache einmal aufhört. Und da diese Lücke nicht am Ende des Gedichtes steht, wie in den beiden ersten Gedichten, sondern irgendwo in der Mitte, assoziiere ich hier nicht das endgültige Schweigen (des Todes), sondern nur eine zeitweilige Unterbrechung im Redefluss, der uns immer umgibt. - Diese Überlegungen oder Assoziationen finde ich weder sehr profund, noch können sie irgendwelche Allgemeingültigkeit beanspruchen. Ein Leser, der nicht in Japan lebt und Zen studiert hat, assoziiert sicher etwas anderes, ebenso Banales.

Auch wenn etwa Helmut Heißenbüttel (in seinen "Sprechwörter" genannten Texten [17]) ein Wort in seine Teile zerlegt, statt es nur zu wiederholen, stellen sich bei mir weder Verständnis noch Interesse ein (Abb. 4). Oder was soll die Deklination von ein solcher mann durch Franz Mon [18] dem Leser sagen (Abb. 5)? Warum muten die Assoziationen, die solche Gedichte vielleicht beim Leser auslösen, so viele als banal an, - nicht aber die durch die beiden ersten motivgleichen Gedichte ausgelösten? Daran, dass hier kein Weltausschnitt geschildert wird, kann es nicht nur liegen. Denn auch andere Gedichte Goethes bieten keinen, z.B. Wanderers Nachtlied I ("Der du von dem Himmel bist ..."). In diesem ist jedoch das zweite unterscheidende Merkmal, das "lyrische Ich" des Autors, noch da, sogar eindringlicher als in dem anderen Nachtlied. Denn auch dieses Gedicht ist ein verkappter Dialog, diesmal nicht des Sprechers mit sich selbst ("Warte nur, balde Ruhest du auch."), sondern des Sprechers mit dem "süßen Frieden", den er ersehnt ("Komm, ach komm in meine Brust!"). - Könnte es sein, dass zumindest eines dieser beiden Elemente ("Weltausschnitt" oder "lyrischem Ich") vorhanden sein muss, wenn ein Gedicht uns noch "persönlich" ansprechen soll - und nicht nur als linguistische Etude [19]. In der Lyrik des Symbolismus [20] ist das lyrische Ich ebenfalls in der Regel eliminiert. Sie bietet jedoch immer einen Weitausschnitt, wenn auch oft in ästhetischer Verfremdung [21]. Wenn man aber den Autor als Teil unserer Welt auffasst, kann eines für das andere einspringen: Die Welt wird in Lyrik doch immer "persönlich" erlebt, auch wenn sie sich "objektiv" gebärdet; und das Erlebnis des Autors wird durch die "Welt", in der er lebt, ausgelöst. Sie wird durch sein "Weltverhältnis" geprägt, auch wenn er es nicht weiß.

[...]


[1] Das literarische Kunstwerk. 1931, 1965; Das Erkennen des literarischen Kunstwerks. 1968.

[2] Zur Einführung Jane P. Tompkins, ed.: Reader - Response Criticism. From Formalism to Post - Structuralism. Baltimore: John Hopkins U.P., 1980.

[3] z.B. in The Implied Reader. Baltimore: John Hopkins U.P.,1974.4.Vergl.J.C. Ranson. The New Criticism. 1938; Robert Weimann. New Criticism und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft. 1962, 1974.

[5] Vergl. Wolfgang Kayser. Das sprachliche Kunstwerk. 1948 u.ö.; Emil Staiger. Die Kunst der Interpretation. 1955 u.ö.; ders. Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. 1953 u.ö.

[6]Vergl. Siegfried J. Schmidt. Konkrete Dichtung. Texte und Theorien. 1972 (Literatur und "Kleines terminologisches Lexikon", Sn. 153-161; Thomas Kopfermann, Hg. Theoretische Positionen zur Konkreten Theorie. 1974 (teilkommentierte Auswahlbibliographie, Sn. 162 ff.); Harald Hartung. Experimentelle Literatur und konkrete Poesie. 1975; Dietrich Krusche und Rüdiger Krechel, Hg. Anspiel. Konkrete Poesie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Bonn: Inter Nationes, 1984, 1986 (Literaturverzeichnis Sn. 100-106).

[7] Vergl. Reinhard Döhl. "Konkrete Literatur". Deutsche Gegenwartsliteratur (Hg. M. Durzak, 1981) 270-298; Christian Johannes Wagenknecht. "Konkrete Poesie". Der Berliner Germanistentag 1968, Vorträge und Berichte (Hg. K.H. Borck und R. Henss, Heidelberg, 1970) 100-118.

[8] Geschrieben bereits 1953; Vergl. ideogramme (konkrete poesie 3). Frauenfeld: eugen gomringer press o.J. (1960)

[9] In Goethes Gedicht Auf dem See: Und frische Nahrung, neues Blut! Saug ich aus freier Welt/ ... Hier auch Lieb und Leben ist.

[10]. Iphigenies verlegenes Stottern, als Thoas sie nach den Griechen fragt und es ihr schwer fällt zu lügen: "Sie sind sie scheinen - für Griechen halt' ich sie.' (V,3) - Große Be­troffenheit drückt sich im Versmaß häufig als Pause aus (Zeilen 349 und 387).

[11] Aus: Ingeborg Bachmann. Anrufung des Großen Bären. München: Piper, 1956.

[12] Eugen Gomringers Gedicht schweigen ist in der oben genannten Anthologie von Schmidt auf S.51 abgedruckt, in Wagenknechts Aufsatz auf S.l03.

[13] Vergl. die am Schluss zusammengestellten Zitate.

[14] Vergl. Zitate unter Punkt 1.

[15] Vergl. Zitate unter Punkt 3.

[16] Vor allem Suzuki Daisetsu T., der nicht nur ein Buch über Zen geschrieben hat, sondern viele.

[17] Helmut Heißenbüttel. Textbuch 4, S.l9; abgedruckt von H. Hartung in "Antigrammatische Poetik und Poesie."Geschichte der deutschen Literatur aus Methoden II (Hg. H.L. Arnold, Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag, 1972) 288-302, S.293.

[18] Franz Mon. Lesebuch. S.l5; abgedruckt von H. Hartung (ebenda) S.297.

[19] Vergl. H. Hartung (ebenda S.29l): "Wird der Bezug der Wörter zur Realität gelöst und das Material autonom gesetzt, so ist damit noch kein Prinzip gegeben, das diese Autonomie rechtfertigt, denn selbst der ästhetische Reiz einer absoluten Wortkombination beruht doch wiederum darauf, wie viel Realität sie evoziert ... Von der Sprache muss ein Weg zu den Sachen zurückführen, wenn Literatur ihren Anspruch, ein Medium der Erkenntnis zu sein, aufrechterhalten will. Das Vertrauen, neu entstehende sprachliche Strukturen brächten zugleich auch eine Erweiterung der Erfahrung, ist blind zu nennen."

[20] Vergl. Heinrich Henel. "Erlebnisdichtung und Symbolismus."DVLG 32 (1958) 71-98, S.84; auch in Zur Lyrikdiskussion (Hg. R. Grimm, 1974) 218-254, S.234f. "Im Symbolismus ... erscheint das Ich nicht auf der Bühne, der symbolische Gegenstand steht im Mittelpunkt, er ist das Hauptthema, ja die Sache selbst: in seiner Beschreibung erschöpft sich die Aussage des Gedichts." (Dort auch aufschlussreiche Bemerkungen über das "lyrische Ich", besonders in der Auffassung der "New Critics".)

[21] Über diesen Begriff, gezeigt an der Lyrik Trakls, vergl. meinen Aufsatz "Grenzen der 'Aussparung' in der Literatur."Acta Humanistica et Scientifica Universitatis Sangio Kyotiensis, XVIII/3 (Humanities Series, March 1989) 143-184.

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Details

Titel
Das Problem der Konkreten Poesie
Veranstaltung
In: Protokoll 14 (1989) 44-62
Autor
Jahr
1989
Seiten
21
Katalognummer
V82643
ISBN (eBook)
9783638893831
ISBN (Buch)
9783638893954
Dateigröße
4917 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Problem, Konkreten, Poesie, Protokoll
Arbeit zitieren
Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 1989, Das Problem der Konkreten Poesie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82643

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