Die Schichtenfolge in der Dichtung


Essay, 1975

13 Seiten


Leseprobe


DIE SCHICHTENFOLGE IN DER DICHTUNG

Mehrere Probleme der Literaturtheorie, die bisher nicht befriedigend gelöst werden konnten, bieten mit Hilfe des Schichtenmodells, wie es für die Dichtung vor allem von Nicolai Hartmann und Roman Ingarden [1] entwickelt wurde, keine Schwierigkeit mehr. Dass dieses Vorstellungsmodell bisher in der Literaturtheorie nur gelegentlich respektvoll erwähnt, [2] jedoch außer von Hartmann und Ingarden nie konsequent angewandt wurde, ist umso erstaunlicher, als es in der deutschen Psychologie und Anthropologie [3] eine so bedeutende Rolle gespielt hat.

Nicht einmal Ingarden und Hartmann haben sich miteinander auseinandergesetzt; deshalb müssen diese beiden wichtigen Versuche einer "phänomenologischen Ontologie des Sprachkunstwerkes" zuerst miteinander verglichen werden, bevor man aus ihrer Synthese Schlüsse ziehen kann. Das Ergebnis dieses Vergleichs sei hier vorweggenommen, da es zu erwarten war: im Wesentlichen stimmen beide Systeme miteinander überein, wenn auch in ihnen die einzelnen Schichten der Dichtung je nach Interessenschwerpunkt verschieden differenziert werden; und nicht nur das: auch mit den bedeutendsten Schichtenanalysen der Persönlichkeit, wie denen von Rothacker und Lersch, [4] ergeben sich keinerlei Widersprüche. Wie von selbst leuchtet beim Vergleich dieser Untersuchungen ein, was alle Forscher übereinstimmend betonen: dass den Schichten der Persönlichkeit die ihrer Äußerungen und Erzeugnisse entsprechen. [5] Die Dichtung ist beides, Äußerung und Kunsterzeugnis, zugleich.

Bevor aber auf die Schichten der Dichtung eingegangen werden kann, muss zuerst die allgemeine Schichtengesetzlichkeit umrissen werden, die Nicolai Hartmann in seiner allgemeinen Ontologie und Kategorienanalyse [6] für alle Bereiche der Natur und des Geistes nachgewiesen hat, und die von Ingarden anerkannt wird. [7]

Danach ist die Welt ein Stufenreich; aber die Stufen dürfen nicht mit den Klassen der Lebewesen verwechselt werden. Die höheren Gebilde, aus denen die Welt besteht, Pflanze, Tier, Mensch und Volk, sind selber geschichtet; die Schichten, aus denen sich die Welt aufbaut, sind auch in ihnen aufzuweisen. So ist der Mensch materielles, organisches, seelisches Lind geistiges Wesen, besteht aus vier Schichten. Und auch die Menschengemeinschaft, die griechische polis z. B., hat in ihrer geographischen Lage eine materielle Struktur; sie hat ihr organisches Leben, ihre Triebe und Bedürfnisse, aus denen ihre Ökonomische Welt erwächst, und sie hat auch ein seelisches und ein geistiges Leben. Die höheren Tiere und das vorgeschichtliche geistlose Bewusstsein des Menschen haben drei Schichten, das niedere Tier und die Pflanze zwei. Der Extension nach ist die materielle Schicht die größte. Je höher die Schicht, umso weniger verbreitet ist sie. Nur auf einem kleinen Teil des anorganischen Seins haut sich das organische auf, wieder nur in den am höchsten entwickelten organischen Gebilden findet sich Seelisches, und nur in einer Art der beseelten Lebewesen gibt es Geist. [8]

Wenn alle Gefüge der niederen Schicht Elemente zum Aufbau der höheren werden, spricht Hartmann von einem ,,Überformungsverhältnis" (zwischen der Materie und dem Organischen). Das ,,Überbauungsverhältnis" zwischen den beiden nächst höheren Stufen unterscheidet sich dadurch, dass bei ihm nur ein Teil der Kategorien der niedrigeren Schicht in die höhere eindringt. Der prinzipielle Unterschied zwischen der seelischen und den beiden unteren Schichten (psychophysische Grenzscheide) besteht in der Unräumlichkeit, der Innerlichkeit der seelischen Inhalte. Das Geistige hebt sich wiederum vom Seelischen vornehmlich ab durch seine Überindividualität. [9]

Es kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden, welche von Hartmanns vielfältigen Kategorien sich in welchen Schichten auswirken. Wichtig ist, dass im Unterschied zu den einfachen Kategorien die Fundamentalkategorien alle vier Schichten bestimmen. Zu den letzten gehören die "kategorialen Gesetze", in deren Unterscheidung und Fixierung eine Hauptleistung dieses Systems liegt.

Die Kategorien der niederen Schichten kehren in den höheren wieder (Gesetz der Wiederkehr), wobei sie aber abgewandelt (Gesetz der Abwandlung) und durch neue vermehrt (Gesetz des Novums) werden. Besonders in den "Überbauungsverhältnissen" besteht ein gewisser Abstand zwischen den Schichten (Gesetz der Schichtendistanz). Die "Gesetze der kategorialen Dependenz" regeln das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis noch weiter: die niedere Schicht ist immer die stärkere (Gesetz der Stärke) und in sich autonom (Gesetz der Selbständigkeit), bildet aber die Materie für die höhere (Gesetz der Materie), die wiederum durch ihr "Novum" nach oben Spielraum für höhere Gesetzlichkeiten besitzt (Gesetz der Freiheit).

Letztlich ist es für unsere Fragestellung nicht wichtig, ob wir mit Hartmann in allen Einzelpunkten übereinstimmen. Auch lassen sich die vier Hauptschichten weiter unterteilen, wie Hartmann selbst es in seiner Ästhetik getan hat. Uns genügt fürs erste die Feststellung, dass unsere Welt in allen ihren Bereichen als geschichtet gesehen werden kann und dass in der Schichtung Gesetzlichkeiten aufgewiesen werden können, die sowohl für das materielle Fundament wie für den geistigen "Überbau" gültig sind, und von denen wir besonders die "Gesetze der kategorialen Dependenz" hervorheben.

Zur schnellen Einführung in die auf die Literatur bezogenen Schichtenvorstellungen und -begriffe hei Hartmann und Ingarden werden hier die wichtigsten Stichworte in Tabellenform zusammengestellt. Hartmanns Ästhetik lassen sich folgende bezeichnenden Äußerungen entnehmen, mit denen er "die Schichtenfolge in der Dichtung" zu charakterisieren versucht:

1. Realer Vordergrund; Realschicht: Wort, Schrift Irrealer Vordergrund; Zwischenschicht; die mittleren Schichten; zweiter Vordergrund erscheinender Wahrnehmbarkeit; unmittelbar anschaulich durch Phantasie
2. Sphäre des Äußeren, der körperlichen Bewegung, Stellung, Mimik, Rede, alles Wahrnehmbaren am Menschen (entspricht in Malerei und Plastik der sinnlich vermittelten Schicht)
3. Schicht der Handlungen, des äußeren Verhaltens, der Reaktionen und Ak­tionen, des Gelingens und Misslingens . . . unmittelbar auch die Absichten, Konflikte, Lösungen ... die Situationen - soweit sie nicht im äußeren Beisammen der Personen aufgehen . . die Spannung der aufeinander treffenden Intentionen ... noch unter Ausschluss der Motive und Gesinnungen
4. Schicht der seelischen Formung ... moralische Eigenart und Charakter des Menschen ... was sich gleich bleibt - das Ethos des Menschen, Verdienst und Schuld im gefühlten Wertkonflikt ... moralische Seite der Situation Zwang zur freien Entscheidung ... Schicht der Gefühle und Stimmungen

[...]

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Die Schichtenfolge in der Dichtung
Veranstaltung
Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Autor
Jahr
1975
Seiten
13
Katalognummer
V82641
ISBN (eBook)
9783638893657
ISBN (Buch)
9783638893800
Dateigröße
399 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schichtenfolge, Dichtung, Zeitschrift, Allgemeine, Kunstwissenschaft
Arbeit zitieren
Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 1975, Die Schichtenfolge in der Dichtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82641

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