Zu: Richard von Weizsäcker "Ein Tag der Erinnerung"


Seminararbeit, 2004

41 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Der 8. Mai, ein Tag der Erinnerung für jeden

II. Das Gedenken an die Opfer des Krieges

III. Erinnerung als Basis für Versöhnung

IV. Geschichtlicher Rückblick

V. Erinnerung ist die Basis des Friedens

VI Beispielhafte aktive Aussöhnung

VII. Die politische und menschliche Annäherung Europas nach Kriegsende

VIII. Die Teilung Deutschlands

IX. Friedensaufruf an die junge Generation

Abschließende Betrachtung

Bibliographie:

Richard von Weizsäcker „Ein Tag der Erinnerung“

Einleitung

Kaum eine Rede fand sowohl im In- als auch im Ausland so große Beachtung und Anerkennung wie die Rede zum 40.Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges am 8.Mai 1945, welche der damalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Plenarsaal des Deutschen Bundestages hielt.

Drei Tage zuvor, am 5. Mai 1985, war noch eine Welle der Entrüstung durch die europäische und amerikanische Öffentlichkeit gegangen, als publik wurde, dass auf einem Soldatenfriedhof in Bitburg, den Bundeskanzler Helmut Kohl gemeinsam mit US-Präsident Ronald Reagan zum Gedenken an die Opfer besucht hatte, auch Männer der ehemaligen Waffen-SS begraben waren. In dieser beklemmenden Situation, in der alte Rachegefühle im Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands erneut zu entfachen drohten, nahm Richard von Weizsäcker mit seiner Rede auf verantwortungsbewusste Weise Stellung zur deutschen Nazi-Geschichte und appellierte an die Deutschen, sich stetig an die Grausamkeiten und verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges zu erinnern um so aus der Vergangenheit lernen zu können. Ohne diese Erinnerung, so betonte Weizsäcker, sei eine tatsächliche, ehrliche Aussöhnung und damit die Friedenssicherung in Europa nicht möglich.

Die Rede ist in 9 Teile gegliedert, von denen ich jeden Abschnitt im Hinblick auf den Inhalt und auf die rhetorischen Mittel analysieren werde.

I. Der 8. Mai, ein Tag der Erinnerung für jeden

Zu Anfang seiner Ansprache spricht Richard von Weizsäcker seine Zuhörerschaft direkt an, wobei er die Präsidenten, gemäß ihres Ranges, zu aller erst nennt, dann den Bundeskanzler und die Exzellenzen begrüßt und anschließend alle anwesenden Damen und Herren sowie zuletzt alle deutschen Bürger mit „liebe Landsleute“ begrüßt. Dabei ist dem Adjektiv „liebe“ besondere Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, da sich der Bundespräsident durch dieses selbst als Mitglied der Gruppe der Landsleute identifiziert und so ein persönliches Verhältnis zu allen Deutschen aufbaut. Auffällig ist, dass die ersten Worte seiner Rede „viele Völker“ lauten, wodurch direkt zu Beginn deutlich wird, dass Weizsäcker den Anlass der Rede das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges, nicht nur auf Deutschland bezieht. Er betont, dass jedes Volk völlig unterschiedliche Empfindungen mit diesem Datum des 8. Mais assoziiere und unterstreicht diese Gegensätzlichkeit durch zahlreiche Antithesen . („Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse [...]“) Im Folgenden bezieht er diese gegensätzlichen Gefühle der Völker auf die Deutschen und stellt heraus, dass Deutschland seiner Vergangenheit, egal welcher Art die Erinnerungen daran auch sein mögen, mit Aufrichtigkeit begegnen müsse. Schon hier wird deutlich, dass Weizsäcker seine Rede sehr anschaulich gestaltet und seine Aussagen durch zahlreiche Beispiele so darstellt, dass sich jeder Zuhörer in einem dieser Beispiele wiederfindet.

Dabei wiederholt er das Pronomen “wir“ auffällig oft, um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen entstehen zu lassen und sich auf diese Weise selbst, wie bereits bei der Begrüßung, in diese Gruppe mit einzubeziehen. Dabei stellt er das deutsche Volk mit Hilfe dieser Anapher als etwas Besonderes heraus („ Wir Deutsche begehen den Tag unter uns [...] Wir müssen die Maßstäbe allein finden.“), da es sich bezüglich des Zweiten Weltkriegs immer wieder mit der Schuldfrage, alten Rivalitäten und Vorurteilen konfrontiert sieht. Im Kontext dieser negativen Assoziationen, mit denen er sicherlich vielen Deutschen aus der Seele spricht, behauptet Weizsäcker jedoch zuversichtlich, dass die Deutschen stark genug seien, mit diesem schweren Schicksal umgehen und leben zu können. Durch die Metapher „[...]der Wahrheit ins Auge sehen [...]“, welche gleichzeitig eine Personifikation enthält, verstärkt er seine Aussage, dass sich jeder Deutsche dieser Problematik zu stellen habe. Mit der Parenthese „ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“ unterstreicht Weizsäcker erneut die Pflicht aller Deutschen, sich der Vergangenheit vor allem auf ehrliche Art und Weise zu stellen.

Den nächsten Gedankengang beginnt Weizsäcker mit den Worten „Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung“, um den Anlass der Rede nochmals in Erinnerung zu rufen und die Relevanz dieses Datums erneut herauszustellen. Gleichzeitig beinhaltet dieser Satz eine der Schlüsselaussagen der Rede. Weizsäcker bezeichnet den 8. Mai sowohl als „Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten]“ als auch als einen „Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte“, wobei jedoch deutlich wird, dass Ersteres in der Rede als relevanter dargestellt werden soll. Auch an dieser Stelle bedient sich Weizsäcker einer Metapher („Gang unserer Geschichte“), um dem Fortschreiten der Zeit bzw. der Geschichte die Anschaulichkeit eines Weges, den man entlanggehen kann, zu verleihen. Diese Bildhaftigkeit des „Gangs“ führt Weizsäcker anschließend weiter fort und appelliert mit dieser Allegorie an die Menschen, diesen möglichst ehrlich zu begehen. („Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.“) Den nächsten Abschnitt beginnt er erneut mit der Wiederholung des Datums des 8. Mais, dieses Mal jedoch in Form einer Litotes. „Der 8. Mai ist für und Deutsche kein Tag zum Feiern“, eine Aussage, mit welcher er ebenfalls die Zustimmung vieler Deutschen erlangt. Im Folgenden geht Weizsäcker auf die persönlichen Gefühle der Zeitzeugen dieses Datums ein. Die Emotionen zählt er, wie bereits bei der Aufzählung der Gefühle von einzelnen Völkern, in Form von Antithesen auf. („Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. [...]dankbar andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang.“) Durch diese persönlichen Bilder gelingt es Weizsäcker, jeden Deutschen, welcher den 8.Mai 1945 persönlich miterlebt hat, anzusprechen, da sich jeder einzelne in einer der angeführten Assoziationen und Emotionen wiederfinden kann. Dem jüngeren Teil seiner Zuhörerschaft, der diese Erfahrungen nicht machen konnte, wird auf diese Weise sehr anschaulich gemacht, welch hohen emotionalen Wert dieses Datum für viele Deutsche immer noch hat. Mit der Zerstörungsmetapher „zerstörte Illusionen“ verdeutlicht Weizsäcker, wie plötzlich und schmerzhaft vielen Deutschen damals mit dem Kriegsende und dem Ende des Dritten Reiches all ihre Hoffnungen, Werte und Illusionen genommen wurden. Am Ende des Abschnittes bringt Weizsäcker eine der Schlüsselaussagen der Rede auf den Punkt: Der 8. Mai 1945 sei ein Neuanfang für alle Deutschen. Diesen Neuanfang bezeichnet er metaphorisch als Geschenk um den positiven Wert dieses Datums noch stärker hervorzuheben. („[...]dankbar andere Deutsche für den geschenkten Neuanfang.“) Im Anschluss an diese positiven Aspekte des 8. Mais bezieht sich Weizsäcker jedoch auch auf die Ängste der Menschen zu dieser Zeit und zählt diese in kurzen aufeinanderfolgenden Sätzen auf. („Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren.[...]Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde.“) Auf diese Weise wirken die Probleme, mit denen jeder Deutsche unmittelbar nach dem Krieg zu kämpfen hatte, auf den Zuhörer beinahe erschlagend, er kann sich besser in die damalige Lage versetzen. Diese Dramatik und Hoffnungs- und vor allem Wehrlosigkeit der Deutschen wird durch das Bild „Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde“ verstärkt. Mit der Aussage „Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele unserer Feinde“ unterstreicht Weizsäcker das gemeinsame Schicksal der Sieger und Verlierermächte des Zweiten Weltkrieges und verhindert so, dass Feindbilder entstehen. Mit der anschließenden rhetorischen Frage „Würden sie uns nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?“ vollzieht Weizsäcker einen Perspektivenwechsel und bringt die Furcht der Menschen damals auf den Punkt, indem er direkt aus ihrer Situation heraus spricht. Diese genaue Darstellung der Emotionen der Deutschen direkt nach der Kapitulation wird im nächsten Abschnitt weitergeführt. Weizsäcker stellt hier klar heraus, dass der Krieg „vergeblich und sinnlos“ war und bringt somit seine friedliebende Haltung zum Ausdruck, welche sich im Verlauf seiner Rede immer wieder nachweisen lässt. Um die Gründe für den Krieg nicht auf eine Person fokussieren zu müssen, beschreibt Weizsäcker Adolf Hitler an dieser Stelle mit der Periphrase „verbrecherische Führung“. Erst im weiteren Verlauf der Rede nennt er ihn beim Namen und klagt ihn direkt der Schuld für den Kriegsausbruch an. Durch die hier vorliegende Anhäufung von Adjektiven lässt Weizsäcker seine Worte anschaulich erscheinen und verstärkt so ihren emotionalen Gehalt, ein rhetorisches Mittel, welches wiederholt in der Rede aufzufinden ist. („[...]vergeblich, sinnlos, unmenschlich, verbrecherisch“) Es folgt ein Trikolon „Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen“, welches ebenfalls der Veranschaulichung der Empfindungen von deutschen Bürgern im Jahre 1945 dient. Auch diesen Absatz beendet Weizsäcker mit rhetorischen Fragen, in denen er einen Perspektivenwechsel vollzieht. Erneut spricht er aus der Perspektive der Menschen damals (“Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?“) Den Ruinen und dem Neuaufbau wird hier eine doppelte Bedeutung zuteil: Einerseits meint Weizsäcker mit diesen Worten die realen Ruinen in den zerbombten Städten Deutschlands sowie ihren Wiederaufbau, andererseits stellen diese Worte Metaphern für jegliche Art von der aus dem Krieg resultierenden Zerstörung dar. Anschließend resümiert Weizsäcker die Perspektivlosigkeit der Menschen, in dem er ihre Vergangenheit mit der Metapher „dunkler Abgrund“ umschreibt und dieses Bild der Dunkelheit auch auf ihre ungewisse Zukunft bezieht. („Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft“)

Es wird deutlich, dass Weizsäcker bewusst stärker auf die Gefühle von einzelnen als auf geschichtliche Ereignisse eingeht, um den emotionalen Wert seiner Worte zu steigern. Erst durch die genaue Darstellung der unterschiedlichen Gefühle bewirkt er, dass sich jeder seiner Zuhörer in die damalige Kriegssituation hineinversetzen kann. Doch auch hier schwenkt Weizsäcker aus der pessimistischen Bildhaftigkeit der Dunkelheit zu einer positiveren Haltung hinsichtlich des 8. Mais über: Er betont, dass dieser Tag trotz des Leids, dass er für viele mit sich brachte, ein Tag der Befreiung sei. Die Bedeutung dieses Schlüsselsatzes wird durch die einleitenden Worte „Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt“ verstärkt. Außerdem personifiziert Weizsäcker den Tag des Kriegsendes, indem er sagt, der 8. Mai habe die Menschen von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit. („Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“) Auch hier unterstreicht Weizsäcker mit der Anhäufung von Pronomen wie „uns“ oder „wir“ das Gemeinschaftsgefühl seiner Zuhörerschaft. Trotzdem macht er auf die nach dem 8. Mai 1945 folgenden Leiden der Menschen aufmerksam, bringt aber zum Ausdruck, dass all das aus dem Krieg resultierende Unglück wie beispielsweise die Massenvertreibungen nicht in der Kapitulation vom 8. Mai sondern in der Machtergreifung Hitlers zu begründen sind. Dieses Leid veranschaulicht er durch ein Trikolon, welches in Form einer Klimax aufeinander aufbaut. („Flucht, Vertreibung und Unfreiheit“) Die Machtergreifung der Nationalsozialisten umschreibt Weizsäcker als pars pro toto in dem er den 30. Januar 1933, der Tag, an dem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, mit dem 8. Mai 1945, dem Ende des Krieges, in Relation setzt. Der Tag der Machtergreifung Adolf Hitlers wird also mit der Ursache für die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, mit dem Unrecht und Leid gleichgestellt. („Wir dürfen den 8.Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen“) An diese Aussage schließt er eine Anapher („ Wir dürfen den 8.Mai[...] Wir haben wahrlich keinen Grund [...]Aber wir haben allen Grund[...]“) um das Gefühl der Zusammengehörigkeit seiner Zuhörer erneut zu unterstützen. Mit der Litotes „Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tage an Siegesfesten zu beteiligen“ bekennt sich Weizsäcker zu dem Bewusstsein aller Deutschen, die unter Hitler gekämpft haben, einen großen Fehler in der Geschichte Deutschlands begangen zu haben, schließt jedoch direkt an, dass jeder deutsche Bürger den 8. Mai „als das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte“ ansehen solle. Auch mit dieser Metapher bekennt sich Weizsäcker zu der Verantwortung Deutschlands im Hinblick auf die Schuld an den Leiden des Krieges und dem Krieg selber. Im Anschluss führt er eine weitere Metapher „Keim der Hoffnung“ an und umschreibt so den Neuanfang, der Deutschland mit dem 8. Mai 1945 gegeben wurde, als zarte, aufkeimende Pflanze.

II. Das Gedenken an die Opfer des Krieges

Im zweiten Teil seiner Rede zählt Weizsäcker detailliert alle Opfer des nationalsozialistischen Regimes auf, an welche man sich in der Gedenkstunde erinnert, und bezieht sich neben den unzähligen Todesopfern auch auf das durch den Krieg verursachte Leid. Dabei ist zu bemerken, dass er wirklich alle Opfer des Krieges in sein Gedenken mit einbezieht, was einer der vielen Gründe ist, warum seine Rede international derart viel Zustimmung fand. Zu Anfang greift er einen der Schlüsselsätze des ersten Abschnitts der Rede wieder auf, um diesem nochmals Bedeutung zu zuschreiben .(„Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung“) Anschließend definiert Weizsäcker den Begriff „Erinnerung“ als das ehrliche Gedenken an ein Ereignis, wobei besonders die Aufrichtigkeit für ihn von Relevanz ist. Er beginnt seine Aufzählung derer, die im Krieg ums Leben gekommen sind, mit den Todesopfern des Krieges bzw. der Gewaltherrschaft im Allgemeinen und konkretisiert anschließend die einzelnen Gruppen der zu Tode gekommenen. Er nennt die Juden, anschließend pauschal alle Völker, die im Krieg leiden mussten, betont dabei aber besonders die Sowjetunion und Polen und bezieht sich dann auf die Soldaten des eigenen Landes. Auch hier bedient er sich eines Trikolons um das Leid der Soldaten zu veranschaulichen. („[...]bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung“) Er führt diese Aufzählung der Opfer mit den Sinti und Roma weiter, eine Völkergruppe, der bis zu diesem Zeitpunkt oftmals zu wenig Beachtung bei Gedenkfeiern geschenkt wurde, wie Romani Rose bestätigt.

In seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes gedachte Richard von Weizsäcker als erster Bundespräsident der Verfolgung unserer Minderheit im Nationalsozialismus.[...]Die Angehörigen unserer Minderheit hatten allzulange warten müssen bis die NS-Verfolgung [...]zur Kenntnis genommen wurde.[1]

Anschließend erwähnt er die getöteten Homosexuellen, Geisteskranke, Opfer von politischer oder religiöser Verfolgung, Geiseln, Opfer des Widerstandes in von deutschen Truppen besetzten Staaten sowie die Opfer des deutschen Widerstandes als Beispiele der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Bei den Opfern des deutschen Widerstandes differenziert Weizsäcker nochmals zwischen Widerständlern des bürgerlichen, des militärischen und des religiösen Widerstandes, sowie zwischen dem Widerstand in der Arbeiterschaft, in den Gewerkschaften und dem Widerstand der Kommunisten. Durch diese detaillierte Aufzählung all derer, die ihr Leben in der Zeit des NS-Regimes verloren haben, veranschaulicht Weizsäcker das unvorstellbare Grauen dieser Zeit. Auf diese Konkretisierung der Todesopfer, die er resümierend mit der Metapher „Heer der Toten“ beschreibt, bezieht er sich mit einer Aufzählung auf das unendliche Leid, welches der Nationalsozialismus den Menschen brachte. Um die Gewaltigkeit dieses Leidens zu veranschaulichen stellt er dieses als „Gebirge menschlichen Leids“ dar. Rückbezüglich auf die vielen Todesopfer führt Weizsäcker zuerst das Leid um die Toten an, nennt dann das durch Verkrüppelungen entstandene Leid, Leid durch Zwangssterilisierungen, Leid in Bombennächten, Leid durch Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung, Plünderung oder Zwangsarbeit, Unrecht, Folter, Hunger und Tod und das Leid durch die Angst vor diesen Schicksalen. Auch durch diese sehr ausführliche Aufzählung der unterschiedlichen Formen des Grauens, welches Menschen erfahren mussten, verschafft Weizsäcker seinen Zuhörern eine lebendige Vorstellung vom Schrecken der zurückliegenden Gewaltherrschaft. Als letzten Punkt des erlittenen Leids führt Weizsäcker den Verlust der Werte und Illusionen, für welche die Menschen gekämpft hatten, an. Durch die Erwähnung dieses Punktes signalisiert Weizsäcker, dass er durchaus Verständnis für die Überzeugung der Menschen damals hat, die ihrem Führer bedingungslos gefolgt sind und am 8. Mai 1945 alles verloren haben, an das sie geglaubt hatten.

In Zusammenhang mit diesem Leid des Krieges widmet Weizsäcker auch eine Redepassage den Frauen, deren Leistung in den schweren Zeiten des Zweiten Weltkrieges und der Zeit danach oftmals nicht ausreichend gewürdigt wurde und die er in Form eines Trikolons anführt. („Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergisst die Weltgeschichte nur allzu leicht“) Durch die darauffolgende Aufzählung dessen, was die Frauen im und nach dem Krieg auf sich nehmen mussten („ Sie haben gebangt und gearbeitet, menschliches Leid getragen und beschützt. Sie haben getrauert [...]“) und die darin enthaltenen Anaphern signalisiert Weizsäcker seinen größten Respekt gegenüber diesen Frauen. Auch die Aufzählung der gefallenen Väter, Söhne und anderen näheren Angehörigen oder Vertrauten, um welche die in der Heimat zurückgebliebenen Frauen still trauerten, veranschaulicht das Leid der Frauen. Zusammenfassend bemerkt Weizsäcker dann, dass sie besonders „in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt [...]“) haben. Mit dieser Metapher betont er erneut die Bedeutung ihrer Arbeit und unterstreicht nochmals den Respekt, den man ihnen entgegenbringen sollte. Im Anschluss daran bezieht sich Weizsäcker explizit auf die Trümmerfrauen Berlins und sagt, sie hätten „als erste und ohne Aussicht auf eine gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen.“ Ähnlich wie bereits im ersten Teil der Rede, als er über den Wiederaufbau von Ruinen spricht (siehe S.7) kann man auch an dieser Stelle die Formulierung „einen Stein auf den nächsten setzen“ wörtlich oder aber auch metaphorisch als Bild für den Wiederaufbau im Allgemeinen deuten. Am Ende dieser Passage dankt Weizsäcker allen Frauen der Kriegsgeneration für ihre Stärke und ihren Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands, wobei er auch hier nochmals die verheerenden Folgen des Krieges in Form einer Klimax darstellt. („[...]Zerstörungen, den Verwüstungen, den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten[...]“) Die Metapher „ innerlich zerbrechen“, welche für die psychischen Schäden der Menschen steht, unterstützt genauso wie die doppelte Konditionalsatz-Konstruktion („ Wenn aber die Völker [...], wenn sie nach dem Krieg langsam wieder zu sich selbst kamen [...]“) erneut die Verdienste der deutschen Frauen im Krieg.

III. Erinnerung als Basis für Versöhnung

Den dritten Teil der Rede beginnt Weizsäcker mit einem Rückblick auf den Judenhass Hitlers, den er als Indikator für die nationalsozialistische Terrorherrschaft betrachtet. Weizsäcker stellt dabei das deutsche Volk als ein „Werkzeug dieses Hasses“ dar und verdeutlicht mit dieser Metapher die damalige Abhängigkeit der Deutschen von ihrem Führer. Es wird deutlich, dass viele Menschen aus Angst um das eigene Leben oder das ihrer Familie bzw. aus Gruppenzwang, nicht aber aus reinem, ursprünglichem Judenhass die Säuberungsaktionen der Nationalsozialisten toleriert oder sogar unterstützt haben. Um die Grausamkeit dieser Hassgefühle zu verdeutlichen führt Weizsäcker im Anschluss ein besonders skandalöses und menschenverachtendes Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“ an.

Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Wiederstand gegen den Weltvergifter aller Völker, dem internationalen Judentum .

In diesem Zusammenhang räumt Weizsäcker ein, dass zwar ein Staat, der völlig frei von Krieg und Gewalt ist, nicht existiere, dass jedoch der Judenmord der Nationalsozialisten beispiellos in der Geschichte sei. Anschließend macht er mahnend darauf aufmerksam, dass, obwohl nur wenige Deutsche am Holocaust aktiv beteiligt waren, beinahe jeder die unmenschliche Diskriminierung und Verfolgung der Juden bewusst wahrgenommen hat. Mit der Metapher „Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger“ und einigen bildhaften Umschreibungen („Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt“) verleiht Weizsäcker dem Gesagten zusätzliche Anschaulichkeit. Die Dramatik der Judendiskriminierung unterstreicht er durch die Klimax „[...]kalter Gleichgültigkeit, über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass“, wobei erneut die Anhäufung von Adjektiven (kalt, versteckt, offen), die das Gesagte emotional bereichert, auffällig ist. In der folgenden rhetorischen Frage („Wer konnte arglos bleiben [...]“), durch welche sich das Publikum direkt angesprochen fühlt, ist ebenfalls eine Klimax enthalten, die der Veranschaulichung des Judenhasses zur damaligen Zeit dient. („[...]Bränden der Synagogen, den Plünderungen der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändungen der menschlichen Würde.“)

Durch die darauffolgende Metapher „Wer Augen und Ohren aufmachte [...]“ stellt Weizsäcker bildlich dar, dass jeder Deutsche sich der Judenverfolgung und sicherlich auch des Mordes an diesen Menschen bewusst gewesen ist. Die Ermordung der Juden umschreibt er mit dem Rollen von Deportationszügen, die sinnbildlich für den Transport in die Konzentrationslager und damit den Tod der jüdischen Bevölkerung und anderen Minderheiten stehen. Durch die Alliteration „Art und Ausmaß der Vernichtung“ erhält die Tatsache der Ermordung Tausender von unschuldigen Menschen zusätzliche Dramatik. Dabei erwähnt er, dass das Vorstellungsvermögen der Deutschen damals nicht ausgereicht habe, um sich ein Bild von der Gesamtheit des Grauens zu machen, dass es jedoch neben der vielen Morde ebenso ein Verbrechen gewesen sei, all dies zu ignorieren. Hierbei bezieht er sich durch die Parenthese „auch in meiner Generation“ in diese Schuld mit ein und nimmt seinen Worten so den Vorwurf-Charakter. Diese von Weizsäcker angesprochene Ignoranz der deutschen Bevölkerung erhält durch die Aufzählung „Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen“ zusätzliche Betonung. Und auch das Beteuern von einigen Leute nach dem Krieg, von all dem nichts gewusst zu haben, zeigt Weizsäcker als Schuld auf, schließt sich allerdings auch hier von dieser Verantwortlichkeit nicht aus. ([...] „viele von uns [...]“) Er macht anschließend darauf aufmerksam, dass es weder kollektive Schuld noch Unschuld gebe, sondern dass jeder Mensch für seinen Teil selbst verantwortlich sei, in wieweit er in den Terror des Nationalsozialismus eingebunden gewesen ist. Dabei teilt Weizsäcker den Begriff der Schuld in verschiedene Arten auf, die er in Form von Antithesen aufzählt. („Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben.“) Auf diese Weise macht er das Ausmaß dieser Schuld deutlich. Danach appelliert er an jeden einzelnen, sich nach seinem eigenen Beitrag zum Verbrechen des Dritten Reichs zu fragen. Jedoch auch hierbei gelingt es Weizsäcker, seinen Zuhörern nicht das Gefühl zu geben, angeklagt zu werden, da er zwar ein klares Bekenntnis zur Mitschuld abgibt, jedoch jedem selbst überlässt, in wieweit er selbst sich verantwortlich fühlt. Vielmehr appelliert Weizsäcker an seine Zuhörer, sich ernsthaft mit der Geschichte des eigenen Landes auseinander zu setzen, ohne sich für die Untaten eines gesamten Volkes verantwortlich zu sehen. Ganz besonders spricht er hier diejenigen an, die zur Zeit des Dritten Reichs noch im Kindesalter waren, und somit völlig unschuldig sind an dem was geschehen ist, sich aber dennoch ständig mit Anschuldigungen oder Gewissensfragen konfrontiert sehen. Mit der Litotes „Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen“ verdeutlicht Weizsäcker nochmals die Unschuld dieser Generation sowie die Tatsche, dass sie sich ihrer Identität als Deutsche nicht zu schämen brauchen, ein Phänomen, welches für viele nach dem Krieg zu einem Problem wurde. Die Vergangenheit Deutschlands bezeichnet er bildhaft als „schwere Erbschaft“, welche jedem Deutschen hinterlassen wurde. Darauf folgt erneut einer der Schlüsselsätze der Rede: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen.“ Auch hierbei bedient sich Weizsäcker zahlreicher Antithesen („ schuldig oder nicht [...]alt oder jung[...]“), um die Größe der Gruppe, die er anspricht, zu verdeutlichen. Den darauffolgenden Satz beginnt er wie den vorherigen mit den Worten „wir alle“, um nochmals das Wir-Gefühl seiner Zuhörer zu verstärken. In dem anschließenden Abschnitt geht Weizsäcker nochmals auf den Aspekt der Erinnerung, das zentrale Thema der Rede, ein. Er sagt, dass die Jüngeren sowie die Älteren (mit dieser Antithese meint er die Kriegsgeneration und diejenigen, die keinen direkten Bezug zum Krieg haben) sich gegenseitig helfen müssten, die Notwendigkeit dieser Erinnerung zu verstehen. Dabei personifiziert er die Erinnerung in dem er sagt, man müsse die Reflexion über den Krieg „wachhalten.“ Im Anschluss führt er eine Litotes an, („Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen“) mit der er die Forderung, widerruft, für die Verbrechen des Dritten Reiches bürgen zu müssen, der sich viele Deutsche ausgesetzt fühlen. Er unterstreicht, dass sich das Geschehene nicht ändern lasse und schließt dann das bereits erwähnte Bild der verschlossenen Augen an. „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt [...].“ Diese Bildlichkeit führt er weiter, in dem er erwähnt, dass derjenige, der die unschöne Vergangenheit Deutschlands verdrängt, auch in der Gegenwart Intoleranz und Unmenschlichkeit nicht sehen könne . „ [...]wird blind für die Gegenwart.“ Auch im nächsten Satz, den Weizsäcker wie den vorherigen mit dem Fragepronomen “wer“ beginnt, appelliert er an die Deutschen, sich stetig an das Geschehene zu erinnern um zu verhindern, dass eine solche Schreckensherrschaft erneut stattfinden kann. Er vergleicht dabei die Hitler-Diktatur mit einer Krankheit, was er durch die Metapher „Ansteckungsgefahren“ zum Ausdruck bringt. Diese Appelle werden mit zwei darauffolgenden Schlüsselsätzen begründet, welche sich direkt auf die Aussöhnung mit den Juden beziehen . „Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.“ Weizsäcker stellt heraus, dass eine endgültige Aussöhnung ohne Erinnerung nicht möglich sei, da das Moment der Erinnerung einen Teil des jüdischen Glaubens bilde. Mit der anschließend angeführten jüdischen Weisheit „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ begründet Weizsäcker nochmals die Notwendigkeit des bewussten Erinnerns und zeigt gleichzeitig seine Loyalität mit dem Judentum. Im Anschluss interpretiert er diese Glaubensweisheit, indem er sagt, dass der Glaube an Gott auch der Glaube an sein Wirken in der Geschichte sei. Die Erinnerung, die Basis der Versöhnung, definiert er dann im Folgenden genauer in Form einer Aufzählung . „Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an die Versöhnung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. [...]“ Durch diese Aussage wird bei den Zuhörern ein optimistisches hoffnungsvolles Gefühl bezüglich der Zukunft Deutschlands geschaffen. Außerdem lässt Weizsäcker hier die Hoffnung an eine Wiedervereinigung seiner nach dem Krieg aufgeteilten Heimat erkennen. Zum Schluss macht er darauf aufmerksam, dass das Erhalten der Erinnerung nicht nur der Ansatz für Aussöhnung und Frieden, sondern auch die Basis des Judentums sei, die es zu respektieren gelte. Durch die Metapher „ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserm Innern“ resümiert Weizsäcker nochmals seinen Appell, sich persönlich an die Vergangenheit Deutschlands zu erinnern anstatt das Geschehene zu verdrängen.

[...]


[1] Romani Rose: http://home.t-online.de/home/700800004471/rose/htm

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Zu: Richard von Weizsäcker "Ein Tag der Erinnerung"
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
41
Katalognummer
V82202
ISBN (eBook)
9783638886956
Dateigröße
457 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Richard, Weizsäcker, Erinnerung
Arbeit zitieren
Bettina Arzt (Autor:in), 2004, Zu: Richard von Weizsäcker "Ein Tag der Erinnerung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82202

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Zu: Richard von Weizsäcker "Ein Tag der Erinnerung"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden