Bis dass der Film reißt. Dimensionen von filmischem Exzess in einer Gegenüberstellung von Art Cinema und postmodernem Film


Magisterarbeit, 2006

197 Seiten, Note: 5.5 (CH)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Leitfragen
1.3 Aufbau

I. THEORIE
2. Filmischer Exzess: Definitionen, Formen und Dimensionen
2.1 Theoretische Konzepte zu filmischem Exzess (Thompson / Barthes)
2.1.1 The Concept of Cinematic Excess (Kristin Thompson)
2.1.2 Le sens obtus (Roland Barthes)
2.1.3 Thompson versus Barthes: Fazit und Kritik
2.1.4 Erste Begriffsbestimmung von filmischem Exzess
2.2 Weitere theoretische Bezüge zum Konzept des filmischen Exzesses
2.2.1 Filmischer Exzess als Betonung der Stil-Ebene von Filmen
2.2.2 Exkurs: Bedeutung von Stil in der Filmgeschichte
2.2.3 Genreorientierte Betrachtung von filmischem Exzess
2.2.4 Narratologische Ansätze
Discours vs. histoire (Christian Metz)
Sujethafte und sujetlose Filme (Jurij M. Lotman)
Topik-Reihen (Peter Wuss)
Dysnarration (Francis Vanoye)
Narrationsmodi: Art Cinema Narration und parametrische Narration (David Bordwell)
Fazit
2.2.5 Auteur-Theorie
Begriffsbestimmung und -entwicklung
Kritik und Diskussion: Historischer Abriss
Autorenfilm im Kontext Art Cinema
Autorenfilm im Kontext postmoderner Filme
Fazit
2.2.6 Unterscheidung zwischen Spektakel und Exzess
2.2.6.1 Filmischer Exzess als Form von Selbstreflexivität
2.2.6.2 Filmischer Exzess als Form von Spektakel
2.3 Interdisziplinärer Zugang
2.3.1 Manierismus
2.3.2 Barock und Neobarock
2.3.3 Minimal Art
2.3.4 Kitsch, Camp
2.3.5 Weitere Parallelen in Literatur und Theater
2.3.6 Zusammenfassung der interdisziplinären Parallelen
2.4 Abschliessende Beurteilung
Filmischer Exzess als Gegenspieler
Filmischer Exzess in Form von Selbstreflexion
Filmischer Exzess in Form von Spektakel
Filmischer Exzess in Form von Verrätselung
Filmischer Exzess als Grenzbereich: Gegenkonzept und Subversion
3. Gegenüberstellung Art Cinema und postmoderner Film
3.1 Filmgeschichtliche Kontextualisierung: Art Cinema
Begriffsbestimmung
Filmhistorische Entwicklung
Themen
Narration und Gestaltungsmittel
Figuren im Art Cinema
Fazit: Ästhetik im Art Cinema
3.2 Exzess im Art Cinema
3.3 Filmgeschichtliche Kontextualisierung: postmoderner Film
Begriffsbestimmung
Themen
Narration und Gestaltungsmittel
Figuren im postmodernen Film
Fazit: Postmoderne Ästhetik
3.4 Exzess im postmodernen Film
3.5 Gegenüberstellung Art Cinema und postmoderner Film:
Merkmale filmischen Exzesses

II. ANALYSE
4. Fallbeispiele
4.1 L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (Alain Resnais, F 1961)
Synopsis
Einbettung und Beschreibung der analysierten Sequenz
Narration und Gestaltungsmittel
Beurteilung filmischer Exzess in L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD
4.2 L’ECLISSE (Michelangelo Antonioni, I/F 1962)
Synopsis
Einbettung und Beschreibung der ausgewählten Sequenz
Narration und Gestaltungsmittel
Beurteilung filmischer Exzess in L’ECLISSE
4.3 PERSONA (Ingmar Bergman, S 1965)
Synopsis
Einbettung und Beschreibung der ausgewählten Sequenz
Narration und Gestaltungsmittel
Beurteilung filmischer Exzess in PERSONA
4.4 VIDEODROME (David Cronenberg, CAN/USA 1983)
Synopsis
Einbettung und Beschreibung der ausgewählten Sequenz
Narration und Gestaltungsmittel
Beurteilung filmischer Exzess in VIDEODROME
4.5 DROWNING BY NUMBERS (Peter Greenaway, UK/NL 1988)
Synopsis
Einbettung und Beschreibung der ausgewählten Sequenz
Narration und Gestaltungsmittel
Beurteilung filmischer Exzess in DROWNING BY NUMBERS
4.6 LOST HIGHWAY (David Lynch, USA 1997)
Synopsis
Einbettung und Beschreibung der ausgewählten Sequenz
Narration und Gestaltungsmittel
Beurteilung filmischer Exzess in LOST HIGHWAY
5. Schlusswort
5.1 Dominante Ausprägungen von filmischem Exzess im Art Cinema
5.2 Dominante Ausprägungen von filmischem Exzess im postmodernen Film
5.3 Synthese
Filmischer Exzess als Selbstzweck
Kombination und Wiederholung: punktuelle versus konsequente Anwendung
Filmischer Exzess und Autorschaft
Art Cinema versus postmoderner Film: Entwicklung von filmischem Exzess
6. Ausblick
7. Literatur
8. Filmografie
Spielfilme
TV-Serien

III ANHANG
9. Sequenzprotokolle
9.1 Sequenzprotokoll zu L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD
9.2 Sequenzprotokoll zu L’ECLISSE
9.3 Sequenzprotokoll zu PERSONA
9.4 Sequenzprotokoll zu VIDEODROME
9.5 Sequenzprotokoll zu DROWNING BY NUMBERS
9.6 Sequenzprotokoll zu LOST HIGHWAY
10. Untersuchungskorpus
11. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Bis dass der Film reisst: Der Moment, in dem Ingmar Bergman für PERSONA (S 1965) einen brennenden Filmstreifen durch den Projektor laufen lässt, kann als Sinnbild für filmischen Exzess stehen. Obwohl aus dem Experimentalfilm entlehnte Formexperimente im Spielfilm Eingang ge- funden haben, irritieren die fünf Sekunden, in denen Bergman nichts als ein weisses Bild zeigt: Die Form verselbständigt sich und wird zum Selbstzweck. Diesem Moment der Irritation kann die rauschende Tonspur zum schwarzen Bild in LOST HIGHWAY (USA 1996) gegenübergestellt werden. Nach einer schnell geschnittenen Sequenz kippt das Bild weg und David Lynch zeigt während fast 17 Sekunden zuerst ein unscharfes, dann ein schwarzes respektive leeres Bild.1 Obwohl exakt dreissig Jahre zwischen den beiden Filmen liegen, verwischen sie in ähnlicher Weise, durch den Einsatz von formalem Exzess, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum oder Fantasie. Dem Zuschauer2 wird damit jeder Hinweis für eine Zuordnung der Bilder verweigert. Diesem Moment der Irritation, wie es evoziert wird und welche Formen dafür verantwortlich sind, widmet sich die vorliegende Arbeit.

Obwohl filmischer Exzess seit Beginn der Filmgeschichte als Phänomen zu finden ist, erscheinen erst 1964 mit Barthes’ Le sens obtus, Heaths Terms of Analysis (1975) und Kristin Thompsons Concept of Cinematic Excess (1977) erste wissenschaftliche Abhandlungen dazu. Tom Gunning beschreibt das Kino vor 1906 in Anlehnung an den von Sergej Eisenstein geprägten Begriff als Attraktionskino:

„ Der dramatischen Zur-Schau-Stellung wird der Vorrang gegeben vor dem Narrativen, dem direkten Auslösen von Schocks oderüberraschungen vor dem Ausbreiten einer Geschichte oder dem Er- schaffen eines diegetischen Universums “ . 3 Er bewertet deshalb Georges Méliès’ Trickeffekte als exzessiver als die eher alltagsnahe Darstellung von Ereignissen in den Filmen der Gebrüder Lumière. BRONENOSETS POTYOMKIN (SU 1925) von Sergej Eisenstein wird beispielsweise als Exzess der Montage oder als überflüssiges Spektakel beschrieben.4 Thomas Elsaesser schildert BRAM STOKER’S DRACULA (USA 1992) von Francis Ford Coppola als exzessives Erlebnis, das abwechslungsweise zwischen Schock und Überraschung, Erotik, Verwandlungskunst und Sinnestäuschung hin- und herschwanke.5 Oliver Fahle bezeichnet John Woos FACE OFF (USA 1996) wegen der ausgefeilten Actionästhetik als visuellen Exzess, oder auch David Lynchs WILD AT HEART (USA 1990), der die Geschichte durch die visuelle Übersättigung des Bildes vermittle.6 Die Bewertung von Exzess durch Filmkritiker muss allerdings differenziert beleuchtet werden, da diese sich häufig auf den Inhalt beziehen und etwa Tabubrüche in Filmen von Derek Jarman (z.B. EDWARD II, UK 1991) oder Gewaltexzesse in NATURAL BORN KILLERS von Oliver Stone (USA 1994) beschreiben.

Exzess im Film impliziert also vielfältigste Erscheinungsformen und scheint schwer fass- und ein- grenzbar. Die Definition von filmischem Exzess wird meist in die Nähe der Begriffe Attraktion oder Spektakel gebracht.

Die vorliegende Untersuchung versucht nicht eine Übersicht über das ohnehin grosse Begriffsfeld zu geben, sondern versteht sich als eine Annäherung an das Thema. Insbesondere sollen Formen von filmischem Exzess herausgegriffen und bewertet werden. Welche Formen und Dimensionen lassen sich auf Grund der theoretischen Ausführungen zum filmischen Exzess definieren? Welche filmtheoretischen Ansätze können zur Konkretisierung des Begriffs herangezogen werden? Gibt es Vergleiche mit Konzepten in der Kunst- und Kulturwissenschaft? Wie hat sich filmischer Exzess im Laufe der Filmgeschichte entwickelt? Welchen Funktionen entspricht er in den unterschiedlichen Perioden, und inwiefern besteht ein Zusammenhang zwischen filmischem Exzess und Autorschaft? Diesen und anderen Leitfragen will die Lizentiatsarbeit Aufschluss geben.

In einer Gegenüberstellung von Art Cinema und postmodernem Film sollen die unterschiedlichen Formen und Dimensionen von filmischem Exzess aufgezeigt werden. Die beiden Perioden dienen uns dabei als Vergleichspunkte. Sie eignen sich für eine Untersuchung gut, weil sie sich beide jeweils anders mit der spezifisch filmischen Form auseinander setzten, um daraus ihre eigene Filmsprache zu entwickeln. Beiden ist ein Umbruch filmischer Erzählweise gemein, wobei sich das postmoderne Kino nicht als Gegenentwurf - wie das Art Cinema zum klassischen Kino - versteht, sondern sich spielerisch auf die Filmgeschichte im Allgemeinen bezieht. Erstere verstand Exzess mehrheitlich als kritische Auseinandersetzung mit der filmischen Form des traditionellen Kinos. Die Gegenüberstel- lung soll Tendenzen, in der Verschiebung der Funktionen von filmischem Exzess, aufspüren.

Für die Analyse haben wir deshalb aus beiden Perioden je drei Fallbeispiele ausgewählt: L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (Alain Resnais, F/I 1961), L’ECLISSE (Michelangelo Antonioni, I/F 1962) und PERSONA stehen dabei für das europäische Art Cinema der 1960er Jahre, während VIDEODROME (David Cronenberg, USA/CAN 1983), DROWNING BY NUMBERS (Peter Greenaway, UK/NL 1988) und LOST HIGHWAY den anglo-amerikanischen postmodernen Film vertreten. Filmischer Exzess äussert sich in den Fallbeispielen jeweils in unterschiedlichen Ausprägungen. Eine Synthese der Fallbeispiele ermöglicht Aufschlüsse und eine Konkretisierung des vagen theoretischen Begriffs. Die vorliegende Arbeit fokussiert formale Gestaltungsmittel, jedoch muss berücksichtigt werden, dass Form und Inhalt in jedem filmischen Werk in einem dialektischen Verhältnis zu einander stehen.

Formulierungen wie das Art Cinema und der postmoderne Film sind mit Vorbehalt zu lesen und nicht als absolute Grössen zu verstehen. Ähnlich problematisch ist die Begriffsverwendung von Normen und Konventionen. Auch hier muss darauf hingewiesen werden, dass sie als Hilfskonstruktionen verwendet werden, die als Grundlage für die Beurteilung filmischen Exzesses notwendig sind.

Es gilt zu berücksichtigen, dass filmischer Exzess je nach Kulturkreis variiert. Beispielsweise wäre

eine separate Untersuchung notwendig, um filmischen Exzess im Bollywoodkino zu beschreiben. Alexandra Schneider zum Beispiel schreibt dem zeitgenössischen Hindi-Mainstream-Film eine exzessive Emotionalität zu, wie sie im Westen nur selten anzutreffen ist.7 Die vorliegende Lizen- tiatsarbeit bezieht sich deshalb ausschliesslich auf das Kino der westlichen Gesellschaft (USA und Europa).

Genauso ist es für die Beschreibung von filmischem Exzess unabdingbar, nicht nur den jeweiligen kulturellen, sondern auch historischen Kontext zu berücksichtigen, da die Verwendung von Stilmitteln stark damit zusammenhängt. Beispielsweise begünstigten technische Innovationen, wie die Einführung von Breitwand, Technicolor oder split screen, neue Formen von Stilüberschuss.

1.1 Forschungsstand

Der Forschungsstand zum Begriff des filmischen Exzesses ist gering. Eine erste Konkretisierung erfährt der Begriff mit Kristin Thompsons Concept of Cinematic Excess, den sie 1977 als Artikel in Cin é -Tracts veröffentlichte. Dieses Konzept ist Ausgangslage für vorliegende Lizentiatsarbeit. Thompsons Ausführungen basieren auf Stephen Heaths Begriff des filmischen Exzesses, der schon 1975 in Terms of Analysis entwickelt wurde, und Roland Barthes’ Essay von 1964 über den stumpfen Sinn. Beide Texte beschäftigen sich mit filmischem Exzess und beschreiben ausführlich dessen Ausprägungen, verweigern sich jedoch letztlich einer präzisen Definition.

Wegen der schwierigen Begriffbestimmung von filmischem Exzess orientiert sich die Arbeit an weiteren filmtheoretischen Konzepten und interdisziplinären Ansätzen. Diese setzen sich mit Stil im Allgemeinen und im Speziellen mit der Betonung der Stil-Ebene im Film auseinander und weisen starke Parallelen zu Thompsons, Heaths und Barthes’ Begriffsbestimmung von filmischem Exzess auf.

1.2 Leitfragen

Schwerpunkt der Lizentiatsarbeit ist einerseits die Frage nach den Dimensionen von filmischem Exzess, andererseits die Frage nach dessen Entwicklung: Welche Eigenschaften weist filmischer Exzess im Art Cinema auf? Wie wirkt sich dieser danach in postmodernen Filmen aus? Wo liegen Gemeinsamkeiten und wo können Unterschiede festgemacht werden? Wo liegen die jeweiligen Dominanten von filmischem Exzess in den Fallbeispielen?

Weiter interessiert uns die Anwendbarkeit von Thompsons Konzept: Eignet es sich zur Analyse von Fallbeispielen? Wie könnte es gegebenenfalls angepasst werden? Welche Schwierigkeiten ergeben sich durch die Beschreibung von filmischem Exzess? Lässt sich Thompsons Konzept mit weiteren Ansätzen verbinden oder gar erweitern? Welche Dimensionen oder Bereiche werden hinsichtlich der verschiedenen Ausformulierungen von filmischem Exzess tangiert?

1.3 Aufbau

Der Theorieteil stellt die Konzepte von Thompson und Barthes vor und erweitert diese mit narra- tologischen Ansätzen, die die Betonung der Stil-Ebene fokussieren. Auch werden Parallelen zwischen filmischem Exzess und verschiedenen Filmgenres herausgearbeitet. Für eine weitere Eingrenzung soll das Konzept des filmischen Exzesses von verwandten Begriffen abgegrenzt beziehungsweise Zusam- menhänge hergestellt werden - einerseits zum Begriff der Selbstreflexivität, andererseits zu jenem des Spektakels. In diesem Zusammenhang wird auch der Autorenfilm erwähnt, weil er die subjektive Handschrift im Schaffen eines Regisseurs betont. Ausserdem wird ein möglichst offener Zugang durch die Darstellung verwandter Ansätze - wie jener des Barocks, Manierismus, Kitschs und Camps - ge- währleistet.

Nach einer ersten Begriffsbestimmung und -eingrenzung interessieren insbesondere Merkmale und Funktionen des Exzesses im Art Cinema im Gegensatz zum postmodernen Film.

Die Analyse untersucht den filmischen Exzess an ausgewählten Fallbeispielen. Aus einem breit angelegten Untersuchungskorpus mit Filmen des Art Cinema und des postmodernen Films wurden sechs Filme ausgewählt, die sich zur Bestimmung von filmischem Exzess besonders anbieten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Korpus der Lizentiatsarbeit auf den Spielfilm beschränkt, da sich die Ausführungen zum filmischen Exzess ausschliesslich auf diesen übertragen lassen. In Genres wie dem Experimentalfilm oder dem Avantgardefilm etc. erweist sich die übertriebene Darstellung der formalen Ebene als charakteristisch. Die Analyse von filmischem Exzess macht dort insofern keinen Sinn, weil eine Gegenüberstellung zwischen Absenz und Anwesenheit von filmischem Exzess entfällt.

Im letzten Teil führt die Synthese Erkenntnisse aus Theorie und Analyse zusammen und stellt die Frage nach Begriffsbestimmung und Dimensionen von filmischem Exzess neu.

I. THEORIE

2. Filmischer Exzess: Definitionen, Formen und Dimensionen

2.1 Theoretische Konzepte zu filmischem Exzess (Thompson / Barthes)

Thompson entwickelte ihr Konzept des filmischen Exzesses 1977 auf dem Exzess-Begriff des britischen Filmwissenschaftlers Stephen Heath8 sowie Roland Barthes’ Essay über den sens obtus 9, auf den wir im nachfolgenden Kapitel näher eingehen. Diese Grundlagentexte verstehen sich als essayistische Versuche, Exzess im Film zu beschreiben. Thompsons Herangehensweise ist im Gegen- satz dazu eine systematischere und versucht eine Eingrenzung der vielfältigen Erscheinungsformen von filmischem Exzess. Dennoch betont Thompson die Schwierigkeit eines wissenschaftlich fundier- ten Diskurses über filmischen Exzess, weil sich dieser einer systematischen Analyse entzieht.

2.1.1 The Concept of Cinematic Excess (Kristin Thompson)

Thompson definiert filmischen Exzess als formales Konzept und dabei als Konfliktgrösse zwischen materiellen Aspekten und der Kohärenz filmischer Erzählweise: „ Some of these forces strive to unify the work, to hold it together sufficiently that we may perceive and follow its structures. Outside any such structure lie those aspects of the work which are not contained its unifying forces - the ‚ ex cess ’”.10 Durch die Akzentuierung stilistischer Elemente tritt filmischer Exzess folglich als Gegenspieler zur Einheit beziehungsweise Geschlossenheit der filmischen Erzählung auf.

Thompson versteht filmischen Exzess abgegrenzt von der klassischen Hollywood-Narration der 1930er bis 1960er Jahre. Das klassische Paradigma bevorzugt tendenziell eine geschlossene, transpa- rente, lineare und motivationsgeleitete11 Ausrichtung der filmischen Erzählung. Daher definiert Thompson filmischen Exzess als Konzept, das formale Aspekte als exzessiv beschreibt - wobei Ex- zess dort beginnen soll, wo die Motivation für das Auftauchen solcher formalen Aspekte fehlt.

Thompson nennt vier Formen, welche die diegetisch-narrative Motivation einer Erzählung übersteigen und deshalb als filmischer Exzess bezeichnet werden können: Filmischer Exzess durch Betonung der spezifischen Form von filmischen Gestaltungsmitteln (1); filmischer Exzess durch Betonung der zeitlichen Länge (2); filmischer Exzess mittels Repetition filmischer Gestaltungsmittel (3) sowie filmischer Exzess durch Repetition und Variation von Motiven (4).

(1) Filmischer Exzess durch Betonung der spezifischen Form von filmischen Gestaltungsmitteln: Thompson beurteilt die spezifische Anwendung und Betonung folgender filmischer Mittel als Formen von filmischem Exzess: Kamerapositionierung, Einstellungsgrösse, Farbdramaturgie, Lichtgestaltung, Bildqualität, Raumkonstruktion, Einstellungsveränderungen (jump cuts), Achsensprünge, Wechsel zwischen schwarz-weissen und farbigen Einstellungen und rhythmischer Schnitt der Tonspur etc. So- wohl Thompson als auch Barthes veranschaulichen ihre theoretischen Ausführungen am Beispiel des russischen Spielfilms IVAN GROZNYY (SU 1944) von Sergej Eisenstein. Als Form von filmischem Ex- zess betrachtet Thompson in diesem Film die kontinuierliche Übertreibung des Stils, die sich in unge- wöhnlichen Kamerawinkeln (extreme Aufsicht oder Untersicht auf Figuren), ausgefallenen Kompo- sitionen (Objekte und Figuren sind auf mehreren Ebenen geschichtet), intensiver Farbgebung, kon- trastreicher Lichtdramaturgie, extremen Einstellungsgrössen, unscharfen Bildeinstellungen, systema- tischer Missachtung des continuity style (räumliche Orientierungslosigkeit durch Achsensprünge) oder in der Verwendung von Weichzeichnern sowie in der Präsentation überflüssiger Requisiten mani- festiert.

(2) Filmischer Exzess durch Betonung der zeitlichen Länge: Als zweite Form von filmischem Exzess nennt Thompson die Einstellungslänge. Gewisse Kompositionen erfordern eine zeitliche Dauer, damit die verschiedenen stilistischen Aspekte in ihrem ganzen Ausmass vom Zuschauer erfasst werden können. Eine (Über-)Strapazierung der zeitlichen Länge dient nach Thompson insofern jedoch eher einem Selbstzweck, als dadurch visuelle Aspekte des Dekors, der Komposition oder etwa Struktur- merkmale der Musik (losgelöst von ihrer diegetisch-narrativistischen Motivation) betont würden: „ ( … ) the material provides a perceptual play by inviting the spectator to linger over devices longer than their structured function would seem to warrant “ . 12 Thompson nennt als Beispiel in IVAN GROZNYY die langen, statischen Einstellungen und die vielschichtige Komposition.

(3) Filmischer Exzess mittels Repetition filmischer Mittel: Die wiederholte Verwendung bestimmter Gestaltungsmittel zur Bestätigung einer Aussage, zur Erzeugung einer bestimmten Stimmung oder zur Zeichnung der Figuren wird als weitere Form für filmischen Exzess bewertet. Durch die Repetition wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Gestaltungsmittel gelenkt: „ After a point, the repeated use of multiple devices to serve similar functions tends to minimize the importance of their narrative implications; instead, they become foregrounded primarily of their own innate interest “.13 Als Beispiel nennt Thompson in IVAN GROZNYY das wiederholte Wechseln zwischen farbigen und schwarz-weissen Einstellungen und die Repetition gleicher Einstellungen über die Gesamtlänge des Films verteilt.

(4) Filmischer Exzess durch Repetition und Variation von Motiven: Als letzte Form benennt Thompson die Repetition und Variation von Motiven als filmischen Exzess. Beispielsweise erwähnt Thompson das Vogelmotiv in IVAN GROZNYY, das in verschiedenen Facetten wiederholt wird. Der spezifische Umgang mit Motiven evoziert zwar eine bestimmte Stimmung, die filmische Erzählung wird dadurch aber gestört.

Neben diesen vier Formen von filmischem Exzess fügt Thompson Posen, Blicke und Mimik zur Betonung des Schauspielstils und Tempo, Flüssigkeit und Rhythmus zur Akzentuierung von Dialogen als weitere Aspekte an.

Thompson unterstreicht in ihren Ausführungen die Bedeutung des Zuschauers beim Erkennen von filmischem Exzess. Erst dieser nimmt filmische Gestaltungsmittel in ihrer spezifischen Anwendung wahr und misst ihm Bedeutung bei: „ But the minute a viewer begins to notice style for its own sake ( … ), excess comes forward and must affect narrative meaning “.14 Sie macht aber rezeptionsbedingte Unterschiede geltend. Den versierteren Zuschauer spricht sie eine stärkere Fähigkeit zu, Exzess-Ele- mente zu erkennen und diese nicht als störende Momente zu begreifen.

Für Thompson eröffne filmischer Exzess letztlich die Möglichkeit, filmische Erzählungen nicht ausschliesslich als kausale Wirkungsketten zu betrachten. Filmischer Exzess fördere demzufolge eine Pluralität und Offenheit von filmischen Erzählungen: „ Our conclusion must be that, just as every film contains a struggle of unifying and disunifying structures, so every stylistic element may serve at once to contribute to the narrative and to distract our perception from it “ . 15

Bevor Thompsons Konzept kritisch reflektiert wird, soll an dieser Stelle Barthes’ Idee des stumpfen Sinns vorgestellt werden.

2.1.2 Le sens obtus (Roland Barthes)

Wie erwähnt stützt sich Thompson in der Definition ihres Konzeptes u.a. auf den Aufsatz von Roland Barthes’ Le sens obtus (1964), in welchem er die Theorie des dritten Sinns entwickelt.16 Wie Thompson analysierte auch Barthes Eisensteins IVAN GROZNYY, wobei er dessen Einstellungen je- doch als separate, für sich stehende Fotogramme beurteilte. Im Gegensatz dazu analysierte Thompson ganze Sequenzen, weshalb sie beispielsweise die Länge von Einstellungen als eine Form von filmischem Exzess bewertete.

Barthes unterscheidet drei Sinnebenen im künstlerischen Ausdruck: Jedes Bild enthalte sowohl einen informativen Sinn als auch einen symbolischen, mitgemeinten Sinn. Zusätzlich zu diesen zwei Ebenen beobachtet er einen dritten Sinn, den er als stumpfen bezeichnet.

Der informative Sinn auf der ersten Ebene ist manifest und denotativ. Er ist auf den ersten Blick er- kennbar und dient der Kommunikation. Barthes ordnet ihn dem Forschungsfeld der Semiotik zu. Als Beispiele nennt er in Eisensteins IVAN GROZNYY das Dekor, die Figuren und Kostüme etc. Den symbolischen Sinn bezeichnet er auf einer zweiten Ebene als entgegenkommenden (le sens obvie) und betont dessen konnotative Qualitäten. Er sei wohl evident, aber dennoch geschlossen, weil er aus einem vollständigen Sender-Empfänger-System resultiere. Auf dieser Ebene unterscheidet Barthes zwischen referentieller (das Ritual der Taufe), diegetischer (Gold als Symbol von Reichtum), Eisensteinscher (Gold als intertextuelles Element in Eisensteins Filmen) und historischer Symbolik (Gold als Symbol für Tausch, in Bezug auf das Taufritual).

Auf einer dritten Ebene verortet er den stumpfen Sinn (le sens obtus)17: dieser bezeichnet einen Sinn von breiterer Erkenntnis und lässt sich theoretisch nicht fassen, Barthes versucht ihn dennoch so gut wie möglich zu beschreiben. Die Schwierigkeit des Begriffs sei, dass er ein Signifikant ohne Signifikat sei. Wohl besitze der Signifikant eine theoretische Individualität, vermöge aber nicht auf einen Signifikaten zu verweisen. Barthes spricht diesbezüglich von unvollständigen Zeichen, die - wie die übertriebene Kostümierung oder Schminke der Schauspieler - zwar auffallen würden, in ihrer Be- deutung aber nicht erfasst werden könnten. So sprenge der stumpfe Sinn den Handlungsrahmen und verfremde. Der stumpfe Sinn ist jenseits der Sprache und über den Intellekt nicht fassbar, er ver- flüchtigt sich stets. Barthes betont die Emotionen, die der stumpfe Sinn mit sich bringt und bewerten würde, indem er eine Art Dialog mit dem Zuschauer aufnehme. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass Barthes eine Form von Sinnlichkeit in seiner Begriffsverwendung des sens impliziert und damit eine Loslösung vom Rationalen meint. Denn letztlich weist der stumpfe Sinn keinen eigentlichen Sinn mehr auf.

In seinen Ausführungen verwendet Barthes Begriffe, die im Hinblick auf eine Definition des filmischen Exzesses interessant sind. Ähnlich wie Thompson spricht er vom stumpfen Sinn als einem Extra, das „‚ü berzählig ’ ist, wie ein Zusatz, den meine intellektuelle Erkenntnis nicht aufzufassen ver- mag “ 18. Der stumpfe Sinn sprenge Grenzen, übersteige diese und befinde sich jenseits der Sprache im irgendwo: „ Der stumpfe Sinn erstreckt sichüber die Kultur, das Wissen und die Information hinaus “.19 Insbesondere der Punkt der An- und Abwesenheit, den Barthes anspricht, ist im Zusam- menhang von filmischem Exzess interessant. Barthes spricht vom stumpfen Sinn als „ beunruhigend wie ein Gast “ 20, den man nicht brauche. Er tauche auf und unter und sei in einem Spiel der An- und Abwesenheit schwer zu fassen. In dieser Weise liesse er sich als Karneval bewerten - ein Gedanke der später im Kapitel zu Kitsch (2.3.4) wieder aufgenommen wird: „ von moralischen oderästhetischen

Kategorien (dem Trivialen, dem Belanglosen, dem Unechten und dem Pastiche) unberührt, steht er auf der Seite des Karnevals “.21 Er verweist - insbesondere bei Eisenstein - auf die Bedeutung der Verkleidung (Eisenstein etwa benutze Requisiten als Pastiche) und überspitzter Mimik. Im Gegensatz zu Thompson beschreibt Barthes jedoch filmischen Exzess nicht als ausschliesslich ästhetisches Phänomen, sondern als eines, das über den Intellekt und die Moral hinausreiche.

So vage Barthes mit diesen Ausführungen bleibt, so sehr geben sie auch eine Ahnung von der Dimension, die er zu fassen versucht. Durch eine totale, endlose Öffnung des Sinnfeldes werde die Grundlage für Assoziationen und auch Emotionen gelegt. Der stumpfe Sinn begünstigt dadurch andere Lesearten (Queer-Reading), bezüglich Eisensteins IVAN GROZNYY verweist Barthes auf die Revolution: „ Die Eisensteinscheästhetik bildet keine unabhängige Ebene: Sie ist ein Bestandteil des stumpfen Sinns, und der stumpfe Sinn ist bei Eisenstein immer die Revolution “.22 Letztlich geht es also um Form, die sich verselbständigt, und die einen eigenen Wert und Sinn besitzt.

Später formuliert Barthes ähnliche Gedanken für die Fotografie in Die helle Kammer mit den Be- griffen punctum und studium. Auch hier bezieht er sich auf einzelne Bilder - in diesem Fall Foto- grafien - und geht von mehreren Ebenen in der Wahrnehmung des Betrachters aus. Genauso wenig wie der stumpfe Sinn lässt sich das punctum bestimmen.23 Während das studium die dekodierende Be- trachtungsweise eines Bildes bezeichnet, ist das punctum das Moment, in dem die Bedeutung und die damit verknüpften Emotionen den Betrachter anspringen. Dieses Moment ist subjektiv.

Ausserdem ist Barthes’ stumpfer Sinn mit dem Begriff des sozialen Gestus verbunden, den er 1973 in Anlehnung an Brecht formulierte.24 Auch der soziale Gestus bezieht sich auf den Augenblick und bietet für die Definition des filmischen Exzesses einen Anhaltspunkt. Barthes vergleicht dabei das Theater Brechts mit den Filmen Eisensteins als Abfolge prägnanter Augenblicke und meint damit „ die Anwesenheit aller Abwesenheiten (Erinnerungen, Lektionen, Verheissungen), in deren Rhythmus die Geschichte zugleich intelligibel und begehrenswert wird “ 25. Ebenso können rhetorische Formen gestisch sein - ein Gedanke, den Barthes ebenfalls von Brecht übernimmt -, nämlich dann, wenn sie gewisse Haltungen anzeigten, die der Sprecher anderen gegenüber einnehme.

2.1.3 Thompson versus Barthes: Fazit und Kritik

Bei Barthes gilt der Begriff noch als unbeschreibbar - Thompson versucht trotz den vielfältigen Er- scheinungsformen einige Aspekte von filmischem Exzess aufzugliedern und zu benennen, und schafft so eine wertvolle Analysegrundlage. Thompsons Aspekte bilden sicherlich nicht die gesamte Band- breite von Formen filmischen Exzesses ab. Dennoch erweist sich das Konzept als geeignete Aus- gangslage für eine weitere Begriffsbestimmung von filmischem Exzess. Durch die Bestimmung als formales Konzept wird auch eine Differenzierung des Diskurses über filmischen Exzess ermöglicht.

Als Schwachstellen des Konzepts von Thompson sind die relativ allgemein formulierten Begriffe devices, material aspects und unifying structures zu erwähnen. Thompson fasst sowohl filmtechnische Elemente wie Kamera, Licht, Schnitt, Ton, Farbe etc., als auch sprachliche und schauspielerische Aspekte als filmische Gestaltungsmittel zusammen. Ausserdem spezifiziert sie nicht, was sie unter unifying structures versteht. Diese lassen sich nur durch einen filmhistorischen und -theoretischen Kontext entschlüsseln.

Diesen Vorbehalten kann entgegengehalten werden, dass auch Barthes vom genuin Filmischen spricht, und dabei nicht klärt, welche filmischen Gestaltungsmittel er meint. Die vagen Begrifflichkeiten lassen sich zum Teil auf die Vielfalt von filmischem Exzess zurückführen. Der Versuch einer präziseren Begriffsbestimmung ist demzufolge unerlässlich.

Ein weiterer Mangel dürfte sein, dass Thompson zwar betont, dass filmischer Exzess als Gegenspieler narrativer Kohärenz fungiert. Sie unterlässt es aber, diesen Aspekt explizit eine Form von filmischem Exzess zu nennen. Elemente wie Ellipse oder Achsensprung innerhalb der Zeit-Raum-Struktur fallen daher bedeutungslos unter die Kategorie der Betonung filmischer Gestaltungsmittel als filmischer Exzess. Gerade diese Elemente bergen aber - wie auch in weiteren Theoriebezügen ersichtlich wird - grosses Potential, und müssten deshalb explizit als Formen von filmischem Exzess berücksichtigt werden.

Als weitere Schwachstelle ihres Konzepts ist der relativ starke Bezug zwischen filmischem Exzess und der diegetisch-narrativen Motivation zu werten. Thompson begreift filmischen Exzess als stören- des, problematisches oder komisches Moment, weil keine Motivation dafür erkennbar ist. Diese stark motivationsbezogene Bestimmung von filmischem Exzess ist dem neoformalistischen Ansatz zuzu- schreiben und dessen Präferenz für klassische Hollywoodfilme als Analysegrundlage. Diese Bestim- mung impliziert aber fälschlicherweise, dass in Hollywoodfilmen grundsätzlich kein filmischer Exzess aufzufinden ist. Dies erklärt, weshalb Thompson einen russischen Spielfilm in der Tradition des Formalismus als Beispiel für filmischen Exzess analysiert.26 Berücksichtigt werden muss aber, dass auch Barthes dieses Filmbeispiel verwendete. Der widerstrebende Charakterzug von filmischem Exzess, der sowohl von Barthes als auch von Thompson betont wird, begünstigt Konventionen als Re- ferenzsystem. Filmischer Exzess wird von Thompson und Barthes demzufolge in Abgrenzung zu diesem Referenzsystem beschrieben. Eine eindimensionale Bestimmung von filmischem Exzess, die Thompson in Abgrenzung zum klassischen Hollywoodkino unternimmt, gilt es aber in der weiteren Beschreibung zu vermeiden.

Roland Barthes’ Essay ist insofern zu kritisieren, als dass der stumpfe Sinn relativ schwer vom entge- genkommenden abzugrenzen ist, denn der stumpfe Sinn beschreibt letztlich eine stark subjektive Be- trachtung der Bildelemente und basiert auf interpretativen Zuschreibungen. Da er nichts nachbildet, lässt sich Barthes’ stumpfer Sinn nicht beschreiben. Dies ist in sich ein Widerspruch, beurteilt doch Barthes in seinem Essay einzelne Einstellungen von IVAN GROZNYY. Seine Analyse von filmischen Einstellungen als Fotogramme ist zu berücksichtigen, da sich damit die starke Bedeutung des Augenblicks für Barthes’ Gedanken erklären lässt. So stellt sich auch die Frage, inwiefern sein Ansatz tatsächlich auf bewegte Bilder übertragbar ist. Barthes betont dann auch, dass das Fotogramm den Zwang der Filmzeit aufhebe.27 Dem besonderen Verhältnis zwischen der Darstellung von Zeit im Film und filmischem Exzess gilt es bei der weiteren Beschreibung verstärkt Beachtung zu schenken. Ein sehr wichtiger Aspekt - vor allem auch in Bezug auf das Art Cinema - ist Barthes’ Argumentation, dass erst der stumpfe Sinn Kunst zu Kunst mache und so als Schnittstelle gesehen werden kann.

Während also Thompson ein theoretisches Modell mit konkreten Aspekten zu entwickeln versuchte, befasste sich Barthes deskriptiv mit dem Phänomen und konzentrierte sich weniger auf die Merkmale als vielmehr auf die Wirkung von filmischem Exzess. Beide versuchten, ein ähnliches Phänomen zu charakterisieren, und schienen ihre Schwierigkeiten damit zu haben - unterschieden sich aber sowohl in ihrer Herangehensweise als auch im Erkenntnisinteresse. Interessant ist dabei, dass bei beiden das Ü ber, das Zuviel und das Extra als Hauptmerkmale von filmischem Exzess herausragen.

2.1.4 Erste Begriffsbestimmung von filmischem Exzess

Für die weitere Betrachtung von filmischem Exzess und einer späteren Begriffsbestimmung gilt es ab- schliessend, die wichtigsten Aspekte von Thompsons Konzept und Barthes’ Essay festzuhalten. Zunächst ist filmischer Exzess nach Thompson als formales Konzept zu verstehen und als Betonung stilistischer Aspekte von Filmen. Diese stehen in einem Konfliktverhältnis zu Strukturen, die eine er- zählerische Geschlossenheit bilden. Filmischer Exzess wird deshalb als Gegenspieler zu narrativer Kohärenz bewertet. Wir sehen davon ab, filmischen Exzess in Abgrenzung zum klassischen Para- digma zu beschreiben und verzichten deshalb auch auf eine Verknüpfung von filmischem Exzess an die diegetisch-narrative Motivation.

Die oben beschriebenen vier Formen nach Thompson dienen uns als theoretische Grundlagen, die mit weiterführenden Ansätzen weiterentwickelt und ergänzt werden sollen. Im Sinne von Thompson bewerten wir insbesondere die spezifische Darstellung folgender filmischer Gestaltungsmittel als filmischen Exzess: ungewöhnliche Kamerapositionierungen; ausgefallene Kompositionen; rhythmische Schnitte der Tonspur; unscharfe Bildeinstellungen; intensive Farbgebungen; kontrastreiche Lichtdramaturgie; extreme Einstellungsgrössen; systematische Missachtung des continuity style; Verwendung von Weichzeichnern; Posen, Gesten und Mimik als Betonung des Schauspielstils sowie Tempo, Flüssigkeit und Rhythmus als Akzentuierung von Dialogen. Weitere Formen sind die Länge von Einstellungen und die Repetition von Motiven und stilistischen Mitteln.

Für Barthes sind die folgenden Aspekte für eine Beschreibung des Phänomens von Bedeutung: der stumpfe Sinn als Zusatz, als schwer fassbares Element, als Grundlage für Assoziationen und Polysemie sowie als Appell an Emotionen. Ähnlich wie Thompson argumentiert Barthes, dass Exzess die Möglichkeit von Pluralität und Polysemie über Assoziationen biete.

Nach der Vorstellung der theoretischen Grundlagen erörtert das nächste Kapitel in weiteren theoretischen Gesichtspunkten vor allem den anti-narrativen Charakter filmischen Exzesses durch die Betonung formaler Aspekte.

2.2 Weitere theoretische Bezüge zum Konzept des filmischen Exzesses

2.2.1 Filmischer Exzess als Betonung der Stil-Ebene von Filmen

Zunächst gilt es, Thompsons Bestimmung von filmischem Exzess als formales Konzept und die Beto- nung des Stils begrifflich zu festigen. Der Zusammenhang zwischen Stil und filmischem Exzess be- wertet Thompson folgendermassen: „ Style is the use of repeated techniques which become character- istic of the work; these techniques are foregrounded so that the spectator will notice them ( … ). Excess does not equal style, but the two are closely linked because they both involve the material aspects of the film “.28 In Anlehnung an Heath begreift auch Leger Grindon die Stil-Ebene von Filmen als Referenzgrösse für filmischen Exzess: „ Style embodies the film ’ s materiality and excess becomes an aspect of style that cannot be accounted for by comprehensive analysis of the text “.29 Thompson unterscheidet entsprechend der neoformalistischen Tradition zwischen syuzhet, fabula und style der filmischen Erzählung.30 Die Stil-Ebene weist nach Bordwell und Thompson folgende vier Kategorien auf: Mise-en-Scène, Kamera, Schnitt und Ton .

Die Stil-Ebene wird gewöhnlicherweise von der Plot-Ebene kontrolliert respektive dazu angewendet, gewisse Aufgaben des dramaturgischen Aufbaus zu erfüllen. Sie liefert Hinweise für die Blickführung der Zuschauer und die Steuerung des Informationsflusses.31 Die Betonung der Stil-Ebene als filmischer Exzess löst sich dabei gegenüber den Parametern Plot und Story ab. Bordwell meint diesbe- züglich: „ Any image or sound can contribute to narration, but we can also attend to an element for its sheer perceptual salience ”.32 Er bewertet den Anfang von REAR WINDOW (USA 1954) von Alfred Hitchcock als Abspaltung der Stil-Ebene von der Story-Ebene des Films und damit als Exzess: „ ( … ) in the first shot of Rear Window, we can choose not to construct a story world and instead savor random colors, gestures, and sounds. These ‚ excessive ’ elements are utterly unjustified, even by aesthetic motivation “.33 Nichols spricht in ähnlicher Weise von filmischem Exzess, dem stark eine ästhetische Motivation zu Grunde liegt und der daher nur schwer narrativ fassbar sei: „ Excess is the random and inexplicable, that which remains ungovernable within a textual regime presided over by narrative “.34

Bordwell stellt im Verlauf der Filmgeschichte unterschiedliche Vorstellungen im Umgang mit der Stil-Ebene von Spielfilmen fest. Einige dieser Perioden weisen eine deutliche Präferenz der Stil-Ebene gegenüber den Parametern Plot und Story auf. Im Folgenden werden vor allem im Bezug auf die Montage einige bedeutende ästhetische Entwicklungsschritte aufgezeigt, die hinsichtlich der bisherigen Beschreibung von filmischem Exzess relevant sind.

2.2.2 Exkurs: Bedeutung von Stil in der Filmgeschichte

Bordwell bezeichnet die Montage als eine der ersten - für den Stil von Filmen - bedeutende Ent- wicklung.35 Er nennt beispielsweise die analytische Montage in Filmen von David W. Griffith, die assoziative Montage bei Sergej Eisenstein oder die konstruktivistische Montage bei Vsevolod Pudov- kin. Die verschiedenen Montagetechniken entsprechen nach Bordwell unterschiedlichen Stil-Prä- ferenzen der Regisseure zu einer bestimmten Zeit der filmhistorischen Entwicklung. Als eine erste experimentelle Phase im Umgang mit dem Stilmittel der Montage bewertet er Méliès’ Stopp-Effekt. Er hielt während des Drehs die Aufnahme an, so dass schliesslich verschiedene Tableaus aneinanderge- reiht werden konnten. Bordwell bezeichnet diese als zauberhafte Bildveränderungen. Das bevorzugte continuity editing in klassischen Hollywoodfilmen kann im Gegensatz dazu als wenig exzessiv be- schrieben werden. Anstelle formaler Ausschweifungen stand nach Bordwell in dieser filmhistorischen Epoche die Vermittlung einer verständlichen Geschichte im Mittelpunkt. Die Montage wurde so ange- wandt, dass eine kohärente Raum-Blickführung gewährleistet wurde. Der Stil-Ebene wurde in dieser Periode daher eine rein ausführende Funktion zugesprochen. Dennoch finden sich immer wieder Beispiele für filmischen Exzess in dieser klassischen Periode. Rick Altman bewertet beispielsweise die Tanznummern in klassischen Musicals als Verstoss gegen die Kausalität der filmischen Erzählung.

Die Erzählstruktur beispielsweise von SINGING IN THE RAIN (USA 1952) von Stanley Donen und Gene Kelly variiert zwischen Songnummern und Filmhandlung.36 Auch Hitchcocks Filme sind geprägt von jeweils aussergewöhnlichen, stilistischen Momenten, die nicht ausschliesslich einer klaren Ver- mittlung der Geschichte dienen: „ Hitchcock ’ s complex manipulation of POV, and the streching of its conventions, creates a range of possible interpretations which improve with reapeated viewing “.37 Die formalen Besonderheiten stören die kohärente Raum-Blickführung und erzielen eine bestimmte Stimmung. Als exzessives Montage-Beispiel wird auch Orson Welles’ CITIZEN KANE (USA 1941) beschrieben: „ In Citizen Kane steht eine Reihe vonüberblendungen ( … ) einer in einer einzigen Einstellung gedrehten Szene gegenüber - das ist eine andere, betont abstrakte Form der Erzählung “ . 38 Diese Beispiele können als Formen von filmischem Exzess in klassischen Hollywood- filmen bewertet werden.

Ein weiterer Zusammenhang für filmischen Exzess im klassischen Hollywood ist jener zwischen Exzess und Genre, auf den Linda Williams verweist (vgl. nachfolgendes Kapitel).

Als eine bedeutende Etappe in der Stil-Geschichte bewertet Bordwell die Einführung des Tonfilms in den 1930er Jahren, die es ermöglichte, die Tonspur als eigenes stilistisches Gestaltungsmittel zu ver- wenden. André Bazin führte diesbezüglich die Bedeutung der kontrapunktischen Anwendung von Ton im Film aus.39 Analog zum Bildschnitt müsse der Ton als eigenständiges Gestaltungsmittel betrachtet werden. Er dürfe daher nicht bloss zur Unterstützung des Gezeigten verwendet werden. Als späteres Beispiel einer formal eigenständigen Tonspur nennt Bordwell Jean-Luc Godards ALPHAVILLE (F/I 1965). Hier scheinen die plötzlichen Tonausfälle ein von den restlichen Parametern losgelöstes Eigen- leben zu entwickeln.

Die gekürzte Schilderung veranschaulicht die Abhängigkeit der Stil-Ebene zum jeweiligen filmhisto- rischen Kontext und den technischen Möglichkeiten zu jener Zeit. Diesbezüglich schlägt Jean-Louis Comolli vor, Filme als Schnittfläche zwischen technischen, ästhetischen, soziologischen und ideolo- gischen Aspekten zu bestimmen.40 Bordwell betont aber, dass den filmtechnischen Entwicklungen meist stark ästhetische Vorstellungen zu Grunde liegen.41 Als Beispiel einer prägnanten Wechsel- wirkung zwischen technologischen und ästhetischen Überlegungen ist der Einbau eines lichtstarken Kameraobjektivs, in BARRY LYNDON (UK 1975) von Stanley Kubrick zu bewerten. Durch den Um- bau der Kamera konnte eine lichtempfindlichere Linse integriert werden. In der Folge war es möglich, die Szenen ausschliesslich mit Kerzenlicht zu filmen. Daraus resultierte eine geringere Tiefenschärfe, die sich mit dem Weichzeichnereffekt zeitgenössischer Gemälde vergleichen liesse.42 Als Filmbeispiel jüngerer Zeit sind die Spezialeffekte in THE MATRIX (USA 1999) von Andy und Larry Wachowski anzufügen: „Ü ber einhundert Kameras nehmen verschiedene Aktionsmomente, Momentbilder auf, die die Bewegung somit zerlegt und gleichsam im Computer in digitaler Collageübereinandergeschichtet wird “.43 Neben dem Einfluss technischer Innovationen wird deutlich, dass die Stil-Ebene im filmhistorischen Verlauf jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Ästhetik entspricht. Die Betonung der Stil-Ebene als filmischer Exzess tritt nicht in allen Zeitabschnitten gleichermassen zum Vorschein und muss demzufolge in Abhängigkeit zu den genannten Faktoren bewertet werden.

2.2.3 Genreorientierte Betrachtung von filmischem Exzess

Linda Williams geht von einem genreorientierten Ansatz bei der Beschreibung von filmischem Exzess aus. Williams’ Betrachtungen präsentieren einige Formen von filmischem Exzess in klassischen Genres. Ihr Ansatz bezieht sich nicht ausschliesslich auf die Stil-Ebene der Filme. Dennoch finden sich einige Parallelen zu Thompsons Konzept:

Williams bewertet Exzess in Abhängigkeit zu den Genres Pornofilm, Melodrama und Horrorfilm und spricht von bodily excess.44 Dieser wird beispielsweise in Pornofilmen als visuelle Lust über den Frauenkörper vermittelt. Laura Mulvey stimmt dieser Vorstellung zu und begreift Exzess im Film in Abhängigkeit zur weiblichen Figur. Die erotische Erscheinung reisst den Zuschauer aus dem Erzählfluss der Geschichte heraus: „ Woman ’ s visual presence tends to work against the development of a story line, to freeze the flow of action in moments of erotic contemplation “.45 Dagegen wird die männliche Figur als Handlungsträger der Geschichte beschrieben.

Entsprechend Thompsons Bestimmung von filmischem Exzess nennt Williams die Form der Übertreibung als Exzess. Furcht und Angst werden beim Zuschauer vor allem mittels extremen Darstellungen erreicht. Williams nennt auch das Element der Widerholung als kennzeichnend für Exzess. Sie nennt als Beispiel den repetitiven Charakter von Furchtmomenten im Horrorfilm oder das Pathos im Melodrama. Die übertriebene Darstellung emotionaler Momente im Melodrama beschreibt sie folgendermassen: „ ( … ) melodrama can encompass a broad range of films marked by ‚ lapses ’ in realism, by ‚ excesses ’ of spectacle and display of primal, even infantile emotions, and by narrative that seem circular and repetitive “.46 In vergleichbarer Weise bezeichnet Barbara Klinger die übertriebene Mise-en-Scène und die psychologischen und sexuellen Probleme als Hauptmerkmale von Melodramen.47 Sie bewertet die formalen Übertreibungen in WRITTEN ON THE WIND (USA 1956) von Douglas Sirk als Möglichkeit einer Kritikäusserung: „ This dual structure is comprised by a manifest level, consisting of obvious melodramatic content the masses consume unreflectively, and a latent level, consisting of formally-constituted cultural critique perceived by the properly trained, i.e., intellectual/ critical spectator “ . 48 Das subversive Potential von filmischem Exzess wird später weiter ausgeführt.

Williams bewertet in ihrem genreorientierten Ansatz insbesondere das Element der Übertreibung und der Wiederholung als bodily excess. Darin sind gewisse Parallelen zu Thompsons Konzept zu sehen. Williams beurteilt aber im Unterschied zu Thompson nicht nur rein formale Aspekte als Exzess. Die repetitive und übertriebene Anwendung von Elementen wie Lust, Schrecken, Furcht oder emotionaler Momente sind nicht als Betonung der Stil-Ebene zu verstehen. Vielmehr werden sie zur bewussten Lenkung der Zuschauergefühle eingesetzt. Die Formen erweisen sich dabei als Bestandteil von geschlossenen Erzählungen. In diesem Sinne entsprechen auch die stilistischen Übertreibungen in Melodramen nicht der rein formalen Bestimmung von filmischem Exzess.

2.2.4 Narratologische Ansätze

Die Betonung formaler Aspekte im Film wird in einigen narratologischen Anätzen als Gegenkonzept zur geschlossenen Erzählweise verstanden. Ein Merkmal offener Erzählformen bildet die Hervorhe- bung von Stil-Elementen, beispielsweise durch die langwierige Exposition am Anfang einer Geschich- te (vgl. dazu z.B. L’AVVENTURA). Sie weisen dadurch starke Parallelen zum anti-narrativen Charakter auf, den sowohl Thompson als auch Barthes als bestimmend für filmischen Exzess bewerten.

Discours vs. histoire (Christian Metz)

In einer ersten Betrachtungsweise hinsichtlich der Betonung von Stil im Film unterscheidet Christian Metz in Anlehnung an den Linguist Emile Benveniste zwischen discours und histoire einer filmischen Erzählung.49 Als histoire - in Abgrenzung zur diskursiven Form - bezeichnet Metz filmische Erzähl- ungen, die eine (ab-) geschlossene Geschichte präsentieren respektive den Akt des Erzählens nicht hervorheben. Nach Metz bevorzuge das klassische Kino der Transparenz die geschlossene Form von Erzählungen, insbesondere durch das Mittel des continuity editing. Als discours wird der Akt des Aus- sagens, als Zur-Schau-Stellung beschrieben. Der discours rückt die Mach-, Erzähl- und Darstellungs- weise von Filmen ins Zentrum und wird als offene Erzählung bezeichnet. Metz betont aber, dass sich diese Formen in der Praxis vermischen.

Sujethafte und sujetlose Filme (Jurij M. Lotman)

Die Akzentuierung der Machart findet bei Jurij M. Lotmans Beschreibung der sujethaft-markierten Filme eine vergleichbare Komponente.50 In derselben Weise wie Metz beurteilt Lotman: Filme würden sich durch die Betonung ihrer Machart gegenüber geschlossenen Erzählungen abgrenzen. Lotman verknüpft die Machart von Filmen mit dem Begriff des Sujets 51. Er unterscheidet zwischen sujetlosen und sujethaften Filmen. Sujetlose Filme weisen keine auffallenden Strukturmerkmale auf. Deren Gestaltungsweise tritt in den Hintergrund. Die Filme orientieren sich dabei an einem Modell der Wirklichkeit: „ Sie offenbaren die Struktur der Wirklichkeit auf einer beliebigen Organisationsebene - mag es sich dabei um ein Lehrbuch der Quantenmechanik, um Verkehrsregeln, um Eisenbahnfahrplan ( … ) handeln “.52 Lotman definiert sujetlose Filme wie folgt: „ Wo die Erwartungsstruktur des Zu schauers das Sujet einbezieht, ist Sujetlosigkeit nicht das Fehlen eines Sujet, sondern seine negative Realisierung, die künstlerisch aktive Spannung zwischen System und Text “ . 53 Eine aktive Spannung zwischen System und Text ist darauf zurückzuführen, dass der Zuschauer durch die unauffällige Strukturvorgabe in seiner Erwartungshaltung gestört wird. Demzufolge stellen sowohl die Betonung der Gestaltungsweise als auch die bewusste Zurückhaltung gestalterischer Elemente einen Bruch mit der geschlossenen Erzählweise von Filmen dar. Diese Unterscheidung stellt eine wichtige Konkretisierung zur bisherigen Bestimmung von filmischem Exzess dar. Wuss übernimmt diesen Ansatz in seiner Beschreibung der Topik-Reihen, wie wir weiter unten ausführen.

Gegenüber sujetlosen Erzählungen definiert Lotman sujethafte Filme als „ Kampf zwischen einer bestimmten Ordnung, Klassifizierung, einem Modell der Wirklichkeit und ihrer Durchbrechung “ 54. Sujethafte Filme weisen - entsprechend der Beschreibung von filmischem Exzess - ein konflikt- reiches Verhältnis auf, zwischen Elementen, die eine geschlossene Form der Erzählung bilden und Elementen die sich dieser Einheit widersetzen. Sujethafte Erzählungen werden unterteilt in künstler- ische und nichtkünstlerische Sujets. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich „ einlinig und als grafische Bahn hin zu einem bewegenden Punkt abbilden lassen “ 55. Deren Gestaltung ist unauffällig und der Aufbau hierarchisch und systematisiert. Diese Filme lassen sich mit klassischen Erzählformen vergleichen.

Im Gegensatz dazu rücken künstlerische Sujets ihre Machart stark in den Vordergrund. Lotman nennt als Strukturelemente, die mit der geschlossenen Form von Erzählungen brechen, u.a. die sinnhaft und intendierte Montage, subjektive Einstellungsgrössen, Achsenverschiebungen, Zeitraffer und -lupe, sta- tische Einstellungen, Neigung und Winkel des Bildausschnitts, Rücklauf, verzerrte Objektive und die asynchrone Verwendung der Tonspur. Die Gestaltungsweise der Filme wird stark betont und domi- niert die restlichen Parameter. Die Betonung dieser Elemente bewirkt nach Lotman eine heterogene Form, als „ Wechselwirkung gegeneinander gerichteter Strukturen ( … ), deren eine Gruppe die Funk- tion der Automatisierung hat, indem sie Reihen rhythmischer Ordnungen einführt, und deren andere diese Automatisierung aufhebt, indem sie das Trägheitsmoment der Erwartung durchbricht “ 56 .

Topik-Reihen (Peter Wuss)

Peter Wuss entwickelt den Begriff der Topik-Reihen57, in Anlehnung an Lotmans sujetlose Filme. Diese weisen eine offene Erzählweise auf und sind als episodenhafte Geschichten zu charakterisieren. Wuss bewertet solche Filme als sujetlos weil das innere Bindungsgesetz zwar eine chronologische Ordnung besitze, aber kaum kausale Verbindungen zwischen den Ereignissen enthalte. Nach Wuss kann der Zuschauer nur durch perzeptionsgeleitete Strukturen eine Verbindung zwischen den Elemen- ten festmachen: „ Antizipationen entstehen, die dafür sorgen, dass sichüber die homologen Formen eine Bindung zwischen den Ereignissen einstellt ( … ). Der Rote Faden der Geschichte wird dann gleichsamüber eine Folge von einzelnen Rasterpunkten erzeugt “.58 Die offene Verbindung zwischen den einzelnen Teilen der Geschichte vermittelt den Anschein von Zufälligkeit und - in Anlehnung an Lotman - einen Eindruck von Wirklichkeit. Umberto Eco spricht, dieser Idee entsprechend, über Filme wie L’AVVENTURA (Michelangelo Antonioni, I/F 1960), da sie entschlossen mit den traditionellen Erzählstrukturen brachen, um eine Reihe von Ereignissen zu zeigen, zwischen denen kein drama- tischer Zusammenhang im konventionellen Sinn bestehe; eine Erzählung, bei der nichts geschehe oder Dinge geschehen würden, die nicht mehr das Aussehen eines Erzählten, sondern nur mehr eines zu- fällig Geschehenen hätten.59 Wie später erläutert wird, erweist sich diese offene Erzählstruktur als typisches Merkmal vieler Art Cinema-Filme. Die lose Verbindung zwischen Ereignissen entspricht dabei der anti-narrativen Charakterisierung von filmischem Exzess.

Dysnarration (Francis Vanoye)

Ähnlich argumentiert Francis Vanoye, der mit dem Begriff der Dysnarration einen Ansatz zur Analyse moderner Erzählungen liefert.60 Das dysnarrative Verfahren will die Willkürlichkeit des Erzählens und die Rolle des Erzählers offenlegen, indem Brüche in der Fiktion und Narration eingefügt werden. Dys- narration erzählt auf eine andere Art und Weise Neues, ohne ganz auf narrative Strukturen zu ver- zichten. So würden neue Formen der Repräsentation und der Erzählung geschaffen. Als formale Merkmale zählt Vanoye die Montage (nicht markiert, oder gar nicht vorhanden), auffallende Schnitte, Bild-/Ton-Divergenz, plötzliche Licht- und Farbwechsel und nicht-diegetische Momente der Verfrem- dung auf. Auf inhaltlicher Ebene beschreibt er die willkürliche Auswahl der Geschehnisse, exzessives Betonen oder Auslassen, Repetitionen, unbedeutende Dialoge, Ironie, Distanz oder ideologische Widersprüche als Merkmale, die die Erzählung strukturierten. Ausserdem löst sich die Geschichte am Ende nicht auf. Letztlich ist das Ziel der Dysnarration, die Illusion wenn nicht aufzulösen, so doch zu verhindern. Vanoye bezieht sich in seinen Ausführungen v. a. auf das europäische Kino der 1960er Jahre. Im Kapitel zum Art Cinema werden seine Gedanken zur Figurenkonzeption wieder aufgenom- men.

Narrationsmodi: Art Cinema Narration und parametrische Narration (David Bordwell)

Bordwell unterscheidet vier verschiedene Erzählformen, die jeweils einen spezifischen Umgang mit der Stil-Ebene von Filmen aufweisen.61 Als Merkmal der parametrischen Narration definiert er die radikale Loslösung der Stil-Ebene von den Parametern Plot und Story. Der künstlerische Narrations- modus weist durch die offene Erzählweise starke Bezüge zu filmischem Exzess auf. Wir gehen nur auf diese beiden Narrationsformen ausführlicher ein. Der klassische Narrationsmodus weist durch die tendenziell geschlossene Erzählweise und der unauffälligen Stil-Ebene kaum Entsprechungen mit Formen von filmischem Exzess auf. Der historisch-materialistische Narrationsmodus instrumentali- siert die Gestaltungsmittel in erster Linie für politische beziehungsweise ideologische Botschaften.

Der künstlerische Narrationsmodus wird in Kapitel 3.1 im Kontext des Art Cinema näher ausgeführt. An dieser Stelle soll es in erster Linie um die Verselbstständigung der Stil-Ebene gehen. Als künstlerischer Narrationsmodus bezeichnet Bordwell Filme des Art Cinemas, die stärker einer alltäglichen, episodenhaften Wahrnehmung der Wirklichkeit entsprechen:

The art film’s ‚reality’ is multifaceted. The film will deal with ‚real’ subject matter, current psychological problems such as contemporary ‚alienation’ and ‚lack of communication’. The mise- en-scène may emphasize verisimilitude of behavior as well as verisimilitude of space (…) or time (…) . 62 Bordwell begreift diesen Modus als künstlerisch, weil er klassische Normen verletzt und dadurch einen Gegenpol bildet. Daher ist eine gewisse Nähe zum künstlerischen Film, wie ihn Lotman be- schrieb, festzustellen. Die zurückhaltende Anwendung der Gestaltungsmittel, wie sie Bordwell schil- dert, situiert sich jedoch stärker auf der Ebene des Sujetlosen, den Lotman als nichtkünstlerischen Film begreift. Die fragmentarische Struktur ist mit den offenen Bauformen der Topik-Reihen von Wuss oder mit Lotmans Begriff des Sujetlosen vergleichbar. In ähnlicher Weise zeichnet sich dieser

Modus dadurch aus, dass er keine kausale Verknüpfung zwischen den Sequenzen aufweist: „ In the name of verisimilitude, the tight causality of classical Hollywood construction is replaced by a more tenuous linking of events “.63 Bordwell vergleicht den fragmentarischen oder episodenhaften Charakter künstlerischer Filme mit der Struktur von Träumen oder Erinnerungen. Diesbezüglich nennt er auch den Begriff der Retardation als bruchstückhafte oder zögerliche Entfaltung der eigentlichen Geschich- te. Als Beispiele dienten etwa die Dauer der Exposition in L’AVVENTURA oder die Länge der Schluss- sequenz in PROFESSIONE: REPORTER (F/I/USA/ES 1975) von Michelangelo Antonioni.

Der Aufbau der Geschichte unterliegt daher weniger dem Prinzip der Kausalität sonder vielmehr der Zufälligkeit, Parallelität und Widersprüchlichkeit. Um beispielsweise den Eindruck von Gleichzeitig- keit zu vermitteln, verwendet dieser Narrationsmodus häufig das Gestaltungsmittel der Vorblende.

Neben dem künstlerischen Narrationsmodus, der als Hauptmerkmal Lückenhaftigkeit beziehungsweise Anti-Kausalität aufweist, ist dem parametrischen ein aussergewöhnlicher Umgang mit der StilEbene zuzuschreiben. Zwar werden auch in diesen Filmen alltägliche, einfache Geschichten dargestellt. Das Hauptmerkmal liegt jedoch bei stilistischen Experimenten und Akzentuierungen. Statt inhaltlicher Anschlüsse dominieren Grafische. Die Stil-Ebene entwickelt daher ein von den restlichen Parametern losgelöstes Eigenleben:

Parametric narration establishes a distinctive intrinsic norm, often involving an unusually limited range of stylistic options. It develops this norm in additive fashion. Style thus enters into shifting relations, dominant or subordinate, with the syuzhet. The spectator is cued to construct a prominent stylistic norm, recognizing style as motivated neither realistically nor compositionally nor textually.64

Bordwell spricht diesbezüglich in Anlehnung an den russischen Formalisten Tynianov auch von einem „ style-centered narrative cinema “ 65. Vergleichbar mit Formen der abstrakten Musik betonen Filme mit parametrischer Narration Takt, Rhythmus und Töne. Im Sinne eines „ total serialism “ 66 werden diese Elemente als gleichberechtigt betrachtet und in seriellen Variationen eingesetzt . Lotman nennt ähnliche Merkmale wie Akzeleration, Rhythmus oder Phonologie als Hervorhebung von Ordnungsprinzipien im künstlerischen Film.67 In diesem Narrationsmodus spielen Elemente von Retardation in gleicher Weise wie solche der Redundanz. So wie Thompson die Repetition von filmischen Gestaltungsmittel oder von Motiven als filmischer Exzess beschreibt, werden gleiche Ereignisse aus ästhetischen Gründen wiederholt: „ Both severe ellipticality and repetition indicate that the constraints of stylistic patterning are imposing their will on the syuzhet, or at least that the narration limits itself to presenting events that display the style to best advantage “.68

Fazit

Abschliessend sollen einige Punkte der theoretischen Ausführungen zum filmischen Exzess festgehalten und Akzente für den weiteren Fortgang der Arbeit gesetzt werden: Metz definiert die Akzentuierung der Machart offener Erzählstrukturen als Unterscheidungsmerkmal zu geschlossenen Formen. In ähnlicher Weise bewertet Lotman die ungewöhnliche Darstellung von Strukturelementen in sujethaft-markierten Filmen als Bruch mit der geschlossenen Erzählweise. Lotman betont dabei die heterogene Struktur dieser Filme. Im Gegensatz dazu stehen sujetlose Filme, die sich durch ihre unauffällige Komposition am Modell der Wirklichkeit orientieren. Eine bewusste Loslösung von einer gezielten Strukturvorgabe bewertet auch er als Charakteristikum offener Erzählungen. Topik-Reihen erzählen episodenhaft und weisen keine kausale Verknüpfung zwischen den einzelnen Teilen der Geschichte auf. Wuss betont den zufälligen Charakter dieser Erzählweise.

Die Betonung sowie die Zurückhaltung im Umgang mit filmischen Gestaltungsmitteln als Merkmal offener Erzählweisen finden im künstlerischen und im parametrischen Narrationsmodus eine Ent- sprechung. Bordwell spricht Art Cinema Filmen einen stark anti-kausalen, episodenhaften Charakter zu. Filmische Gestaltungsmittel werden nur sporadisch eingesetzt, um den Anschein von Zufälligkeit oder Gleichzeitigkeit zu vermitteln. Dieser Eindruck wird beispielsweise durch spärlich eingesetzte Schnitte vermittelt. Übereinstimmend bewertet Thompson elliptische Montagen, jump cuts und zeitlich lange Einstellungen als Formen filmischen Exzesses. Filme nach parametrischem Modus betonen dagegen die filmischen Gestaltungsmittel in der Weise, dass sich die Stil- von der Story- und der Plot-Ebene abzulösen scheint.

Schliesslich gilt es zu berücksichtigen, dass die verschiedenen narratologischen Ansätze als mögliche Formen filmischen Erzählens zu betrachten sind. Gewisse Filme finden aufgrund ihrer spezifischen Gestaltungsweise eine Entsprechung mit diesen Ansätzen. Jedoch sind diese nicht als absolute Kategorien zu begreifen. Als Gemeinsamkeit lässt sich festhalten, dass sowohl mittels Akzentuierung als auch mittels Reduzierung formaler Gestaltungsmittel eine offene Erzählweise ermöglicht wird.

2.2.5 Auteur-Theorie

Offene Erzählformen erhalten im Zusammenhang mit der Auteur-Theorie einen bedeutenden Stellenwert. Die bewusste und explizite Auswahl von Gestaltungsmitteln birgt ein grosses Potential für die individuelle Handschrift eines Autors. Wie wir später zeigen werden, sind sowohl das Art Cinema als auch der postmoderne Film eng mit der Auteur-Theorie verbunden. Beide legen grossen Wert auf Form und individuelle Handschrift. Da sie im Zusammenhang mit filmischem Exzess von bedeutender Relevanz für diese Untersuchung ist, soll sie hier kurz umrissen werden.

Begriffsbestimmung und -entwicklung

Der Begriff des Autorenfilms bezeichnete ursprünglich literarische Adaptionen von namhaften Autoren aus der Literatur. In den 1940er Jahren entwickelte sich durch den Text von Alexandre Astruc Naissance d ’ une nouvelle avant-garde: la cam é ra-stylo69 (1948) die Auteur-Theorie. Astruc begreift darin Film als eine Sprache, mit der der Regisseur seine inneren Vorstellungen darzustellen und ent- sprechend einem Autor mit einem stylo zu schreiben vermag. Daraufhin entwickelten in den 1950er Jahren die Regisseure der Nouvelle Vague und Autoren der Cahiers du Cinéma die so genannte poli- tique des auteurs. Wobei es sich dabei weniger um eine Theorie, denn um eine Forderung der Kern- gruppe der Nouvelle Vague handelte.70 1954 erschien François Truffauts Text Une certaine tendance du cin é ma fran ç ais 71, in dem er die r é alisateurs von den auteurs unterschied und in welchem er be- hauptete, zum Beispiel bei Hitchcock eine é criture zu erkennen. Peter Lev stellt diese Forderung, dass eine subjektive Haltung des Autors durchscheinen müsse, in einen ökonomischen Zusammenhang:

„ The idea that the director was, or should be, the artist, fit low-budget art films far better than large scale Hollywood epics ” .72

Später übernahm Andrew Sarris den Begriff des auteur in den 1960er Jahren ins Englische und ent- wickelte ihn zu einer (vermeintlichen) Theorie, die er auteur-theory nannte, wobei auch er mehr von einer Haltung als von einer Theorie ausging.73 Er stellte eine Typologie der Pantheon Directors auf, die deskriptiv die besten Regisseure aller Zeiten kategorisieren sollte: „ To speak any of their names is to evoke a self-contained world with its own laws and landscapes. They were also fortunate enough to find the proper conditions and collaborators for the full expression of their talent “.74 Sarris spricht von einer auteur-theory und meint damit spezifische Stilmuster, die als persönlichen Kommentar eines Regisseurs gewertet werden können. Sie drückten den persönlichen und künstlerischen Anspruch der Filmemacher aus. Grundlage seiner Theorie sind drei Wertkriterien, die einen Regisseur als Autor legitimieren: seine technische Kompetenz, eine unverwechselbare Persönlichkeit sowie einer inneren Bedeutung 75, die den Film als Kunstwerk auszeichne.76 Wertekriterien also, die letztlich wenig aus- sagekräftig sind. Denn die Frage, wie sich „ the distinguishable personality of the director “ 77 beur- teilen lässt, bleibt auch so unbeantwortet.

Kritik und Diskussion: Historischer Abriss

Rückblickend kann die politique des auteurs nicht nur als gezielt provokative Strategie der Nouvelle Vague betrachtet werden, sondern auch als Teil der Emanzipationsstrategie des Mediums Film.78 Während der frühe Film zu Beginn des 20. Jahrhunderts literarisch geprägt war und die Produktions- firma Film d ’ Art bewusst Kino als Kunst zu verkaufen versuchte, wurde die Filmkunst nach wie vor als billiges Unterhaltungsmedium für ein Massenpublikum betrachtet. Der Autorenfilm kann als Mittel verstanden werden, das Kino als emanzipierte Kunst zu etablieren.79 Eine Strategie, die einer roman- tisierten Vorstellung entspränge, wie Lev betont: „ With the auteur theory, a case could be made that filmmakers were individual artists equivalent to poets, painters or novelists ” .80 Erst durch die Forde- rungen der Nouvelle Vague in den 1950er Jahren wurde das Medium Film verstärkt als Kunst aner- kannt.

Für die filmtheoretische Diskussion weist Virginia Wright Wexman auf den Autorenbegriff als histo- risches Phänomen hin: Der Begriff sei zuwenig charakterisiert und habe zu unterschiedliche Bedeu- tungen.81 Der ursprüngliche Ansatz der Auteur-Theorie ist denn auch stark umstritten: sie sei zum Teil unreflektiert, verklärt und romantisiere. Kritische Stimmen sprechen von einem Persönlichkeitskult der Auteuristen.82 Felix bezeichnet die politique des auteurs als „ Heldenverehrung, eine Entdeckung von und eine Identifikation mit Leitfiguren ” 83. Problematisch ist insbesondere Sarris’ Übersetzung der politique des auteurs mit auteur-theory ins Englische sowie seine Annahme, vor allem das klassische Hollywoodkino verdiene eine fundiertere Auseinandersetzung.84 Ausserdem könne der Regisseur zwar als Entscheidungsträger eines Teams betrachtet werden, nicht aber als autonom handelnder Autor. So unterstreichen verschiedene Filmwissenschaftler den kollektiven Aspekt des Filmemachens und kriti- sieren, Autorschaft sei nur schwer zu evaluieren.85

Während die Auteur-Theorie seit den 1950er Jahren grosse Bedeutung erlang, fand in den 1960er/70er Jahren ein Paradigmawechsel statt: Filmtheoretiker wie etwa Peter Wollen gingen nicht mehr von einer Autor-orientierten, sondern von einer strukturellen Analyse aus (auteur-structuralism)86. Er kriti- siert denn auch die undifferenzierte Annahme der Auteur-Theorie, dass europäische Regisseure die ge- samte Kontrolle über ihre Filme hätten, während die amerikanischen in der Anonymität verschwänden und entwickelte Sarris’ auteur-theory weiter.87 Der auteur-structuralism interessiert sich für die se-

mantische Dimension des Films als Text, beurteilte diesen für die Analyse als Lektüre und sah im Autor eine Struktur.88 Wollen konzentrierte sich in seinen Analysen zu den beiden Regisseuren John Ford und Howard Hawks darauf, „ a core of meanings, of thematic motifs “ 89 in deren Werken zu finden.

Obwohl Roland Barthes in den 1970er Jahren den Tod des Autors90 verkündete, blieb die Auteur- Theorie in der Filmwissenschaft bestehen. Barthes bezichtigte den Autoren-Begriff als Kreation einer modernen Gesellschaft, die plötzlich den Wert des Individuums entdeckte und ihn nicht mehr nur als Vermittler erkannte.

Trotz solcher und ähnlich schwerwiegender Kritik konnte sich die Theorie dennoch etablieren, nicht nur Felix weist darauf hin, dass „ Filmgeschichte heute, nicht ausschliesslich, aber insbesondere in ihren populären Varianten, als Geschichte eines Kinos der Regisseure geschrieben, produziert, rezi piert, historisiert ” 91 werde.

In den 1990er Jahren wurde der Autorenfilm zunehmend als kommerzielles Konstrukt gesehen, die Filmwissenschaft spricht von einem new auteurism.92 Timothy Corrigan weist auf den Star-Status des heutigen Autorenfilmers hin und bezeichnet diesen als commercial auteur.93 Regisseure mit kommerziellem Erfolg, die als Autorenfilmer wahrgenommen werden, sind z.B. Quentin Tarantino, Spike Lee, Oliver Stone, Michael Mann, oder David Cronenberg. Corrigan beschreibt die Wahr- nehmung des Zuschauers, der bestimmte Filme als Autorenfilme wahrnimmt, obwohl er keine Ge- wissheit über deren tatsächliche Kontrolle hat.94 Auch Lev beobachtet eine ähnliche Tendenz: „ Star directors became almost as well-known as actors, and their new fame gave directors more leverage in dealing with producers and backers ” .95 Ähnlich geht Dana Polan von einem Konstrukt aus. Er spricht von auteur desire und meint damit die Konstruktion des Autors durch die Kritiker - die als einzige den wahren Wert der Autorschaft zu erkennen meinen.96

Der Gedanke eines Autorenkonstrukts, das nach Belieben von Marketing-Experten zielpublikumge- recht kreiert und inszeniert wird, dürfte denn auch am meisten auf die aktuelle Situation der Filmin- dustrie zutreffend sein. In diese Richtung argumentiert Jan Distelmeyer, der darauf hinweist, dass die Etikette Autorenkino unsere Wahrnehmung und Wertung von Filmen beeinflusse - selbst durch das Bewusstsein, dass der Auteur eine Konstruktion und mediales Kulturprodukt sei.97 Er proklamiert eine kontextorientierte Werksanalyse in drei Schritten und konzentriert sich dabei auf das Nebeneinander- stellen von Zusammenhängen: er empfiehlt zuerst die Analyse der einzelnen Filme unter Berücksichti- gung film-, genre- und kulturhistorischer Kontexte; in einem zweiten Schritt wird die Inszenierung des Images des Regisseurs untersucht; in einem letzten Schritt werden diese beiden Analysen aufeinander bezogen und verglichen. Im Unterschied etwa zu Wollen sieht Distelmeyer Film nicht mehr als Text, sondern als Produkt.

Autorenfilm im Kontext Art Cinema

Verschiedene Filmwissenschaftler sehen die Auteur-Theorie als Grundlage der Entwicklung der Nou- velle Vague und des Art Cinemas. Das Autorenkonzept erfüllte im Art Cinema eine formale Funktion, die sich auf den Stil eines Regisseurs konzentriert - eine Funktion, die es im klassischen Hollywood- System nicht gab.98 Durch eine persönliche Handschrift werde die individuelle Weltsicht eines jeden Regisseurs von einem filmgeschulten Publikum erkannt und verstanden.99 Nowell-Smith betont auch die privilegiertere Stellung europäischer Regisseure, die über mehr Rechte und Kontrolle über ihr Werk verfügten als beispielsweise in den USA. Auch Bordwell und Thompson gehen in ihrer Be- schreibung des Art Cinemas von einer starken Wirkung des Autorenkonzepts aus.100 Und sie ver- weisen auf die wichtige Bedeutung internationaler Filmfestivals. Die meisten Autorenfilmer hatten ihren Durchbruch auf Filmfestivals in den 1950er/1960er Jahren und kamen so zu einer weltweiten Verbreitung ihrer Filme. Vor allem für amerikanische Regisseure war dies von grosser Bedeutung, da Erfolg ohne diese Unterstützung praktisch unmöglich war.

Viele der Art Cinema-Regisseure drehten zu Beginn ihres Schaffens konventionelle Filme und fanden erst mit der Zeit zu ihrem Stil. Federico Fellini oder Michelangelo Antonioni etwa lernten vom neorealistischen Kino und drehten ihre ersten Filme in jener Tradition. Erst später, Anfang der 1960er Jahre, erfolgte der Bruch, sie orientierten sich neu und suchten ihre eigene Filmsprache, um ihre persönliche Vision der Welt darzustellen.101

Autorenfilm im Kontext postmoderner Filme

Die zunehmende Kommerzialisierung des Autorenfilms, wie sie Corrigan feststellte, kann im postmo- dernen Film mit Namen wie David Lynch, David Cronenberg, Quentin Tarantino, Pedro Almodovar, Jim Jarmusch, Joel und Ethan Coen und anderen mehr in Verbindung gebracht werden.102 Auch Steven Spielberg, George Lucas oder Martin Scorsese gelten als Autorenfilmer, sind für diese Arbeit jedoch weniger relevant, weil sie (ökonomisch) anders in das Hollywood-System integriert sind und mit ihren Filmen eine kommerziellere Strategie verfolgen. Stiglegger sieht in der gegenwärtigen Entwicklung ein Problem:

Wenn der Film der unmittelbaren Gegenwart in seiner Funktion als Kunstwerk noch jene ‚Wahr- haftigkeit’ vermitteln möchte, die von jeher beständigen Werken zuerkannt wird, muss sich der Filmemacher zudem - vielleicht sogar innerhalb einer ‚persönlichen’ Mythologie - auf die Suche nach einer Subversion der in allgemeiner Medienkompetenz verankerten Standardmechanismen machen.103

Ähnliche Befürchtungen äussert Jürgen Felix, der noch einen Schritt weitergeht und dem postmodernen Kino nicht das Ende des Autorenkinos zuschreibt. Vielmehr sei nicht nur Hollywoods commerce of auteurism zu seiner globalen Bedrohung geworden, sondern auch der Überlebenskampf des Autorenfilms in den verschiedenen nationalen Filmkulturen.104

Fazit

Trotz kritischen Einwänden hat die Auteur-Theorie in der Filmwissenschaft nach wie vor einen wichtigen Stellenwert. Wenn auch kritisch, so wird sie doch bis heute angewendet. Die Vermittlung einer persönlichen Sicht des Regisseurs als Entscheidungsträger eines Kollektivwerks wird als durchaus möglich erachtet, lässt sich aber letztlich nicht mit Gewissheit beurteilen. Stiglegger spricht in Anlehnung an Barthes von einer geheimen Mythologie, die von Beteiligten kreiert werde.105 Die Auteur-Theorie bezeichnet also den visionären Blick und die persönliche Ausdrucksweise eines Re- gisseurs auf der visuellen Ebene, Stiglegger spricht von einer „ radikal persönlichen Prägung “ 106 . Dem Autorenfilm gehe es auf der visuellen Ebene um den „ einzigartige [n] , originelle [n] Blick auf Mensch und Welt, der zugleich eine Einstellung gegenüber Mensch und Welt “ ausdrücke. 107

Der Autorenfilm und filmischer Exzess stehen insofern in Zusammenhang, als dass der Filmemacher durch die exzessive Verwendung von Gestaltungsmitteln (sowohl in deren Art als auch Auswahl, Fre- quenz und Kombination) seinen Stil zu markieren beziehungsweise individualisieren vermag. Man könnte also behaupten, dass Exzess Möglichkeit zur Individualisierung bietet. Eine Vermutung, die wir in Kapitel 5 weiter verfolgen wollen. Auch lässt sich hier ein Zusammenhang zu Selbstreflexivität herstellen sowie zu anderen stilistischen Mitteln, die von klassischen Konventionen abweichen. Das Vorhandensein eines Autors in der Narration wird dadurch betont, sodass der Regisseur als Urheber wahrgenommen wird. Denn im klassischen Hollywood durfte er nur eine begrenzte Funktion ausüben - Norbert Grob spricht von Eigenständigkeit: „ Gerade durch die Spuren, die oft als Hinweise aufs Fiktive der Filme funktionierten, wird das Gemachte, Inszenierte, Montierte des Ganzen als eigene,ästhetische Kategorie erkennbar ” .108 Die subjektive visuelle Fantasie des Regisseurs wird also betont.

Das Vergnügen an Stilbrüchen, Exzess und Schlampereien werde (plötzlich) geschätzt und provoziere die Lust am Autorenfilm.109

2.2.6 Unterscheidung zwischen Spektakel und Exzess

Die Akzentuierung der Stil-Ebene als Merkmal offener Erzählstrukturen weist nach Metz das Potential auf, die eigene Künstlichkeit zu entlarven und von herkömmlichen Erzählweisen abzuweichen. Thompson spricht in diesem Zusammenhang vom Begriff der defamiliarization 110. Filmischem Exzess wird die Möglichkeit zugesprochen, mittels einer Betonung der Stil-Ebene eine ungewöhnliche Sicht auf das Gewohnte zu gewähren. In Anlehnung an Lotman meint der Begriff der defamiliarization eine Erneuerung durch Verschiebung, die so eine neue Sicht auf gewohnte Erzählweisen ermögliche.

Nach Grindon ist das innovative Potential von filmischem Exzess nicht in allen filmhistorischen Zeit- abschnitten gleichermassen zu bewerten.111 Filmischer Exzess weist insbesondere für die Vertreter der Auteur-Theorie eine stark reflexive Komponente auf. Die unterschiedliche Auslegung der Wirkungs- kraft von filmischem Exzess im filmhistorischen und -theoretischen Kontext führte nach Grindon zu einer Unterscheidung zwischen Spektakel und filmischem Exzess. Grindon entwickelt seine Ausführ- ungen vorwiegend auf Thompsons und Barthes’ Überlegungen zum filmischen Exzess. Entsprechend Thompsons Beurteilung von filmischem Exzess als defamiliarization, spricht Barthes von der Gegen- erzählung bezüglich des stumpfen Sinns:

Diese Betonung (…) geht nicht in die Richtung des Sinns (wie die Hysterie), sie theatralisiert nicht

(…), sie kennzeichnet nicht einmal ein Anderswo des Sinns (einen anderen, dem entgegenkommenden Sinn hinzugefügten Inhalt), sondern durchkreuzt ihn - untergräbt nicht den Inhalt, sondern die gesamte Praxis des Sinns.112

Für Barthes eröffnet der stumpfe Sinn die Möglichkeiten für diverse Sinnbildungen und steht daher in einem Konfliktverhältnis zum ersten und zweiten Sinn.

Die gleichsam politische Komponente von filmischem Exzess wurde nach Grindon innerhalb der Critique de l'Illusion in den 1970er Jahren ursprünglich in Frankreich stark debattiert. Barthes’ stumpfer Sinn bildete dabei eine wichtige Grundlage, weil er als Möglichkeit bewertet wurde, ideologische Erzählweisen zu unterwandern. Denn illusionistische Filme würden die Wirklichkeit vermeintlich realistisch darstellen und dabei die herrschenden Machtverhältnisse verklären:

While painters may violate the code of perspective, filmmakers cannot, because that code is built into the very instrument with which they work. Even the distorted perspectives of fish-eye or telephoto lenses remain perspectival; they are distorted only in relation to ‚normal’ perspective. Rather than simply record reality, these theorists argue, the camera conveys the world already filtered through a bourgeois ideology (…).113

Eine der wichtigsten Forderungen von Vertretern der Critique de l'Illusion war, dass Filme ihren Status als künstliches Produkt offen legen: „ The critique of illusion demanded from cinema a thorough self criticism, a surrender of its expressive power and a denial of its capacity for pleasure or insight ”.114 Diese Forderung führte zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der formalen Ebene im Film, und dadurch zu verschiedenen theoretischen Ansätzen mit Selbstreflexivität im Film.

2.2.6.1 Filmischer Exzess als Form von Selbstreflexivität

Im Sinne der parametrischen Narration und der Betonung von Strukturmerkmalen bei Lotman bildet Christiane Barchfelds Situierung der Autoreflexivität auf der Stil-Ebene eine interessante Analogie.115 Neben einer möglichen Selbstbespiegelung des Mediums auf der Ebene der Story - die implizit im Auftauchen eines Autors steckt, der beispielsweise einen Kommentar zum Film abgibt oder direkt in die Kamera blickt - nennt Barchfeld als Aspekte der Selbstreflexivität auf der Plot-Ebene die Beto- nung von Strukturprinzipien wie betonte Zirkularität, Symmetrie, Kontrastierung oder Parallelen der Organisationsprinzipien, die im traditionellen Erzählkino der Storykonstruktion untergeordnet sind. Reflexion kann zum Beispiel über eine unkonventionelle Anordnung der Story-Elemente erfolgen. Auch Brachfeld betont die Dimension der Konvention. Etwa spielen Genre-Erwartungen für die Be- tonung der Struktur eine wichtige Rolle. Durch die Hervorhebung der Organisationsprinzipien weist diese Form der Selbstreflexivität starke Ähnlichkeit mit der Bestimmung des künsterlischen Films nach Lotman auf.

Im Gegensatz zu den nach Barchfeld orthodoxen Formen beschreibt sie radikale Formen von Selbst- reflexivität auf der Stil-Ebene, wie extreme Künstlichkeit der Mise-en-Scène oder Verstösse gegen das continuity editing. Diese werden beispielsweise mittels Manipulation der Kamerabewegung; extradie- getischer Musik, die als Kontrast zum Bild fungiert; Zoom; abrupten Schnitten; vernehmbaren Instruk- tionen des Regisseurs; Tonausfällen oder mittels eines betonten Schauspiels verursacht. Selbstreflexivität auf der Stil-Ebene betont nach Barchfeld die technischen Prozesse des Films. Das Spiel mit der Illusion der Räumlichkeit bildet für sie ein wichtiges Element. Als Beispiel nennt sie die Integration zweidimensionaler Materialien oder Stilisierung und Choreographie von Bewegungen als Bewegungsillusion. Auf der Ebene des Tons beschreibt Barchfeld als selbstreflexive Elemente Ge- räusche und Töne, die sich von einer dienenden Funktion lösen und dadurch dem Bild seinen

Realitätscharakter entziehen. Musik erhält einen selbstreflexiven Charakter, indem beispielsweise das Leitmotiv variiert wird, und daraus einzelne Töne und Instrumente in bestimmten Situationen im Film eingesetzt werden, um damit eine bestimmte Stimmung zu evozieren.

Diese stilistischen Formen dominieren die restlichen Parameter Story und Plot und schaffen nach Barchfeld eine eigene Bedeutungsebene. Die Formen ästhetischer Selbstbespiegelung weisen starke Parallelen zur parametrischen Narration auf. Die ausschliesslich formale Prägung ermöglicht darüber hinaus einen Direktvergleich mit der Bestimmung von filmischem Exzess.

2.2.6.2 Filmischer Exzess als Form von Spektakel

Die Critique de l ’ Illusion verstand den Begriff des Spektakels in Abgrenzung zur selbstreflexiven Form von filmischem Exzess.116 Sie schrieb dem Spektakel eine bloss unterhaltende Funktion zu, die der Schaffung von Bedeutung nicht dienlich sei.117 Nach Metz manifestierte sich die Kritik in einer Ablehnung gegen den französischen Qualitäts -Film als cin é ma-spectacle, weil dieser zu makellos aufgebaut sei und dadurch die Widersprüchlichkeit des Realen verfälsche.118 Vergleichbar mit Träumen ziehe Spektakel die Zuschauer in eine Illusion, welche die Realität übersteige.119

Roland Baudry nennt drei Grundzüge von Spektakel: (1) Beim Begriff des Spektakels handle es sich um einen generalisierten Terminus, der die visuelle Dimension von Kino umfasse. (2) Spektakel wurde im Zuge der Critique de l ’ Illusion abgewertet. Im Gegensatz zur selbstreflexiven Form trans- portiere Spektakel in einer unkritischen Weise ideologische Botschaften. (3) Spektakel bezeichne - stärker als eine inhaltliche Ausrichtung - ein Verhältnis zwischen filmischen Bildern und deren Be- trachtern.120 Abgesehen von der zweiten Beschreibung von Spektakel, dessen Abwertung kultur- und filmhistorisch zu begründen ist, weist die Begriffsbestimmung starke Parallelen zu Formen des filmischen Exzesses auf. Spektakel wird als formales, visuelles Phänomen beschrieben und besitzt eine stark emotionale Komponente. Durch spektakuläre Inszenierungen werden die Gefühle der Betachter unmittelbar angesprochen. Spektakel weist in dieser Beschreibung eine Affinität mit Aus- prägungen des stumpfen Sinns auf. Grindon beobachtet in der stark formalen Ausrichtung von Spek- takel eine bedeutende Verwandtschaft zum filmischen Exzess, die innerhalb der Critique de l ’ Illusion unterschätzt wurde.

In neueren Ansätzen wird neben der visuellen Ausprägung von Spektakel auch eine weitere Kompo- nente von filmischem Exzess ersichtlich. Leo Charney bewertet spektakuläre Gewalt-Darstellungen in zeitgenössischen US-Filmen als Fortsetzung von Tom Gunnings Kino der Attraktionen.121 Er beschreibt den punktuellen Einsatz spektakulärer Momente als Merkmal dieser Filme. Spektakuläre Gewalt-Darstellungen wirken nach Charney umso effektiver, wenn sie in eine narrative Kohärenz eingebettet sind: „ While the representation of violence would seem to be on the side of spectacle, it also depends on the narrative that enclose and defamiliarize it, that allow violence to retain its kinetic impact and prevent it from becoming a string of meaningless sensation “.122 Marsha Kinder beschreibt ähnlich wie Charney, dass die Darstellung von Gewalt im zeitgenössischen US-Film in einer Nummerndramaturgie eingesetzt wird. Spektakuläre Höhepunkte und ruhige Momente alternieren im Erzähllauf und treiben den dramatischen Höhepunkt voran. Kinder spricht diesbezüglich von einer narrative orchestration 123. Der rhythmische Wechsel zwischen ruhigen Elementen der Erzählung und Spektakel erfährt entsprechend der Charakteristik des total serialism 124 eine Eigendynamik und wird zum Selbstzweck. Auch Schreckenberg beobachtet einen Einsatz von spektakulären Elementen, die neuere Filme in dieser Weise strukturieren: „ Spektakel, auffällige Ausstattung, bizarre Schauplätze und Schockeffekte - all das entwickelt ein vom eigentlichen Erzählstrang ablösbares Eigenleben “.125 Spektakel richtet sich aber nicht gegen eine erzählerische Kohärenz, sondern unterstützt diese. Wie Williams bodily excess -Formen, die punktuell in den Lauf der Erzählung integriert werden, und die Erzählung mittels wiederholten Einsatzes von Lust- oder Furcht-Momenten intensivieren. Spektakel im Film ist daher eine stark unterhaltende Funktion zuzuschreiben.

2.3 Interdisziplinärer Zugang

Im Folgenden soll eine Aufstellung unter Berücksichtigung der verschiedenen Künste - gemeint sind Kunstgeschichte, Literatur und Theater - Klarheit über mögliche Parallelen zu filmischem Exzess schaffen und Bezugspunkte herausarbeiten. Dieses Kapitel hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellt lediglich einige interessante Parallelen von vielen vor. Die einzelnen Stilrichtungen werden nur in Bezug auf die hier vorgestellte Thematik des filmischen Exzesses besprochen. Es versteht sich von selbst, dass zwischen der Filmkunst und den herangezogenen Ansätzen kein Direktvergleich möglich ist. Der Zugang ist dennoch aufschlussreich, denn alle Künste kennen das Phänomen des Stil-Überschusses. Uns interessieren im Speziellen die dahinter liegenden Definitions- versuche und Kategorisierungen. Für eine präzisere Eingrenzung und Bestimmung des Exzess-Be- griffs ist es wichtig, weitere Konzepte heranzuziehen und diese miteinander in Vergleich zu stellen, um einen offenen Zugang zu garantieren.

1 Beide Beispiele werden in der Analyse ausführlich beschrieben, vgl. dazu Kapitel 4.

2 Grundsätzlich ist die weibliche Form jeweils in der männlichen eingeschlossen.

3 Gunning 1996, S. 29-30.

4 Vgl. dazu Festival des sowjetischen und russischen Films, online; Šklovskij 1985, S. 37.

5 Vgl. dazu Elsaesser 1998, S. 100.

6 Fahle 2005, S. 42ff.

7 Vgl. dazu Schneider 2005, S. 137-167.

8 Vgl. dazu Heath 1975, S. 7ff.

9 Vgl. dazu Barthes 1990, S. 47-66.

10 Thompson 1986, S. 130. Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf ebd., S. 130-142.

11 Eine differenzierte Betrachtung motivationstheoretischer Aspekte im Film liefert Bordwell/Staiger/Thompson 1988, S. 19ff. Wir verstehen unter Motivation eine diegetisch-narrativistische Motivation.

12 Thompson 1986, S. 133.

13 Ebd., S. 136.

14 Ebd., S. 132.

15 Ebd., S. 134.

16 Die folgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf Barthes 1990, S. 47-66. Barthes vergleicht den stumpfen Sinn mit dem stumpfen Winkel aus der Geometrie, dessen Abweichung vom rechten Winkel (90 Grad) als Exzess bezeichnet wird (Barthes 1990, S. 50).

17 Gemeinhin hat sich im Deutschen die Übersetzung von Barthes’ le sens obtus als dritter oder stumpfer Sinn etabliert. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass le sens im Französischen sowohl Sinn (Bedeutung) als auch Sinnlichkeit und Sensualität meint.

18 Barthes 1990, S. 50.

19 Ebd., S. 50.

20 Ebd., S. 53.

21 Ebd., S. 50.

22 Ebd., S. 53.

23 Vgl. dazu Barthes 1985.

24 Die folgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf Barthes 1990, S. 94-102. Barthes meint mit sozialem Gestus „ eine Geste oder eine Gesamtheit von Gesten (aber nie Gestikulieren), aus der sich eine ganze soziale Situation herauslesen lässt “ (Barthes 1990, S. 98).

25 Ebd., S. 98.

26 Heaths Ausführungen zum filmischen Exzess dagegen basieren auf dem Thriller TOUCH OF EVIL (USA 1958) von Orson Welles (Vgl. dazu Heath 1975, S. 7ff).

27 Barthes 1990, S. 66.

28 Thompson 1986, S. 132.

29 Grindon 1994, S. 39.

30 Eine ausführliche Beschreibung der Narration als formales System und dem Verhältnis zwischen Plot, Stil und Story-Ebene von Filmen gibt Bordwell 1988, S. 49ff.

31 Vgl. dazu Barchfeld 1993, S. 19.

32 Bordwell 1988, S. 53.

33 Ebd., S. 53.

34 Nichols 1991, S. 141.

35 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Bordwell 2001, S. 11ff.

36 Vgl. dazu Altman 1989, S. 27ff.

37 Potts 2005, S. 96.

38 Bazin 2001, S. 270f.

39 Vgl. dazu ebd., S. 259.

40 Vgl. dazu Comolli zit. nach Manovich 2001, S. 187.

41 Vgl. Bordwell/Staiger/Thompson 1988, S. 260.

42 Vgl. dazu Bartels 2005, S. 64.

43 Meyer 2002, S. 302.

44 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Williams 1999, S. 701-715.

45 Mulvey zit. nach Mayne 1985, S. 5.

46 Williams 1999, S. 703.

47 Vgl. dazu Klinger 1989, S. 7.

48 Ebd., S. 4-5.

49 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Metz 2000, S. 73- 78.

50 Der russische Literaturwissenschaftler und Semiotiker Jurij M. Lotman entwickelt in Probleme der Kinoästhe- tik einen Vergleich zwischen Verbalsprache und Filmsprache, weshalb er auch von Texten, und nicht von Filmen spricht. Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Lotman 1977, S. 101ff.

51 Mit Sujet meint Lotman „ die Abfolge bedeutungstragender Elemente eines Textes, die dessen regelhaftem Aufbau dynamisch entgegengesetzt sind “ (Ebd., S. 101).

52 Ebd., S. 101.

53 Ebd., S. 111f.

54 Ebd., S. 101.

55 Ebd., S. 103.

56 Ebd., S. 104.

57 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Wuss 1992, S. 29: Wuss spricht von Topik-Reihen als analoge Reizmuster komplexer Art.

58 Ebd., S. 29.

59 Eco 2002, S. 202.

60 Die folgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf Vanoye 1989, S. 199-202. Der Begriff stammt ursprünglich von Alain Robbe-Grillet, einem Vertreter des Nouveau Roman und Drehbuchautor einiger Art Cinema-Filme.

61 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Bordwell 1988, S. 205ff.

62 Ebd., S. 206.

63 Ebd., S. 206.

64 Ebd., S. 288-289.

65 Tynianov zit. nach Bordwell 1988, S. 275.

66 Bordwell 1988, S. 275.

67 Vgl. dazu Lotman 1977, S. 104.

68 Bordwell 1988, S. 288.

69 Vgl. dazu Astruc 1964.

70 Vgl. dazu dazu Felix 2002b, S. 27.

71 Truffaut 1964.

72 Lev 1993, S. 11.

73 Vgl. dazu Sarris 1968, S. 30.

74 Ebd., S. 38.

75 Sarris spricht von interior meaning, vgl. dazu Sarris 1970 zit. nach Felix 2002b, S. 36.

76 Sarris 1970 zit. nach Felix 2002b, S. 36.

77 Ebd., S. 36.

78 Vgl. dazu z.B. Felix 2002b, S. 23.

79 Vgl. dazu Grob 2002, S. 47.

80 Lev 1993, S. 11.

81 Vgl. dazu Wexman 2003, S. 9.

82 Z.B. Felix 2002b, S. 32.

83 Ebd., S. 28.

84 Vgl. dazu Ebd., S. 31.

85 Vgl. dazu z.B. Lev 1993, S. 11; Wollen 1976, S. 440.

86 Vgl. dazu Nowell-Smith zit. nach Felix 2002b, S. 38.

87 Vgl. dazu Wollen 1976, S. 531.

88 Felix 2002b, S. 37.

89 Wollen 1976, S. 531.

90 Barthes 2000, S. 189 .

91 Felix 2002b, S. 16.

92 Vgl. dazu Lehmann 2000 zit. nach Distelmeyer 2003, S. 88.

93 Vgl. dazu Corrigan 1991, S. 101-136; Felix 2002b, S. 48.

94 Vgl. dazu Corrigan 1991, S. 106.

95 Lev 1993, S. 11.

96 Vgl. dazu Polan 2001, online.

97 Vgl. dazu Distelmeyer 2003, S. 86-97.

98 Bordwell 2003, S. 45.

99 Vgl. dazu z.B. Nowell-Smith 1998, S. 524.

100 Vgl. dazu Bordwell 1994, S. 415-438.

101 Vgl. dazu z.B. Fellini (Kemp 2004, S. 20).

102 Vgl. dazu Corrigan 1991; Stiglegger 2000.

103 Stiglegger 2000, S. 23.

104 Felix 2002b, S. 48.

105 Stiglegger 2000, S. 13.

106 Ebd., S. 11.

107 Grob 2002, S. 48.

108 Ebd., S. 49.

109 Vgl. dazu ebd., S. 49.

110 Vgl. dazu Thompson 1986, S. 134. Der Begriff der defamiliarization wurde vom russischen Formalisten Viktor Šklovskij eingeführt und als Ostranenie bezeichnet. Dieser Begriff bezieht sich auf eine bedeutende Funktion der Kunst, die Alltagswahrnehmung zu ent-automatisieren (vgl. dazu Filmlexikon Benderverlag, online, 13.1.2006).

111 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Grindon 1994, S. 35-42.

112 Barthes 1990, S. 61.

113 Stam 1992, 11-12.

114 Grindon 1994, S. 38.

115 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Barchfeld 1993, S. 27ff.

116 Vgl. dazu Grindon 1994, S. 38.

117 Vgl. dazu ebd., S. 38.

118 Vgl. dazu Metz 1972, S. 240.

119 Baudry zit. nach Carroll 1988, S. 16.

120 Baudry zit. nach Grindon 1994, S. 37. Baudry bestimmt die Merkmale von Spektakel in Anlehnung an den psychosozialen Ansatz nach Jaques Lacan.

121 Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen auf Charney 2001, S. 47-62.

122 Charney 2001, S. 48.

123 Kinder 2001, S. 68.

124 Bordwell 1988, S. 275.

125 Schreckenberg 1998b, S. 122.

Ende der Leseprobe aus 197 Seiten

Details

Titel
Bis dass der Film reißt. Dimensionen von filmischem Exzess in einer Gegenüberstellung von Art Cinema und postmodernem Film
Hochschule
Universität Zürich  (Seminar für Filmwissenschaft)
Note
5.5 (CH)
Autoren
Jahr
2006
Seiten
197
Katalognummer
V81993
ISBN (eBook)
9783638840750
ISBN (Buch)
9783638938563
Dateigröße
3842 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Film, Dimensionen, Exzess, Gegenüberstellung, Cinema
Arbeit zitieren
Gina-Lisa Bucher (Autor:in)Sarah Maret (Autor:in), 2006, Bis dass der Film reißt. Dimensionen von filmischem Exzess in einer Gegenüberstellung von Art Cinema und postmodernem Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81993

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