Formen der Höflichkeit in den romanischen Sprachen und im Japanischen


Magisterarbeit, 2005

155 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

I. Aktueller Forschungsstand
1. Literaturüberblick zum Thema Höflichkeit
2. Pragma- und soziolinguistische Ansätze

II. Höflichkeitsformen in den romanischen Sprachen
3. Das Anredesystem der romanischen Sprachen
3.1 Pronominale und nominale nicht-vokativische Anredeformen
3.1.1 Die Pronominalsysteme des Italienischen und Portugiesischen
3.1.2 Höflichkeit im Pronominalsystem des Italienischen
3.1.2.1 Subjektformen
3.1.2.2 Objektformen
3.1.2.3 Possessiva
3.1.2.4 Reflexiva
3.1.3 Anredepronomina und -nomina im Portugiesischen
3.1.3.1 Subjektformen
3.1.3.2 Objektformen
3.1.3.3 Possessiva
3.1.3.4 Reflexiva
3.2 Vokative
3.2.1 Italienisch
3.2.2 Portugiesisch
4. Das Modalsystem der romanischen Sprachen
4.1 Modalverben
4.1.1 Zum Status der Modalverben
4.1.1.1 Von AUX zu INFL
4.1.1.2 Zur Abgrenzung von Modal-, Auxiliar- und Vollverben
4.1.2 Modalverben und Höflichkeit
4.2 Tempora und Modi .
4.2.1 Der Imperativ und seine Ersatzformen
4.2.2 Indikativ vs. Konjunktiv
4.2.3 Imperfekt
4.2.4 Konditional
4.3 Satzmodus
4.4 Lexikalische Realisierungen von Modalität
5. (Un-)Höflichkeit im lexikalischen Bereich der romanischen Sprachen
5.1 Wortebene
5.2 Höflichkeitsformeln

III. Höflichkeitsformen im Japanischen
6. Anredereferenz und Pronominalreferenz im Japanischen
7. Höflichkeitsformen des Japanischen im Bereich der Morphologie
7.1 Höflichkeitsaffixe
7.1.1 (g)o -Präfigierung
7.1.2 Humilitive Präfixe
7.1.3 Suffixsystem
7.1.4 Kombinationen aus (g)o- und -san/-sama
7.2 Die Verbalkomplexe o- V -ni naru und o- V -suru
8. Höflichkeitsformen des Japanischen im Bereich der (verbalen) Lexik
9. Höflichkeitsformen des Japanischen im Bereich der Syntax
9.1 X+V-Konstruktionen
9.1.1 Verben des Gebens und Erhaltens
9.1.2 Benefaktiv
9.2 Nominale Pro-Formen
9.2.1 Das Inventar der japanischen Personalpronomina
9.2.2 „Pronomina“: Pro-NPs, Pro-Nomina und Pro-Namen

IV. Zusammenfassung und Ausblick
10. Romanisch-japanische Unterschiede und Gemeinsamkeiten
11. Universalien beim Ausdruck von Höflichkeit?
Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

Die verbale[1] Höflichkeit steht im Mittelpunkt des Beitrags der Sprachwissenschaft zur allge-meineren Höflichkeitsforschung, die auch Soziologie, Psychologie, Kulturanthropologie und andere Wissenschaften involviert. Höflichkeit als „‚psychosoziale’ Kategorie“ (Simon 2003: 62) geht darauf zurück, dass Kommunikationspartner bei der Wahl ihrer Worte normalerweise die „Befindlichkeiten ihres jeweiligen Gegenübers“ (ibd.: 1) miteinbeziehen. Neben der Über-mittlung von Informationen (‚Inhaltsebene’) spielen in der zwischenmenschlichen Interaktion auch Umgangsformen, soziale Konventionen usw. (‚Beziehungsebene’) eine Rolle.

‚Höflichkeit’ ist zunächst ein semantisch-pragmatisches Konzept. Die Relevanz der linguistischen Pragmatik für die Höflichkeitsforschung soll keineswegs bezweifelt werden. Jedoch steht in der vorliegenden Arbeit ein anderer Blickwinkel auf den genannten Phäno-menbereich im Vordergrund. Es soll darum gehen, welche strukturellen Realisierungen in den romanischen Sprachen einerseits, speziell im Italienischen und Portugiesischen, und im Japanischen andererseits für den Ausdruck von Höflichkeit zur Verfügung stehen. Nur fall-weise wird dabei auf pragma- oder soziolinguistische Erklärungsversuche für die aktuale Verwendung der durch das Sprachsystem bereitgestellten sprachlichen Mittel eingegangen bzw. auf einschlägige Untersuchungen verwiesen. Im Mittelpunkt soll hier die Frage stehen, welche morphosyntaktischen Strukturen die romanischen Sprachen und das Japanische zum Ausdruck von Höflichkeit bereithalten, d.h. welchen Niederschlag Höflichkeit in der Gram-matik der untersuchten Sprachen hat und ob sich dabei Regularitäten feststellen lassen. Höflichkeit als universelle sprachliche Funktion unterscheidet sich von Sprache zu Sprache u.a. darin, in welchen Situationen und weshalb etwas als höflich gelten kann (Sozio- und Pragmalinguistik) und wie sie strukturell realisiert wird. Letzteres soll Kern der vorliegenden Arbeit sein.

Unter dem alltagssprachlichen und interpretativen[2] Begriff der ‚Höflichkeit’ wird meist der Ausdruck wechselseitiger Wertschätzung durch Rücksichtnahme auf bzw. Schutz von Aspekten des (öffentlichen) Selbstbildes anderer verstanden. Nach europäischem Verständnis steht dieser in engem Zusammenhang mit – ebenfalls alltagssprachlichen – Vorstellungen wie Wohlerzogenheit, Anstand, Takt oder Freundlichkeit, während ‚Höflichkeit’ in Japan „grund-sätzlich anderer Art als in Europa“ (Schwalbe, zit. nach Nagatomo 1986: 104) ist und eher mit Gruppenbezogenheit, Etikette und Verpflichtungen zu tun hat. Der Begriff der (verbalen) ‚Höflichkeit’ soll hier jedoch in einem technischen Sinne verwendet werden. Demnach handelt es sich bei ihr um eine in der Sprachstruktur manifeste Kodierung sozialer bzw. inter-personaler Distanz vs. Nähe. Unter ‚Höflichkeitsformen’ sollen alle sprachlichen, insbeson-dere grammatischen und lexikalischen Ausdrucksmittel interpersonaler Beziehungen verstan-den werden. Sie stellen die grammatische Kodierung des (relativ höheren/niedrigeren) sozialen Rangs bzw. der Distanz-/Intimitätsbeziehung zwischen Sprecher, Hörer und Dritten dar (vgl. Bußmann 32002: 284). Sie sollen nicht als stilistisches Mittel im Sinne variierender höflicher und überhöflicher bzw. eleganter Stilebenen verstanden werden. Dagegen spricht die mit dem Begriff des sprachlichen ‚Stils’ verbundene Optionalität einerseits und die Obli-gatorizität grammatikalisierter Höflichkeitsformen andererseits.

Das Gegenstück zur Höflichkeit, die Unhöflichkeit[3], ist in den Sprachen der Welt nie oder nur sehr selten[4] grammatikalisiert (Simon 2003: 84). Dies würde der gebotenen Rücksichtnah-me auf das ‚Gesicht’ (zum face -Modell siehe Kap. 2)[5] des Gegenübers widersprechen. Auf einer kontinuierlichen Höflichkeitsskala[6] von maximaler Höflichkeit bis zu maximaler Un-höflichkeit ist fast ausschließlich der Bereich oberhalb eines neutralen, hinsichtlich der Höf-lichkeit unmarkierten Wertes grammatikalisiert. Primär geht es im Folgenden also um den positiven Bereich der Skala, ab einem höflichkeitsneutralen – freilich schwer definierbaren – Nullpunkt aufwärts. Im Bereich der Lexik der romanischen Sprachen werden uns jedoch v.a. auf der Ein-Wort-Ebene in besonderem Maße Ausdrucksmöglichkeiten von Unhöflichkeit begegnen (vgl. 5.1). Natürlich können durch eine inadäquate Verwendung sprachlicher Aus-drücke auch im morphosyntaktischen Bereich Fälle von Unhöflichkeit auftreten. Diese sind jedoch systematisch von Formen der Unhöflichkeit zu unterscheiden. Eine aus einem unange-messenem Sprach gebrauch, d.h. aus einem Verstoß gegen soziale Normen resultierende Un-höflichkeit wird im Folgenden nicht betrachtet.

Der Begriff der ‚Höflichkeit’ wird hier dem des ‚Respekts’ (vgl. Haase 1994, Simon 2003), der lediglich die „grammatikalisierten Varianten von Höflichkeit“ (Simon 2003: 81) bezeichnet, vorgezogen, da auch lexikalische Mittel – gleichwohl in geringerem Maße – in die vorliegende Darstellung miteinbezogen werden sollen. Unter ‚Honorifikation’ versteht Haase (1994: 11) alle sprachlichen Verfahren der Bezugnahme bzw. der Bestimmung des sozialen Verhältnisses zwischen dem Sprecher, dem/den Angesprochenen und/oder Dritten, unabhän-gig davon, ob diese grammatikalisiert sind (‚Respekt’) oder nicht. Insofern entspricht dieses Konzept meiner Definition von ‚Höflichkeit’. Höflichkeitsbezogene Ausdrucksmittel werden daher im Folgenden auch als ‚Honorative’ oder ‚Honorifika’ (engl. honorifics) bezeichnet.

Im Japanischen werden Erscheinungen der Höflichkeitssprache meist als Keigo (敬語 ‚respektvolle Sprache’) bezeichnet. Traditionell ausgerichtete Grammatiker und japanische Schulgrammatiken unterscheiden nach dem Kriterium der Höflichkeitsrichtung drei Katego-rien von Keigo: Sonkeigo (Ehrerbietungsformen), Kenjōgo (Ergebenheits-/Bescheidenheits-formen) und Teineigo (Formen der Verbindlichkeit/Allgemeine Höflichkeitsformen) (vgl. u.a. Harada 1976: 501 f., Loveday 1982: 39, Nagatomo 1986: 124 ff., Koyama 1997: 47 und Yamashita 2000: 320 ff.). Während sich der Begriff der ‚Ehrerbietung’ auf den Gesprächs-partner und sein soziales Umfeld bezieht, betrifft ‚Bescheidenheit’ die eigene Person mit dem eigenen sozialen Umkreis. Der ‚Humilitiv’ ist im Japanischen von wesentlich größerer Bedeutung als in den romanischen Sprachen[7]. ‚Verbindlichkeitsausdrücke’ entsprechen weit-gehend der Form von Höflichkeit, die hier mit Anredereferenz bezeichnet werden sollen (vgl. Kap. 6).

Das in den indoeuropäischen Sprachen wohl augenfälligste und bekannteste Ausdrucks-mittel unter den Höflichkeitsformen ist ein nach Intimität vs. Distanz differenziertes System von Anredepronomina. Abgesehen von der grammatischen Kodierung von Höflichkeit im Pronominalsystem zeigt sich deren struktureller Niederschlag bei einem Vergleich der Sprachen der Welt an verschiedenen weiteren Stellen des Sprachsystems. So kann sie, wie beispielsweise auch im Japanischen, durch nominale Affixe ausgedrückt werden. Häufig findet sich eine Kodierung von Höflichkeit auch im Verbalsystem, z.B. in Form von verbalen Affixen, periphrastischen Verbalformen, Modalverben, Verbmodus (Konjunktiv, Konditional) und -aspekt (Imperfekt), Passivkonstruktionen etc. (vgl. Subbarao/Agnihotri/Mukherjee 1991: 36 f., Simon 2003: 189). Im Bereich des Wortschatzes kann Höflichkeit durch eine mehr oder minder systematische Substitution weniger höflicher durch höflichere Lexeme sowie durch Höflichkeitsfloskeln und – bedingt – in Form von Partikeln lexikalisiert sein. In der (supra-segmentalen) Phonologie ist v.a. der Bereich der Intonation potentiell höflichkeitsrelevant, der im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter betrachtet werden kann.

Häufig heißt es vom Japanischen, es habe eine „eigene Höflichkeitssprache“. Roland Barthes bezeichnete die fernöstliche Höflichkeit sogar als „semi-religiös“ (zit. nach Haferland/Paul 1996: 13). Harada (1976: 500) schreibt „[…] such languages as Japanese, Korean, Javanese, and Tibetian have developed a grammatical system of honorifics […]” und Yamashita (2000: 315) sowie Marui/Matsubara/Takeuchi (1987: 498) sind der Meinung, das Deutsche und die übrigen europäischen Sprachen haben kein dem Honorativsystem bzw. dem grammatischen Subsystem für den sozialen und interpersonalen Kontakt des Japanischen vergleichbares System. Wenn Höflichkeit im Japanischen nicht wie in den europäischen Sprachen ausgedrückt wird, dann stellt sich die Frage, wie sie in dieser Sprache stattdessen verbalisiert wird. In einem zweiten Schritt muss dann nochmals überprüft werden, ob die Höflichkeits-systeme der beiden hier betrachteten Sprachgruppen wirklich keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen.

In der Tat ist Höflichkeit im Japanischen nicht im Pronominalsystem kodiert, sondern v.a. im Verbalsystem. Auch ein Modalsystem, das in den indoeuropäischen Sprachen die zweite wichtige Stelle zum Ausdruck von Höflichkeit darstellt, gibt es im Japanischen nicht in dieser Form. Stattdessen werden lexikalische und v.a. morphosyntaktische Mittel (Lexikalisierungen, Präfigierungen, Komposition, Passivmorphologie u.a.) zum Ausdruck von Honorifikation ver-wendet. In der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, dass der erste, intuitive Eindruck, das romanische und das japanische Höflichkeitssystem haben keine Berührungspunkte, trügt. Meine These lautet: Sprache benutzt als universale Eigenschaft zum Ausdruck von Höflich-keit personalreferentielle Systeme.

Der Aufbau der vorliegenden, in erster Linie synchron an der heutigen gesprochenen Sprache ausgerichteten Arbeit gestaltet sich folgendermaßen: Dem Hauptteil zu den Höflich-keitsformen in den romanischen Sprachen und im Japanischen ist ein Abschnitt zum aktuellen Forschungsstand vorangestellt (Abschnitt I). Nach einem kurzen Literaturüberblick zum Thema (sprachlicher) Höflichkeit (Kap. 1) sollen auch sozio- und pragmalinguistische An-sätze kurz vorgestellt werden (Kap. 2). Diese können u.a. eine Erklärung dafür bieten, wieso (universal) überhaupt Höflichkeitsstrategien angewandt werden und infolgedessen ent-sprechende Formen dafür grammatikalisiert bzw. lexikalisiert sind. Abschnitt II ist den Höflichkeitsformen in den romanischen Sprachen gewidmet. Hierbei sollen als zentrale höflichkeitsrelevante Bereiche Anrede (Kap. 3), Modalität (Kap. 4) und Lexik (Kap. 5) im Vordergrund stehen. Prosodische, insbesondere intonatorische Aspekte können nicht berück-sichtigt werden. In Abschnitt III sollen zunächst die Ebenen der Anrede- und Pronominal-referenz im Japanischen voneinander getrennt werden (Kap. 6). Die weiteren Betrachtungen zum Japanischen gliedern sich in die drei Bereiche Morphologie (Kap. 7), Lexik (Kap. 8) und Syntax (Kap. 9). Vergleicht man die Höflichkeitsformen der romanischen Sprachen mit denen des Japanischen (Abschnitt IV), scheinen diese zunächst ziemlich unterschiedlich zu sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch ein beiden gemeinsames zugrundeliegendes Muster, ein gemeinsamer Nenner (Kap. 10). Diese Gemeinsamkeit soll schließlich als universale Eigenschaft zur Diskussion gestellt werden (Kap. 11).

I. AKTUELLER FORSCHUNGSSTAND

1. Literaturüberblick zum Thema Höflichkeit

Held (1995: 103) sieht die bisherigen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zur Höflich-keit als „angloamerikanische Dominanz und romanistisches Defizit”. Die Betrachtung des italienischen und portugiesischen Höflichkeitssystems als ein großer Teil der vorliegenden Arbeit soll diesem Einwand Rechnung tragen. Auch Simon (2003: 204) sieht einen Bedarf an Untersuchungen zum strukturellen Niederschlag der Höflichkeit in anderen Sprachen als dem Deutschen. Duranti (1974) bezeichnet die Erscheinung Höflichkeit bzw. Respekt im Titel seines Aufsatzes als „un aspetto poco studiato“. Für das Japanische gibt es demgegenüber eine verhältnismäßig umfangreiche Literatur zum Phänomen Keigo.

Die bisherige (synchrone) indoeuropäische Höflichkeitsforschung war v.a. pragma- und soziolinguistisch orientiert (vgl. Haverkate 1987, 1988, 1990, 1994, Koike 1992, Escandell Vidal 1995, Held 1995, Haferland/Ingwer 1996, Curcó 1998, Domínguez Calvo 2001, Rodrigues i.D. sowie den Überblicksartikel von Agha (1994)). Dabei nahm und nimmt die Anrede als Forschungsgegenstand eine privilegierte Stellung unter den Höflichkeitsformen ein (vgl. Meier 1951, Brown/Gilman 1960, Benigni/Bates 1977, Wilhelm 1979, Jensen 1981, Scotti-Rosin 1981, Kilbury Meißner 1982, Danesi/Lettieri 1983, Hammermüller 1984, 1993a, 1993b, 1997, Ibrahim 1984, Ricciardi 1984, Medeiros 1985, Cintra 1986/1970/1972, Bogusławski 1987, Joseph 1987, Terić 2000, Czachur 2004 sowie für eine – nicht mehr ganz aktuelle – Bibliographie zur Anredeforschung Braun/Kohz/Schubert 1986). Diachron standen meist die Herkunft und Entwicklung der höflichen Anredepronomina im Vordergrund (vgl. u.a. Simon 2003). Die Erforschung der „unorthodoxen“ Verwendung des Imperfekts und, in geringerem Maße, des Konditionals zu Höflichkeitszwecken – meist ebenfalls aus einem pragmalinguistischen Blickwinkel – erfreute sich erst in jüngerer Zeit zunehmender Beach-tung (vgl. Bazzanella 1990, Reyes 1990, Fleischman 1995, Chodorowska-Pilch 2000a, 2000b). Im Bereich der Lexikologie beschäftigte sich v.a. die Partikelforschung mit dem Thema Höflichkeit (vgl. dazu v.a. den von Held (2003) herausgegebenen Sammelband „Partikeln und Höflichkeit“). Darüber hinaus existieren einige listenartige, meist nach Sprechabsichten bzw. Interaktionssituationen gegliederte Überblicksdarstellungen zu Höflichkeitsformeln im Italienischen bzw. Portugiesischen (vgl. Kröll 1980-1986, Campo 1991, 1993, Elwert 1984). Systemlinguistisch bzw. grammatisch orientierte Untersuchungen zur Höflichkeit sind für indoeuropäische Sprachen nach wie vor rar (vgl. Haase 1994, Simon 2003).

Unter den Arbeiten zur Höflichkeitssprache im Japanischen (Keigo) fällt zunächst die große Zahl einer Art „Benimmbücher“ auf, die das (präskriptive) Ziel verfolgen, die richtige Anwendung von Keigo zu vermitteln (vgl. z.B. Okuaki 1988, Minami 1991). Derartige Orientierungshilfen werden nicht nur von Sprachwissenschaftlern verfasst, sondern auch von Journalisten, Personalausbildern u.a. und wenden sich überwiegend an eine allgemeine Leser-schaft. Relativ fern von der Kommunikationswirklichkeit werden dadurch meist stereotype Vorstellungen fortgeschrieben[8]. Außerdem ist diese Form von Ratgeberliteratur mitverant-wortlich für eine Art „Ästhetisierung des Keigo“ in Japan und einen gewissen „sozialen Druck“, der auf die Sprecher ausgeübt wird (vgl. Yamashita 2000: 319 f.). Auch für Nicht-Muttersprachler gibt es eine ganze Reihe an Ratgebern zu (den Grundzügen) der „korrek-ten“ Verwendung von Keigo. Entsprechende Titel lauten beispielsweise „Minimum essential politeness. A guide to the Japanese honorific language” (Niyekawa 1991) oder „How to be polite in Japanese” (Mizutani/Mizutani 1987). Wetzel (2004) hingegen gibt eher einen Über-blick über die historische Entwicklung der Höflichkeitssprache in Japan.

Sprachwissenschaftliche Untersuchungen zur Höflichkeit im Japanischen sind meist sozio-linguistischer Natur. Besonders zum Thema Frauensprache bzw. zur (qualitativ und quantita-tiv) unterschiedlichen Verwendung bestimmter Höflichkeitsformen durch Männer und Frauen gibt es eine umfangreiche Literatur (vgl. u.a. Ide et al. 1986, Hori 1986, Ide/Yoshida 1999). Eine Vielzahl weiterer soziolinguistischer Arbeiten ist experimentell bzw. quantitativ aus-gerichtet und befasst sich mit Einzelphänomenen wie z.B. dem Gebrauch des Höflichkeits-präfixes o- (Shibata 1972), der Verwendung der Pronomina der 3. Person (Hinds 1975), dem Zusammenhang zwischen der Länge von Höflichkeitsformen und deren Höflichkeitsgrad (Ogino 1986, 1989) oder zwischen dem Abweichen nach oben („überhöflich“) oder unten („unhöflich“) von der adäquaten Höflichkeitsebene und einem dadurch eventuell erzielten Effekt der Ironie bzw. des Sarkasmus (Okamoto 2002). Nannini (2000) vergleicht potentielle Tabuthemen bzw. deren (sprachliche) Behandlung im Japanischen und Italienischen anhand der Themenkomplexe Familie und Familienstand, Alter und Älterwerden, Tod, Körper und Gesundheit, Geld sowie Unterschiede im Sprachverhalten bei Entschuldigungen und bei der Verantwortungsübernahme für Geschehenes. Nagatomo (1986) und Vorderwülbecke (1976) bieten einen umfassenden Vergleich der japanischen mit den deutschen Anrede- und Selbst-benennungsformen.

Einen – in der vorliegenden Arbeit gewählten – grammatikorientierten Ansatz mit der Leit-frage, in welchen sprachlichen Strukturen des Japanischen die semantisch-pragmatische Kategorie der Höflichkeit Ausdruck findet, verfolgen z.B. Harada (1976), Loveday (1982), Marui/Matsubara/Takeuchi (1987), Shibatani (1990) und Namai (2000). Zum Ausdruck von Personalreferenz im Japanischen sind v.a. Coulmas (1980) und Felix (2003) nennenswert.

2. Pragma- und soziolinguistische Ansätze

Nahezu jede Einführung in die Pragmatik beinhaltet ein Kapitel zum Thema Höflichkeit (vgl. u.a. Green 1989: Kap. 7.1, Thomas 1995: Kap. 6, Yule 1996: Kap. 7, Peccei 1999: Kap. 8, Grundy 22000: Kap. 7, Meibauer 22001: Kap. 8.5). Sie gilt mitunter als eines der Hauptgebiete pragmalinguistischer Forschungen. Eine erschöpfende Darstellung deren Ergebnisse ist im Rahmen dieser Arbeit weder möglich noch vorgesehen. Es soll lediglich ein knapper Über-blick über einige Grundkonzepte gegeben werden, die für den weiteren Verlauf der Arbeit von Bedeutung sind.

Für eine Erklärung der Funktion bzw. des Ziels von Höflichkeitsstrategien ist wahrschein-lich am häufigsten das face -Modell herangezogen worden. Der Begriff des ‚Gesichts’ oder ‚Images’ (face) geht auf Goffman (1955) zurück, der darunter das öffentliche Selbstbild („the public self image“, zit. nach Held 1995: 64) einer Person versteht. Das Modell wurde wesent-lich von Brown/Levinson (1978 bzw. als Monographie 1987) weiterentwickelt. Diese treffen eine bipolare Unterscheidung zwischen ‚positivem’ (Anerkennung und Wertschätzung) und ‚negativem’ (Territorium) ‚Gesicht’, denen jeweils die Strategien der ‚positiven’ bzw. ‚negativen Höflichkeit’ entsprechen. ‚Positive Höflichkeit’ begegnet damit dem Wunsch des Kommunikationspartners nach Anerkennung, ‚negative Höflichkeit’ dem nach Freiheit in seinen Handlungen und Selbstbestimmung[9]. Weiterhin führen Brown/Levinson den Begriff des ‚gesichtsbedrohenden Aktes’ (face threatening act, FTA) ein. Eine potentielle ‚Gesichts-bedrohung’ – und damit einen Auslöser für Höflichkeitsstrategien wie Indirektheit oder Ab-schwächung – stellen für den Sprecher Situationen dar, die den Ausdruck von Entschul-digungen, Schuldeingeständnissen, Versprechungen oder Selbstkritik erfordern; das ‚Gesicht’ des Hörers ist hingegen durch Kritik anderer, Zurückweisungen, Beleidigungen, Verbote oder Aufforderungen bedroht. Höflichkeit wird nach dieser Auffassung als face -schützende Strategie, zur „kommunikativen Entschärfung“ (Held 1995: 74) eingesetzt. Dabei ist der erforderliche Grad an Höflichkeit vom Gewicht bzw. der Intensität des ‚gesichtsbedrohenden Aktes’ abhängig und, darüber hinaus, von soziologischen Variablen wie Distanz oder Macht vs. Solidarität (vgl. Brown/Gilman 1960).

Simon (2003: 72 f.) kritisiert am face -basierten Höflichkeitsmodell, dass dieses noch keine eigentliche Erklärung dafür liefert, worin letztlich die Motivation für höfliches Sprechen bzw. Verhalten liegt. Hierzu könnten Moralauffassungen wie die „Goldene Regel“ (vgl. Haferland/Paul 1996: 13) herangezogen werden, wonach man andere so behandeln soll, wie man umgekehrt selbst behandelt werden will[10]. Zu einer tiefergehenden Kritik am face -Modell siehe Simon (2003: 73 f.) und Haferland/Paul (1996: 16 ff.).

Als weitere „klassische“ Modelle pragmatischer Höflichkeitsforschung lassen sich Lakoffs (1973: 298) Regeln zur Höflichkeit (Don’t impose. Give options. Make A [= the addressee, Anm. d. Verf.] feel good – be friendly.) und Leechs (1983) Höflichkeitsmaximen bzw. sein Politeness Principle (PP) nennen, das eine Reaktion auf das Cooperation Principle (CP) von Grice (1975) und dessen Theorie der konversationellen Implikaturen darstellt. Demnach sieht sich der Sprecher bei der Kommunikation mit einer ständigen Spannung zwischen der Notwendigkeit größtmöglicher Effizienz und den Anforderungen an ein höfliches Verhalten konfrontiert. Durch die Wahl einer umständlicheren Ausdrucksweise weicht der Sprecher auf der Inhaltsebene vom Weg der maximalen Effizienz ab und verstößt gegen die Griceschen Konversationsmaximen. Durch diesen Verstoß drückt er schließlich auf der Beziehungsebene seinen Wunsch aus, höflich zu sein (vgl. Vorderwülbecke 1984: 307 ff., Simon 2003: 69 f.). Die Theorie der indirekten Sprechakte von Searle (1975) hingegen versucht u.a., den Zu-sammenhang zwischen Indirektheit und Höflichkeit zu erklären. Wenn auch eine bestimmte Gruppe indirekter Sprechakte durchaus als höflich gelten kann, darf nicht vergessen werden, dass Indirektheit noch nicht per se höflich ist bzw. die indirektesten Ausdrucksmöglichkeiten nicht notwendigerweise auch die höflichsten sind[11]. Searles Theorie kann als Erklärung für die Frage herangezogen werden, weshalb Sätze wie (1a) oder (2a), d.h. Behauptungen in der Funktion von Aufforderungen überhaupt potentiell höflicher wirken als ihre jeweiligen „direkten“ Entsprechungen (1b) bzw. (2b) (zahlreiche alternative Formulierungen wären denkbar), wo doch die eigentliche Intention des Sprechers allen klar ist:

(1) a. Hier zieht es.

b. Machen Sie (bitte) das Fenster zu!

(2) a. Die Suppe ist wenig gesalzen.

b. Reichen Sie mir (bitte) das Salz!

Nach Simon (2003: 72) liegt der Schlüssel zum Verständnis höflichen Verhaltens darin, dass es nicht darum geht, was real passiert (hier: Aufforderungshandlungen), sondern vielmehr darum, wie die Leute miteinander umgehen. Der Umweg über indirekte Sprechakte signali-siert dem Hörer, dass es dem Sprecher die Mühe wert ist, diesen einzuschlagen[12].

Das hauptsächliche soziolinguistische Interesse am Phänomen der Höflichkeit besteht darin zu untersuchen, wer gegenüber wem in welcher Situation und weshalb höflich spricht und welche der im System vorhandenen Formen er dafür verwendet. Ferner werden beispiels-weise gruppenspezifische Ausprägungen, d.h. schichten-, alters-, geschlechts- oder regional-spezifische Unterschiede in der Verwendung bestimmter Höflichkeitsformen untersucht.

Mit dem Aufsatz von Brown/Gilman (1960) zu den Anredepronomina zwischen power und solidarity wurde bereits eine bahnbrechende Arbeit aus dem Bereich der Soziolinguistik genannt. Die beiden Autoren postulieren am Beispiel des Französischen, Italienischen und Deutschen einen Übergang von für sozial stratifizierte Gesellschaften typischen asymmetri-schen Anredeverhältnissen hin zu einem sich durch ‚Solidarität’ auszeichnenden symmetri-schen Pronominalgebrauch.

Die japanische Soziolinguistik widmete sich lange Zeit intensiv der geschlechtsspezifischen Verwendung bestimmter Ausdrucksmittel im Japanischen. Am deutlichsten zeigen sich im morphosyntaktischen Bereich diesbezüglich Unterschiede im Gebrauch von Pronomina, satzfinalen Partikeln, Interjektionen und höflichen Präfixen (vgl. Nagatomo 1986: 239 ff., Tsujimura 1996: 372 ff.). Die japanische Frauensprache (onnakotoba, joseigo) ist laut Nagatomo (1986: XIV) jedoch nicht Ausdruck der Diskriminierung der Frau in der japani-schen Gesellschaft, wofür sie von den westlichen Wissenschaftlern oft gehalten wird. Der Zusammenhang zwischen der Sprachverwendung durch Frauen und deren gesellschaftlicher Stellung ist nicht so evident wie oft behauptet (vgl. Ide et al. 1986: 25); die stereotype Auf-fassung, Frauen seien in ihrem Sprachgebrauch höflicher, ist zu oberflächlich und reflektiert nicht die gesellschaftliche Realität (vgl. Hori 1986: 385).

Zahlreiche soziolinguistische Erklärungen von Keigo basieren auf den historischen Wurzeln der ‚respektvollen Sprache’ im aus China stammenden Konfuzianismus. Die „richtige“ Ver-wendung von Keigo, die in Japan substantiell ist, wird v.a. von den beiden (zusammen-gehörigen) Parametern gesellschaftliche Stellung und Alter kontrolliert[13], die auf zwei Grundpfeiler der japanischen Gesellschaft zurückgehen: hierarchische Beziehungen als akzeptiertes, ja sogar als notwendig erachtetes Phänomen einerseits und Achtung der Alters-folge andererseits. Das starke Respektgefühl vor den Älteren bzw. die „Verehrung“ der Vorhergeborenen ist eine der Regeln, ohne die menschliches Zusammenleben laut der konfu-zianischen Lehre nicht gelingen könnte. Dabei stellt Japan für viele ein Extrem der Regel-gläubigkeit dar[14]: Regeln werden nicht hinterfragt, woraus sich als Konsequenz Fälle einer Einhaltung von Regeln um der Regeln willen ergeben können[15]. Der Konfuzianismus brachte jedoch auch die für Japan charakteristische Gruppenorientierung (‚in-group’ vs. ‚out-group’) mit sich (vgl. dazu Nagatomo 1986: 66 ff., 100 ff.). Während sich laut Hijirida/Sohn (1986: 365, 396) beispielsweise die amerikanische Gesellschaft vorwiegend durch Egalitarismus, Indiviualismus und eine pragmatische Denkweise auszeichnet, sind im Gegensatz dazu die japanische und koreanische durch Hierarchien, Kollektivimsus und Formalismus gekenn-zeichnet[16].

II. Höflichkeitsformen iN DEN ROMANISCHEN SPRACHEN

3. Das Anredesystem der romanischen Sprachen

Das Anredesystem einer Sprache umfasst die Gesamtheit der in dieser Sprache zur Verfügung stehenden Mittel der Anrede. Dabei versteht man unter Anrede die explizite sprachliche Referenz eines Sprechers auf seine(n) faktisch oder imaginär vorhandenen Gesprächspartner (vgl. Czachur 2004: 741 f., Hammermüller 1993a: 1).

Zu den Anredeformen als (grammatikalisierte) sprachliche Mittel zur Herstellung eines zwischenmenschlichen Kontakts und/oder zur Verdeutlichung der Stellung der Gesprächs-partner zueinander gehören alle sprachlichen Erscheinungen, die für diese Bezugnahme verwendet werden. Dies sind Anredepronomina (eine spezielle Form der Personalpronomina, die wiederum eine Untergruppe der Pronomina darstellen) ebenso wie Anredenomina bzw. Vokative (Namen, Titel, Verwandtschaftsbezeichnungen). Die Abgrenzung zwischen prono-minaler und nominaler Anrede ist beispielsweise im Portugiesischen (wie auch im Polnischen, vgl. dazu Czachur 2004: 746 ff.) nicht immer problemlos möglich (vgl. 3.1.4: o senhor).

Es lassen sich morphosyntaktische und lexikalische Anredeformen unterscheiden (vgl. Laroche-Bouvÿ 1989: 85). Zu den morphosyntaktischen Anredeformen gehören Pronomina bzw. Elemente mit deren Funktion (z.B. pg. o senhor), lexikalische Anredeformen sind entweder isolierte Lexeme, vgl. (1a), oder Nominalsyntagmen wie in (1b):

(1) a. Monsieur, Docteur, Président, Dupont, Paul

b. Monsieur le Président, Paul Dupont, cher ami, mon vieux, oncle Paul

Bisweilen findet sich auch eine Unterscheidung zwischen „gebundener“ und „freier“ Anrede (so z.B. bei Czachur 2004: 744 oder Haase 1994: 32), wobei unter „gebundener“ Anrede syntaktisch in einen Satz integrierte Formen verstanden werden, die die Funktion eines Subjekts, Objekts oder Attributs ausfüllen, wohingegen im Fall von „freier“ Anrede ein verbloser Satz allein geäußert wird bzw. eine entsprechende (vokativisch gebrauchte) Anredeform vor einem, hinter einem oder als Einschub in einen Satz steht, ohne in ihm eine syntaktische Funktion auszufüllen. Es lässt sich tendenziell eine Korrelation zwischen (pro)nominalen Anredeformen und deren Gebundenheit vs. Freiheit feststellen, wonach pronominale Anredeformen in der Regel syntaktisch gebunden und nominale Formen freistehend sind[17]. Es besteht jedoch durchaus die Möglichkeit der freien Bezugnahme auf einen Gesprächspartner durch Pronomina, vgl. (2a), und der gebundenen Bezugnahme durch Nominalformen wie in (2b) (vgl. Haase 1994: 32). Letztere ist insbesondere für das Portugiesische von Bedeutung (vgl. 3.1.4).

(2) a. Du, ich muss dir was erzählen.

b. Wünscht die Dame zu speisen?

Die Definition von „freier“ bzw. „gebundener“ Anrede stimmt mit der – hier bevorzugten – Unterscheidung zwischen vokativischen und nicht-vokativischen Anredeformen (vgl. Kilbury Meißner 1982) überein. Vokative sind also im Gegensatz zu den nicht-vokativischen Anredeformen nicht syntagmatisch in den jeweiligen Satz integriert („freie“ Anrede), sie stehen außerhalb der Satzsyntax und der spezifischen satzintonatorischen Kontur (vgl. Simon 2003: 1). Der Differenzierung nach vokativischen und nicht-vokativischen Anredeformen entspricht eine Unterscheidung zwischen „Anrede“ und „Anruf“ auf konzeptueller Seite. Wie bereits in (2) verdeutlicht wurde, kann jedoch zwischen diesen beiden Ebenen keine Eins-zu-eins-Entsprechung angenommen werden, denn „Anrufe“ sind auch durch normalerweise nicht-vokativisch gebrauchte Anredeformen ausdrückbar und umgekehrt (vgl. Hammermüller 1993a: 34, 36 ff.; Hammermüller 1997: 27).

Als weiterer Begriff ist der v.a. in der soziolinguistischen Literatur geläufige Terminus der „indirekten Anrede“ zu nennen (vgl. z.B. Czachur 2004: 752). Unter „direkter Anrede“ ver-steht man normalerweise die Anredepronomina, als die „eigentlichen“ Formen der Anrede, oder auch den Vokativ (vgl. Hundertmark-Santos Martins 21998: 370). Dagegen werden unter „indirekter Anrede“, die in (3) mit der entsprechenden deutschen Übersetzung in (3a) für das Portugiesische exemplifiziert wird (ferner auch pg. o Sr. Doutor, o Manuel, o pai, a colega etc.)[18] Formen subsumiert, die gewöhnlich zur Bezugnahme auf Personen außerhalb der un-mittelbaren Sprecher-Hörer-Beziehung gebraucht werden, wie aus der alternativen Über-setzung in (3b) deutlich wird. Diese gehen mit einer Verbform der (morphologischen) 3. Person einher:

(3) O senhor Martins já viu esta peça?

a. „Haben Sie dieses Theaterstück schon gesehen(, Herr Martins)?“

b. „Hat Herr Martins dieses Theaterstück schon gesehen?“

Zu einer Kritik an diesen Begriffen sei auf Hammermüller (1993a: 32, 34 f.; 1993b: 33 f.) und Haase (1994: 32) verwiesen.

Bezüglich des Anredeverhaltens, d.h. des Gebrauchs, den ein Sprecher von den ihm grundsätzlich zur Verfügung stehenden Anredeformen macht, kann zwischen symmetrischer und asymmetrischer Verwendung der Anredeformen unterschieden werden. Symmetrisch ist beispielsweise im Deutschen der wechselseitige Gebrauch der distanzierten Anrede mit SieSie bzw. der familiären Anrede mit dudu, wohingegen die reziproke Anrede mit Siedu asymmetrisch ist. Letzterer Gebrauch findet sich nach Brown/Gilman (1960: 255 ff.) v.a. in sozial stratifizierten Gesellschaften, in denen der Faktor power dominierend ist. Im Falle von symmetrischem Anredeverhalten überwiegt umgekehrt der Faktor solidarity (vgl. ibd.: 257 ff.). Ein Rückgang asymmetrischer zugunsten symmetrischer Anredeverhältnisse aufgrund der von Brown/Gilman (ibd.: 260) festgestellten Entwicklung, wonach sich solidarity gegen-über power durchgesetzt habe, ließe sich wahrscheinlich nicht nur für das Französische, Italienische und Deutsche (ibd.: 264) feststellen.

Im Folgenden sollen zunächst die Pronominalsysteme des Italienischen und Portugie-sischen in ihren Grundzügen dargestellt sowie anschließend untersucht werden, in welchem Bereich des Pronominalsystems in diesen beiden Sprachen Höflichkeit ausgedrückt wird. Dabei soll das Hauptaugenmerk auf den grammatischen Besonderheiten des Systems der heutigen Anredepronomina im Italienischen und Portugiesischen liegen. Insbesondere für das Portugiesische sollen weiterhin nicht-pronominale, d.h. Anredenomina als nicht-vokativische Anredeformen dargestellt werden. Den Abschluss bildet eine Betrachtung zu den Vokativen in beiden Sprachen.

3.1 Pronominale und nominale nicht-vokativische Anredeformen

In fast allen (west)indoeuropäischen Sprachen der Gegenwart gibt es für die Anrede einer einzelnen Person mindestens zwei im Höflichkeitsgrad unterschiedene Pronomina. Aus-nahmen hierzu bilden v.a. das Englische sowie, auf dialektaler Ebene, bestimmte süd-italienische[19] Varietäten. Manche Sprachen besitzen autonome Sonderformen für das höfliche Anredepronomen, die synchron sonst nirgends im Pronominalsystem auftreten (z.B. sp. usted, niederl. U). Dagegen finden sich die höflichen Anredepronomina anderer Sprachen (z.B. dt. Sie, fr. vous) auch unter den „normalen“ Personalpronomina (3. Ps. Pl. bzw. 2. Ps. Pl.) wieder (vgl. Simon 2003: 89 ff.).

In diesem Kapitel sollen nach einer knappen Darstellung der Pronominalsysteme des Italienischen und Portugiesischen die höflichkeitsrelevanten Pronomina darin für beide Spra-chen untersucht werden. Es werden, traditionell gesprochen, die Subjekt- und (un-)betonten Objektformen der Personalpronomina sowie Possessiv- und Reflexivpronomina berück-sichtigt.

3.1.1 Die Pronominalsysteme des Italienischen und Portugiesischen

In (4) ist das Paradigma der italienischen Personalpronomina dargestellt, in (5) das der portugiesischen Personalpronomina. Die Achsen der (zweidimensionalen) Paradigmentafel werden durch die grammatischen Kategorien Numerus (Sg./Pl.) bzw. Person (1., 2., 3. Ps.) und Kasus (Nom., Akk. = dir. Obj., Dat. = ind. Obj.) gebildet. Innerhalb der 3. Ps. kommt (teilweise) noch eine Unterscheidung nach Genus (Mask./Fem.) hinzu.

Die Frage danach, wo innerhalb dieses Paradigmas die Höflichkeitsformen einzuordnen sind, wird erst Gegenstand der nächsten beiden Abschnitte sein (vgl. 3.1.2 für das Italienische bzw. 3.1.3 für das Portugiesische).

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In beiden Sprachen ist es möglich, pronominale Subjekte unausgedrückt zu lassen. Dies ist keine universale Eigenschaft von Sprachen, d.h. crosslinguistisch variieren Sprachen be-züglich eines Pro -drop-Parameters. Italienisch und Portugiesisch sowie beispielsweise auch das Spanische fixieren den Wert des Pro -drop-Parameters positiv; im Gegensatz dazu gehören etwa das Französische, Englische oder Deutsche nicht zu den Pro -drop-Sprachen[24]. Das dennoch mitverstandene Subjekt in Pro -drop-Sprachen wird syntaktisch durch ein nicht-overtes Pronomen repräsentiert, wie im Folgenden gezeigt werden soll (vgl. z.B. Haegeman 21994: 450 ff.).

Aufgrund des Erweiterten Projektionsprinzips (EPP) muss auch in Pro -drop-Sprachen die Subjektposition (IP-Specifier-Position) besetzt sein. Sie ist von einem Null-Element – genauer: von einer Null-NP, denn die projizierte Subjektposition ist eine NP-Position – besetzt, das phonetisch nicht realisiert und in der die externe Theta-Rolle des Verbs verwirklicht wird. Es handelt sich dabei um ein kovertes Pronomen, das wie ein overtes interpretiert, mit pro bezeichnet wird und das auf der D-Struktur präsent ist:

(6) a. pro Ha parlato.

b. Giannii dice che proi ha telefonato.

Die relativ reiche Verbalflexion im Italienischen und Portugiesischen – im Gegensatz etwa zum Englischen – erlaubt es, Subjekte ohne lexikalische Realisierung dennoch richtig zu interpretieren, denn die grammatikalischen Merkmale Person und Numerus des Subjekts können auch ohne overtes Pronomen anhand der Verbalflexion (inflection, INFL) bzw. genauer des Kongruenzverhaltens (agreement, AGR) identifiziert werden:

(7) proi parloi

Im Englischen hingegen können aufgrund der recht „armen“ Verbalflexion nur Subjekte in der 3. Ps. Sg. Präs. identifiziert werden.

Subjektpronomina werden jedoch overt gebraucht, wenn das Subjekt hervorgehoben werden soll, beispielsweise aus Gründen der Kontrastierung bei antithetisch gebauten Sätzen wie in (8) und (9) oder in emphatischen Cleft-Konstruktionen, vgl. (10). Weiterhin werden pronominale Subjekte explizit gemacht, wenn der Bezug der finiten Verbform nicht eindeutig ist, d.h. wenn andernfalls nicht deutlich würde, wer oder was gemeint ist. Dies kann bei einem koreferentiellen Bezug der Fall sein, wenn es mehr als ein mögliches Antezedens des Pronomens gibt, vgl. (11), oder aus morphologischen Gründen bei Formengleichheit bei-spielsweise im Konjunktivparadigma (Präsens, Perfekt, Plusquamperfekt) wie in (12), hier am Italienischen verdeutlicht, oder in der 1. und 3. Ps. Sg. des portugiesischen Imperfekts, vgl. (13). Verschafft der Kontext hier keine Klärung, so wird zur Verdeutlichung die Subjektform gesetzt:

(8) a. Tu hai meritato il premio, non Carla.

b. *Æ hai meritato il premio, non Carla.

(9) Eu trabalho enquanto tu dormes.

(10) Sou eu que ganho o dinheiro.

(11) Se Mario balla con Carla, (lei) sceglie la musica.

(12) a. Voglio che (tu) sia felice.

b. Non so se (lui) abbia detto ciò.

c. Non credeva che (tu) avessi taciuto.

(13) (Eu, Ele/Ela, Você, O senhor / A senhora, ...) falava sempre nisso.

Eine detailliertere Darstellung von Fällen, in denen die Subjektpronomina overt gebraucht werden (müssen), findet sich für das Italienische z.B. bei Renzi (1988: 538 ff.) und Krenn (1996: 260 ff.) sowie für das Portugiesische u.a. bei Kilbury Meißner (1982: 16 ff.) und Hundertmark-Santos Martins (21998: 80 f.).

Das äußerst komplexe und kontrovers diskutierte Problem der Stellung der Objekt-pronomina kann hier lediglich angedeutet werden. Was löst die Bewegung von Klitika aus, welche Landepositionen sind für Klitika möglich und was sind die Determinanten von Enklise und Proklise? Diese und andere Fragen können bei der Klitisierung in den romanischen Sprachen als entscheidend angesehen werden (Rizzi 2000: 96). Grob gesagt gibt es in der generativen Literatur zwei Ansätze zur Klitisierung speziell in den romanischen Sprachen (für eine ausführliche Darstellung vgl. Sportiche 1996: 220 ff.): eine ältere, auf Bewegung be-ruhende Analyse einerseits (z.B. Kayne 1991) und eine heute größtenteils vertretene, von Basis-Generierung ausgehende Analyse andererseits (z.B. Sportiche 1996).

Bezüglich der Stellung der unbetonten Objektpronomina im Italienischen lässt sich sagen, dass dort – im Gegensatz zum Portugiesischen – eine systematische Proklise in finiten Sätzen besteht und die enklitische Anordnung auf nicht-finite Sätze (Infinitiv, Partizip, Gerund) und affirmative Imperative beschränkt ist. Komplizierter liegen die Dinge insbesondere beim Auftreten von Modalverben, Verben der Bewegung, aspektuellen Verben und bei Auxiliar-verben (vgl. Renzi 1988: 572 ff., Kayne 1991: 648 ff.).

Für das moderne europäische Portugiesisch gilt zunächst im Unterschied zu anderen romanischen Sprachen wie Italienisch oder Französisch, dass Klitika nicht an absolut satzinitialer Position auftreten können (Gesetz von Tobler-Moussafia). Als Normalfall, d.h. in Abwesenheit bestimmter, näher zu spezifizierender Auslöser der Proklise, kann für die Stellung von Objektklitika im heutigen europäischen Portugiesisch Enklise angenommen werden (zur Stützung dieser Annahme durch sprachgeschichtliche und spracherwerbliche Daten vgl. Brito/Duarte/Matos 62003: 850 ff.). Auslöser der Proklise (atractores de próclise, proclisadores) müssen dem Hostverb (hospedeiro verbal) des Klitikons vorausgehen und es c-kommandieren. Zu ihnen zählen u.a. Satz- und Konstituentennegatoren, wh -Phrasen, (ein-fache und komplexe) Complementizer, Adverbien, einige Quantoren, eine Teilmenge der ko-ordinierenden Konjunktionen sowie Fokuskonstruktionen. Auf die Besonderheiten bei der Stellung der portugiesischen Klitika in nicht-finiten Sätzen kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Bemerkenswert ist noch die im modernen europäischen Portugiesisch aus älteren Sprachstufen verbliebene Mesoklise bei Futur und Konditional, die jedoch im Verschwinden begriffen ist. Näheres zu den portugiesischen Klitika findet sich u.a. bei Uriagereka (1995), Barbosa (1996, 2000), Vigário (1999), Duarte/Matos (2000), Raposo (2000) und Raposo/Uriagereka (2005).

Nach dieser überblicksartigen Darstellung der Personalpronomina im Italienischen und Portugiesischen sollen nun die Possessivpronomina betrachtet werden, die für die beiden romanischen Sprachen in (14) bzw. (15)[25] – zunächst wiederum ohne die entsprechenden Höf-lichkeitsformen – zusammengefasst sind. Dabei sind vertikal Numerus und Person des „Be-sitzers“ abgetragen, horizontal Genus und Numerus des „Besitzobjektes“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

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Die italienischen und portugiesischen Possessiva kongruieren – mit Ausnahme von it. loro, das invariabel ist – in Genus und Numerus mit dem Substantiv, auf das sie sich beziehen, d.h. mit dem „Besitzobjekt“:

(16) a. Luigii, dov’è il tuoi dizionario?

b. Luigii, dov’è la tuai grammatica?

Sie können sowohl adjektivisch(1) als auch substantivisch(2) gebraucht werden:

(17) o meu(1) carro e o teu(2)

Bei adjektivischem Gebrauch ist die unmarkierte Wortstellung die vor dem Substantiv. Dem Substantiv nachgestellt werden Possessiva in Verbindung mit dem unbestimmten Artikel, vgl. (18a), einer Zahl, vgl. (18b), einer wh -Phrase, vgl. (18c) sowie nach einigen Quantoren, vgl. (18d). Außerdem ist eine Nachstellung aus emphatischen Gründen wie in (18e) möglich:

(18) a. Este rapaz é um neto meu.

b. Vi sete amigos meus.
c. A que obra sua se refere?
d. Tens aí uns/alguns/vários/bastantes/poucos/diversos livros meus.
e. Deus meu!

Possessiva können nicht nur mit dem (bestimmten) Artikel wie in (19a) oder einem Demonstrativpronomen wie in (19b) auftreten, sondern auch mit Quantoren, vgl. (19c,d). Als mögliche Strukturtypen ergeben sich (unter Vernachlässigung der oben dargestellten Fälle, in denen das Possessivum dem Nomen nachgestellt wird bzw. der Artikel entfällt) die unter (19) aufgeführten:

(19) Art / Dem + (Quant) + Poss + N,

(Quant) + Art / Dem + Poss + N

a. São os nossos amigos franceses.
b. Esses teus defeitos enternecem-me.
c. os meus muitos/numerosos/vários livros
d. Todos os nossos amigos.

Zum Abschluss der Darstellung der Personalpronomina sollen nun noch die italienischen und portugiesischen Reflexivpronomina, vgl. (20) bzw. (21), in ihren unbetonten (forme atone) bzw. klitischen (forme clitiche) und betonten (forme toniche) bzw. freien (forme libere) Formen aufgeführt werden:

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Wie auch im Deutschen fallen die Formen der Reflexivpronomina der 1. und 2. Ps. mit denen der Objektpronomina zusammen, sodass sich lediglich die 3. Ps., identisch in Sg. und Pl., morphologisch von den Personalpronomina unterscheidet.

In einigen Fällen ist es möglich, anstelle des Reflexivpronomens ein entsprechendes Personal-pronomen zu verwenden (vgl. Renzi 1988: 596 f., Krenn 1996: 247 f.). So kann in Präposi-tionalphrasen, die gewöhnlich eine Ortsangabe ausdrücken, entweder das (betonte) Reflexiv-pronomen oder die entsprechende (betonte) Form des Personalpronomens lui / lei / loro ge-braucht werden:

(22) a. Ci hanno invitato a cena da sé / da loro.

b. Ho autorizzato Carlo a portare con sé / con lui i suoi amici.

Das Personalpronomen wird anstatt des Reflexivums auch in Fällen gebraucht, in denen andernfalls ein nicht gewünschter Bezug zum Subjekt entstehen würde:

(23) Il capitanoi ordinò ai soldatij di portare le armi con séi/j / con loroj.

In einigen Fällen kann das (betonte) Personalpronomen sogar anstelle des (betonten) Re-flexivpronomens verwendet werden, wenn es sich um ein direktes Objekt handelt:

(24) Coprivano con abiti pesanti sé / loro e i loro figli.

3.1.2 Höflichkeit im Pronominalsystem des Italienischen

Das Italienische besitzt wie das Deutsche und Französische und im Gegensatz zum Niederländischen oder Spanischen (vgl. 3.1) keine eigenen Formen für die höflichen Anrede-pronomina, sondern diese finden sich auch an anderer Stelle im Paradigma der Personal-pronomina. Simon (2003) diskutiert, ob Höflichkeitsformen wie dt. Sie, die „oberflächlich betrachtet […] ‚einfach nur normale’ Personalpronomina“ (ibd.: 91) darstellen (im Deutschen 3. Ps. Pl.), lediglich an eine andere Stelle im Paradigma transponiert wurden und dort eine sekundäre Funktion erfüllen, d.h. zwei Varianten eines einzigen grammatischen Elements sind, oder ob vielmehr eine grammatische Kategorie ‚Respekt’ – neben den traditionellen Kate-gorien ‚Person’, ‚Numerus’, ‚Genus’ usw. – mit den Werten [Honorativ] und [NonHonorativ] angenommen werden müsste. Nach einem Überblick über die Behandlung des höflichen An-redepronomens Sie in verschiedenen deutschen Grammatiken (ibd.: 10 ff.) geht er der Frage nach, inwiefern dieses sich vom pluralischen unbeteiligtenreferentiellen sie unterscheidet. Er führt mehrere Strukturen (komplexe DPs, Relativsätze, ‚Präposition + Reflexiv-/Personal-pronomen’ etc.) an, in denen die beiden ein unterschiedliches syntaktisches Verhalten zeigen (ibd.: 136 ff.). Aufgrunddessen fordert er, dass Sie und sie innerhalb der Grammatik folglich als eigenständig betrachtet werden sollten (ibd.: 146). Auch Schubert (1985: 153) befasst sich mit der Frage, ob ‚Höflichkeit’[28] als grammatische Kategorie brauchbar ist, bezweifelt dies jedoch zumindest.

Eine analoge Betrachtung wäre auch für das italienische lei (höfliches Anredepronomen und Personalpronomen 3. Ps. Sg. Fem.) sowie für die höflichen Anredepronomina des Plurals (loro = 3. Ps. Pl. bzw. voi = 2. Ps. Pl.) denkbar.

Auf die unter formalen Gesichtspunkten unproblematische familiär-vertraute Anredeform der 2. Ps. Sg. (Subjektform: tu, Objektform und Refexivum: ti / te, Possessivum: (il) tuo etc., zu den Formen vgl. 3.1.1) wird im Folgenden nicht weiter eingegangen. Es soll um das wesent-lich komplexere System der Höflichkeitsformen gehen.

3.1.2.1 Subjektformen

Die Pronomina tu, voi, lei, loro[29] übernehmen aus Sicht der meisten Grammatiker die Funktion der familiären bzw. höflichen Anrede im Italienischen. Es handelt sich hierbei um die Pronomina der 2. Ps. Sg./Pl. bzw. der 3. Ps. Sg./Pl. im oben dargestellten Paradigma der Subjektpersonalpronomina (vgl. 3.1.1). Strittig ist, ob für die höfliche Anrede im Plural im heutigen Italienisch voi anstelle von loro verwendet wird (deskriptiv) bzw. verwendet werden darf (normativ)[30]. Dem deutschen höflichen Anredepronomen Sie stehen im Italienischen aufgrund der auch formalen Unterscheidung, ob eine oder mehrere Personen angesprochen werden, mindestens[31] drei höfliche Pronomina gegenüber: lei als Anrede für eine (weibliche und auch männliche) Person, loro als Anrede für mehrere Personen und voi als Anrede für mehrere oder, im heutigen Italienisch jedoch stark eingeschränkt[32], eine Person.

Während also die gewöhnliche höfliche Anredeform im Singular lei ist, wird im Plural die Höflichkeitsform loro häufig durch voi ersetzt, das somit – im Unterschied zu tu – nicht notwendigerweise als familiär-vertrauliches Anredpronomina eingestuft werden kann. Die Anreden mit loro und voi können Renzi (1988: 543) zufolge im Diskurs koexisitieren. Es kann vorkommen, dass v.a. vom erst- zum zweitgenannten Anredepronomen „geswitcht“ wird:

(25) Si accomodino (3. Ps. Pl.). Che cosa desiderate (2. Ps. Pl.)?

Nach diesem Gesamtüberblick über das Inventar der höflichen Subjektanredepronomina im heutigen Italienisch sollen im Folgenden die konkurrierenden höflichen singularischen An-redepronomina voi und lei bzw. pluralischen Anredepronomina voi und loro sowie das unter-schiedliche Kongruenzverhalten der singularischen Höflichkeitsformen lei und ella (vgl. Fn. 31) näher betrachtet werden.

Wie bereits angedeutet, wird die 2. Ps. Pl., voi, als Höflichkeitsform für einen einzigen Adressaten[33] heute nur mehr diatopisch vorwiegend auf Süditalien begrenzt[34] oder in literari-schen Registern eingesetzt (vgl. z.B. Renzi 1988: 543). Das aktuelle zweiteilige System der Anrede für eine Person (familiär-vertrauliches tu vs. höflich-distaniziertes lei)[35] stellte sich jedoch etwa vom Cinquecento bis zum Novecento noch als dreiteiliges System dar (tu, voi, lei)[36]. Das Kongruenzverhalten von voi als höfliches Anredepronomen für eine Person zeigt bezüglich der Kategorie Numerus, dass es ein Verb im Plural erfordert; Adjektive, vgl. (26a), und Partizipien, vgl. (26b), stehen jedoch im Singular. Die Genuskongruenz bleibt davon unberührt.

(26) a. Voi, signore, siete molto generoso / *generosi. [als Anrede einer männl. Person]

b. Non vi siete innamorato / *innamorati. [als Anrede einer männl. Person]

Ein derartiges Kongruenzverhalten beim höflichen Plural, der semantisch singularisch ist, findet sich auch im heutigen Standardfranzösischen:

(27) Vous êtes venu / *venus. [als Anrede einer männl. Person]

Durch die Einführung von lei (3. Ps. Sg.) anstelle von voi (2. Ps. Sg.) für die höfliche Anrede einer Person wurde die vorherige Numerusambiguität von voi (Sg./Pl.) eliminiert. Ambi-guitäten im Personalreferenzsystem bringen nach Joseph (1987: 273) immer Instabilität mit sich. Der genannte Ersatz führte zu einer Disambiguierung und damit schließlich zu einem Abbau dieser Instabilität. Wenn auch nicht bezüglich der Höflichkeit bzw. Formalität, denn voi ist sowohl familiär-vertrauliches als auch höflich-distanziertes Anredepronomen im Plural, so ist voi nun zumindest hinsichtlich der Kategorie Numerus eindeutig. Anders ist dies beispielsweise beim französischen Anredepronomen vous (höfliche Anrede im Singular und höfliche bzw. familiäre Anrede im Plural) oder auch beim englischen you (höfliche und familiäre Anrede in Singular wie Plural)[37].

Andererseits ist nun it. lei ambig, da es gleichzeitig die Funktionen der höflichen Anrede im Singular und des femininen Personalpronomens der 3. Ps. Sg. hat. Dies wird jedoch teilweise dadurch disambiguiert, dass es sich einmal um einen deiktischen Gebrauch und das andere Mal um einen (unbeteiligten-)referentiellen Gebrauch des Pronomens handelt.

Danesi/Lettieri (1983: 331 f.) vertreten die m.E. zu radikale Auffassung, dass das heutige Italienisch bei den höflichen Anredepronomina im Plural nicht (mehr) bezüglich des Kriteriums der Höflichkeit bzw. Formalität unterscheidet. Ihre Untersuchung (ibd.: 327 ff.) ergab, dass (reziprokes) tu (im Plural: voi) unter Freunden, Kollegen, Familienmitgliedern und Gleichaltrigen Verwendung findet, (reziprokes) lei in komplementärer Distribution zu tu, d.h. in Situationen, in denen tu ausgeschlossen ist, verwendet wird und dass loro als Höflichkeitspronomen des Plurals praktisch nicht (mehr) existiert. Diese Ergebnisse fassen sie in folgender Form zusammen (ibd.: 331):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(28) tu [–formal, +singular]

voi [±formal, –singular]

lei [+formal, +singular]

Eine gemäßigtere und m.E. der sprachlichen Wirklichkeit näherkommende Auffassung vertritt Ricciardi (1984), der sich ebenfalls ausführlich mit der Form voi als Plural von lei befasst. Er konstatiert zunächst die Inadäquatheit einer präskriptiven Regel, die sich noch immer in zahlreichen Grammatiken findet, wonach voi lediglich als Pluralform für eine Gruppe von Personen gebraucht wird, die individuell mit tu angesprochen würden und loro nur für eine Gruppe von Personen, denen gegenüber individuell ein lei verwendet würde. Als Tendenz des modernen Italienisch lässt sich nämlich feststellen, dass an vielen Stellen voi verwendet wird, wo nach obiger Regel loro zu erwarten wäre (ibd.: 201), z.B. in:

(29) Voi, signori, lo sapete meglio di me.

Ricciardi (1984: 203 ff.) geht sodann der (diachronen) Frage nach, ob der Gebrauch von voi anstelle von loro eine Innovation darstellt oder ob es loro, trotz dessen Bevorzugung durch Präskriptivisten, schlicht nie geschafft hat, voi zu verdrängen. Er gelangt dabei zu dem Schluss, dass die pluralische Höflichkeitsform loro verhältnismäßig spät, nämlich in Analogie zu lei[38], ins italienische Pronominalsystem aufgenommen wurde und dass pluralisches voi keine Innovation darstellt.

Außerdem untersucht Ricciardi (1984: 216 ff.) strukturelle Faktoren, die den Gebrauch von voi statt loro begünstigen. Wie im Falle der singularischen und pluralischen Anrede mit voi (siehe weiter oben), spielen auch hier v.a. Ambiguitäten eine Rolle. Durch die Verwendung von loro als pluralisches Höflichkeitspronomen (dt. SiePl) ergeben sich aufgrund dessen formaler Gleichheit mit dem (unbeteiligtenreferentiellen) Personalpronomen loro (dt. siePl) teilweise syntaktische Ambiguitäten, die beim höflichen pluralischen Anredepronomen voi nicht auftreten. Dies soll anhand eines auf Pasquali (hier zit. nach Ricciardi 1984: 216) zurückgehenden Beispiels verdeutlicht werden:

(30) I signori chiedono se possono venire da loro.

Zur Erklärung des Kontextes sei gesagt, dass dieser Satz von einem Dienstmädchen geäußert wird, das während eines Telefongesprächs mit Freunden der Hausherren mit ihren Arbeit-gebern Rücksprache hält, um eine Einladung bestätigen zu lassen. Hierbei wird jedoch nicht klar, ob ihre Vorgesetzten sich in das Haus der Freunde begeben sollten oder umgekehrt letztere zu ihnen kommen wollen. Die Äußerung des Dienstmädchens ist nicht frei von Ambiguitäten. Im Folgenden sind einige mögliche Lesarten von (30) aufgeführt, wobei Koindizierung auf koreferente Ausdrücke verweist:

(31) a. I signorii chiedono se [loroi] possono venire da loroj.

“Die Herrschaften / siei fragen, ob siei zu Ihnenj (nach Hause) kommen können.”

b. I signorii chiedono se [loroj] possono venire da loroi.

“Die Herrschaften / siei fragen, ob Siej zu ihneni (nach Hause) kommen können.”

c. I signorii chiedono se [loroi] possono venire da loroi.

“Die Herrschaften / siei fragen, ob siei zu sichi (nach Hause) kommen können.”

d. I signorii chiedono se [loroj] possono venire da loroj.

“Die Herrschaften / siei fragen, ob Siej zu sichj (nach Hause) kommen können.”

e. I signorii chiedono se [lorok] possono venire da loroj.

“Die Herrschaften / siei fragen, ob siek zu Ihnenj (nach Hause) kommen können.”

f. I signorii chiedono se [lorok] possono venire da loroi.[39]

“Die Herrschaften / siei fragen, ob siek zu ihneni (nach Hause) kommen können.”

Das Pronomen loro bezieht sich entweder auf eine 3. Ps. Pl. (unbeteiligtenreferentielle Lesart: „zu ihnen“) oder auf eine 2. Ps. Pl. (höflich-deiktische Lesart: „zu Ihnen“)[40], woraus sich prinzipiell ambige Strukturen ergeben können. Diese Ambiguität tritt im Falle von voi nicht auf. In Beispiel (30) wäre also voi, vgl. (32), bezüglich der „Richtung“ der Einladung ein-deutig gewesen:

(32) I signori chiedono se possono venire da voi.

Durch den Ersatz von loro durch voi wird [loro] possono zugunsten der Lesart in (31a) dis-ambiguiert, da im selben Satz[41] nicht beide Höflichkeitsformen parallel koexistieren können. Die Möglichkeiten (31b-d,f)[42] (sowie auch (31g-h) in Fn. 39) entfallen also dadurch.

Abgesehen von eventuellen Ambiguitäten, die beim Gebrauch von loro auftreten können, gibt es noch zahlreiche distributionelle Restriktionen für loro, die nicht in gleichem Maße auf voi zutreffen (vgl. Ricciardi 1984: 218 ff.). So kann auf voi (bzw. voialtri) und loro wie in (33a) bzw. (33b) unmittelbar ein Numerale folgen. Lor signori kann jedoch in keinem Fall mit einem Numerale kombiniert werden, vgl. (33c):

(33) a. Voi tre / Voialtri tre dovreste partire con noi due.

b. Loro tre dovrebbero partire con noi due.

c. *Lor signori tre / *Tre lor signori / *Lor tre signori dovrebbero partire.

Weiterhin kann bei voi (bzw. voialtri) ein Substantiv auftreten, vgl. (34a), bei loro jedoch nicht, vgl. (34b):

(34) a. Voi / Voialtri uomini siete molto gentili.

b. *Loro uomini / *Lor signori uomini sono molto gentili.

Wird dieses Substantiv jedoch mit dem bestimmten Artikel als Apposition gebraucht, so sind hingegen beide Pronomina möglich:

(35) a. Voi / Voialtri, gli uomini, dovreste aiutarci.

b. Loro / Lor signori, gli uomini, dovrebbero aiutarci.

[...]


[1] Vom Bereich der non-verbalen Höflichkeit, beispielweise des Sich-Verbeugens, Händeschüttelns, Türaufhal-tens, Platzanbietens usw., soll im Folgenden abstrahiert werden.

[2] ‚Höflichkeit’ ist nach Haferland/Paul (1996: 7) insofern ein interpretativer Begriff, als unterschiedliche Situa-tionsteilnehmer bzw. Beobachter in der Beurteilung eines Falls von Höflichkeit unter Umständen mehr oder we-niger stark voneinander abweichen können.

[3] Oftmals kann Höflichkeit erst aus dem Kontrast mit einem Mangel an Höflichkeit, d.h. ex negativo begriffen werden. Ein ausbleibender Gruß erscheint als unhöflich, während ein erfolgter Gruß nicht unbedingt schon als höflich aufgefasst wird. Verhält man sich regelgerecht, gilt man noch nicht zwangsläufig als höflich; verstößt man jedoch gegen eine sozial verbindliche Konvention, fällt man als unhöflich auf (Haferland/Paul 1996: 27, 29). So würde z.B. die Verwendung des Anredepronomens você im europäischen Portugiesisch (im Gegensatz zum brasilianischen) anstelle eines erwarteten o/a senhor/a (Doutor/a etc. ) als unhöflich wahrgenommen, wohin-gegen eine situationsadäquate Anredeformwahl noch nicht unbedingt als höflich auffiele.

[4] Als mögliche Beispiele ließen sich das italienische pejorative Wortbildungssuffix -accio/-accia (vgl. 5.1) sowie einige Verwendungsweisen des Imperativs (vgl. 4.2.1) anführen.

[5] Für eine erste, intuitive Annäherung an den Begriff des face soll die auch im Deutschen geläufige Metapher des „Gesichtsverlustes“ bzw. der „Wahrung des Gesichts“ genügen.

[6] Eine Einordnung verfügbarer Höflichkeitsformen gemäß ihrer Höflichkeitsgrade auf einer solchen Skala kann meistens nicht in Form einer absoluten Einstufung erfolgen („unhöflich“, „höflich“, „sehr höflich“ etc.), sondern vielmehr in („schwächeren“) relativen Größen („ist höflicher / weniger höflich als“).

[7] Kröll (1993) führt für die Selbstbezeichnung im Portugiesischen bestimmte Ersatzformen für das Pronomen der 1. Ps. Sg. (eu) auf. Ein solcher Ersatz kann bescheiden wirken, da die eigene Person (scheinbar) „herabge-setzt“ wird. Dies ist im Portugiesischen z.B. der Fall bei Verwendung des eigenen Namens (o Manuel Facão) anstelle des Personalpronomens, bei (pro-)nominalen Ersatzformen wie um homem, a gente, uma pessoa, bei Verwendung der 3. Ps. (a boa da Amélia cá está), insbesondere mit Ausdrücken wie este seu (vosso) amigo, o rapaz, a minha graça, o filho de meu pai..., o tolo de mim, o perro de mim, o cachorro de mim..., o indígena, cá o meco usw. Vergleichbare Strategien lassen sich in ähnlicher Weise auch für das Italienische und andere Sprachen beobachten.

[8] Zu solchen Klischees gehören laut Yamashita (2000: 319 f.) beispielsweise folgende:

- Keigo ist charakteristisch für das Japanische,
- Keigo ist schön,
- wer Keigo richtig verwendet, ist attraktiv (betrifft insbesondere Frauen),
- wer Keigo beherrscht, zeigt seine Bildung,
- wenn man Keigo nicht beherrscht, ist das beschämend.

[9] Ein höherer Grad an Höflichkeit steigert für gewöhnlich die Aussichten beispielsweise auf Erfüllung einer Bitte. Höflichkeit „bindet“ den Gesprächspartner paradoxerweise umso mehr, je weniger sie dessen Handeln festzu-legen versucht.

[10] Auch Simon (2003: 73) verweist auf diese Regel, die sich bereits im Neuen Testament findet. Laut Nagatomo (1986: 109) antwortete Konfuzius einem seiner Schüler auf die Frage nach dem Wesen des sittlichen Verhaltens mit „[…] Was du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an.“.

[11] Indirekte Aufforderungen wie Da ist die Tür! machen die Intention des Sprechers sehr deutlich und sind alles andere als höflich (vgl. Haferland/Paul 1996: 23).

[12] Simon (2003: 72) bemerkt treffend, dass der schöne Schein folglich wohl genüge und führt ein Zitat Wilhelm Buschs an (ibd.):

Da lob ich mir die Höflichkeit

Das zierliche Betrügen.

Ich weiß Bescheid, du weißt Bescheid

Und allen macht’s Vergnügen.

[13] Aufgrund dieser beiden Bestimmungsfaktoren stellt sich in Japan bei einem ersten Treffen von Unbekannten das Problem, wie die jeweiligen Gesprächspartner herausfinden, wer als Ranghöherer bzw. -niedrigerer zu be-handeln ist. Fragen nach dem Alter, dem Einkommen oder dem Spesenkonto sowie das Austauschen von Visitenkarten sind daher in Japan ganz normal.

[14] Zum Begriff wakimae, der „the almost automatic observation of socially-agreed-upon rules“ (Hill et al. 1986: 348) beschreibt, vgl. Hill et al. (1986: 347 ff.), Held (1995: 101) und Ide (1993: 8).

[15] Die japanische Teezeremonie folgt beispielsweise einer derartig präzisen Regeleinhaltung. Demnach zeichnet sich eine Teemeisterin durch perfekte Regeleinhaltung aus.

[16] Was den sprachlichen Niederschlag der Höflichkeit, die Höflichkeitsformen anbelangt, sieht Shibatani (1990: 380) im japanischen Honorativsystem ein relatives, mit Betonung der relativen gesellschaftlichen Distanz zwischen den Gesprächspartnern, und im Gegensatz dazu im koreanischen ein absolutes System.

[17] Czachur (2004: 744) weist außerdem darauf hin, dass unter soziolinguistischen Gesichtspunkten die ge-bundene Anrede auf Dauer nicht weggelassen, die freie Anrede jedoch bei Unsicherheit vermieden werden kann.

[18] Hammermüller (1993b: 33 f.) verwendet hier das Bild des Anredenden, der seinem Gegenüber gewissermaßen nicht in die Augen zu sehen wagt. Dieses entspringt einer Art „linguistischer Metaphorik“, die „letztlich wohl nur historisch bzw. etymologisch zu motivieren“ und für eine systematisch-synchrone Betrachtungsweise „eher irreführend“ ist (ibd.).

[19] Niculescu (1966) untersucht beispielweise die exklusive Verwendung der 2. Ps. Sg. tu in einem Gebiet, dessen Zentrum die Abruzzen bilden (niedere soziale Schichten).

[20] Unbetonte werden durch betonte Objektformen ersetzt, wenn „besonderer Nachdruck“ auf den Personal-pronomina liegt, z.B. bei Hervorhebung und Gegenüberstellung (Ho visto te, non lei. / *Ti ho visto, non lei.), in Koordinationsstrukturen, in denen ein weiteres Objekt folgt (Ho parlato a lui e a sua moglie. / *Gli ho parlato e a sua moglie.) sowie nach allen Präpositionen (Parlavano di te / *ti.).

[21] Die beiden Möglichkeiten loro und gli beziehen sich nicht auf eine Unterscheidung zwischen Mask. und Fem., sondern sind Alternativen. Loro ist eigentlich die betonte Form des Objektpronomens der 3. Ps. Pl. und wird immer häufiger durch (das umgangssprachlichere) gli ersetzt. Zu beachten ist die unterschiedliche Stellung der Pronomina, die sich aus dem Unterschied betont vs. unbetont erklärt: vgl. Farò sapere loro l’ora del mio arrivo. vs. Gli farò sapere l’ora del mio arrivo.

[22] Eine Ausnahme stellt die Präposition com dar, die zusammen mit den betonten Objektpronomina eigene, meist kontrahierte Formen bildet: comigo, contigo, com ele / com ela, connosco, (convosco) / com vocês, com eles / com elas.

[23] Das Subjektpronomen vós (2. Ps. Pl.) ist veraltet und wird nur noch regional begrenzt, in der Kirche und gele-gentlich zu rhetorischen Zwecken verwendet. An dessen Stelle ist (das umgangssprachliche) vocês (+ Verb in der 3. Ps. Pl.) getreten.

Zu einer interessanten Parallele, nämlich dem Verlust von vosotros (Ersatz durch ustedes) im amerikanischen Spanisch und dessen (syntaktischen) Konsequenzen vgl. Company Company (1997).

[24] Beim Erstsprachenerwerb muss ein Kind herausfinden, ob die Sprache, der es ausgesetzt ist, eine Pro -drop-Sprache ist oder nicht, wofür offensichtlich bereits wenig Evidenz ausreicht.

[25] Einen Vergleich der portugiesischen und deutschen Possessiva bietet Sousa-Möckel (1997).

[26] Bei unklarer Referenz von suo wird dieses durch eine Präpositionalphrase di + betontes Objektpronomen ersetzt, wodurch die Referenz disambiguiert wird: vgl.

Carloi arriverà con sua mogliej e suoi/j padre. vs. Carlo arriverà con sua moglie e il padre di lei.

Annai è in montagna con il suo fidanzatoj e suai/j madre. vs. Anna è in montagna con il suo fidanzato e la madre di lui.

[27] Bei den Formen der 3. Ps. Sg. und Pl. (o seu, a sua, os seus, as suas) könnten Unklarheiten darüber entstehen, wer der „Besitzer“ ist. Wie später noch genauer zu erörtern sein wird (vgl. 3.1.3), dient die (morphologische) 3. Ps. im Portugiesischen (wie im Übrigen auch im Italienischen) der höflichen Anrede, so dass bei den genannten Formen der „Besitzer“ entweder der Angeredete oder ein Dritter sein kann. Für die Referenz auf Dritte wird daher normalerweise die Präposition de + betontes Objektpronomen gebraucht: dele, dela, deles, delas (zum Italienischen siehe auch Fn. 26): vgl.

o seu livro („Ihr Buch, sein/ihrSg./ihrPl. Buch“) vs. o livro dele („sein Buch“)

[28] Zur Wahl der Bezeichnung einer entsprechenden Kategorie mit ‚Höflichkeit’ (Schubert 1985) oder ‚Respekt’ (Simon 2003) siehe Einleitung.

[29] Bei den höflichen Anredepronomina existieren die beiden orthographischen Varianten der Groß- und Klein-schreibung: lei / Lei, loro / Loro, voi / Voi.

[30] Bei der gleichzeitigen Anrede zweier oder mehrerer Personen, für die man einzeln einerseits eine familiäre und andererseits eine formell-höfliche Anredeform wählen würde, ist nach Moretti (31996: 133) der Gebrauch von voi (anstelle von loro) obligatorisch: z.B. Voi due, tu, Carlo, e lei, signora Bianchi, dovreste sedervi qui, per favore. – Auch in der Geschäftskorrespondenz wird anstelle von loro normalerweise voi als höfliche Anrede gebraucht.

[31] Daneben findet sich ella, das als Anrede in literarischen Texten oder für hochstehende Personen z.B. in der Sprache der Bürokratie gebraucht wird: Ella, signor ministro, …

[32] Laut der Untersuchung von Danesi/Lettieri (1983: 331 f.) wird singularisches voi von höheren sozialen Schichten nie verwendet. Niedrigeren sozialen Schichten war diese Form jedoch bekannt; sie wurde von diesen als Zeichen des Respekts gegenüber Älteren eingestuft.

[33] Während des Faschismus wurde der Gebrauch der Höflichkeitsform lei aufgrund der fälschlichen Annahme deren ausländischen Ursprungs verboten. Stattdessen versuchte man 1938, voi durchzusetzen. Nach Serianni (1997: 188) führte dieser versuchte sprachpolitische Eingriff als Reaktion zu einer weiteren Verbreitung von tu.

[34] Zum dialektalen Gebrauch von singularischem voi und dessen Eindringen ins italiano regionale verschiedener Gebiete Italiens vgl. Rohlfs (1966-1969: §477).

[35] Nach Meinung der italienischen Soziolinguistik lässt sich als Tendenz beobachten, dass immer häufiger auch in formalen Situationen und mit unbekannten Gesprächspartnern die ursprünglich vertrauliche Anredeform tu verwendet wird. Dies lässt sich z.B. in Radiosendungen beobachten (vgl. Berruto 1989: 95).

[36] So auch in Alessandro Manzonis die jüngere italienische Sprachgeschichte in besonderem Maße prägendem Werk I Promessi Sposi.

[37] Nach Joseph (1987: 273) wird dies im Französischen dialektal durch zusätzliche Formen wie vous-autres bzw. im Englischen durch yous, you-all, you-ones, you-guys, you-people, you folks etc. auszugleichen versucht.

[38] Der Gebrauch von lei als Höflichkeitsform wiederum entstand wahrscheinlich um das 15. Jh. als Ersatzform für Vostra Signoria. Aus einem anfänglich koreferentiellen Einsatz entwickelte sich ein selbständiges Anrede-pronomen mit unmittelbar referentieller Gebrauchsmöglichkeit. Zuvor gab es als allererstes Höflichkeits-pronomen lediglich die Form voi + Sg. Vor der Einführung von loro während des 18. Jh. sah das Inventar der italienischen Anredepronomina demnach wie folgt aus (vgl. Ricciardi 1984: 204 f.): im Sg.: tu, voi, lei – im Pl.: voi. Die Einführung von loro ins Höflichkeitsparadigma war nach Ricciardi (ibd.: 206) eine Art Ausgleichs-reaktion auf die bereits bestehenden, wesentlich feineren Differenzierungsmöglichkeiten im Singular.

[39] Darüber hinaus ist in diesem speziellen Beispiel noch eine weitere Ambiguität gegeben, die hier jedoch eine untergeordnete Rolle spielt. Das Personalpronomen der 3. Ps. Pl. in der Präpositionalphrase da loro könnte nämlich außerdem noch Ersatzform für ein entsprechendes Reflexivpronomen (da sé) sein (vgl. 3.1.1):

(31) g. I signorii chiedono se [loroj] possono venire da loroj (= da séj).

“Die Herrschaften / siei fragen, ob Siej selbstj kommen können.”

h. I signorii chiedono se [loroi] possono venire da loroi (= da séi).

“Die Herrschaften / siei fragen, ob siei selbsti kommen können.”

[40] Hier sind Gesprächsrollen (1. Ps. = Sprecher, 2. Ps. = Angeredeter, 3. Ps. = weder Sprecher noch Ange-sprochener) gemeint und keine Ausprägungen der grammatischen Kategorie ‚Person’.

[41] Über die Satzgrenzen hinaus wäre dies laut Renzi (1988: 543) jedoch möglich (siehe weiter oben): Si accomodino. Che cosa desiderate?

[42] Davon unberührt verbleibt hier noch die Ambiguität aus (31e), da, wie oben, mit [loro] possono venire grundsätzlich auch eine dritte Gruppe gemeint sein kann (beispielsweise die Kinder der Freunde, die zu den Hausherren geschickt werden sollen).

Ende der Leseprobe aus 155 Seiten

Details

Titel
Formen der Höflichkeit in den romanischen Sprachen und im Japanischen
Hochschule
Universität Passau  (Lehrstuhl für Allgemeine Linguistik)
Note
1,1
Autor
Jahr
2005
Seiten
155
Katalognummer
V81940
ISBN (eBook)
9783638839983
ISBN (Buch)
9783638840415
Dateigröße
1589 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Formen, Höflichkeit, Sprachen, Japanischen
Arbeit zitieren
Thomas Strobel (Autor:in), 2005, Formen der Höflichkeit in den romanischen Sprachen und im Japanischen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81940

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