Ausgangspunkt Leerstelle

Eine Analyse der filmischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Albertina Carris "Los Rubios"


Hausarbeit, 2006

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Dokumentarfilm und Fiktionsfilm

3. Das argentinische Kino
3.1 Der argentinische Film bis 1983
3.2 Der argentinische Film nach 1983

4. Formale und inhaltliche Analyse von Los Rubios
4.1 Einsatz einer Schauspielerin
4.2 Die dokumentarische und die fiktionale Ebene
4.3 Animation und Fotos
4.4 Vom Persönlichen zum Allgemeinen

5. Schlussbetrachtung

Literaturliste

1. Einleitung

Seit dem Ende der Militärdiktatur in 1983 setzen sich immer wieder argentinische Filme mit dieser Zeit auseinander. Auch 23 Jahre später ist die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht abgeschlossen und sind die Folgen der Diktatur in der Gesellschaft spürbar. Tausende von Argentiniern verschwanden unter General Videla. Sie wurden festgenommen, gefoltert und ermordet, und ihre Angehörigen in der Unsicherheit gelassen, was mit ihnen passiert ist. Rechtsprozesse gegen die Verantwortlichen werden immer wieder blockiert, die juristische und politische Aufarbeitung der Militärdiktatur ist äußerst schwierig. Wie das Kino mit dieser traumatischen Vergangenheit und auch der gesellschaftlichen Gegenwart umgeht, möchte ich in dieser Hausarbeit en einem rezenten Beispiel, dem Film Los Rubios (2003) von Albertina Carri, analysieren. Die junge Regisseurin setzt sich auf eine innovative Weise mit den Folgen der Militärdiktatur und ihrem eigenen Schicksal auseinander. Der Ausgangspunkt des Films ist sehr persönlich. Albertina Carri war drei Jahre alt, als ihre Eltern 1977 verschwunden wurden. Ihr Vater Roberto Carri war Schriftsteller, Soziologe und Journalist, ihre Mutter Professorin für Literatur und Latein an der Universidad de Buenos Aires. Beide gehörten der peronistischen Guerilla Montoneros an. Auffällig am Film ist, dass Carri sowohl fiktive und dokumentarische Elemente als auch Animation kombiniert. In meiner Analyse werde ich diese verschiedenen Elemente beschreiben. Einer der wichtigsten Gesichtspunkte dabei ist, wie Albertina Carri die filmischen Möglichkeiten für die Aufarbeitung ihrer persönlichen Vergangenheit nutzt. In welchem Zusammenhang stehen Form und Inhalt, und welche Aussagen ergeben sich aus dieser Umsetzung? Bevor ich zu Los Rubios selber komme, werde ich als Hintergrund für die Analyse auf die Genres Dokumentation und Fiktion im Allgemeinen eingehen, und einen Überblick über das argentinische Kino geben.

2. Dokumentarfilm und Fiktionsfilm

Die Filmtheorie unterscheidet drei Erzählmodi: Fiktion, Dokumentation und Animation.[1] Es gibt Berührungspunkte zwischen diesen drei filmischen Formen, und sie werden oft auch innerhalb eines Erzählzusammenhangs miteinander kombiniert. Der Schwerpunkt der Analyse von Los Rubios liegt auf den dokumentarischen und fiktiven Elementen, daher werde ich auf diese Modi im Folgenden am ausführlichsten eingehen. Dies ist weiterhin notwendig, weil sich jene zwei am schwierigsten bestimmen lassen, und viele Kriterien auf beide anwendbar sind. Ein wichtiges Merkmal, mit dem sich die Modi voneinander abgrenzen lassen, ist ihr Verhältnis zur Realität, oder wie Knut Hickethier es in dem Standardwerk Film –und Fernsehanalyse nennt, zum vor-filmisch Realen.[2] Die Animation ist am unabhängigsten von der Wirklichkeit, sie modelliert sich ihre Realität selber. Der Fiktionsfilm dagegen spielt sich im Dekor der Realität ab. Das Setting gibt der Handlung für den Zuschauer Glaubwürdigkeit, die erzählte Geschichte hätte so geschehen können. Sie existiert jedoch nur im Film und nur als Film, nicht außerhalb davon in der realen Welt. Alles wird rein für die Kamera inszeniert, Schauspieler schlüpfen für die Dauer des Filmes in vorgegebene Rollen. Die Fiktion ist damit eine strukturierte, mimetische Narration.

Der Dokumentarfilm indessen bildet bestimmte Aspekte der uns umgebenden Welt mit der Intention ab, reale Zusammenhänge darzustellen oder zu untersuchen.[3] Das vor-filmisch Reale ist hier unabhängig vom Film, das Geschehen dem Film gegenüber autonom. Die gezeigten Personen, Orte und Sachverhalte existieren über die filmische Momentaufnahme hinaus weiter. Ein anderer Aspekt des Dokumentarfilms ist, dass die Kamera eine viel mehr beobachtende Position einnimmt als im Fiktionsfilm. Sie hat weniger Einfluss auf das Geschehen als die fiktive Kamera.[4] Dies ist allerdings nicht gleichzusetzen mit Objektivität. Zwar hat der Dokumentarfilm die Intention, Geschehnisse objektiv darzustellen und stellt den Anspruch, authentisch zu sein, er gibt jedoch nie die Realität eins zu eins wieder, sondern stellt immer eine Interpretation ihrer dar.[5] Der Film trifft eine Auswahl, indem er seinen in der Realität liegenden Ausgangspunkt in eine ästhetische Form bringt. Die Wirklichkeit wird in einer Erzählung organisiert und dargestellt in einer bestimmten Perspektive und damit gewertet. Bild, Schnitt und Dramaturgie ergeben eine durchgestaltete Auseinandersetzung mit einem Thema.[6] Bereits die Anwesenheit einer Kamera und eines Filmteams beeinflusst das Geschehen. Es ist im Dokumentarfilm üblich, die Mittel und die Art der Beeinflussung für den Zuschauer transparent zu machen, damit dieser sich selber ein Bild von der Authentizität der Bilder formen kann.[7] Beim Dokumentarfilm lassen sich weiterhin grundsätzlich drei verschiedene Vorgehensweisen unterscheiden. Erstens gibt es den Kompilationsfilm, der Archivmaterial sammelt und unter einem bestimmten Gesichtspunkt anordnet. Zweitens gibt es den Interviewfilm, in dem Zeitzeugen befragt werden, und drittens das Direct Cinema, bei dem Geschehnisse direkt aufgenommen werden, während sie passieren. Diese drei Strategien werden innerhalb eines Films oft miteinander kombiniert.[8]

Auch die Erzählmodi selber, insbesondere Dokumentation und Fiktion, werden in der Praxis immer öfter vermischt. Gängige Formen der Mischung sind zum Beispiel nachgestellte, fiktive Dokumentationen, dokumentarische Einschübe im Fiktionsfilm, Konstruktion einer Fiktion im Modus des Dokumentarischen und gleichberechtigtes Nebeneinander von Fiktion und Dokumentation.[9] Zu dieser letzten Form gehört das in den letzten Jahren sehr beliebt gewordene Dokudrama. Darin werden historisch belegbare Ereignisse von Schauspielern nachgespielt und neben dokumentarische Elemente wie Zeitzeugenberichte oder Archivmaterial gestellt. Die Geschichte wird auf diese Art für den Zuschauer erlebbarer, und in den fiktiven Teilen lassen sich die subjektive Gefühlswelt und Sichtweise der Protagonisten vermitteln.[10] Eine weitere besondere Form ist die Dokufiktion. Hier handelt es sich um eine fiktive oder spekulative Dokumentation, oder um Filme, die statt echter Aufnahmen gestellte verwenden. Die Übergänge zum Dokumentarfilm und zum historischen Spielfilm sind dabei fließend. Die Dokufiktion bietet dem Regisseur mehr gestalterische Freiheit als der klassische Dokumentarfilm, da die Szenen hier frei gestaltbar sind.[11]

Seit den 80ern Jahren kann die Filmindustrie einen bedeutenden Zuwachs in der Produktion von Dokumentarfilmen verzeichnen. Dies liegt zum einen an der einfacher zugänglichen und handhabbaren Technik. Es ist heutzutage viel mehr Personen möglich, einen Film zu machen. Dazu kommt auch eine bessere Förderung von Projekten, die finanzielle Barrieren abbaut. Ein weiterer Faktor ist ein wachsendes wissenschaftliches Interesse am Film im allgemeinen und am Dokumentarfilm im Speziellen.[12] Insbesondere in den Filmen dieser neuen Generation von Regisseuren geht der Trend immer mehr zu einer Vermischung der Formen. Die neuen Filme zeigen, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation nicht fest sind, sondern fließend und oft auch widersprüchlich, sie gehen sogar so weit, diese Abgrenzung grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit zusammen hängt eine Reflektion des Mediums Film an sich. Der Fokus liegt mehr darauf, die Widersprüchlichkeiten und verschiedenen Facetten der Wirklichkeit zu belichten, als zu versuchen, diese in ein klares Gesamtbild zu pressen. Auch untersuchen und benutzen die neuen Regisseure in viel größerem Maße die Möglichkeiten der Kamera. Letztendlich lässt sich noch feststellen, dass viel persönlichere Filme entstehen als vor einigen Jahrzehnten, die nicht davor zurückschrecken, einen individuellen Stil zu verfolgen.[13] Ein neues Genre, dass diese filmischen Tendenzen widerspiegelt, ist der Essayfilm. Es handelt sich dabei vor allem um eine kreative Auseinandersetzung mit der Realität.[14] Ein Thema wird mit einer viel poetischeren Struktur behandelt, als es im klassischen Dokumentarfilm üblich war. Dabei wird viel mit assoziativen Verknüpfungen und elliptischen Argumentationsformen gearbeitet. Oft wird eine Stimme aus dem Off eingesetzt, die aber anders als früher keine allgemeine Autorität und Objektivität beansprucht.[15]

3. Das argentinische Kino

Nach einer kurzen Auseinandersetzung mit den filmischen Modi an sich, soll nun auf das Kino in Argentinien eingegangen werden um zu zeigen, in welcher Tradition Los Rubios steht. Dabei spielen sowohl institutionelle als auch politische Aspekte eine Rolle. Besonders hervorgehoben werden soll die Entwicklung des Dokumentarfilms, und das Kino nach der Militärdiktatur. Ich orientiere mich dabei vor allem an zwei grundlegenden Texten, die einen guten Überblick über das Thema bieten; zum einen an dem Aufsatz von Markus Klaus Schäffauer in Argentinien heute, „Die Bürde der Repression und das neue argentinische Kino seit 1980“[16], zum anderen an Ricardo Manettis Aufsatz „Cine Testimonial“ in Cine argentino en democracia 1983/1993.[17]

3.1 Der argentinische Film bis 1983

Das argentinische Kino hat eine lange Tradition, und erlebt eine Blütezeit in den 1930er und 40er Jahren.[18] Ab den 1950er Jahren werden eine Vielzahl von Dokumentarfilmen produziert, und entwickeln sich verschiedene Strömungen. Anfangs entstehen relativ klassische Dokumentarfilme, die man dem Direct Cinema zuordnen kann, das Ereignisse festgelegt, während sie geschehen, und versucht, die Poesie des Augenblicks einzufangen. Einer der bekanntesten und kanonischsten argentinischsten Dokumentarfilme ist Tire dié von Birri de Litoral aus dem Jahr 1958. Der Film zeigt, wie Reisende in einem Zug von Kindern aufgefordert werden, ihnen 10 Centavos zuzuwerfen.[19] Ab den 1960er Jahren entwickelt der argentinische und generell der lateinamerikanische Dokumentarfilm eigene Elemente, und verschiebt sich der Akzent hin zu einem engagierten, politischen Kino. Film wird als eine Waffe gesehen im Kampf gegen Neokolonialismus und Kapitalismus. Das wohl bekannteste Beispiel dieses Genres ist La hora de los Hornos (1968) von Fernando E. Solanas. Der Film entsteht während der Militärdiktatur von General Onganía und klagt die politische und gesellschaftliche Situation im Land an. Solanas zeigt die Folgen des wirtschaftsliberalen Kurses für die Armen auf und kontrastiert deren Lebenswirklichkeit mit der der Reichen. Der vier Stunden lange Film kombiniert mehrer Stile und stellt nicht geringe Ansprüche an sein Publikum.[20]

Eine andere wichtige Richtung des argentinischen Dokumentarfilms ist das anthropologische Kino des Regisseurs Jorge Prelorán. Preloráns Filme spielen im ländlichen Argentinien, und ihre Akteure sind Indianer und Kreolen. Der Filmemacher versucht eine Momentaufnahme eines Ortes und einer Zeit an Hand von wenigen ausgewählten Personen. Er erweitert damit die Perspektive des Kinos durch einen neuen regionalen und sozialen Fokus, und macht die verschiedenen Wirklichkeiten Argentiniens im Film fühlbar.[21] Ähnlich arbeitet später in den 1980er Jahren die Gruppe Cine Testimonio, die unter anderem anthropologisch orientierte Dokumentarfilme dreht.

[...]


[1] Hickethier, Knut, Film-und Fernsehanalyse, 3. überarbeitete Auflage, Stuttgart: Metzler, 2001, S. 204

[2] Hickethier 2001, S. 192

[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Dokumentarfilm (eingesehen am 28.03.2006)

[4] Hickethier 2001, S. 193

[5] España, Claudia, Cine argentino en democracia 1983/1993. Buenos Aires: Fondo Nacional de las Artes, 1994, S. 260

[6] Bordwell, David und Kristin Thompson, Film Art. An Introduction. Sixth Edition. New York: McGraw-Hill, 2001, S. 110

[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Dokumentarfilm (eingesehen am 28.03.2006)

[8] Bordwell 2001, S. 112

[9] Hickethier 2001, S. 204-206

[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Doku-Drama (eingesehen am 28.03.2006)

[11] http://de.wikipedia.org/wiki/Dokufiktion (eingesehen am 28.03.2006)

[12] Barsam, Richard M., Nonfiction Film. A critical history. Bloomington: Indiana

University Press, 1992, S. 376-377

[13] Barsam 1992, S. 376

[14] Barsam 1992, S. 378

[15] Hickthier 2001, S. 203-204

[16] Schäffauer, Markus Klaus, “Die Bürde der Repression und das neue argentinische Kino seit 1980” in Bodemer, Klaus und Andrea Pagni und Peter Waldmann (Hrsg.), Argentinien heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main: Vervuert, 2002, S. 493-526

[17] Manetti, Ricardo, „Cine testimonial“ in España, Claudia, Cine argentino en democracia 1983/1993. Buenos Aires: Fondo Nacional de las Artes, 1994, S. 257-271

[18] Schäffauer in Bodemer 2002, S. 494

[19] Manetti in España 1994, S. 262

[20] Barsam 1992, S. 373

[21] Manetti in España 1994, S. 263

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Ausgangspunkt Leerstelle
Untertitel
Eine Analyse der filmischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Albertina Carris "Los Rubios"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Lateinamerika Institut)
Veranstaltung
Strategien zur Aneignung von Geschichte im Film
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V81934
ISBN (eBook)
9783638885485
ISBN (Buch)
9783638949088
Dateigröße
488 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschichte, Film, Argentinien, Militärdiktatur, desaparecidos, Verschwundene, Los Rubios, Dokumentarfilm, Vergangenheitsbewältigung, Trauma, Leerstelle
Arbeit zitieren
Anne Renner (Autor:in), 2006, Ausgangspunkt Leerstelle, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81934

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