Zum Problem der Hierarchie der Sinne

Historische und neuzeitliche Sinnesdefinitionen, -hierarchien und Versuch einer eigenen Hierarchisierung


Seminararbeit, 2006

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Abgrenzung des Untersuchungsgebiets
1.1. Definition der Sinne
1.2. Die menschlichen Sinne
1.3. Qualität der Wahrnehmung
1.4. Abgeleitete Hierarchien

2. Historische Hierarchisierungen

3. Versuch einer neuzeitlichen Hierarchisierung
3.1. Prozesse zwischen Urzeitmensch und Kant
3.2. Prozesse im 19. und 20. Jahrhundert
3.3. Einheit der Sinne und mögliche Ausfälle
3.4. Hierarchisierung nach Anteil an der Wahrnehmung

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung und Abgrenzung des Untersuchungsgebiets

In dieser Arbeit soll die Hierarchisierung der Sinneswahrnehmungen des Menschen untersucht und bewertet werden. Das Ziel ist, eine empirisch sinnvolle und möglichst aus allen Richtungen betrachtet akzeptable Gewichtung aller Sinne vorzunehmen. Nach einer Abgrenzung des Begriffs der menschlichen Sinne (Kap. 1.1. und 1.2.) sollen zunächst Hierarchien untersucht werden, die in der Vergangenheit existierten und andere, die auch aktuell existieren (Kap. 2.). Es soll versucht werden, diese in ihren jeweiligen Kontext einzuordnen und in ihrer Motivation zu verstehen. Schließlich soll eine für die heutige Zeit gültige Hierarchie gefunden werden (Kap. 3.).

Diese Arbeit verzichtet bewusst auf eine reine Auflistung der gegebenen historischen Hierarchisierungen und eine anschließende Aufzählung der Sinne, die jedem einzeln seine Wichtigkeiten und Unwichtigkeiten attestiert. Vielmehr versucht sie, aus den historischen Entwicklungen sowie den wissenschaftlichen Erkenntnissen und vor allem den bisher begangenen Fehlern zu lernen und eine Antwort auf die Frage zu finden, die in anderen Arbeiten zu diesem Thema durch reine Auflistungen und abschließende subjektive Fazite geschickt umschifft wurde: Welche Sinneshierarchie entspricht aktuell der Realität?

1.1. Definition der Sinne

Alle Lebewesen definieren sich und ihre Umwelt durch ihre Sinnesorgane, über die allein sie ihre Umgebung wahrnehmen und in Interaktion mit ihr treten können. Die Sinneswahrnehmung, speziell die der über größere Entfernungen wahrnehmenden Sinne (siehe dazu Kap. 2.) findet dabei über ein Medium statt. „Medien gibt es [...] schon immer. Sie sind die Träger jener Ereignisse, die unsere Sinne beeindrucken – Luft, Licht, Papier, was auch immer. Ohne Medien wären wir voneinander völlig isoliert, es gäbe nur die direkte körperliche Berührung.“[1] Die Sinnesorgane sind also die Eingabemechanismen in den Körper, während andere Teile des Körpers wie die Muskeln oder (besonders beim Menschen) die Stimmbänder Ausgabemechanismen darstellen, über die ein Lebewesen auf die über die Sinnesorgane wahrgenommenen und im Gehirn ausgewerteten Informationen reagiert. Ganz ähnliche Prozesse finden wir in der Informatik wieder. Jeder Studierende dieses Faches muss sich zu Anfang mit den Grundlagen der Computer-Hardware auseinander setzen, um seinen eigenen Aktionsrahmen zu erkennen und auf diese Weise nicht falsch auf bestimmte Signale der Geräte zu reagieren. Die Sinnesorgane eines Computers sind z.B. die Tastatur, die Maus, ein Scanner, Mikrofon oder eine Diskette. Der Prozessor ist sein Gehirn, und die verwerteten Informationen werden über den Monitor, Lautsprecher, Drucker oder wiederum auf eine Diskette ausgegeben. Dieses dem Säugetier-Wahrnehmungskreislauf ähnliche System erleichtert das Verständnis der Sinne des Menschen, weil er leicht aus größerer Distanz betrachtet werden kann als das System, das einem selbst innewohnt.

Jede Gattung von Lebewesen hat ihre eigenen Sinnesorgane, die an seine jeweilige Umwelt angepasst sind und oft erheblich von dem, was man sich als Mensch mit beschränkten Sinnen vorstellen kann, abweichen. So ist bekannt, dass Fische ein Seitenlinienorgan besitzen, mit dem sie Schwingungen des Wassers in großer Entfernung wahrnehmen können. Gleichzeitig können einige Fische aber keine optischen Signale wahrnehmen, weil sie an eine Umwelt ohne Licht in der Tiefsee oder in Höhlen angepasst sind und keine Augen besitzen. Tauben und viele Zugvögel verfügen über die Fähigkeit, das Magnetfeld der Erde wahrzunehmen und sich somit zu orientieren, und Zitteraale sind in der Lage, Freunde und Feinde anhand der sie umgebenden elektrischen Felder zu unterscheiden. Es existieren viele weitere Arten von mehr oder weniger exotischen Sinnen im Tierreich. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass die oft beschriebenen übersinnlichen Fähigkeiten mancher (oder in manchen Fällen aller) Menschen auf Überbleibsel der Evolution zurückzuführen sind, die aus tierischen Sinnen herrühren[2]. Dazu zählen auch Telepathie und Präkognition, die rezent weder bei Tieren noch bei Menschen nachgewiesen werden können, jedoch im Volksglauben bei manchen Menschen vorhanden sind. Alle diese Wahrnehmungsformen werden in dieser Arbeit nicht behandelt.

1.2. Die menschlichen Sinne

Der Mensch verfügt zwar über relativ viele, aber oft schwach ausgebildete Sinne (zu Unterschieden in der Wahrnehmungsintensität siehe Kap. 1.3.). Unstrittig scheint die Existenz von fünf Sinnen: des Sehens, Hörens, Fühlens, Riechens und Schmeckens. In einigen Werken der Physiologie ist dazu jedoch einiges mehr zu lesen[3]. So seien alle fünf Sinne nur eine Abwandlung der Hautoberfläche, die die jeweilige Sinneswahrnehmung ermöglichen, jedoch durch eine längere Phase der Evolution ebenso an anderen Körperstellen von anderen Hautpartien ausgebildet werden könnten, wenn dies vorteilhaft wäre. So sei die Zunge lediglich ein Hautfortsatz mit erweiterter Wahrnehmung, der zudem noch von der Nase unterstützt werden müsse, um dem Gehirn einen Geschmack zu signalisieren. Die Nase selbst verfüge über Sinneszellen, die in den letzten Generationen zunehmend schwächer ausgebildet seien; bei fortschreitender (durch den zivilisatorischen Fortschritt abschwächender) menschlicher Evolution sei eine weitere Abschwächung des Geruchssinns am ehesten zu erwarten. Das Trommelfell mit der Ohrmuschel, das dem Mensch die Wahrnehmung von Tönen ermöglicht, sowie die Netzhaut, die elektromagnetische Reize wahrnimmt, seien Abwandlungen der Hautoberfläche, die evolutionistisch am weitesten von der ursprünglichen Hautoberfläche entfernt seien. Jedoch seien auch sie noch in der Lage zu einer Fortentwicklung (siehe dazu Kap. 1.3. und Tab. 1).

Die Physiologie unterscheidet weitere Sinne[4], worunter vor allem der Gleichgewichtssinn nennenswert ist. Dieser in der Ohrhöhle angesiedelte Sinn ermöglicht die Wahrnehmung der eigenen Körperhaltung und ermöglicht so eine Orientierung im Raum. Tatsächlich findet der Gleichgewichtssinn durch ein eigenes Gleichgewichtsorgan im Innenohr statt, ferner jedoch über Wahrnehmungen des Auges, der Muskulatur und Gelenke (die muskelkontraktions- und reibungsfreie Bewegungen des Körpers wahrnehmen können), des Gehörs und des Tastsinns. Die Tatsache, dass der Gleichgewichtssinn zum Teil über ein eigenes Organ wahrgenommen und im Kleinhirn gesondert ausgewertet wird, gibt Anlass zu der Frage, ob er nicht als ein eigener Sinn in die Sinneshierarchie aufgenommen werden sollte. Als Gegenargument wäre zu nennen, dass er kulturell nicht bewertet wird und in den meisten Hierarchien ohnehin auf dem letzten Platz landen würde, da er primär dem Überleben und der Orientierung des Menschen in der Natur dient und in der zivilisierten Welt aufgrund möglicher Hilfestellungen durch Technik und Pflegedienste ersetzbarer ist als jeder andere Sinn. Er wird deshalb in dieser Arbeit nicht gesondert berücksichtigt, jedoch hiermit als „sechster Sinn“ vor allen übersinnlichen und weiteren physiologischen Sinneswahrnehmungen eingestuft.

Eine erweiterte Form des Gleichgewichtssinns sieht die Physiologie in der so genannten kinästhetischen Wahrnehmung, die eine Eigenwahrnehmung des Körpers und seiner Bewegungsrichtung ermöglicht. Diese Erfahrung ist vielen durch Fahrten in PKW, Zügen usw. bekannt; so ist besonders vor oder nach dem Schlafen in einem sich bewegenden Fahrzeug die Bewegungsrichtung meist deutlich zu spüren, auch wenn keine Kurve den Körper an eine begrenzende Wand drückt. So betrachtet ermöglicht der Gleichgewichtssinn besonders in Unterstützung durch die anderen Sinne und die Muskeln und Gelenke eine Wahrnehmung kinetischer Energie und ihrer Richtung, die ein Körper zeitweise innehat. Jedoch wird auch dieser Sinn aufgrund seiner diffusen Wahrnehmung im Körper und seiner relativen Unnötigkeit nicht in dieser Arbeit behandelt.

Der Vollständigkeit halber sei noch die wissenschaftlich gesondert geführte Wahrnehmung von Temperatur und Schmerz genannt. Diese werden besonders bei vielen Tieren außer über die Haut auch von tiefer unter der Haut liegenden Sensoren registriert. Beim Mensch hat diese zurück entwickelte Wahrnehmung jedoch keine Bedeutung gegenüber der der Haut. In einer Quelle[5] ist auch von einem Sinn für die Zeit zu lesen, außerdem seien die primären und sekundären menschlichen Geschlechtsorgane bereits zu einem Stadium entwickelt, in dem man durchaus über eine Art der Sinnesempfindlichkeit reden könne, da sie erotische Reize wahrzunehmen in der Lage sind[6].

Die klassische Fünfzahl der menschlichen Sinne ist also genau genommen nicht wissenschaftlich begründbar. Vielmehr handelt es sich um eine kultische bis religiöse Tradition der meisten Kulturen, dem Mensch fünf Sinne zuzuordnen. Robert Jütte schreibt dazu: „Nicht nur in der abendländischen Tradition ist die Fünfzahl der Sinne fest verankert. Auch in Indien und in China legte man sich bereits früh auf diese Zahl wegen ihrer Symbolik fest.“[7] Es ist also zwecklos, mehr als die klassischen fünf Sinne ordnen zu wollen, da dies historisch-wissenschaftlich keinerlei unterstützende Argumente finden würde. Aus diesem Grund behandelt diese Arbeit trotz der gegebenen biologischen Grundlagen nur die von allen Seiten anerkannten fünf „klassischen“ Sinne.

1.3. Qualität der Wahrnehmung

Nachdem eine Abgrenzung der Quantität der Sinne vorgenommen, ihre Anzahl also auf fünf reduziert wurde, soll jetzt kurz auf die qualitativen Aspekte der Wahrnehmung eingegangen werden. Es existieren große Unterschiede in der Menge der aufgenommenen Daten. So ist in Internetquellen zu lesen, dass die Menge der wahrgenommenen Informationen über die fünf Sinne in logarithmischer Abstufung statt findet. Danach werden „über den Gesichtssinn pro Sekunde etwa 10 Millionen Bit aufgenommen, über den Tastsinn etwa 1 Million Bit, über den Gehörsinn etwa 100000 Bit, über den Geruchssinn etwa 100000 Bit und über den Geschmackssinn etwa 1000 Bit“[8]. Das Problem liegt hier in der Umrechnung in Bits. Ein Bit ist in der Informatik eine Ja-Nein-Entscheidung oder die Information, ob es sich um eine 1 oder eine 0 handelt. Könnte das Auge also nur Schwarz oder Weiß wahrnehmen, wären es nach dieser Information pro Sekunde zehn Millionen Bildpunkte, die auf das Auge einströmen. In Wirklichkeit ist das Auge in der Lage, etwa 40000 Farben zu unterscheiden, wofür pro Bildpunkt etwa sechs Bit notwendig sind[9]. Diese Farbwahrnehmung wird im Auge über die sogenannten Zäpfchen vorgenommen, während eine zweite Form von Sinnesorganen des Auges, die Stäbchen, Hell-Dunkel-Kontraste wahrnehmen. Der Einfachheit halber rechnen wir hier mit vier Bit für die Kontrastunterscheidung, was 256 Helligkeitsstufen entspricht. Insgesamt unterscheidet das Auge zehn Millionen Bit pro Sekunde, also nach unserer vereinfachenden Rechnung etwa eine Million Bildpunkte, die auf das Gesichtsfeld verteilt werden. Das entspricht in etwa der Fähigkeit des Tastsinns, Informationen zu verarbeiten, jedoch ist der Tastsinn auf den gesamten Körper verteilt.

In der Natur macht es mehr Sinn, anstelle des Vergleichs der quantitativen Sinneswahrnehmung deren rezeptive Bereiche zu vergleichen[10]. So ist der Mensch in der Lage, über das Auge elektromagnetische Strahlung mit einer Wellenlänge von 360 bis 760 nm wahrzunehmen. Unterhalb dieses Wellenlängenbereichs sind beispielsweise einige Fledermausarten in der Lage, ultraviolettes Licht wahrzunehmen, das für den Mensch unsichtbar ist. Oberhalb von 760 nm beginnt ein Strahlungsbereich, den der Mensch stattdessen über die Haut als Wärmestrahlung wahrnimmt. Sehr viele Tierarten nehmen den genannten Strahlungsbereich gar nicht als Farben wahr, sondern nur als Abstufungen der Helligkeit, als schwarzweiße Farben.

[...]


[1] Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1994: 356.

[2] Eine Ausführung dieser These und mögliche Beweise für die Existenz eines sechsten Sinns beim Menschen finden sich in einer Veröffentlichung der Washington University: http://news-info.wustl.edu/news/page/normal/4767.html

[3] z.B. Schmidt/Schaible 2006; Gegenfurtner 2004.

[4] Ebd. und WFI („Sinn (Wahrnehmung)“).

[5] Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1994.

[6] Schmidt/Schaible 2006.

[7] Jütte 2000: 65.

[8] Quelle: WFI („Sinn (Wahrnehmung)“)

[9] 66 (Sechs hoch Sechs) Ja-Nein-Entscheidungen ergeben 46656 Unterscheidungen.

[10] Quelle des Abschnitts über rezeptive Bereiche: Rosner 2004 und WFI („Sinn (Wahrnehmung)“)

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Details

Titel
Zum Problem der Hierarchie der Sinne
Untertitel
Historische und neuzeitliche Sinnesdefinitionen, -hierarchien und Versuch einer eigenen Hierarchisierung
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft)
Veranstaltung
Niedere Sinne. Zur Erforschung vernachlässigter Wahrnehmungsformen
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V81677
ISBN (eBook)
9783638875608
ISBN (Buch)
9783638877152
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Problem, Hierarchie, Sinne, Niedere, Sinne, Erforschung, Wahrnehmungsformen
Arbeit zitieren
Benjamin Pape (Autor:in), 2006, Zum Problem der Hierarchie der Sinne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81677

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