Eingewöhnungskonzepte in der Krippenerziehung

Bestandsaufnahme in Aachen und Möglichkeiten der Konzeptimplementation in Kindertagesstätten


Diplomarbeit, 2007

106 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Bindungstheorie
2.1 Geschichte der Bindungsforschung
2.2 Grundlagen der ethologischen Bindungstheorie
2.2.1 Definition von Bindung und erste Grundlagen
2.2.2 Bindungsverhalten
2.2.3 Bindungs-, Explorationsverhalten und die sichere Basis
2.2.4 Das Bindungs- und Fürsorgesystem
2.2.5 Phasen der Bindungsentwicklung
2.2.6 Unterschiedliche Bindungsmuster
2.2.6.1 Erste Entdeckungen
2.2.6.2 Der Fremde-Situation-Test
2.2.6.3 Die vier Bindungsmuster
2.2.6.4 Stabilität der Bindungsqualität
2.2.6.5 Interkulturelle Unterschiede
2.2.7 Einflussfaktoren zur Bindungssicherheit
2.2.8 Unterschiedliche Bindungspersonen
2.3 Zusammenfassung

3 Forschungsergebnisse zur Eingewöhnung in der Krippenerziehung
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Eingewöhnung ohne Beteiligung der Eltern
3.3 Auswirkungen der Eingewöhnung ohne Beteiligung der Eltern
3.3.1 In Bezug auf die Kinder
3.3.2 In Bezug auf ErzieherInnen und andere Betreuungspersonen
3.4 Beteiligung der Eltern an der Eingewöhnung in die Krippe
3.5 Zum Zusammenhang zwischen kindlichem Bindungsmuster und Krippeneintritt

4 Zwischenbilanz: Was muss demnach bei der Eingewöhnung von Kleinkindern beachtet werden?

5 Sichtung bestehender Eingewöhnungskonzepte in Deutschland
5.1 Vorbemerkungen
5.2 Das „Berliner Modell“ nach Laewen, Andres und Hédervári (2003)
5.2.1 Grundlagen des „Berliner Modells“ nach Laewen, Andres und Hédervári (2003)
5.2.2 Die fünf Stufen des „Berliner Modells“ nach Laewen, Andres und Hédervári (2003)
5.3 Das Beziehungsdreieck nach Laewen und Andres (1993)
5.4 Leitlinien zur Kooperation von Eltern und ErzieherIn nach Berry (1993)
5.5 Erfahrungen mit dem „Berliner Modell“

6 Bestandsaufnahme in Aachen
6.1 Vorbemerkungen
6.2 Vorbereitung und Durchführung der Umfrage
6.3 Auswertung der Fragebögen
6.4 Auswertung der Experteninterviews
6.5 Gesamtergebnisse
6.6 Vermutungen aufgrund der Gesamtergebnisse
6.7 Fazit (Was könnte man daraus schließen?)

7 Möglichkeiten der Umsetzung des „Berliner Modells“ in Aachener Kitas
7.1 Vorbemerkungen
7.2 Zielgruppen in Aachen
7.3 Allgemeine Ziele
7.4 Möglicher Aufbau der Veranstaltungen
7.4.1 Eine Fortbildung für pädagogische Fachkräfte
7.4.2 Eine Informationsveranstaltung für Eltern
7.5 Welche Chancen könnten die Veranstaltungen eröffnen?
7.6 Bedingungen zur Realisierung meiner Ideen in Aachen
7.7 Zukunftsperspektive

8 Schlusswort

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Videomaterial

Anhang

1 Einleitung

Das Thema der hier vorliegenden Diplomarbeit ist vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit für frühkindliche Bildung und Erziehung zu sehen. Politische Anstrengungen für eine Professionalisierung der vorschulischen Erziehung sind gestiegen und auch Forschungsbemühungen im Bereich der Frühpädagogik nehmen stetig zu.

Während es sich auf den ersten Blick bei meinem Thema „Eingewöhnungskonzepte in der Krippenerziehung“ eher um ein Thema der Elementarpädagogik handelt, gibt es viele Gründe, sich als Sozialpädagogin mit der Frage einer professionellen Eingewöhnung in der Krippenerziehung zu beschäftigen.

Viele SozialpädagogInnen leiten heute beispielsweise Kindertagesstätten oder gründen privat eine Betreuungseinrichtung für Kleinkinder. Gerade für LeiterInnen einer Kindertagesstätte ist es wichtig, über ein vielseitiges Wissen zur angemessenen Eingewöhnung von Kindern zu verfügen. Fortbildungen zu dieser Thematik werden im Raum Aachen kaum angeboten und könnten daher als ein zukunftsträchtiges Tätigkeitsfeld für SozialpädagogInnen interessant werden, insbesondere vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über die Qualität von Kindertagesstätten und der Weiterentwicklung im Bereich der Vorschulerziehung.

Auch im Bereich der familiären Tagespflege dürfte sich in Zukunft eine zertifizierte Ausbildung von Tagesmüttern wohl zum Standard entwickeln und ebenfalls ein für SozialpädagogInnen interessantes Tätigkeitsfeld darstellen.

Des Weiteren wird eine Akademisierung der ErzieherInnenausbildung angestrebt und innerhalb des an der Katholischen Fachhochschule angebotenen Bachelor-Studienganges „Bildung und Erziehung im Kindesalter“ soll die Darstellung professioneller Eingewöhnungskonzepte in die Ausbildung von SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen integriert werden.

Das Qualifikationsniveau pädagogischer Fachkräfte steigt an und Kenntnisse zur professionellen Gestaltung der Eingewöhnung in der Krippenerziehung könnten heute als Qualitätsmerkmal früher Tagesbetreuung angesehen werden.

Außerdem lässt sich ein Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren bestätigen, wodurch der Frage nach einer professionellen Eingewöhnung in der Krippenerziehung mehr Beachtung geschenkt werden könnte. Während zur Zeit die Versorgung durch Krippenplätze vor allem im Westen Deutschlands mangelhaft ist und in Nordrhein-Westfalen nur für etwas mehr als 3% der unter Dreijährigen Betreuungsplätze vorhanden sind (www.spiegel.de, 2006), soll das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Tagesbetreuungsausbaugesetz dem entgegenwirken und die Kommunen verpflichten, mehr Betreuungsmöglichkeiten zu schaffen. Demnach soll die Anzahl der Krippenplätze bis zum Jahre 2010 von 60.000 Plätze (2005) auf 230.000 Krippenplätze steigen (www.ukaachen.de, 2006).

Hierbei spielen vor allem gesellschaftliche Faktoren eine Rolle, denn zum einen sind gerade in der heutigen Zeit, in der fast 40% der geschlossenen Ehen geschieden werden (Meyer, 2002), alleinerziehende Mütter und Väter auf die Krippenbetreuung ihrer Kinder angewiesen. Zum anderen gibt es viele Familien, die von einem Einkommen nicht leben können. Daher müssen zahlreiche Mütter aus finanziellen Gründen arbeiten, können ihr Kind nicht bis zum 3. Lebensjahr betreuen und benötigen eine geeignete Betreuungsmöglichkeit für ihr Kleinkind. Außerdem könnte ein längerer Ausstieg aus dem Beruf die Karrierechancen einiger Mütter reduzieren (Geißler, 2002).

Vor diesem Hintergrund gibt es ausreichend Gründe sich als Sozialpädagogin mit der hochaktuellen Frage einer professionellen Eingewöhnung von Kindern unter drei Jahren in Kindertagesstätten zu beschäftigen.

Meine Diplomarbeit verfolgt folgende Ziele:

Im Anschluss an diese Einleitung folgt im zweiten Kapitel eine Überblick über bindungstheoretische Grundlagen.

Im dritten Kapitel geht es um die Darstellung konkreter Forschungsergebnisse zur Eingewöhnung in der Krippenerziehung und Auswirkungen der Eingewöhnung ohne eine angemessene Beteiligung der Eltern.

Kapitel vier dient einer Zwischenbilanz, in der zusammengefasst wird, was aufgrund bindungstheoretischer Grundlagen und aktueller Forschungsergebnisse zur Eingewöhnung in der Krippenerziehung bei der heutigen Gestaltung der Eingewöhnung von Kindern unter drei Jahren beachtet werden sollte.

In Kapitel fünf folgt schließlich die Sichtung bestehender Eingewöhnungskonzepte in Deutschland und eine ausführliche Darstellung des „Berliner Modells“.

Im Anschluss daran dient Kapitel sechs der Auswertung einer Bestandaufnahme in Aachen zur Gestaltung der Eingewöhnung.

Darauf aufbauend geht es in Kapitel sieben um die Möglichkeiten der Konzept-implementation in Aachener Kindertagesstätten und die Berufsperspektive, die sich dadurch für SozialpädagogInnen eröffnen könnte.

Lesehinweis:

Wenn ich in meiner Diplomarbeit von Kleinkindern schreibe, sind damit Kinder unter drei Jahren gemeint.

Ich verwende meist die Bezeichnung Kindertagesstätte oder Kinderkrippe. Damit sind auch Kindergärten, Tagespflegestellen und andere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren mit eingeschlossen.

Die Personenbezeichnung der ErzieherIn steht häufig stellvertretend für unterschiedliche pädagogischen Fachkräfte, die in der Kleinkindererziehung tätig sind (SozialpädagogInnen, KinderpflegerInnen, Tagesmütter etc.).

2 Die Bindungstheorie

2.1 Geschichte der Bindungsforschung

Bis zur Mitte des 20. Jahrhundert war die Psychoanalyse mit ihren vielen Varianten und Denkschulen die einzige Disziplin, die sich mit der systematischen Untersuchung von Emotionen und Beziehungen befasste (Bowlby, 1991).

Sigmund Freud führte innerhalb der Psychoanalyse die Technik ein, den Aufmerksamkeitsfokus auf die Beziehungen zu richten, die Patienten während der Behandlung zu ihren Therapeuten aufbauen. Er formulierte die Theorie, dass Patienten in der Beziehung mit ihren Therapeuten in der Übertragung dazu neigen, genau die Probleme zu schaffen, die sie in ihren anderen persönlichen Beziehungen belasten und dass diese problematischen Muster ursprünglich während der Kindheit in der Beziehung mit den Eltern festgelegt wurden. Die Betonung lag bei Freud auf der sexuellen Komponente von Beziehungen, weitgehend daher, da viele seiner Patienten schwerwiegende Probleme in sexuellen Beziehungen hatten. Freud stellte fest, dass die früheste Beziehung im Leben jeder Person die Beziehung zu seiner Mutter ist und kam zu der Überlegung, dass dies zugleich jene Beziehung ist, die Vorbild für spätere Liebesbeziehungen ist, unabhängig vom Geschlecht der Person (Freud, 1931, zit. nach Bowlby, 1991).

Diese Sicht Freuds, dass die emotionale Bindung des Säuglings an seine Mutter die Grundlage für alle späteren Beziehungen darstellt (Berk, 2005), wurde Schritt für Schritt in der psychotherapeutischen Welt anerkannt (Bowlby, 1991).

In der Vergangenheit stand die Bindungstheorie im Kreuzfeuer heftiger theoretischer Debatten.

In der Psychoanalyse gilt das Füttern als primärer Grund dafür, dass die Bezugsperson und der Säugling ein emotionales Band knüpfen (Berk, 2005). Ebenso betont der Behaviorismus die Bedeutung der Fütterungssituation, bei der die Mutter den Hunger des Kindes befriedigt, wobei der Säugling lernt, ihr sanftes Streicheln, ihr warmes Lächeln und ihre tröstenden Worte zu schätzen, da diese Ereignisse mit der Herabsetzung des Erregungszustandes gekoppelt sind (Berk, 2005).

Ein berühmtes Experiment mit Rhesusaffen nach Harlow zeigte in den fünfziger Jahren jedoch, dass Bindung nicht abhängig von der Befriedigung des Hungers ist (Harlow & Zimmermann, 1959, zit. nach Berk, 2005). Rhesusaffen, die mit einer Handtuch- und einer Drahtgeflecht-Ersatzmutter aufgezogen wurden, klammerten sich an den weichen Handtuchersatz, obwohl sie über die Drahtgeflecht-Mutter gefüttert wurden. Besonders bei angstauslösenden Reizen suchten die Rhesusaffen Schutz und Trost beim weichen Handtuchersatz. Dieses Experiment nach Harlow wird häufig als Beleg dafür genannt, dass angeborene Verhaltensmuster das Bindungsverhalten beeinflussen (Jungbauer, 2005a).

Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte John Bowlby (1907-1990) schließlich die ethologische Bindungstheorie, welche die biologische Veranlagung von Kindern postuliert, Bindungen zu Versorgungspersonen aufzubauen, um dadurch die eigenen Überlebenschancen zu erhöhen (Siegler, DeLoache, & Eisenberg, 2005). Seine Arbeiten wurden durch seine Studentin Mary Ainsworth erweitert und wissenschaftlich überprüft.

Bowlby nahm nach einem Praktikum in einem Kinderheim das Studium der Medizin in London auf und wurde Kinderpsychiater und Psychoanalytiker. Vom Beginn seiner beruflichen Laufbahn an beschäftigte sich Bowlby mit der generationsübergreifenden Weitergabe von Bindungsbeziehungen und der Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung. 1948 gründete er eine eigene Forschungsgruppe zur Untersuchung der Trennung von Mutter und Kind, der sich Ainsworth später anschloss (Bertherton, 2002). Bowlby entdeckte die Tatsache, dass ein kleines Kind bei einer Trennung von der Mutter sehr verzweifelt ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als seine Mutter wiederzuhaben und stellte sich die Frage, worin die Natur dieses engen Bandes zwischen Mutter und Kind besteht. Die Theorie, dass ein Kind aufgrund der Ernährung durch die Mutter zu dieser ein emotionales Band aufbaut, reichte Bowlby nicht aus (Bowlby, 1991).

Durch eine Studie von Lorenz über die Prägung junger Wildgänse wurde Bowlby angeregt und fand heraus, dass der menschliche Säugling, wie auch die Jungtiere aller anderen Tiergattungen, von Geburt an über eine Reihe von Verhaltensweisen verfügen, die dafür sorgen, dass die Eltern in der Nähe bleiben, um den Nachwuchs vor Gefahr zu schützen und ihn bei der Exploration und Bewältigung der Umwelt zu unterstützen (Waters & Cummings, 2000, zit. nach Berk, 2005).

Mary Ainsworth (1913-1999) studierte Psychologie und wurde Anfang der 50er Jahre in die Forschungsgruppe von Bowlby aufgenommen. 1954 begann Ainsworth ihre Forschung mit 28 noch nicht entwöhnten Babys und deren Müttern in Uganda. Hier beobachtete sie das Interaktionsverhalten und fragte die Mütter nach Art der Säuglingspflege und Entwicklung des Babys. Sie unterteilte die Babys aufgrund ihrer Reaktionen gegenüber der Bindungsperson in drei Gruppen, woraus sie nach vielen weiteren Forschungen verschiedene Bindungsmuster postulierte (Ainsworth & Bowlby, 1991).

2.2 Grundlagen der ethologischen Bindungstheorie

Heute ist die ethologische Bindungstheorie eine allgemein akzeptierte Theorie. Die emotionale Bindung des Säuglings an seine Bezugsperson wird als eine in der Evolution entstandene Reaktion betrachtet, die dem Überleben dient (Berk, 2005).

2.2.1 Definition von Bindung und erste Grundlagen

Bowlby stellte 1958 fünf Grundannahmen seiner Bindungstheorie in seinem Aufsatz „The nature of the child`s tie to his mother“ vor, die folgendermaßen lauten:

1. „Bei der Bindung handelt es sich um ein wesentliches Merkmal der Eltern-Kind-Beziehung.
2. Die Bindungsbeziehung ist zu unterscheiden von Abhängigkeit.
3. Bindung ist biologisch fundiert.
4. Die Erfahrungen des Kindes mit seinen Bindungspersonen findet ihren Niederschlag in psychischen Repräsentationen.
5. Bestimmte Repräsentationen von frühen Bindungserfahrungen weisen einen Zusammenhang auf mit späteren pathologischen Auffälligkeiten.“

(zit. nach Schleiffer, 2001, S. 30)

Nach Ainsworth und Bowlby kann Bindung definiert werden als ein gefühlsmäßiges Band, welches eine Person oder ein Tier zwischen sich selbst und einem bestimmten anderen knüpft (Ainsworth & Bell, 1970). Dieses Band verbindet sie räumlich und dauert zeitlich an.

Bindung ist gekennzeichnet durch ein Verhalten, das darauf zielt, einen bestimmten Grad von Nähe zu dem Objekt der Bindung herzustellen und aufrecht zu erhalten, wobei dieses Verhalten den Umständen entsprechend von nahem körperlichen Kontakt bis zur Kommunikation über größere Entfernung reichen kann (Ainsworth & Bell, 1970).

Diese Verhaltensweisen werden als Bindungsverhalten bezeichnet und können beim menschlichen Kind z.B. durch Nachfolgen, Anklammern, Annäherung oder Signalverhalten wie Lächeln, Weinen und Rufen zum Ausdruck kommen (Ainsworth, Bell & Stayton, 1974).

2.2.2 Bindungsverhalten

Nach Bowlby (1991) entwickelt sich zwischen Mutter und Kind fast immer ein affektives Band, als Folge von im Kind vorprogrammierten Verhaltensmustern, die sich schnell und gezielt auf die Person richten, die sich um es kümmert. Der Effekt dieser Aktivierung ist nach Bowlby das Zusammenhalten und Zusammenbringen von Mutterperson und Kind. Dieses Verhalten, das Weinen und Rufen, Nachlaufen, Berühren und Anklammern, sowie auch heftigen Protest, immer wenn das Kind alleine oder bei Fremden zurückbleibt, beinhaltet, wird Bindungsverhalten genannt.

Mit zunehmendem Alter des Kindes verringern sich Häufigkeit und Intensität des Bindungsverhaltens (Bowlby 1991).

Nach Bowlby wird als Bindungsverhalten „jede Form von Verhalten aufgefasst, die darauf hinausläuft, dass eine Person zu einer anderen unterschiedenen und vorgezogenen Person Nähe erlangt oder aufrechterhält.“ (zit. nach Bowlby, 1987, S. 57). Wenn die Bindungsfigur erreichbar ist, besteht dieses Verhalten eventuell aus gelegentlichem Schauen oder Horchen. Bei Bedingungen, wie Fremdheit, Erschöpfung oder Unerreichbarkeit der Bezugsperson, reagiert ein Kind mit heftigerem Bindungsverhalten in Form von Weinen, Nachlaufen und Berühren. Nur bestimmte andere Faktoren, wie z.B. eine vertraute Umgebung oder die Erreichbarkeit der Bindungsperson, können diese Reaktionen beenden (Bowlby, 1989). Dabei hat das Bindungsverhalten eine wichtige biologische Funktion: die des Schutzes (Bowlby 1980a).

Laut Bowlby (1991) ist Bindungsverhalten verschieden von Fütterverhalten und Sexualverhalten und im menschlichen Leben mindestens ebenso bedeutsam. Im Verlauf einer gesunden Entwicklung führt es zum Entstehen von affektiven Banden und Bindungen, anfangs zwischen Kind und Elternteil, später dann zwischen Erwachsenen. Es ist das gesamte Leben gegenwärtig und aktiv und beschränkt sich nicht nur auf die Kindheit (Bowlby, 1991).

Fürsorgeverhalten ist komplementär zum Bindungsverhalten und wird gewöhnlich von Eltern oder anderen Erwachsenen gegenüber einem Kind gezeigt, kann aber auch zwischen zwei Erwachsenen entstehen, z.B. wenn ein Erwachsener krank oder alt ist und Pflege benötigt (Bowlby, 1991).

2.2.3 Bindungs-, Explorationsverhalten und die sichere Basis

In gewohnter Umgebung ist es nach Ainsworth, Bell und Stayton (1974) für ein Kind üblich die Mutter ungehindert zu verlassen, um zu explorieren. In solchen Situationen ist das Explorations- und Spielverhalten des Kindes intensiv aktiviert und Bindungsverhalten wird nur in geringem Maße gezeigt. Das Kind toleriert einen größeren Abstand von der Mutter, wobei das Bindungsverhalten jederzeit intensiviert werden kann, z.B. wenn die Mutter die vom Kind tolerierte Distanzgrenze überschreitet und das Haus verlassen möchte oder wenn das Kind sich vor irgendetwas erschreckt. In einem solchen Fall wird laut Ainsworth, Bell und Stayton (1974) die Balance zwischen Explorations- und Bindungssystem weg von der Exploration und hin zur Suche nach Nähe zur Bindungsperson kippen.

Das Explorationsverhalten erfolgt aufgrund einer im Kind genetischen Voreinstellung, die das Kind zum Explorieren der Umwelt veranlasst. Das Bindungsverhalten bewirkt, dass das Kind sich dabei nicht zu weit von seiner Bezugsperson entfernt, die es bei Gefahr beschützen kann. Diese Dynamik wurde nicht nur bei der menschlichen Spezies beobachtet, sondern z.B. auch von Harlow (1965) bei am Boden lebenden Primaten entdeckt (Ainsworth, Bell & Stayton 1974).

In der Zeit, in der das Explorationsverhalten des Kindes aktiviert ist, stellt die Bindungsperson eine sichere Basis für das Kind da. Ihre bloße Anwesenheit oder ihre sofortige Erreichbarkeit stellen nach Bowlby (1980a) Bedingungen her, die es dem Kind ermöglichen, mit Zuversicht die Welt zu erkunden. So wird beispielsweise ein etwa zweijähriges Kind, dessen Mutter im Gartenstuhl sitzt, den Garten erkunden, wobei es jedes Mal zu ihr zurückkehrt, bevor es den nächsten Ausflug beginnt (Bowlby, 1980a).

2.2.4 Das Bindungs- und Fürsorgesystem

In der Bindungstheorie unterscheidet man zwischen einem Bindungssystem auf Seiten des Säuglings und einem Fürsorgesystem auf Seiten der Bindungsperson (Bowlby, 1991). Während das Bindungssystem große Aufmerksamkeit durch die Forschung erhielt, steht das Fürsorgesystem erst seit einigen Jahren im Mittelpunkt des Interesses (Lohaus, Ball & Lißmann, 2004).

Wie schon beschrieben zielt das Bindungssystem darauf, dem Säugling Nähe und Sicherheit seitens der Bezugsperson zu gewährleisten.

Nach Lohaus, Ball und Lißmann (2004) ist das Fürsorgesystem auf Seiten der Bindungsperson darauf ausgerichtet, durch geeignete Fürsorgeverhaltensweisen (wie z.B. Streicheln, Aufnehmen und Wiegen des Kindes) diese Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit zu befriedigen. Dazu greift die Bezugsperson auf ihr inneres Arbeitsmodell zurück, in welchem eigene frühere Fürsorgeerfahrungen gespeichert sind, und wählt dort ein geeignetes Fürsorgeverhalten aus. Hierbei spielen laut Lohaus, Ball und Lißmann auch eigene Bindungserfahrungen der Eltern eine Rolle. Aufgrund verschiedener Soll- und Ist-Zustände im Bindungs- und Fürsorgesystem können sich Konfliktpotenziale ergeben. Dies wäre der Fall, wenn bei einer Bindungsperson verschiedene Ziele in Konkurrenz stehen, z.B. die Bedürfnisbefriedigung des Säuglings in Konkurrenz zu Zielen anderer Lebensbereiche (Lohaus, Ball & Lißmann, 2004).

Papoušek und Papoušek (1987, 2002; zit. nach Lohaus, Ball & Lißmann, 2004) entwickelten den Ansatz des sogenannten intuitiven Elternprogramms. Gestützt auf ein evolutionsbiologisches Konzept wird dabei davon ausgegangen, dass komplementär zu den frühen Interaktionsfähigkeiten des Kindes ein entsprechendes Elternverhalten aktiviert wird. Danach werden bestimmte Verhaltensweisen von den Eltern intuitiv eingesetzt oder entstehen spontan in der Interaktion mit dem Kind, deren Ziel die Förderung der kognitiven und sozialen Entwicklung des Kindes ist. Zentrale Komponenten des intuitiven Elternverhalten nach Papoušek und Papoušek sind (vgl. Lohaus, Ball & Lißmann, 2004):

- Einhalten eines optimalen Reaktionszeitfensters (Eltern reagieren schnell auf die Signale des Säugling. Der Säugling erlebt so die Konsequenz eigenen Handelns.)
- Verbales und präverbales Verhalten der Eltern (Bsp. Reaktion auf kindliche Vokalisationen als Hilfe bei der Lautbildung.)
- Herstellen und Aufrechterhalten von Blickkontakt (Eltern halten häufig Blickkontakt mit dem Säugling, so unterstützen sie die frühe Verhaltensregulation des Säuglings.)
- Regulation des Wachheits- und Erregungszustandes (Eltern kommentieren den Aufmerksamkeitsstatus des Kindes und erhalten ihn aufrecht, z.B. Streicheln des Kindes, wenn die Erregung zu hoch geworden ist.)

2.2.5 Phasen der Bindungsentwicklung

Nach Bowlby entwickelt sich Bindung in vier Phasen (vgl. Berk, 2005):

1. Die Vorbindungsphase (Geburt - 6.Woche): Bevor eine Bindung zustande kommt helfen dem Säugling angeborene Signale, wie Greifen, Lächeln, Weinen oder Augenkontakt mit dem Erwachsenen, einen engen Kontakt zu anderen Menschen aufzubauen. Der Säugling wird durch die Nähe des Erwachsenen beruhigt und versucht, ihn bei sich zu halten. Die Mutter kann in dieser Phase bereits durch Geruch und Stimme erkannt werden. Der Säugling zeigt jedoch eine unterschiedslose Ansprechbarkeit bei verschiedenen Personen.
2. Die Phase des Bindungsbeginns (6.Woche – 6./8.Monat): Die Bindung entwickelt sich und das Baby reagiert auf Bezugspersonen anders als auf Fremde, z.B. lächelt es die Mutter eher an als unbekannte Personen und lässt sich von der Mutter schneller beruhigen. Dennoch protestiert es bei Trennung von der Mutter nicht. Der Säugling beginnt ein Gefühl von Vertrauen zu entwickeln, wenn er lernt, dass seine Handlungen das Verhalten der Mutter beeinflussen können. Es entsteht die Erwartung, dass die Bezugsperson auf bestimmte Signale des Kindes reagiert.
3. Die Bindungsphase (6./8.Monat – 18.Monat/2.Lebensjahr): Die Bindung ist nun gut erkennbar. Wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, wird das Kleinkind häufig unruhig und zeigt Trennungsangst. Neben Protest bei Trennung von der Mutter versuchen die Kleinkinder dieser nachzufolgen oder an ihr hochzuklettern. Die Kinder beginnen ihre Bindungsperson als sichere Basis zu nutzen, von der aus sie die Welt erkunden können und die ihnen bei Stressoren hilft das innere Gleichgewicht wiederzufinden, also emotionale Unterstützung bietet.

Ainsworth (1964) entdeckte bei ihrer Untersuchung mit Babys und ihren Müttern in Uganda, dass in dieser Phase die Bindung immer fester wurde, wobei Protest bei Weggang der Mutter häufig nur dann vorkam, wenn das Nachfolgen, z.B. durch eine verschlossene Tür, nicht möglich war. Auch Grußreaktionen der Babys waren klarer erkennbar.

4. Die Differenzierungs- und Integrierungsphase: (ab 18.Monat/2.Lebensjahr):

Durch die Zunahme an mentaler Repräsentation und der Weiterentwicklung der Sprache kann das Kleinkind allmählich verstehen, warum die Eltern gehen und wann sie wieder zurückkommen. Es beginnt diese Ereignisse zu durchschauen und es entwickelt sich eine reziproke Bindung. Das Kleinkind ist fähig, mit den Eltern in Verhandlung zu treten und beginnt sie von seinen Wünschen zu überzeugen.

Kinder entwickeln aus diesen vier Phasen heraus eine andauernde Bindung zu ihren Bezugspersonen, die sie in der Abwesenheit der Eltern als sichere Basis nutzen können (Bowlby, 1980b, zit. nach Berk, 2005). Durch diese innere Repräsentation von Bindung entwickeln sich nach Bowlby (1969, zit. nach Fremmer-Bombik, 2002) die sogenannten inneren Arbeitsmodelle von Bindung, dessen wichtigste Funktion es ist, Ereignisse der realen Welt zu simulieren, um so das Individuum in die Lage zu versetzten, sein Verhalten mit Einsicht vorausschauend zu planen. Je besser und vorausschaubarer die Wirklichkeit simuliert wird, umso besser ist das darauf basierende Verhalten angepasst. Die Anpassung erfolgt je nach Bindungsfigur, wobei unterschiedliche Erfahrungen in ein Gesamtmodell integriert werden müssen, das angibt, wie die Umwelt und die Bindungsfiguren funktionieren (Bowlby, 1969, zit. nach Fremmer-Bombik, 2002). Dieses Gesamtmodell wird zu einer Art Leitfigur und wirkt sich auf alle zukünftigen engen Beziehungen aus (Bretherton, 1992, zit. nach Berk, 2005).

2.2.6 Unterschiedliche Bindungsmuster

2.2.6.1 Erste Entdeckungen

Ainsworth und ihre Kollegen waren die ersten, die drei unterschiedliche Bindungsmuster entdeckten. Der Beginn der Forschungen hierzu lag dabei in der 1954 von Ainsworth durchgeführten Studie zum Interaktionsverhalten von 28 noch nicht entwöhnten Babys und deren Müttern in Uganda (Ainsworth & Bowlby, 1991), die umfassende naturalistische Beobachtungen von täglichen Mutter-Kind-Interaktionen enthielt (Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005). Ainsworth entdeckte bereits in dieser ersten Studie unterschiedliche Bindungsgruppen und ordnete die Babys als sicher gebunden, unsicher gebunden und nicht gebunden ein. Während die unsicher gebundenen Babys auch bei Anwesenheit der Mutter sehr viel weinten, weinten sicher gebundene Babys nur wenig, es sei denn die Mutter verließ sie oder deutete ein Weggehen an (Ainsworth & Bowlby, 1991).

Auf der Basis ihrer Untersuchungen in Uganda und späteren Beobachtungen von Familien in Baltimore, kam Ainsworth zu dem Ergebnis, dass der Umfang der kindlichen Fähigkeiten, seine engsten Bezugspersonen als sichere Basis zu nutzen, sowie die Art der Reaktion des Kindes auf eine kurze Trennung von der Bezugsperson und das Wiedersehen mit dieser, Hinweis über die Qualität der Bindung zwischen Kleinkind und Bindungsperson gibt (Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005).

Zur Ergänzung ihrer Beobachtungsstudien entwickelte Ainsworth einen Labortest zur Messung der Bindungssicherheit eines Kindes an ein Elternteil. Der sogenannte Fremde-Situation-Test (FST) wird in einem für das Kind unvertrauten Kontext durchgeführt, wodurch vermutlich das Bedürfnis des Kindes nach seinem Elternteil erhöht wird (Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005).

2.2.6.2 Der Fremde-Situation-Test (FST)

Die standardisierte Beobachtung im FST ist heute eine klassische Methode zur Feststellung interindividueller Unterschiede in der Bindung zwischen Kind und Bindungsperson (meist der Mutter). Der FST kann bei Kindern von zwölf bis maximal zwanzig Monaten angewendet werden. Ziel ist die Beobachtung des Gleichgewichtes zwischen dem Bindungs- und Explorationsverhalten eines Kleinkindes unter den standardisierten Bedingungen des Laborzimmers, wobei beobachtet wird, wie das Kind die Bindungsperson als sichere Basis für seine Erkundungen nutzt und bei Belastung als Hafen der Sicherheit gebraucht (Gloger-Tippelt, 2004).

Insgesamt setzt sich der FST aus acht Episoden zusammen, in denen sich kurze Trennung und Wiedervereinigung mit der Bezugsperson abwechseln. Das Laborzimmer ist mit zwei Stühlen, Spielzeug und einem Beobachtungsfenster mit Videokamera zur Aufzeichnung der Versuchsepisoden ausgestattet.

Zur Übersicht stelle ich die acht Episoden des FST in einer Tabelle dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Der Fremde-Situation-Test (in Anlehnung an Berk, 2005, S. 255)

Bis heute gab es viele Untersuchungen im Rahmen des FST zur Mutter-Kind-Interaktion und dem unterschiedlichen Bindungsverhalten, u.a. von Ainsworth, Main und Grossmann. Durch die Beobachtung, wie die Säuglinge auf diese Episoden reagieren, konnten Wissenschaftler ein sicheres und drei unsichere Bindungsmuster klassifizieren (Berk, 2005).

2.2.6.3 Die vier Bindungsmuster

In ihrer Arbeit mit dem Fremde-Situation-Test entdeckte Ainsworth (1973) drei verschiedene Bindungsmuster (vgl. Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005):

Das sichere Bindungsmuster (Muster B):

Die Kinder haben eine qualitativ hochwertige, relativ eindeutige Beziehung zu ihrer Bindungsperson. Während der Anfangsphase des FST nutzen die Kinder ihre Eltern als sichere Basis. Sie erkunden das Spielzeug im Laborraum, wobei sie dabei gelegentlich zum begleitenden Elternteil blicken, um sich diesem zu versichern oder dem Elternteil ein Spielzeug zu zeigen. Die Bezugsperson kann als sichere Basis für die Erkundung der Umwelt genutzt werden. Wenn der Elternteil den Raum verlässt, sind sicher gebundene Kinder meistens beunruhigt und beginnen vielleicht zu weinen. Dies geschieht besonders dann, wenn sie ganz alleine gelassen werden. Bei Rückkehr der Bindungsperson zeigen sie jedoch, dass sie sich freuen, diese zu sehen. Die Bindungsperson wird mit einem freundlichen Lächeln begrüßt und die Kinder bewegen sich zu ihr hin, um hochgenommen und getröstet zu werden, falls sie bei Abwesenheit der Bindungsperson verängstigt waren. Allein die Anwesenheit des begleitenden Elternteils beruhigt die Kinder wieder und ermöglicht ihnen häufig erneutes Explorationsverhalten.

58% der deutschen Kinder können als sicher gebunden klassifiziert werden (Thompson, 1998, zit. nach Berk, 2005).

Das unsicher-vermeidende Bindungsmuster (Muster A):

Kinder mit diesem Bindungsmuster haben eine weniger positive Bindung zu ihrer Bezugsperson als sicher gebundene Kinder. Sie erscheinen gleichgültig gegenüber ihren Bindungspersonen und meiden diese sogar gegebenenfalls. Im FST neigen die Kinder dazu, den begleitenden Elternteil zu meiden, indem sie diesen z.B. bei Wiederkehr nicht begrüßen und ignorieren oder sich wegdrehen, während der Elternteil im Raum ist. Falls die Kinder bei Weggang der Bindungsperson weinen, können sie von einem Fremden ebenso beruhigt werden, wie von der Bindungsperson.

Etwa 35% der deutschen Kinder können als unsicher-vermeidend gebunden klassifiziert werden (Thomson, 1998, zit. nach Berk, 2005).

Das unsicher-ambivalente (resistente) Bindungsmuster (Muster C):

Auch diese Kinder haben eine weniger positive Bindung zu ihrer Bindungsperson als sicher gebundene Kinder. Sie klammern und bleiben nahe bei der Bezugsperson, anstatt ihre Umwelt zu erkunden. Wenn die Bezugsperson im FST den Raum verlässt, werden die Kinder häufig ängstlich, weinen heftig und können von Fremden nicht leicht beruhigt werden. Bei Rückkehr der Bezugsperson lassen sie sich nur schwer beruhigen und zeigen widersprüchliches Verhalten, indem sie typischerweise Kontakt zum Elternteil suchen und sich dann gegen dessen tröstende Bemühungen wehren.

Das unsicher-ambivalente Bindungsmuster wurde bei 8% der deutschen Kinder entdeckt (Thompson, 1998, zit. nach Berk, 2005).

Bindungsforscher entdeckten einen kleinen Anteil an Kindern, die im FST Reaktionen zeigten, die keinem der drei Bindungsmuster nach Ainsworth zugeordnet werden konnten. Main und Salomon (1990) entwickelten ein weiteres unsicheres Bindungsmuster, um diese Reaktionen einzuordnen (vgl. Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005):

Das unsicher-desorganisierte/desorientierte Bindungsmuster (Muster D):

Kinder, die dieses unsichere Bindungsmuster zeigen, scheinen keine konsistente Stressbewältigungsstrategie zu besitzen. Ihr Verhalten ist meist konfus oder widersprüchlich und die Kinder wirken häufig benommen oder desorientiert. In ihren Bewegungen erstarren sie plötzlich oder zeigen unvollständige und ungerichtete Bewegungen. Die Kinder scheinen beispielsweise ruhig und zufrieden und sind dann plötzlich wütend erregt oder lächeln ängstlich und schauen weg, wenn sich die Bindungsperson nähert.

Nach Main und Hesse (1990) scheinen diese Kinder ein unlösbares Problem zu haben, welches sich daraus ergibt, dass sie sich zum einen dem Elternteil nähern wollen, diesen aber zum anderen auch als Quelle der Angst sehen, vor dem sie sich zurückziehen müssen.

In die Kategorie dieses Bindungsmusters fallen etwa 5% der deutschen Kinder (Thompson, 1998, zit. nach Berk, 2005).

2.2.6.4 Stabilität der Bindungsqualität

Die Forschung über die Stabilität der Bindungsmuster bei Kindern im Alter von ein bis zwei Jahren brachte nach Thompson (1998, zit. nach Berk, 2005) viele Ergebnisse und man fand u.a. heraus, dass sicher gebundene Kinder ihre Bindungsqualität häufiger beibehalten als unsicher gebundene Kinder. Dabei zeigt sich jedoch eine Ausnahme beim desorganisierten Verhaltensmuster, das über das zweite Lebensjahr hinweg meist stabil bleibt. Durch negative Betreuung und Zuwendung könnte bei diesen Kindern die emotionale Selbstregulation soweit beeinträchtigt sein, dass das desorientierte Verhalten beibehalten wird (Berk, 2005).

Bei einer Untersuchung der Bindungsqualität von einjährigen Kindern und einer weiteren Untersuchung dieser Kinder fünf Jahre später, konnte eine Stabilität der Mutter-Kind-Bindung von 87,5% festgestellt werden (Grossmann, 2002).

Diese hohe Stabilität kann nach Grossmann (2002) durch die Festlegung des inneren Arbeitsmodells erklärt werden, wonach frühe Bindungsmuster als gelernte Erwartungshaltungen des Kindes in der Interaktion mit seiner Mutter von beiden Seiten so lange aufrecht erhalten werden, wie keine tiefgreifenden Veränderungen in der Beziehung auftreten (Fremmer-Bombik, 2002).

2.2.6.5 Interkulturelle Unterschiede

Aus kulturvergleichenden Forschungen geht hervor, dass Bindungsmuster unter Umständen in anderen Kulturen anders interpretiert werden. Nach Thomson (1998) kann man bei deutschen Kindern z.B. wesentlich häufiger ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster erkennen als bei amerikanischen Kindern (Berk, 2005). Da deutsche Eltern ihre Kinder ermutigen, sich nicht anzuklammern und unabhängig zu werden, kann das unsicher-vermeidende Verhalten eines Kindes jedoch auch als gewolltes Ergebnis der kulturbedingten Einstellungen und Lebensgewohnheiten gesehen werden (Grossmann et al., 1985, zit. nach Berk, 2005).

In einer Studie im FST wiesen japanische Kinder ungefähr den gleichen Anteil an sicheren Bindungen auf wie amerikanische Kinder, wobei es einen Unterschied in der Art gab, wie die japanischen Kinder unsichere Bindung zeigten ( Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005). Alle japanischen unsicher gebundenen Kinder wurden als unsicher-ambivalent klassifiziert; das unsicher-vermeidende Bindungsmuster kam nicht vor ( Takahashi, 1986, zit. nach Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005). Eine Erklärung dafür könnte die japanische Kultur darstellen, die der Vorstellung einer Einheit von Mutter und Kind großen Wert beimisst und auch die japanischen Erziehungsmethoden, die im Vergleich zu den USA die Abhängigkeit des Kindes von der Mutter, sowie körperliche Intimität und Nähe zwischen Mutter und Kind fördern (Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005). Demnach könnte der Wunsch nach Körperkontakt und Rückversicherung im FST bei japanischen Kindern höher sein, als bei amerikanischen Kindern, wodurch die japanischen Kinder mehr Wut und Widerstand gegenüber der Mutter zeigten, nachdem diese den gewünschten Kontakt verwehrt hatte.

Obwohl es verschiedene kulturelle Abweichungen in der Häufigkeit der Bindungsmuster gibt, wurde das sichere Bindungsmuster in den untersuchten Gesellschaften am häufigsten entdeckt (van Ijzendoorn & Sagi, 1999, zit. nach Berk, 2005).

2.2.7 Einflussfaktoren zur Bindungssicherheit

In der Wissenschaft wurden besonders folgende Faktoren bezüglich ihres Einflusses auf die Bindungssicherheit untersucht (Berk, 2005):

1. Die Möglichkeit, eine enge Beziehung einzugehen

René Spitz beobachtete Säuglinge in Waisenhäusern, die im Alter von drei bis zwölf Monaten von den Müttern abgegeben worden waren und nun in einem großen Saal betreut wurden, in welchem eine Schwester für sieben Säuglinge zuständig war. Dort sah er, wie die Kinder weinten, sich zurückzogen und das fröhliche, extrovertierte Verhalten aufgaben, welches sie in Anwesenheit der Mutter gezeigt hatten (Spitz, 1946, zit. nach Berk, 2005).

Gefahren für die Persönlichkeitsentwicklung und die geistige Entwicklung der Kinder wurden erkannt und eine verzögerte Entwicklung beschrieben (Spitz, 1945/1946, zit. nach Unzner, 2002).

Diese hospitalisierten Kinder zeigten emotionale Schwierigkeiten, was darauf zurückzuführen war, dass sie keine Gelegenheit hatten, eine Bindung mit wenigstens einer erwachsenen Bindungsperson einzugehen (Rutter, 1996, zit. nach Berk, 2005). Es gab noch zahlreiche Untersuchungen zur Heimunterbringung von Säuglingen und Kleinkindern und es zeigte sich insgesamt, dass die Heimkinder emotionale und intellektuelle Retardierungen aufwiesen, wobei vor allem die Unterbringung in den ersten drei bis fünf Lebensjahren als kritisch angesehen wurde. Die Säuglinge verbrachten fast den ganzen Tag in abgedunkelten Räumen in ihren Bettchen, der Kontakt mit Erwachsenen beschränkte sich auf die nötigste Versorgung und es gab selten Zeit für Interaktion (Unzner, 2002).

In einer anderen Untersuchung betrachtete man Säuglinge in einer Institution, wo mit einem Kind-Bezugsperson-System gearbeitet wurde und es eine gute Ausstattung mit Spielzeug gab. Bis zum Alter von viereinhalb Jahren hatten die Kinder etwa 50 verschiedene Betreuer, wobei sie bei späterer Adoption eine tiefe Bindung zu ihren Adoptiveltern aufbauen konnten (Tizard & Rees, 1975, zit. nach Berk 2005). Bei diesen Kindern wuchs jedoch die Wahrscheinlichkeit emotionale und soziale Probleme zu entwickeln und sie zeigten ein erhöhtes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit von Erwachsenen und waren überfreundlich zu fremden Personen, wobei sie einen Mangel an Freundschaften aufwiesen.

Demnach besteht also die Möglichkeit, dass eine normale Entwicklung von der Entwicklung enger Bindungen zu Bezugspersonen innerhalb der ersten Lebensjahre abhängig ist (Berk, 2005), in denen der Säugling das Grundbedürfnis hat, eine emotionale Beziehung zu einer oder mehreren Personen aufzubauen (Unzner, 2002).

2. Die Qualität der Fürsorge

Nach Unzner (2002) kann die Entwicklung eines sicheren Bindungsmuster durch die Qualität der Betreuung entscheidend beeinflusst werden. Wichtig dabei ist die Erreichbarkeit und Verfügbarkeit der Bindungsperson, sowie feinfühliges Eingehen auf das Kind.

„Feinfühlig sein“ heißt nach Unzner (2002), die Bedürfnisse und Signale des Säuglings wahrzunehmen, diese richtig zu interpretieren und prompt, angemessen und vorhersehbar zu reagieren. Die Bezugsperson befriedigt die Bedürfnisse des Kindes nach Nähe, ist zärtlich und schmust mit ihm. Feinfühligkeit beinhaltet jedoch auch, dass die Bindungsperson das Kind nicht überbehütet und ihm Freiräume lässt, in denen es eigene Fähigkeiten erproben und Zuversicht gewinnen kann.

Viele Studien zeigen, dass solch ein feinfühliges Eingehen auf das Kind in unterschiedlichen Kulturen mäßig mit der Bindungssicherheit korreliert ( De Wolff & van Ijzendoorn, 1997, Posada et al., 2002, zit. nach Berk, 2005).

Unsicher gebundene Kinder erleben im Gegensatz dazu durch ihre Mütter meist wenig Körperkontakt und werden behandelt, als ginge es um bloße „Routine“. Die Mütter zeigen häufig negatives, ablehnendes und widersprüchliches Verhalten gegenüber ihrem Kind (Ainsworth et al., 1978; Isabella, 1993; Pederson & Moran, 1996; zit. nach Berk, 2005).

Während die Mütter von unsicher-vermeidend gebundenen Kindern meist gleichgültig und emotional unzugänglich sind und den Wunsch des Kindes nach körperlicher Nähe manchmal zurückweisen, zeigen sich Mütter von unsicher-ambivalent gebundenen Kindern bei der frühen Kinderfürsorge unbeständig, indem sie manches mal prompt auf Signale des Kindes reagieren und diese ein anderes mal gar nicht beachten. Oft scheinen diese Mütter selbst hoch ängstlich und von den eigenen Gefühlen überwältigt zu sein (Isabella, 1993, zit. nach Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005).

Unsicher-desorganisiert gebundene Kinder wirken durch das Verhalten ihrer Mütter oft verängstigt oder verwirrt, was vermutlich auf elterliche Misshandlungen in der Vergangenheit zurückzuführen ist, die in dieser Bindungskategorie häufig vorkommen (Carlson, 1998, Ciccetti & Toth, 1998, zit. nach Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005).

Wenngleich das Weinen eines Säuglings zu Beginn ein reines Ausdrucksverhalten ist, so kann es nach Grossmann und Grossmann (2003) später eine Art Kommunikation werden, die auf die Mutter gerichtet ist und bei verlässlicher, feinfühliger Reaktion durch die Bindungsperson durch differenziertere Formen ersetzt wird. Dies ist die Grundlage der Entwicklung kindlicher Kompetenz, denn der Säugling erfährt durch seine Mitteilungen, dass er mehr oder weniger wirkungsvoll auf die Bindungsperson einwirken kann (Grossmann & Grossmann, 2003).

Nach Ainsworth, Bell und Stayton (1974) kann der Säugling ohne mütterliche Kooperation und Annahme keine Kompetenz entwickeln.

Mutter und Säugling beeinflussen sich gegenseitig und passen sich einander an. Durch einfühlsame, direkte Interaktion, die von Synchronizität gezeichnet ist, erhält der Säugling Hilfe seine Emotionen zu regulieren und aufgrund einer moderaten Erwachsenen-Kind-Koordination kann eine Bindungssicherheit vorausgesagt werden (Jaffe et al., 2001, zit. nach Berk, 2005).

Demnach gibt es viele Hinweise darauf, dass eine Bindungssicherheit von aufmerksamer Fürsorge abhängig ist, bei der die Bedürfnisse des Säuglings berücksichtigt werden.

3. Persönlichkeitseigenschaften des Säuglings

Es gibt intensive Diskussionen über den Einfluss, den verschiedene Persönlichkeitseigenschaften des Säuglings auf die Bindungsqualität haben.

Eine Reihe von Arbeiten im Bereich der Temperamentsforschung weisen laut Zentner (2004) darauf hin, dass Temperaments-Irritabilität[1] und andere Temperamentseigenschaften im Neugeborenalter, die im Alter von ein bis sechs Monaten zu beobachten sind, einen Bezug zur Bindungssicherheit im Alter von 12 bis 24 Monaten haben. Es scheint Temperamentsmerkmale zu geben, die sich negativ auf das Betreuungsverhalten der Eltern auswirken können. So würde ein intensives ununterbrochenes Schreien eines wenige Tage oder Wochen alten Säuglings die Entwicklung eines feinfühligen Betreuungsstils der Mutter erschweren oder sogar unmöglich machen (Zentner, 2004).

Berk (2005) geht jedoch davon aus, dass die Persönlichkeitseigenschaften des Säuglings nur gering mit der Bindungsqualität korrelieren und der Einfluss vor allem von einer guten Passung zwischen dem Kind und seiner Bindungsperson abhängig ist.

4. Familiäre Umstände

Stressoren in der Familie wie Scheidung, Arbeitsplatzverlust oder finanzielle Schwierigkeiten können sich negativ auf die Einfühlsamkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern auswirken und das Sicherheitsgefühl der Kinder indirekt beeinflussen, indem diese Streit der Eltern miterleben oder qualitativ unzureichende Kinderbetreuung erhalten (Thompson, 1998, zit. nach Berk, 2005).

[...]


[1] Irritabilität = Erregbarkeit, Reizbarkeit

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Eingewöhnungskonzepte in der Krippenerziehung
Untertitel
Bestandsaufnahme in Aachen und Möglichkeiten der Konzeptimplementation in Kindertagesstätten
Hochschule
Katholische Hochschule NRW; ehem. Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Aachen
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
106
Katalognummer
V81560
ISBN (eBook)
9783638847353
ISBN (Buch)
9783638845755
Dateigröße
853 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Im Anhang befinden sich u.a. anonyme Interviews mit Erzieherinnen zum Thema "Eingewöhnungsgestaltung in der Krippenerziehung".
Schlagworte
Eingewöhnungskonzepte, Krippenerziehung
Arbeit zitieren
Dipl. Sozialpädagogin Nina Banzet (Autor:in), 2007, Eingewöhnungskonzepte in der Krippenerziehung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81560

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