Der Untergang einer alten Welt und die Entstehung einer neuen in Joseph Roths Roman 'Hiob'


Seminararbeit, 1999

28 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 .es ist morsch gewesen, und man hat es nicht gewusst
2.1 Heimat
2.2 Erste Anzeichen
2.3 Amerika

3 Der Untergang einer alten Welt – die Entstehung einer neuen
3.1 Deborah Singer
3.2 Schemarjah/Jonas/Mirjam
3.3 Mendel Singer

4 Wer ist der wahre Hiob?

5 Bibliographie

1 Einleitung

Anfangs dieses Jahrhunderts leben die Ostjuden, umgeben von der ihnen gegenüber fremden und feindlichen Welt des zaristischen und kirchlich-antisemitischen Russland, in einer weitgehend entrechteten Situation, in ständiger Pogrom-Angst und in grosser wachsender Armut.

„Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer...“[1]

„In schmutzigen Strassen, in verfallenen Häusern leben die [Ost-]Juden. Der christliche Nachbar bedroht sie. Der Herr schlägt sie. Der Beamte lässt sie einsperren. Der Offizier schiesst auf sie, ohne bestraft zu werden. Der Hund verbellt sie, weil sie mit einer Tracht erscheinen, die Tiere ebenso wie primitive Menschen reizt.“[2]

Zunächst aber scheint diese Notlage die Familie Singer nicht zu gefährden, da sich für sie „Armut“ und „Gleichmut“[3] problemlos reimen und da die Familie aus der Notlage das gemeinsame Lebensgefühl einer ‚vertrauten Armut‘ entwickelt.

Dieser Zustand könnte als Urzustand einer „bekümmerten Festlichkeit“[4] geschildert werden: Die Wochentage bilden einen „Reigen aus Mühsal“[5], jedoch fällt auf sie immer neu das glänzende Licht des Sabbat. Das Leben spielt sich ab als Zusammenspiel von Licht und Dunkelheit, Kälte und Wärme, Gesang und Seufzen.

Die Familie Singer scheint fest auf dem Boden der traditionsgeleiteten Gesellschaft des ostjüdischen Schtetl zu stehen, in deren Rahmen die patriarchalische Familie zusammen mit der Synagoge die entscheidende Rolle spielt.

Es gehört zu dem in jahrtausendelanger Frömmigkeitstradition entwickelten Verständnis einer solchen Existenz, dass sie unbegriffen, aber geduldig akzeptiert und ertragen wird:

„‘Was willst du, Deborah‘, sagte Mendel Singer, ‚die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen‘„[6]

Vielleicht sind Leiden und Unglück sogar als Strafe für eine verborgene Schuld[7] hinzunehmen, und man darf sich erst sekundär durch Gebet (Mendel) oder Bemühungen um Wunder (Deborah) bei Gott für die Befreiung von Leid und Unglück einsetzen.

Es wird jedoch schnell offensichtlich, dass die alte Lebensordnung nicht mehr stark genug ist, um die Not innen und die Anziehungskraft der ‚Welt‘ aussen auszugleichen oder gar letztlich unwirksam zu machen. Die „ökonomische Misere des Ostjudentums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ ist so gross, und die unvermeidlichen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen gehen in einem solchen Tempo vor sich, dass der „überkommene geistige und geistliche Rahmen das Gefüge der ostjüdischen Lebenswelt nicht mehr oder kaum noch zusammenhalten kann.“[8]

Joseph Roths Roman endet mit dem Pessach-Fest 1919 in New York, die Revolutions- und Sozialismusthematik der 20er Jahre spielt somit keine Rolle. Dadurch, dass der Roman die Thematik des alten Russlands, der ‚russischen Erde‘ ernst nimmt, wird sogar ein deutlicher Anti-Revolutions-Akzent. Diese russische Welt hat Mendel Singer zu Grunde gehen sehen. Der Fokus des Romans liegt auf dem Spannungsfeld zwischen Galizien und New York, zwischen dem jüdischen Schtetl und dem amerikanischen Ghetto. Mit dem ersten Weltkrieg geht die Welt des Schtetl zugrunde, intakt bleibt höchstens noch die Sedergemeinschaft im Rahmen der Familie Skowronek. Als Messias des ‚neuen Weltgedanken‘ erscheint am Ende des Romans der genesene Künstler Menuchim.

Der Wandel von der alten zur neuen Welt lässt sich auf drei Ebenen festmachen: auf einer sprachlichen, einer inhaltlichen und einer symbolischen. Schon auf der sprachlichen Ebene ist der Prozess des Verfalls spürbar. Im ersten Hauptteil werde ich auf die Rolle des Erzählers und die Erzähltechnik eingehen. Im zweiten Hauptteil werde ich zeigen, wie die verschiedenen Charaktere mit dem Verlust ihrer alten Identität umgehen, auf welche Weise sie die Assimilation an die ‚neue Welt‘ vollziehen und wie sie ihr Schicksal bewältigen. Jede der fünf Hauptfiguren (Mendel, Deborah, Schemarjah, Jonas, Mirjam – die Entwicklung von Menuchim wird im letzten Hauptteil Thema sein) durchläuft eine unterschiedliche Entwicklung. Auf der symbolische Ebene schliesslich will ich veranschaulichen, wie Menuchim für den Untergang der ‚alten Welt‘ steht. Unsichtbar für den Leser durchläuft er eine wundersame Entwicklung und erscheint am Ende als messianischer Verkünder der ‚neuen Welt‘. Bei genauer Betrachtung des Textes zeigt sich, dass er die eigentliche Hiob-Figur ist.

2 ...es ist morsch gewesen, und man hat es nicht gewusst

Durch die Verwendung der erlebten Rede in den meisten Schlüsselstellen des Romans, ist es dem Erzähler[9] möglich, Gefühle, Gedanken und Reflexionen der Figuren direkt wiederzugeben. Oft ist es nicht genau auszumachen, ob eine bestimmte Textpartie zum Erzählerbericht gehört oder eine subjektive Empfindung einer Romanfigur ist. „Realität und persönlich-zufällige Wahrnehmung können ineinanderfliessen.“[10] Die Sprache gewinnt dadurch einen sehr individuellen Charakter und erlaubt es dem Leser, verschiedene Perspektiven einzunehmen.

2.1 Heimat

So zeigt sich auch das Verhältnis der Figuren zur galizischen Heimat deutlich in der Sprache mit der sie beschrieben wird. Anfangs ist dieses Verhältnis sehr ambivalent, Mendel und Deborah lieben ihre Heimat, aber es ist für sie keine echte Heimat. Sie leben im Exil, in ständiger Angst und Armut.

„Fremd war ihnen die Erde, auf der sie standen, feindlich der Wald, der ihnen entgegenstarrte, gehässig das Kläffen der Hund, deren misstrauisches Gehör sie geweckt hatten [...].“ (Hiob 71)

Sie fühlen sich „fremd“ in dieser Welt, der Wald „starrt“ ihnen „feindlich“ entgegen, das Kläffen der Hund ist „gehässig“ etc. Überall ist Gefühl zu spüren, nicht willkommen zu sein, kaum geduldet zu werden.

Je weiter sie sich von der Heimat entfernen, desto verklärter werden ihre Empfindungen. Für die Beschreibung der fernen Heimat werden jetzt die gleichen Adjektive verwendet, wie für das verheissungsvolle Amerika vor der Auswanderung und die ‚neue Welt‘ nach Mendels Erlösung (siehe unten):

Mendel erinnerte sich an die hellgestirnten Nächte daheim, die tiefe Bläue des weitgespannten Himmels, die sanftgewölbte Sichel des Mondes [...].[11]

Die Adjektive haben sich von „fremd“, „feindlich“ und „gehässig“ in „hell, „weit“ und „sanft“ verwandelt.

2.2 Erste Anzeichen

„Ihr Mann kam nach Hause, in seidigem Schwarz, der Fussboden leuchtete ihm entgegen, gelb wie geschmolzene Sonne, sein Angesicht schimmerte [...], [sie] lächelten den Tellern zu [...]. Wärme erhob sich im Zimmer.“[12]

Anfangs ist die Welt noch in Ordnung. Die Familie lebt unter einfachsten Bedingungen, aber an der Art, wie die Szene beschrieben wird, wird das Glück dieser Menschen spürbar. Alles ist warm, leuchtet, die Menschen lächeln. Doch schon im nächsten Abschnitt werden die ersten Anzeichen sichtbar, dass diese Harmonie bedroht ist.

„Das Stearin schwelte, blaue dünne Fäden aus Rauch zogen von den verkohlten Dochtresten aufwärts zur Decke.“[13]

Die Kerzen sind nicht echt, sie sind künstlich wie die Idylle dieser Familie. In wirklichkeit „schwelt“ es schon. Der Rauch, der aufzieht, fungiert hier als Zeichen, als erster Bote des Untergangs der alten Welt.

Die Bedrohung wird immer deutlicher. Nach der Nachricht, dass Menuchim krank sei,

„hing [...] über dem Haus Mendel Singers die Furcht wie ein Ungetüm, und der Kummer durchzog die Herzen wie ein dauernder heisser und stechender Wind.“[14]

Immer düsterer und fremder erscheinen die heimische Landschaft und die alten Rituale, Todesmetaphern dominieren die Beschreibungen.

„Die Kinder sassen festgenagelt auf ihren Plätzen. Ihre Beine [...] hingen leblos unter dem Tisch. Draussen schneite es unaufhörlich, und das weiche Weiss der Flocken strömte einen fahlen Schimmer durch das Fenster in die Stube und auf die Gesichter der Schweigenden. Ein paarmal hörte man verkohlte Holzreste im Ofen knistern und ein leises Knattern an den Türpfosten, wenn der Wind an ihnen rüttelte.“[15]

Nirgends ist mehr die Geborgenheit, die Gottesnähe zu spüren, die Menschen in diesem Raum sind gefangen, „festgenagelt“, sie erscheinen „leblos“ und „fahl“, an den Türpfosten rüttelt der Wind wie wenn der leibhaftige Tod um Einlass bitten würde.

Noch deutlicher wird der Zerfall im Moment des Aufbruchs:

„Aber schon begann das Haus Mendel Singers zu zerfallen. wie morsch muss es doch gewesen sein, dachte Mendel. Es ist morsch gewesen, und man hat es nicht gewusst.“[16]

Das morsche Haus steht hier als Symbol für den Zerfall der ‚alten Welt‘, wie sie Mendel noch erlebt und geschätzt hat.

2.3 Amerika

Anfangs klingt jede Beschreibung von Amerika verheissungsvoll, der Westen wird in leuchtenden Farben beschrieben, die Ferne lockt.

„Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, die sich im Westen ausbreiteten, und den langsamen Wind, der sie herübertrug.“[17]

„[...] strahlte die Sonne. Blau war der Himmel. Weiss war das Schiff. Grün war das Wasser.“[18]

Doch in dem Moment, in welchem das Schiff ablegt, erscheinen auch die ersten Vorzeichen der Gefahren, die die ‚neue Welt‘ birgt:

„In diesem Augenblick erdröhnten die Sirenen. Die Maschinen begannen zu poltern. Und die Luft und das Schiff und die Menschen erzitterten.“[19]

Die Beschreibung Amerikas bei der Ankunft der Familie Singer, entspricht schon überhaupt nicht mehr den Vorstellungen von einer ‚neuen Welt‘:

„Der schwere Wagen ratterte über die Strassen mit einer wütenden Wucht [...], als wäre es seine Absicht, Stein und Asphalt für ewige Zeiten zu zertrümmern und die Fundamente der Häuser zu erschüttern. Der lederne Sitz brannte unter Mendels Körper, wie ein heisser Ofen. [Die Hitze glühte] wie graues schmelzendes Blei durch die alte Mütze aus schwarzem Seidenrips auf den Schädel Mendels, drang in sein Gehirn und verlötete es dicht, mit feuchter, klebriger, schmerzlicher Glut. [...] seine Füsse brannten, wie in einem offenen Feuer. Krampfhaft zwischen die Knie geklemmt hatte er seinen Regenschirm, dessen hölzerner Griff heiss war und nicht anzufassen, als wäre er aus rotem Eisen. Vor den Augen Mendels wehte ein dichtgewebter Schleier aus Russ, Staub und Hitze. Er dachte an die Wüste, durch die seine Ahnen vierzig Jahre gewandert waren. Aber sie waren wenigstens zu Fuss gegangen, sagte er sich. Die wahnsinnige Eile, in der sie jetzt dahinrasten, weckte zwar einen Wind, aber es war ein heisser Wind, feurige Atem der Hölle. Statt zu kühlen, glühte er. Der Wind war kein Wind, er bestand aus Lärm und Geschrei, es war ein wehender Lärm. Er setzte sich zusammen aus einem schrillen Klingeln von hundert unsichtbaren Glocken, aus dem gefährlichen, metallenen Dröhnen der Bahnen, aus dem tutenden Rufen unzähliger Trompeten, aus dem flehentlichen Kreischen der Schienen an den Kurven der Streets, aus dem Gebrüll Macs, der durch einen übermächtigen Trichter seinen Passagieren Amerika erläuterte [...]. Er roch den scharfen Teer aus dem schmelzenden Asphalt, den trockenen spröden Staub in der Luft, den ranzigen und fetten Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen, den beizenden Geruch von Zwiebeln, den süssen Benzinrauch der Autos, den fauligen Sumpfgeruch aus Fischhallen [...]. Alle Gerücher vermengten sich im heissen Brodem, der ihm entgegenschlug, mit dem Lärm, der seine Ohren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte. [...] Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn.“[20]

Der Erzähler lässt uns Mendels Qualen mitfühlen. Minutiös beschreibt er die „glühende Hitze“, das „schrille Klingeln“ und „metallische Dröhnen“, den „scharfen“, „beizenden“ und „fauligen“ Geruch. Wenn wir von einem objektiven Erzähler ausgingen, müsste diese Passage als Manipulation abgetan werden. Aber der Erzähler hält sich auch hier wieder an die erlebte Rede, er hat die Fähigkeit zu fühlen, was Mendel Singer fühlt, und vermittelt uns diese Empfindungen über die Wortwahl, über die Art wie er die Szene beschreibt, ohne selbst als auktorial urteilende und führende Person in den Vordergrund zu treten.

[...]


[1] Hiob 8 = Joseph Roth , Hiob. Amsterdam/Köln 1974/1982, KiWi 6 (Im Folgenden werden häufig zitierte Texte in den Fussnoten nur in Kurzform – Kurzbezeichnung/Seitenzahl – angegeben)

[2] JaW 11 = Joseph Roth , Juden auf Wanderschaft. Amsterdam/Köln, KiWi 81

[3] Hiob 7

[4] Hiob 10

[5] Hiob 10

[6] Hiob 43

[7] „...ich weiss nicht, wofür Er uns straft“ (Hiob 43)

[8] Oda Voss, „Hiob. Roman eines einfachen Mannes“ – Joseph Roth und das Ostjudentum, in: Exil 9, 1989, S. 19 – 41; S. 19

[9] Ich werde hier die Diskussion um Autor und Erzähler nicht wieder aufleben lassen, sondern gehe im Folgenden von einem fiktiven Erzähler aus, welcher mit dem Autor nicht gleichzusetzen ist.

[10] Vogt 74

[11] Hiob 140

[12] Hiob 9

[13] Hiob 10

[14] Hiob 14

[15] Hiob 40

[16] Hiob 102

[17] Hiob 56

[18] Hiob 112

[19] Hiob 113

[20] Hiob 117

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Der Untergang einer alten Welt und die Entstehung einer neuen in Joseph Roths Roman 'Hiob'
Hochschule
Universität Bern  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Proseminar Hiob
Note
sehr gut
Autor
Jahr
1999
Seiten
28
Katalognummer
V8111
ISBN (eBook)
9783638151801
Dateigröße
721 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Untergang, Welt, Entstehung, Joseph, Roths, Roman, Hiob, Proseminar, Hiob
Arbeit zitieren
Henning Radermacher (Autor:in), 1999, Der Untergang einer alten Welt und die Entstehung einer neuen in Joseph Roths Roman 'Hiob', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8111

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