Zur Gegenüberstellung von Sozialkritik und utopischem Idealstaat bei Thomas Morus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

25 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung – „Ein wahrhaft goldenes Büchlein“

2. Wirtschaft
2.1 Die ökonomischen Zustände im England des frühen 16. Jahrhunderts
2.2 Kritik am englischen Wirtschaftssystem im ersten Buch der Utopia
2.3 Das Wirtschaftssystem des Idealstaats Utopia

3. Justiz
3.1 Kriminalität und Verbrechensbekämpfung in England zur Entstehungszeit der Utopia
3.2 Morus’ Kritik an den Methoden der englischen Justiz
3.3 Die Justiz im utopischen Idealstaat

4. Politik
4.1 Das politische System in England unter Heinrich VIII
4.2 Morus’ Kritik am Frühabsolutismus
4.3 Politisches System und Außenpolitik in Utopia

5. Kirche und Religion
5.1 Die Bedeutung der katholischen Kirche im vorreformatorischen England
5.2 Kirchenkritik im ersten Buch der Utopia
5.3 „Von den religiösen Anschauungen der Utopier“

6. Resümee

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung – „Ein wahrhaft goldenes Büchlein…“

‚Nirgendort’ – so könnte man das griechische Kunstwort ‚Utopia’ übersetzen. Sein Erfinder, der Humanist und Politiker Thomas Morus, nannte so seine im gleichnamigen Staatsroman beschriebene fiktive Insel und gab gleichzeitig unwissentlich einer ganzen literarischen Gattung einen Namen. Utopien sind in der Regel Entwürfe einer besseren Gesellschaft oder eines idealen Staates[1], so auch das wahrhaft goldene[s] Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia[2], wie der volle Titel des Werkes lautet. Die Utopia, veröffentlicht im Jahre 1516, besteht aus zwei Büchern: Im ersten Buch wird der literarische Rahmen präsentiert, das Zusammentreffen von Thomas Morus, seinem Freund Peter Aegidius und dem Weltreisenden Raphael Hythlodäus. Im Rahmen einer für den Humanismus typischen Diskussion über die politische Verantwortung eines Philosophen erörtern die Romanfiguren die ökonomischen, politischen und sozialen Zustände im derzeitigen England, Morus’ Heimatland. England befand sich zur Entstehungszeit der Utopia unter der Herrschaft des zweiten Tudor Königs Heinrich VIII. und war vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt. Wie so oft in der Geschichte brachten diese Veränderungen, neben sicherlich auch positiven, nicht wenige negative Erscheinungen mit sich, mit denen sich Morus vor allem im ersten Buch der Utopia auseinandersetzt. Durch die Figur des Hythlodäus wird harsche und für diese Zeit überraschend offene Sozialkritik am herrschenden System geübt. Im zweiten Buch hingegen, welches übrigens vor dem ersten entstand, berichtet Hythlodäus von der erfundenen Insel Utopia, die sich in zahlreichen Punkten völlig vom damaligen England unterscheidet und eine Art gesellschaftlicher Gegenentwurf ist.

In der folgenden Arbeit werden nun die Sozialkritik des ersten Buches und die idealstaatlichen Entwürfe des zweiten Buches einander gegenübergestellt und verglichen. Vier zentrale Aspekte der Kritik werden hierzu systematisiert und einzeln betrachtet: Wirtschaft, Justiz, Politik und Kirche. Um ein besseres Hintergrund-verständnis zu erreichen und die Kritik nachvollziehbarer zu machen, beginnt jeder der vier Abschnitte mit einem Unterkapitel zur Darstellung der derzeitigen Zustände.

2. Wirtschaft

2.1 Die ökonomischen Zustände im England des frühen 16. Jahrhunderts

Der Beginn des 16. Jahrhunderts markiert eine Zeitenwende: den Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit, was vor allem am wirtschaftlichen System Englands abzulesen ist. Der größte Teil der Bevölkerung Tudorenglands war im landwirtschaftlichen Sektor tätig, jedoch begann das mittelalterliche Feudalsystem zu bröckeln und musste immer mehr einem profitorientierten frühneuzeitlichen Kapitalismus weichen: aus Lehnsherr und Leibeigenem wurden Pächter und Mieter, Verdienender und Bezahlender.[3] Land wurde zur Ware, Allmenden zu Privatbesitz und die Pachten dafür stiegen. Hinzu kam ein Bevölkerungszuwachs um 75 bis 100% zwischen Ende des 15. und Beginn des 17. Jahrhunderts.[4] Diese Faktoren führten zu immensen Preisanstiegen im Lebensmittelbereich und zur stetigen Monopolisierung des Marktes. Zwar wurden so auch die Wege für wirtschaftliches Wachstum geebnet, jedoch auf Kosten der Kleinbauern: der Auszug der Landbevölkerung in die Städte, Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit waren die Folgen für viele von ihnen und die Kluft zwischen arm und reich wurde immer größer.[5]

Ein weiterer Umstand, der die Verelendung der Pachtbauern verstärkte und manchmal sogar als eine der dramatischsten Veränderungen im Bereich der Landwirtschaft zur Tudorzeit betrachtet wird, ist die Einhegungsbewegung.[6] Aufgrund der stetig steigenden Nachfrage nach Wolle zur Textilproduktion, begannen Teile des Land besitzenden Adels sich Gemeindeland anzueignen und einzuzäunen, um dann das Ackerland, das einst den Kleinbauern zur Verfügung stand, in Weideflächen für ihre Schafe umzuwandeln.[7] Vielen Bauern wurde so ihre Lebensgrundlage entzogen, der Preisanstieg der landwirtschaftlichen Erzeugnisse weiter in die Höhe getrieben und die Woll- und Lebensmittelproduktion unter wenigen Händen des besitzenden Adels aufgeteilt - erste monopolistische Strukturen entstanden.

Wie stark diese Einhegungsbewegung die Bauern allerdings tatsächlich tangierte ist umstritten. Russell, beispielsweise, vertritt die Ansicht, dass die Ausmaße der Einhegungsbewegung überschätz würden, nur bestimmte Gebiete betroffen waren und lediglich drei Prozent des gesamten Ackerlandes überhaupt zu Schafweiden umfunktioniert wurden.[8] Es stellt sich darauf hin jedoch die Frage, weshalb in vielen zeitgenössischen sozialkritischen Quellen gerade auf dieses Phänomen Bezug genommen wurde und auch Morus, wie im folgenden Kapitel genauer dargestellt wird, mit großer Vehemenz auf die daraus resultierende Ungerechtigkeit im ersten Buch der Utopia aufmerksam machte. Kreyssig, die Russells Meinung unterstütz und sie als „grundsätzlich anerkannte Meinung […] heute unter den Wissenschaftlern“[9] hinnimmt, unterstellt Morus und seinen Zeitgenossen die Einhegungsbewegung unwissendlich für soziale Missstände verantwortlich gemacht zu haben, denen eigentlich andere Ursachen, nämlich z.B. das Bevölkerungswachstum zu Grunde lagen, so sei ein großer Teil der Landbevölkerung doch schon vor 1485 in die Städte gezogen[10].

Die Entstehungszeit der Utopia war geprägt von einer Entwicklung weg von der ausschließlichen Produktion zum Eigenbedarf hin zu einer profitorientierten Produktion in Landwirtschaft und Handwerk. Märkte entstanden und der Geldumlauf nahm zu. Um das Jahr 1450 erlangten Gold und Silber einen wichtigen Stellenwert als Zahlungsmittel in Europa. Neben einem vielfältigen Münzwesen entwickelte sich, ausgehend von Antwerpen, zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein System aus Banken und Börsen. Länder, wie England, die selbst keine Gold- und Silbermienen besaßen waren nun auf den Fernhandel angewiesen und so gelang es König Heinrich VII. die Staatskassen Englands zu füllen, allerdings nutzte er das Geld kaum für Investitionen, sondern hortete es. Anders verhielt sich sein Sohn und Nachfolger, Heinrich VIII.: er finanzierte mit diesem Vermächtnis vor allem Kriege und gönnte sich auf Kosten des Staatshaushaltes ein Leben im Luxus.[11] Doch der Handel mit dem Ausland war nicht die einzige Geldquelle der Monarchen. Mit der Ausrottung des Feudalsystems und dem Wachsen der Marktwirtschaft wurde es dem Herrscher möglich Steuern vom Volk in Form von Geld anstelle körperlicher Arbeit abzunehmen und somit die Staatskassen und sich selbst zu bereichern.[12]

2.2 Kritik am englischen Wirtschaftssystem im ersten Buch der Utopia

Wie schon erwähnt ist Morus ein äußerst kritischer Beobachter der im Vorausgegangenen dargestellten wirtschaftlichen Verhältnisse im England der frühen Tudorzeit und erkennt die herrschenden „feudalaristokratischen und sich im Wandel befindlichen ökonomischen Strukturen“[13] als Ursache für die zunehmende Verelendung der Bauern und die daraus resultierende Kriminalität. Verantwortlich für die immer größerer Kluft zwischen Armen und Reichen macht er zum Beispiel die faulen und nur an Profit orientierten „Edelleute, die selber müßig wie die Drohnen von anderer Leute Arbeit leben, nämlich von den Pächtern auf ihren Gütern, die sie bis aufs Blut schinden um höherer Renten willen“[14].

Als Hauptgrund jedoch für die schlechten Verhältnisse beschreibt Morus, durch die Figur Hythlodäus, die schon erläuterte Einhegungsbewegung. Er beschreibt die Vorgänge an einem recht drastischen Bild: „Eure Schafe […] haben auf einmal angefangen, so gefräßig und wild zu werden, daß sie sogar Menschen fressen, Länder, Häuser, Städte verwüsten und entvölkern.“[15] Jedoch haben die Schafe hier eine doppelte Bedeutung: natürlich sind damit die zur Wollgewinnung gezüchteten Tiere gemeint, für deren Weideland die Äcker weichen mussten, allerdings klagt Morus hier auch erneut die Raffgier und Skrupellosigkeit des Land besitzenden Adels an, was an folgender Stelle noch deutlicher wird:

[…] nicht genug damit, daß sie [die Edelleute und Staatspersonen] faul und üppig

dahinleben, der Allgemeinheit nichts nützen, eher schaden, so nehmen sie auch

noch das schöne Ackerland weg, zäunen alles als Weiden ein, reißen die Häuser

nieder, zerstören die Dörfer, lassen nur die Kirche als Schafstall stehen […][16]

Als Folgeerscheinung der Einhegungsbewegung nennt Morus die Vertreibung der Pächter und ihrer Familien „von Haus und Hof“, woraus Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit resultierten, was wiederum die Betroffenen zur Kriminalität zwinge. Ebenso führt er den Preisanstieg der Lebensmittel, wie auch der Wolle, deren Handel ein „Monopol weniger“ sei, als negative Auswirkungen der Einhegungsbewegung an.[17]

Starke Kritik lässt Morus bzw. Hythlodäus auch zum Thema Finanzwirtschaft verlauten. Er verachtet sowohl die Geldanhäufung durch Monarchen, die Geldausgabe für sinnlose Kriege als auch Prasserei und luxuriöses Leben des Königs, während weite Teile der Bevölkerung in Armut leben. Zumal die Art der Steuereinnahmen, durch die der königliche Reichtum ja, zumindest teilweise, zustande komme, unehrenhaft, unmoralisch und schlichtweg falsch sei. Als Beispiel für die finanzielle Ausnutzung des Volkes durch den König und seine Berater, nennt Morus fünf „Ränke“, wie die Staatskassen illegitim gefüllt werden: die künstliche Erhöhung und Herabsenkung des Geldwertes je nach Bedarf des Königs; fingierte Kriege als Rechtfertigung für erhöhte Steuern; die Ahndung von Brüchen alter, längst vergessener und deswegen missachteter Gesetze unter hohen Geldstrafen; die Einführung neuer schwer einzuhaltender, aber teuer bestrafter Gesetzte und die persönliche Beeinflussung von Richtern durch den Monarchen.[18] Ein König der so handelt ist laut Morus „nicht König, sondern Kerkermeister“, er solle „seine Faulheit und seinen Hochmut aufgeben“ und „rechtschaffen von seinem Einkommen leben“[19].

Doch Morus geht noch einen Schritt weiter als nur die ungerechte Verteilung des Geldes zu kritisieren, er verurteilt die Geldwirtschaft an sich, erkennt sie als Grund für die Verarmung und den Ursprung des moralischen Untergangs der Gesellschaft: „Betrug, Diebstahl, Raub, Streit, Aufruhr, Zank, Aufstand, Mord, Verrat und Giftmischerei“[20] seien ohne Geld nicht vorhanden, wie Morus am Ende des zweiten Buches, in einer Zusammenfassung der Sozialkritik des ersten Buches, feststellt.

Mit der Kritik am Geld geht gleichzeitig die noch drastischere Kritik am Privatbesitz einher: Hythlodäus hält eine gerechte Gesellschaft für unmöglich so lange noch eine Ansammlung von Privateigentum möglich ist, denn

mag die Menge der vorhandenen Güter noch so groß sein, sie wird doch nur unter

wenigen aufgeteilt, und für die übrigen bleibt Not und Entbehrung.[21]

2.3 Das Wirtschaftssystem des Idealstaats Utopia

Mit seiner Konstruktion eines idealen Staates erschafft Morus ein Gegenentwurf zur zeitgenössischen europäischen Realität. Im Bereich der Wirtschaft wird vor allem auf das planwirtschaftliche System der Utopia Bezug genommen, dessen Produktionsziel nicht die Profitrealisierung des Einzelnen, sondern die Bedürfnisbefriedigung der Allgemeinheit ist. Die Basis hierfür ist das Gemeineigentum der gesamten utopischen Bevölkerung.[22]

[...]


[1] Vgl. Volker Meid: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 2001.

[2] In dieser Arbeit zitierte Ausgabe: Thomas Morus: Utopia. Übersetzt v. G. Ritter. Nachwort E. Jäckel. Stuttgart 2003. (Im Folgenden wird dieser Text als “Morus” zitiert.)

[3] Vgl. Thorsten Bagschik: Utopias in the English-speaking World and the Perception of Economic Reality. Frankfurt a. M. 1996, S. 47.

[4] Vgl. Conrad Russell: The Crisis of Parliament. English History 1509 – 1660. Oxford 1971, S. 11.

[5] Vgl. John Guy: Tudor England. Oxford 1989, S. 41.

[6] Vgl. Russel: Crisis of Parliaments, S. 19.

[7] Vgl. Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 19.

[8] Vgl. Russel: Crisis of Parliaments, S. 19.

[9] Jenny Kreyssig: Die Utopia des Thomas Morus. Studien zur Rezeptionsgeschichte und zum Bedeutungskontext. Frankfurt a. M. 1988. S. 136. (Ergänzung von mir, J.S.)

[10] Vgl. Ebd. S. 136f.

[11] Vgl. Ebd. S. 204f.

[12] Vgl. Bagschick: Utopias, S. 47f.

[13] Jean Claude Deivaux, Ekke-Ulf Ruhstrat: Zur Geschichte der Sozialutopie. Emanzipationstheorie oder soziale Phantasterei? Pfaffenweiler 1987. S. 18.

[14] Morus, S. 25.

[15] Ebd. S. 27f.

[16] Ebd. S. 28. (Ergänzung von mir, J.S.)

[17] Vgl. Ebd. S. 28f.

[18] Vgl. Morus, S. 45f.

[19] Ebd. S. 48.

[20] Ebd. S. 145.

[21] Ebd. S. 54.

[22] Vgl. Richard Saage: Utopische Profile. Renaissance und Reformation. Münster 2001. S. 83.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Zur Gegenüberstellung von Sozialkritik und utopischem Idealstaat bei Thomas Morus
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Hauptseminar: Thomas Morus: Utopia
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
25
Katalognummer
V81010
ISBN (eBook)
9783638838795
Dateigröße
486 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gegenüberstellung, Sozialkritik, Idealstaat, Thomas, Morus, Hauptseminar, Thomas, Morus, Utopia
Arbeit zitieren
Julia Sproll (Autor:in), 2006, Zur Gegenüberstellung von Sozialkritik und utopischem Idealstaat bei Thomas Morus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81010

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