Das Kind Otto in Goethes Wahlverwandtschaften


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Zeugung des Kindes: Ein doppelter Ehebruch der Fantasie (Buch 1, Kapitel 11)

3. „Die Bildung des Major“
3.1 Das Aussehen des Kindes
3.2 Die Einstellungen der Figuren zum Kind

4. „Doch könnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhältnis ausdrücken, wovon hier die Rede war“: Otto – der Name des Kindes

5. „[] es hat aufgehört zu atmen.“ Der Tod des Kindes
5.1 Die Wassersymbolik
5.2 Böse Vorzeichen: Wasserunglücke
5.3 Das Ertrinken des Kindes und die Reaktionen der Romanfiguren

6. Schluss

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Kind Otto aus Goethes Wahlverwandtschaften (1809) ist eine ziemlich ungewöhnliche, jedoch keineswegs uninteressante, literarische Figur. Gezeugt bei einem doppelten Ehebruch der Fantasie, hat das Kind vier, sich nach chemischen Gesetzen verhaltende, Elternteile, zwei leibliche und zwei geistige, ein erschreckendes Aussehen und ein sehr kurzes lebloses Leben. Dennoch ist seine Rolle im Roman keinesfalls sinnlos. Auf dem durchkonzipierten Spielplan der Wahlverwandtschaften wies Goethe auch der Figur des Kindes Otto eine ganz bestimmte Funktion zu. Diese Funktion soll in der folgenden Arbeit, anhand von Schlüsselszenen im Roman und verschiedenen Interpretationsansätzen aus der Forschung, ermittelt und analysiert werden.

Mit den ungewöhnlichen Umständen der Entstehung des Kindes, seinem merkwürdigen Äußeren und den verschiedenen Einstellungen und Erwartungen der Romanfiguren zum Kind, befassen sich die ersten beiden Kapitel. Sehr aufschlussreich und interessant ist auch eine Analyse des Namens ‚Otto’: Absichtlich von Goethe gewählt, liegen in ihm weitere Schlüssel zum Verständnis der Figur ihres Namensträgers. Deshalb beschäftigt sich Kapitel vier ausführlich mit diesem Aspekt der Forschung. Ebenso wichtig ist der Tod des Kindes. Von hoher Symbolkraft ist Ottos Ertrinken im See, der Höhepunkt des Romans, auf den sich die gesamte Handlung zuspitzt. Der letzte Teil der Arbeit behandelt demzufolge die Themen Wasser und Ertrinken als wichtige Symbole der Wahlverwandtschaften, die vielen Vorausdeutungen innerhalb des Romans auf Ottos Ertrinken, seinen Tod und schließlich die Reaktion der anderen Figuren auf sein Sterben. Anhand der daraus gewonnenen Erkenntnisse schließt die Arbeit mit der zusammenfassenden Beantwortung der zu untersuchenden Frage nach der Funktion des Kindes Otto im Roman.

2. Die Zeugung des Kindes: ein doppelter Ehebruch der Fantasie (Buch 1, Kapitel 11)

Das Kind Otto, leiblicher Nachkomme der Eheleute Eduard und Charlotte, stellt einen Knotenpunkt in den Wahlverwandtschaften dar, in dem die Fäden der Beziehungen und Leidenschaften der vier Hauptfiguren zusammenlaufen.[1]

Im Sinne der chemischen Gesetze der Wahlverwandtschaften, mit denen sich die Charaktere im vierten Kapitel des ersten Buches auseinandersetzten und die sie spielerisch auf menschliche, soziale Verhältnisse übertrugen[2], kam es zu Auflösungen bestehender Beziehungen und neuen Umverteilungen. Der träumerische Eduard und die bodenständige Charlotte, die in zweiter Ehe miteinander vermählt sind und isoliert zu zweit auf Eduards riesiger Schlossanlage ihr Dasein fristen, entzweien sich als eine dritte und vierte Person auftauchen. Zunächst nimmt Charlotte ihre junge, zurückhaltende Nichte Ottilie unter ihre Fittiche und Eduard schließt sich seinem rationellen Jugendfreund, dem Hauptmann an. Doch es kommt nach kurzer Zeit zu einer neuen Konstellation: zwischen Eduard und Ottilie entbrennt eine leidenschaftliche Liebe und auch Charlotte und der Hauptmann fühlen sich zueinander hingezogen. Zwischen beiden Paaren wird die Liebe allerdings an keiner Stelle des Romans direkt körperlich vollzogen. Jedoch indirekt, bei der Zeugung des Kindes Otto. Der Auslöser hierfür ist der Besuch eines ungewöhnlichen Paares (Buch 1, Kapitel 10): Der Graf und die Baronesse sind zwar jeweils mit einem anderen Partner zu einer Zweckehe verbunden, führen aber eine außereheliche Beziehung und vertreten recht freizügige Ansichten über die Ehe. Dieses Paar übt einen doppelten und widersprüchlichen Einfluss auf Eduard und Charlotte aus, die selbst von gegensätzlichen Gefühlen geleitet werden.[3] Durch die Tatsache, dass der Graf und die Baronesse so freizügige Ansichten über die Ehe vertreten (S.72-74) fühlen sich die Eheleute möglicherweise ermuntert ihre eigene Ehe zu brechen und sich mit ihren Wunschpartnern zu vereinen. Andererseits stellt das Grafenpaar Eduard und Charlotte als ein perfektes, zur lebenslangen Ehe „wahrhaft prädestiniertes Paar“[4] dar und legt den erhofften neuen Liebesbeziehungen, absichtlich oder unabsichtlich, Hindernisse in den Weg: Der Baron vermittelt dem Hauptmann eine gute Stelle an einem anderen Ort und die Baronesse lädt das Ehepaar Eduard und Charlotte ohne Ottilie auf ihr Gut ein.[5]

Beeinflusst durch die Gespräche mit seinem alten Freund über vergangene Zeiten und die Schönheit Charlottes, führt Eduard den Grafen über geheime Wege in der Nacht zum Zimmer der Baronesse, wo das Paar zu einem Stelldichein verabredet ist. Die Glocke schlägt Mitternacht und mit dem Beginn der Geisterstunde erwacht das Begehren unter den Schlossbewohnern.[6]

Als das Ehepaar zusammentrifft sind beide sonderbar verwirrt und irritiert. Eduard, der besonders beeinflussbar ist, landet unvermittelt vor Charlottes Zimmer. Dort hört er das Kammermädchen über Ottilie sprechen und muss sofort an seine Geliebte denken, sieht sie bildlich vor sich: „[…] er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, […]“[7]. Und als er an die Tür klopft geht „eine sonderbare Verwechslung“[8] in ihm, aber auch in seiner Frau vor. Charlotte, die traurig ist über die baldige Abreise des Hauptmannes, hat den Eindruck, der Hauptmann klopfe an ihre Tür („Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür“,[9]). Die innere Wirklichkeit der Figuren, ihre Wünsche beginnen nun Oberhand zu nehmen. Dies ist nicht weiter ungewöhnlich für Eduard, dessen Charakter durch Haltlosigkeit, Inkonsistenz und Schwäche gekennzeichnet ist, er lässt sich durch den gesamten Roman ausschließlich von seinen Gefühlen leiten und glaubt fest an die Existenz des Schicksals. Für die rationelle Charlotte, die durch ihre Vernunft, Lebenshaftung und ihrem Bedürfnis gesellschaftliche Konventionen aufrecht zu erhalten, ein gewisses charakterliches Gegenbild zu Eduard darstellt, scheint diese Reaktion eher ungewöhnlich[10]. Vor allem, als sich die Szene noch verschärft: Die beiden Figuren schlafen miteinander und haben nur das Bild ihrer Geliebten vor Augen:

In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innere Neigung, behauptete die

Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilie in seinen

Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, […]“[11]

Bei näherer Betrachtung jedoch kann zu dem Schluss gekommen werden, dass Charlottes Verhalten in dieser Szene nicht unbedingt untypisch für sie ist. Immerhin erfüllt sie in der Liebesnacht mit ihrem Mann, die für sie so wichtigen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Allerdings nutzt auch sie die Gunst der Stunde und lässt ihre Gedanken frei schweifen.[12]

Im Vollzug der Ehe begehen Eduard und Charlotte Ehebruch, einen Ehebruch der Fantasie. Diese Szene ist ein Schlüsselpunkt mit weit reichenden Konsequenzen: hier werden zum einzigen Mal die unterschiedlichen Leidenschaften der Hauptfiguren körperlich ausgelebt und im Geiste sind auch alle vier daran beteiligt.

Als das Ehepaar am morgen nach der Liebesnacht erwacht, fühlt es sich schuldig („[…] die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; […]“,[13]). Unklar ist jedoch, ob sich diese Schuldgefühle auf den in Gedanken betrogenen Ehepartner beziehen, oder auf den geliebten Wunschpartner. Tatsache ist, dass viele von Goethes Zeitgenossen, die dem Roman größtenteils mit Ablehnung entgegentraten, gerade in diesem gedanklichen Ehebruch die moralisch verwerflichste Szene sahen. Sie fühlten sich durch ihn weitaus mehr provoziert als durch einen reellen Ehebruch.[14] Einige spätere Interpreten, wie zum Beispiel Leopold Ziegler, deuteten diesen Vorfall christlich moralisch: der ideelle Ehebruch führe zum tragischen Ausgang des Romans, weil es sich hierbei um eine Sünde im christlichen Treueverständnis handele.[15]

[...]


[1] Vgl. Sampaolo, Giovanni: „Prosperinas Park“. Goethes ‚Wahlverwandtschaften’ als Selbstkritik der Moderne. Stuttgart: Metzler 2003. S.107.

[2] Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. Mit einem Nachwort von Benedikt Jäßing. Stuttgart: Reclam 2005. S. 33-39. (Im Folgenden wird dieser Text als WV abgekürzt)

[3] Schwan, Werner: Goethes ‚Wahlverwandtschaften’. Das nicht erreichte Soziale. München: Wilhelm Fink Verlag 1983. S. 105.

[4] WV, S.74.

[5] Vgl. Schwan: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 105-106.

[6] Vgl. Kittler, Wolf: Goethes ‚Wahlverwandtschaften’. Sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt. In: Goethes ‚Wahlverwandtschaften’. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hrsg. von Norbert W. Bolz. Hildesheim: Gerstenberg 1981. S. 230 – 259. S. 238.

[7] WV, S.83.

[8] Ebd.

[9] Ebd. S.84.

[10] Vgl. Schwan: Goethes ‚Wahlverwandtschaften’, S.106-107.

[11] WV, S. 85.

[12] Vgl. Ammann, Peter: Schicksal und Liebe in Goethes ‚Wahlverwandtschaften’. Bern: Franke Verlag 1962. S. 56-57.

[13] WV, S.85.

[14] Vgl. Schwan: Goethes ‚Wahlverwandtschaften’, S.107.

[15] Vgl. Ammann: Schicksal und Liebe, S. 57.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Das Kind Otto in Goethes Wahlverwandtschaften
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Germanistik)
Veranstaltung
Hauptseminar: Goethes Romane
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V81007
ISBN (eBook)
9783638838207
Dateigröße
464 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kind, Otto, Goethes, Wahlverwandtschaften, Hauptseminar, Goethes, Romane
Arbeit zitieren
Julia Sproll (Autor:in), 2006, Das Kind Otto in Goethes Wahlverwandtschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81007

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