Frauen - Mythen - Stimmen: Eine Untersuchung zu Dieter Wellershoffs Sirene


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

A. Einleitung

B. Die Sirene: Frau – Mythos - Stimme
I. Der Sirenen - Mythos
I.1. Die Odyssee als ältestes Beispiel einer literarische Interpretation des Mythos
I.2. Theoretische Interpretationen des Mythos
I.2.1. Die Dialektik der Aufklärung nach Max Horkeimer und Theodor W. Adorno
I.3. Der Mythos in der Novelle Die Sirene
II. Stimme – Zum Gesang der Sirenen
II.1. Der Gesang der Sirenen nach Wellershoff
II.2. Stimme, Sprache und Gesang der Sirene in der Novelle
III. Frauen – Zur Weiblichkeit der Sirenen
III.1. Wellershoffs Sirene als Frau
III.2. Die Novelle als Reformulierung von Weiblichkeitsmythen
3.2. Der Gesang der Sirene als weibliche Rede?

C. Zusammenfassung und Schluß

D. Literaturliste

Primärliteratur:

Sekundärliteratur:

A. Einleitung

„Frauen – Mythen – Stimmen“ lautet der Titel des Projektseminars, in dessen Folge diese Arbeit entstanden ist. Im Laufe eines Semesters und einer mehrtägigen Seminarfahrt, setzten sich die TeilnehmerInnen des Seminars kritisch mit diesen drei Themenbereichen auseinander. Besondere Verknüpfung fanden die drei Themen durch Untersuchungen der weiblichen Rhetorik, die anhand literarischer Verarbeitungen mythologischer Frauenfiguren abschließend spezifiziert wurden. Trotzdem zeichnete sich zum Ende des Seminars die schwer einsichtige Verbindung der drei Seminarthemen als ein allgemeiner Kritikpunkt ab. Ausgehend von dieser Sachlage möchte diese Arbeit versuchen, anhand der Novelle Die Sirene von Dieter Wellershoff alternativ weitere Verknüpfungspunkte zwischen den drei Themen zu finden.[1] Wellershoff adaptiert in seiner Novelle den Sirenenmythos, um die Entwicklung seiner Hauptperson Elsheimer anzuzeigen. Professor Elsheimer hat sich ein Freisemester genommen, um seinen Ruf als Wissenschaftler durch eine neue Publikation zu festigen. Bei den Planungen zu diesem Buch wird er unterbrochen durch den Anruf einer ihm unbekannten Frau. Diese bittet ihn um Hilfe; nachdem ihr ehemalige Geliebter sie verlassen habe, brauche sie jemanden, der ihr zuhört und sie versteht. Nach und nach entwickelt sich eine immer intensiver werdende Beziehung zwischen den beiden, die jedoch nur über das Medium des Telefons ausgelebt wird. Die Anruferin, die nur durch den Titel und durch zwei der Novelle vorangestellte Zitate als Sirene charakterisiert wird, zieht Elsheimer immer mehr aus der Realität in eine Phantasiewelt. Zunächst genießt Elsheimer den Aufenthalt in dieser Welt. Als er jedoch die phantastische Beschaffenheit dieser Welt und seiner Bewohnerin langsam erkennt, beginnt er um die Rückkehr in die Realität zu kämpfen. Der Preis für seinen Sieg ist jedoch der Tod der Sirene.

In der Novelle finden sich alle drei Themenbereiche wieder. Sie erscheint, wie die Untersuchung zeigen wird, als Reformulierung des antiken Sirenen-Mythos; durch das Medium des Telefons spielt die Stimme als einziges Kommunikationsmittel eine bedeutende Rolle; die Sirene vertritt als Frau die Gegenposition zur männlichen Figur Elsheimers.

Die drei Themen sollen zunächst getrennt untersucht werden; dies erscheint einerseits sinnvoll, um der Komplexität der einzelnen Aspekte annähernd gerecht zu werden, andererseits um die jeweiligen Spezifika herauszuarbeiten. Diese werden dann in einem abschießenden Teil zusammengefaßt und in Verbindung gesetzt werden.

B. Die Sirene: Frau – Mythos - Stimme

I. Der Sirenen - Mythos

Der Mythos der Sirenen ist uns heute hauptsächlich und ursprünglich bekannt aus dem Sagenkreis um die Abenteuer des Odysseus. Obwohl die Figur der Sirenen schon vor dem Entstehen der Odyssee bekannt war und geprägt wurde, geht unsere heutige Vorstellung der Sirenen auf dieses Epos zurück, das zugleich die älteste literarische Verarbeitung des Sirenenmythos darstellt. Roland Hampe vermutet im Nachwort zur Odyssee, daß sie im 8. Jhdt. v. Chr. entstanden sei.[2] Herr Weicker verweist jedoch in seinem Artikel zu den Sirenen im Ausführlichen Lexikon der griechischen und römischen Mythologie auf ältere bildliche Darstellungen der Sirenen als Todesengel; des weiteren führt er an, daß „[w]eder das genaue Schicksal der Verlockten, noch das der Sirenen nach ihrem mißglückten Anschlag [...] erwähnt [wird], noch Gestalt, Namen und Abstammung, alles Angaben, die doch für das konkrete Persönlichkeiten erfordernde Märchen unerläßlich sind. Homer setzt also die ausführliche Kenntnis der Sage voraus und erwähnt nur diejenigen Züge, die für ihre episodenhafte Verwendung im Kreise der Abenteuer des Seehelden notwendig waren und dessen Schicksal direkt berührten.“[3] Diese Ausführungen legen den Schluß nahe, daß es sich bei den Sirenen nicht um eine Erfindung Homers handelt, sondern daß sie tatsächlich ihren Ursprung im Mythos haben, der uns in der vorhomerischen Fassung nicht bekannt ist.

Es ist also formal wichtig, zwischen dem Begriff des Mythos und dem des Epos als einer Form der literarische Interpretation des Mythos, wie er mit der Odyssee vorliegt, zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist besonders zu beachten, wenn in der folgenden Untersuchung die Odyssee als der Text herangezogen wird, der dem Mythos am nächsten steht und seine Fassung und Auffassung geprägt hat.

Nach dem homerischen Text haben sich eine Vielzahl von Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern und –theoretikern mit dem Sirenenmythos auseinandergesetzt. Stellvertretend für die Menge der literarischen und theoretischen Interpretationen des Sirenenmythos sollen folgend die Sirenenepisode aus der Odyssee und die Dialektik der Aufklärung nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vorgestellt werden.[4]

I.1. Die Odyssee als ältestes Beispiel einer literarische Interpretation des Mythos

Die Verwendung des Sirenen-Motivs läßt sich in der Literatur beginnend mit der Homerischen Odyssee in Variationen und Abwandlungen bis in die heutige Zeit verfolgen.

Odysseus selbst ist es, der das Abenteuer mit den Sirenen am Hof der Phäaken wiedergibt. Dabei ist der Bericht über die Sirenen zweigeteilt; zunächst erzählt Odysseus von der Warnung der Kirke und ihrem Rat, sich an den Mast seines Schiffes binden, und sich von den Kameraden, denen er die Ohren zuvor mit Wachs verschließen sollte, sicher an der Insel der Sirenen vorbeirudern zu lassen. Der zweite Teil seiner Erzählung berichtet von der geglückten Durchführung dieses Planes, die es Odysseus ermöglichte, unbeschadet dem Gesang der Sirenen zu lauschen.

Der Mythos berichtet von dem Untergang der Sirenen für den Fall, daß es jemandem gelänge, unbeschadet ihrem Gesang zu lauschen. Der Epos geht auf den Untergang der Sirenen als Folge der Begegnung mit Odysseus jedoch nicht ein.

Weitere Interpretationen des Mythos und besonders Adaptionen und Erweiterungen der Figur der Sirene(n) lassen sich durch alle Epochen der Weltliteratur verfolgen. Eine Übersicht über diese Interpretationen zu geben halte ich jedoch in diesem vorgebenen Umfang weder für praktikabel noch für sinnvoll.[5]

I.2. Theoretische Interpretationen des Mythos

Die für diese Untersuchung interessanteren Interpretationen des Sirenenmythos sind die theoretischen Auseinandersetzungen. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang besonders die Arbeiten von Max Horkeimer und Theodor W. Adorno, sowie die Arbeit Dieter Wellershoffs, die beide im Verlauf dieser Arbeit vorgestellt werden sollen.[6]

I.2.1. Die Dialektik der Aufklärung nach Max Horkeimer und Theodor W. Adorno

Horkheimer und Adorno setzen sich in ihrem Exkurs I – Odysseus oder Mythos und Aufklärung am Beispiel der Irrfahrt des Odysseus und besonders der Sirenenepisode mit der Beziehung von Mythos und Aufklärung auseinander.[7]

Die beiden Philosophen sehen eine dialektische Verschlingung zwischen Mythos und Aufklärung: Das Verschwinden von Mythen steht mit der fortschreitenden Aufklärung in Verbindung. „Je mehr Aufklärung desto weniger Mythos und vice versa.“[8] Durch die Logik der Aufklärung wird der Mythos entzaubert bzw. entmythologisiert, d.h. dem Glauben wird die Tatsache gegenübergestellt.[9] Der Preis für diese Entwicklung ist die fortschreitende Entfremdung und Entfernung von den Objekten der Aufklärung, mit der Folge „einer sich selbst entfremdeten Menschheit, der die Welt zum Objekt der Beherrschung verkommt.“[10]

Die Aufklärung kann sich aber auch umgekehrt wieder in Mythologie verwandeln, besonders dann, wenn sie sich „als positivistischer Glaube an das Bestehende“ niederschlägt, „als Mythos dessen, was der Fall ist.“[11]

Die Odyssee selber als „Grundtext der europäischen Zivilisation“ ist Beispiel für die Dialektik der Aufklärung. Indem Homer die volksmäßigen Überlieferungen der Abenteuer des Odysseus organisiert und sie in die einheitliche Form und Sprache des Epos fügt, tritt er in Widerspruch zum Mythos, denn „der ehrwürdige Kosmos der sinnerfüllten homerischen Welt offenbart sich als Leistung der ordnenden Vernunft, die den Mythos zerstört gerade vermöge der rationalen Ordnung, in der sie ihn spiegelt.“[12]

Genau diesen Kampf zwischen Glauben und Logos, zwischen Lust und Verstand, zwischen Vergnügen und Rationalität führt Odysseus, aber auch Elsheimer; beide erfahren die Dialektik der Aufklärung am eigenen Leib. Der Preis für das Bestehen in der Rationalität ist die Aufgabe tiefsitzender Wünsche und Träume. Während jedoch Odysseus sich noch auf dem Weg zum vernunftgelenkten Subjekt befindet, ist Elsheimers Ausgangspunkt die vernunftbestimmte Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, in der emotionale Bedürfnisse nicht erwünscht und geduldet werden.

Die Odyssee zeigt die Entwicklung ihres Protagonisten zum selbstbewußten Individuum anhand seiner Auseinandersetzung mit und seiner Siege über die mythischen Kräfte. „Der Mensch als biologisches ‚Mängelwesen‘, entlassen aus der strengen Instinktdetermination, kann sich nur erhalten, wenn er das, was ihm als ‚Welt‘ entgegensteht, äußere wie innere Natur, sich unterwirft mit den Mitteln kalkulatorischer Rationalität.“[13] Die Rationalität des Odysseus zeigt sich in der List. Und obwohl diese List Odysseus das Leben rettet, da er die Begegnung mit den Sirenen unbeschadet übersteht, ist sie zugleich auch Einschränkung des Lebens. Denn Rationalität ist untrennbar verbunden mit dem Opfer; „rationale Herrschaft über inwendige und auswendige Natur bedeutet Verzicht und Entsagung, Opfer am Leben.“ „Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst entzaubert. Er kann eben nie das Ganze haben, er muß immer warten können, Geduld haben, verzichten“[14].

[...]


[1] Wellershoff, Dieter: Die Sirene. Eine Novelle. 2. Auflage. Köln 1996.

[2] Homer: Odyssee. Stuttgart 1984, bes. 12, 39-54, 166-200. (Künftig zitiert: Homer.)

[3] Weicker, [ohne Vorname]: Artikel „Seirenen“. In: Roscher, W.H. (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Bd. 4. Leipzig 1905-15, Sp. 601-639, Sp. 608.

[4] Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 19441, 1993. (Künftig zitiert: Horkheimer/Adorno.)

[5] Ich verweise deshalb u.a. auf: Politzer, Heinz: Das Schweigen der Sirenen. Stuttgart 1968.

[6] Wellershoff, Dieter: Der Gesang der Sirenen. In: Ders.: Literatur und Lustprinzip. Essays. Köln 1973, S.142 – 154. (Künftig zitiert: Wellershoff: Gesang.) – Da sowohl Horkeimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung auf die Psychoanalyse Bezug nehmen, als auch Wellershoff durch die Psychoanalyse geprägt ist, verzichte ich an dieser Stelle auf nähere Ausführungen zu den Auseinandersetzungen Sigmund Freuds und C.G. Jungs mit dem Mythos, die ansonsten in diesem Kontext zu weiteren interessanten Erkenntnissen geführt hätten.

[7] Horkheimer/Adorno, S. 50-87.

[8] Stephan, Inge und Siegrid Weigel (Hrsg.): Musen und Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 1997, S. 108.

[9] Vgl. Horkeimer/Adorno, S. 9: „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.“

[10] Sass, Jan: Der magische Moment. Phantasiestrukturen im Werk Dieter Wellershoffs. Tübingen 1990. (= Stauffenburg-Colloquium. 18.) S. 265. (Künftig zitiert: Sass.)

[11] Beide Zitate: Horkheimer/Adorno, S. 9.

[12] Ebd., S. 50.

[13] Allkemper, Alo: An den Rändern des Bewußtseins. Zu Dieter Wellershoffs Sirene. In: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke, und Keith Bullivant (Hrsg.): Dieter Wellershoff. Studien zu seinem Werk. Köln 1990, S. 129 – 144. (Künftig zitiert: Allkemper.) S. 130.

[14] Ebd.- Horkheimer/Adorno, S. 65

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Frauen - Mythen - Stimmen: Eine Untersuchung zu Dieter Wellershoffs Sirene
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Deutsche Philologie II - Neuere deutsche Literatur)
Veranstaltung
Frauen - Mythen - Stimmen
Note
2,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
21
Katalognummer
V8099
ISBN (eBook)
9783638151726
Dateigröße
612 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
feministische Literatur, Rhetorik, weibliches Sprechen
Arbeit zitieren
Ines Isermann (Autor:in), 2000, Frauen - Mythen - Stimmen: Eine Untersuchung zu Dieter Wellershoffs Sirene, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8099

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