Der Tempuswechsel in Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

15 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Tempuswechsel – ein erster Überblick
2.1. Der Wechsel ins Präsens – chronologische Betrachtung
2.2 Der Wechsel ins Präsens – analytische Betrachtung

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Roman Die Wahlverwandtschaften[1] von Johann Wolfgang Goethe präsentiert sich als ein Roman, bei dem der auktoriale Erzähler rückblickend im epischen Präteritum berichtet. Dieser präteritale Bericht wird stellenweise durch den Wechsel in andere Tempusformen unterbrochen, besonders durch präsentische Einschübe und Passagen.

Dabei handelt es sich im Grunde um ein, besonders in der Prosa gängiges Erzählverfahren, das in fast jedem Roman zu finden ist, um den Text lebendig zu machen und u.a. den Ab­stand des Lesers zum Text sowie den Verlauf der Spannung zu beeinflussen.

Interessant werden für den Literaturwissenschaftler diejenigen Stellen, an denen der Tempus­wechsel von dieser Norm, besonders vom historischen Präsens abweicht und zunächst unmotiviert erscheint. Aus diesem Grund sollen nach einem kurzen Überblick über die unter­schiedlichen Arten des Tempuswechsels in den Wahlverwandtschaften einige besonders auf­fällige Stellen im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen.

2. Der Tempuswechsel – ein erster Überblick

Am häufigsten findet sich in den Wahlverwandtschaften der Wechsel vom vorherrschenden Erzähltempus des Präteritums ins Präsens. Aus diesem Grund soll auf diesem der Schwer­punkt der Untersuchung liegen. Die seltenen Wechsel ins Plusquamperfekt oder ins Futur erschließen ihre Bedeutung aus der Vor- und Nachzeitigkeit des Textes und werden daher nur in einigen Ausnahmen zur Interpretation herangezogen.

Neben der direkten Wiedergabe der Rede, der Briefe und der Tagebucheinträge im Präsens, finden sich noch weitere Stellen, an denen anstelle des Präteritums das Präsens verwendet wird.

Den gesamten Roman durchziehen präsentische Einschübe und Passagen, in denen der all­wissende Erzähler bewertet und kommentiert. Dies geschieht im ersten Teil des Romans meist in kurzen Nebensätzen und wird im zweiten Teil ausgeweitet zu längeren Passagen, die oft die einzelnen Kapitel einleiten, diese aber auch immer wieder unterbrechen. Während die kurzen Einschübe meist der Charakterisierung der Protagonisten dienen, drängt sich der Er­zähler bei den längeren Passagen, die hauptsächlich im zweiten Teil zu finden sind, in den Vordergrund des Geschehens, verlangsamt dadurch das Erzähltempo und versucht durch all­gemeingültige, und teilweise philosophische Aussagen, die Glaubwürdigkeit der Figuren zu steigern.[2]

Neben den o.g. Fällen gibt es auch präsentische Stellen, bei denen der Erzähler im Hinter­grund bleibt. Gemeinsam ist diesen, daß ihre Ereignisse ausschlaggebend sind für die weitere Entwicklung der Handlung und sie im traditionellen Sinn z. T. Spannung tragen oder evozieren. Ob und inwieweit sich diese Stellen noch tiefer interpretieren lassen, soll diese Untersuchung klären. Im Mittelpunkt sollen stehen: die Szene der erwachenden Leidenschaft zwischen Eduard und Ottilie (I,13), das erste Zusammentreffen nach Eduards Abwesenheit und der Tod des Kindes (II,13/14), das Treffen im Gasthaus und die Rückkehr Ottilies von ihrer Reise (II,7) und ihr Tod (II,18).

2.1. Der Wechsel ins Präsens – chronologische Betrachtung

Aufgrund des chronologischen Ablaufs des Geschehens, das nur in Ausnahmefällen durch Rückblicke unterbrochen wird, erscheint es mir wichtig, an den Anfang dieser Arbeit nicht eine analytisch-zusammenfassende Interpretation des Tempuswechsels zu stellen, sondern eine Interpretation, die dem chronologischen Ablauf der präsentischen Stellen des Romans folgt, um eine Fehlinterpretation von eventuell chronologisch motivierten Tempuswechseln zu vermeiden.

Die erste längere präsentische Passage findet sich in I,12/13, wo die Reaktion der Paare auf die erwachende Leidenschaft beschrieben wird. „Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein“(91), bezieht sich auf Charlotte und schließt den Entscheidungsprozess gegen die Liebe zum Hauptmann und für den Fortbestand ihrer Ehe. Der Wechsel vom Er­zähltempus des Präteritums zum Präsens eröffnet an dieser Stelle mehrere Deutungs­möglichkeiten. Das Präsens als die Tempusform der Gegenwart verweist einerseits darauf, daß Charlotte sich ihren Entschluß vergegenwärtigt, und ist somit Vorausdeutung für die strenge Durchführung dieses Vorsatzes. Es ist aber auch Ausdruck von Charlottes Umgang mit den Zeitdimensionen. Der Entschluß der Entsagung begründet sich in der Vergangenheit, hat jedoch direkte Auswirkungen auf die Zukunft. Die Illusion einer erfüllten Liebe in der Ehe mit Eduard fesselt sie an die Vergangenheit und läßt sie jede Art von Veränderung und zukünftigen Entwicklungen fürchten, da diese ihr Bild von der scheinbar erfüllten Gegenwart zerstören könnten. Aus diesem Grund entscheidet sie sich also gegen die ungewisse Zukunft mit dem Hauptmann und findet Beruhigung durch die imaginären Bilder der alten Zeiten.

Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan. Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber. Sie fühlte sich innerlich wieder hergestellt (91).

Wie sehr dieses Verhalten ihre Art darstellt, mit Problemen umzugehen, ist einerseits direkt im Text beschrieben, „[i]mmer gewohnt sich ihrer selbst bewußt zu sein, [...] ward es ihr auch jetzt nicht schwer, [...] sich dem gewünschten Gleichgewichte zu nähern“ (90), andererseits findet es Ausdruck in dem fließenden Übergang vom Präteritum zum Präsens, der durch die Lautmalerei der hellen Vokale dem Rezipienten kaum auffällt, und damit diese Art der Flucht vor der Gegenwart als einen Automatismus entlarvt.[3]

So wie dieser Tempuswechsel verweisen auch die anderen auf Einstellungen und Charakter­eigenschaften der vier Hauptfiguren, wobei der Bezug Tempusform – Person immer individu­ell gedeutet werden muß.

Die Fortsetzung der präsentischen Passage im dreizehnten Kapitel stellt Eduard in den Mittel­punkt, und bekommt somit eine ganz andere, ja sogar kontrastierende Bedeutung. Während im zwölften Kapitel das Präsens Ausdruck von Charlottes Ruhe ist, stellt das Prä­sens im dreizehnten Kapitel Eduards innere Unruhe und seine Fixierung auf Ottilie dar. Die Gegen­überstellung der beiden zeigt sich schon im ersten Satz des dreizehnten Kapitels, be­sonders durch die Spitzenstellung des Subjekts, „Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung“ (91). Er ist nicht ruhig und ausgeglichen und bemüht sich auch nicht um innere Beherrschung, denn „er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen“ (91), „[i]n Eduards Gesinnungen, wie in seinen Handlungen, ist kein Maß mehr. Das Bewußtsein zu lieben und geliebt zu werden treibt ihn ins Unendliche“ (92). Diese innere Unruhe kommt auch in der sprachlichen Gestaltung der Passage zum Ausdruck. Das Erzähl­tempo wird beschleunigt, kurze Sätze werden, durch Semikola getrennt, unverbunden anein­andergereiht.

Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenster... (91).

Seiner inneren Unruhe wird nicht nur die Ruhe Charlottes, sondern auch der Natur gegen­übergestellt, was besonders durch den Wechsel ins Präteritum unterstützt wird, „[a]lles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich“ (91). Als er dann endlich einschläft, träumt er von der Zukunft mit Ottilie und nicht wie Charlotte von der Vergangenheit. „Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die frühsten Nebel gewältigte“(92).[4] Die Wirk­lichkeit ist für ihn nur noch Schein, was durch den Bericht des Erzählers gut zum Ausdruck gebracht wird. „Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben“, und „es schienen ihm ihrer zu wenig, und die vorgesetzte Tagesarbeit für seine Wünsche zu gering“ (92). Wichtig ist für ihn nur der Teil der Wirklichkeit, der mit Ottilie zu tun hat, nur Ottilie macht ihm die Wirk­lichkeit gegenwärtig. Aus diesem Grund wechselt der Erzähler auch vom Präteritum ins Prä­sens, sobald offensichtlich wird, daß alle Maßnahmen Eduards sich nur auf Ottilie beziehen, denn „es soll schon alles fertig sein, und für wen? Die Wege sollen gebahnt sein, damit Ottilie bequem sie gehen, die Sitze schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen könne...“ (92). Allein in dem kurzen Absatz von Zeile sechs bis sechsundzwanzig wiederholt sich der Name „Ottilie“ fünfmal und zeigt dadurch, daß das Präsens in Bezug auf Eduard nicht allein als Zeichen der Unruhe gesehen werden darf, sondern daß dieses immer mit seiner Leidenschaft für Ottilie in Verbindung gebracht werden muß.

[...]


[1] Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. Stuttgart 1956. – Die Kombination römischer und arabischer Zahlen als Angaben in Klammern des Untersuchungstextes bezeichnen die jeweiligen Kapitel des ersten bzw. zweiten Teils. Die alleinstehenden arabischen Zahlen kennzeichnen die Seitenzahlen des o.g. Primärtextes.

[2] Vgl. Einleitungen zu II,2; II,3; II,8...

[3] Vgl. „Freundschaft, N ei gung, Entsagen g i ngen vor ihr in h ei tern Bildern vorüber. S ie fühlte sich i nnerlich w ie der hergestellt. Bald ergr ei ft s ie ei ne süße Müdigkeit und ruhig schläft s ie ei n“ (91).

[4] Diese Stelle verdeutlicht einen weiteren Kontrast der Eheleute: während Charlotte ruhig einschläft, schlief Eduard endlich ein. Charlotte sucht aktiv die Ruhe des Schlafes, Eduard aber wird vom Schlaf übermannt, denn es heißt zuvor, „[z]u schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfällt sich auszuziehen“ (91).

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Der Tempuswechsel in Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Deutsche Philologie II - Neuere deutsche Literatur)
Veranstaltung
Hauptseminar: Goethe, Die Wahlverwandtschaften
Note
1,7
Autor
Jahr
2000
Seiten
15
Katalognummer
V8098
ISBN (eBook)
9783638151719
Dateigröße
542 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tempuswechsel, Johann, Wolfgang, Goethes, Wahlverwandtschaften, Hauptseminar, Goethe, Wahlverwandtschaften
Arbeit zitieren
Ines Isermann (Autor:in), 2000, Der Tempuswechsel in Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8098

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