Verfassungspolitik durch Vertrag: Politik und Verfassungsdilemma der Europäischen Union

Demokratische, legitimatorische und Effektivitätsdiskrepanzen europäischen Regierens und resultierende Konsequenzen für die Nicht-Ratifizierung der EU Verfassung 2005


Seminararbeit, 2006

31 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Index

1.) Einleitung

2.) Historie brevi manu der Europäischen Union

3.) Zur Verfassung der Europäischen Union
3.1 Einige Anmerkungen zur Verfassung generell
3.2 Idee und Elaboration der europäischen Verfassung
3.3 Der Ratifizierungsprozess: Das „Nein“ von Frankreich und den Niederlanden

4.) Probleme europäischer Politik
4.1 Weder Föderation noch Konföderation?
4.2 Regieren in Europa: effektiv und demokratisch?
4.3 Die Identifikation mit Europa

5.) Résumé: Quo vadis Europa?

6.) Literatur

1.) Einleitung

Die Europäische Union (EU) hat bis dato einzigartige, äußerst komplexe und mittlerweile 25 europäische Mitglieder einschließende sowie zahlreiche europäische und nicht-europäische Staaten tangierende politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Strukturen entwickelt.

Die Mehrebenenpolitik der EU, basierend auf acht Verträgen und einer Vielzahl von Protokollen, erlitt durch immer tiefgreifendere Verflechtungen horizontaler und vertikaler Façon und hieraus resultierender dezisiver Intransparenz, die Ost- und Süderweiterung (Mai 2004) um zehn neue Mitglieder sowie die ungenügende Reformierung ihres institutionellen Systems, um auf die Vergrößerung und die zunehmenden Tendenzen von mit dem Begriff Globalisierung[1] umschriebenen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Politika zu antworten, zunehmend unter Kritik. Dem Versuch der Kreation einer EU - einheitlichen Verfassung, welche mangelnder Effizienz, ungenügender bis absenter politisch - struktureller und demokratisch - partizipatorischer Inklusion und dem von vielen Autoren betonten Demokratiedefizit entgegenwirken sollte, wurde mit dem Votum sowohl der französischen als auch der niederländischen Bevölkerung zunächst einmal jegliche Entfaltungsmöglichkeit untersagt. Auch sollte die EU - Verfassung der Erzeugung eines europabürgerlichen Einheitsgefühls Aufschwung geben, wobei in diesem Zusammenhang die euroskeptische Aussage nicht unterschlagen werden sollte, „[...] there is as of yet no European people.“[2]

Verfassungsneuschaffung oder Verfassungswandel?

Gegner des Verfassungskonzeptes verweisen ebenfalls auf die Tatsache, dass sich die Europäische Union de facto bereits im Besitz einer materiellen Verfassung in Form der gültigen Verträge befindet, welche es allerdings auch nicht oder nur unzureichend vermochte, den heutigen Problemen der EU Vorschub zu leisten. Die Frage, ob der Verfassungsentwurf der EU eine Verfassungsneuschaffung[3] (wie er in einer Vielzahl der sich mit diesem Thema befassenden wissenschaftlichen Literatur und in von der Politik behandelten Debatten dargestellt wird), oder aber einen Verfassungswandel[4] bedeutet wird im aktuellen wissenschaftlichen Rekurs kaum oder nur marginal diskutiert. Beispielsweise „[...] die analytische Betrachtung der europäischen Verfassungspolitik im Vergleich mit staatsgebundenen Prozessen von Verfassungsbildung und Verfassungswandel könnte aber zum allgemeinen Verständnis dieser Prozesse und zur Konzeptualisierung der konkreten Verfassungspolitik in der EU einiges beitragen und so dem Schwanken der Debatte zwischen Überabstraktion und Überkonkretheit Einhalt gebieten.“[5]

Dieser Text geht von der Annahme aus, dass, sich dem unikaten Charakter der EU anpassend, sowohl von einer Entstehung als auch von einem Wandel gesprochen werden kann: Die Ratifizierung des Verfassungsentwurfes durch die Bevölkerung der EU - Mitgliedsstaaten hätte, im Besonderen mit Blick auf eine symbolische Implikation, den formellen Be-Gründungsakt einer sich dem Status quo abwendenden und einer weiteren Integration und Erweiterung zustimmenden EU bedeutet, deren einzigartige Struktur sich aller Voraussicht nach dem Modell eines demokratischen (Bundes)Staates stärker angenähert hätte denn jemals zuvor. Betrachtet man vorangegangene vertragliche Übereinkünfte der EU als faktisch geltende (materielle) Verfassung, so hätte sich doch die konstitutionelle Qualität durch ein gelungene Ratifizierung insofern amelioriert, dass ein konkreter (wenn auch ausführlicher) Verfassungstext die Basis aller weiteren Entwicklungen gebildet hätte. In anderen Worten: Die Zustimmung der EU - Bevölkerung zur Verfassung der Europäischen Union, welche bisher bestehende Verträge in einem Text bündelt und strukturiert, wäre einer Bejahung der derzeitigen konzeptionellen Idee und einer Bestätigung des aktuellen politischen Kurses der EU gleichgekommen.

Im Umkehrschluss lässt sich folgern, dass die Nichtratifizierung also ein Veto eines nicht unbeträchtlichen Teiles der EU Bevölkerung gegen den Weg, welchen die EU jüngst im Besonderen durch Maastricht und Nizza eingeschlagen hat, darstellt.

Das Votum contra EU - Konstitution spiegelt, und dies ist die Hauptthese dieser Arbeit, die Verdrossenheit der Europäer vis-à-vis der Entwicklung derzeitiger EU Politik wieder, welche sich sowohl aus deren demokratisch - legitimatorischen Defiziten ergibt, als auch das Resultat einer mangelnden Effektivität europäischen Regierens darstellt.

In diesem Beitrag werden, diese These begründend, folgende Aspekte ausführlich behandelt:

Die Betrachtung der historischen Entwicklung der Europäischen Union (Kapitel 2) im Kontext von Wirtschaft und Politik kumuliert, wie in Kapitel 3 dargestellt, im Entstehungsprozess der EU Verfassung sowie in der Beleuchtung der aktuellen Debatte um Für und Wider einer europäischen Konstitution. Anhand genereller Anmerkungen über Verfassungen im Allgemeinen wird in dieser Sektion des Textes des Weiteren die Beschaffen- und Besonderheit des Verfassungsentwurfes diskutiert. Das „Nein“ von Frankreich und den Niederlanden (Kapitel 3, Abschnitt 3) wird in Kapitel 4 auf seine Ursachen analysiert. Hierbei werden strukturelle Spezifika und Probleme der EU zu Rate gezogen, um Kritik an der aktuellen politischen Situation, sprich an dem gravierenden Effektivitätsdefizit der Union, üben zu können. Neben der Analyse der Scharpfschen Interpretation der demokratie - legitimatorischen Problematik (Kapitel 4, Abschnitt 2) wird in Abschnitt 3 die Frage nach der europäischen Identität beziehungsweise der Identifikation mit Europa weiteren Aufschluss darüber geben können, weshalb es zu einer Nichtratifizierung des Verfassungsentwurfes kommen konnte. Das abschließende Kapitel 5 wird die als am relevantesten betrachteten Argumente aufgreifen und versuchen, auf Basis derer die Frage zu beantworten, wie der Kurs der zukünftigen Europäischen Union verlaufen könnte – Quo vadis Europa?

Eine Definition von Verfassung:[6]

Der Begriff Verfassung findet zahlreiche Definitionen und Bewertungen. Diese Arbeit orientiert sich im weiteren Verlauf in ihrem Verständnis der Verfassung allgemein im Besonderen an den Deskriptionen Friedrich G. Schwegmanns und Dieter Grimms. Erstgenannter macht unter Spezifizierung zwischen formalrechtlichem und politisch-soziologischem Verfassungsbegriff[7] folgende Aussagen:

a) Formalrechtlicher Verfassungsbegriff:

- Verfassungen beinhalten „[...] grundlegende Bestimmungen über die Staatsorganisation und -funktionen, die Staatsaufgaben und –ziele sowie die Rechtsstellung der Bürger.“[8]
- „Im demokratischen Verfassungsstaat ist das Volk als der einzig legitime Verfassungsgeber anzusehen.“[9]
- „[...] Verfassung ]bezeichnet[ die Gesamtheit aller für die politische Ordnung grundlegenden Rechtssätze.“[10]

b) Politisch - soziologisch:

„[...] beschreibt Verfassung den tatsächlichen politischen Zustand eines Staates, die Machtverhältnisse, Entscheidungswege, wirtschaftliche, kulturelle, historische usw. Einflussfaktoren auf das Staatsleben.“[11]

Zusammenfassend:

„Verfassung wird [...] mit dem Normenkomplex identifiziert, der die Einrichtung und Ausübung der Staatsgewalt sowie die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft grundlegend regelt. Sie ist das dem Souverän zugeschriebene, die Staatsorgane bindende und insofern vorrangige, meist in einer Urkunde zusammengefasste und erschwert abänderbare Recht.“[12]

Einige Erläuterungen nicht vorwegnehmen wollend über die Debatte, ob sich die Europäische Union als Staatenbund bezeichnen lässt, ob sich diese Confoederatio zu einer Föderation entwickeln könnte, oder ob die Konnexion von EU und dem Begriff Staat ab ovo generell als inadäquat bezeichnet werden muss,[13] sollte den oben genannten Definitionen des Verfassungsbegriffes hinzugefügt werden, dass diese im Kontext dieser Arbeit trotz ihrer Relation zum Staat auf die EU - Verfassung[14] angewandt werden. „Genau dies scheint ein Problem der gegenwärtigen Debatte zur Verfassung der EU zu sein. Sie leidet unter [...] einer zu hohen Staatsbezogenheit [...].“[15] Es mangelt jedoch an Alternativen.

2.) Historie brevi manu der Europäischen Union

Die konzeptionelle Idee eines geeinten Europas ist kein Novum. Doch erst die katastrophale Situation, in welcher sich der Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg wiederfand, ebnete den Weg für deren Verwirklichung. Die Eindämmung Nachkriegsdeutschlands, Friedenssicherung und wirtschaftliche Prosperität sollten nicht nur durch die Erschaffung des Europarates (1949), welcher sich als Wertegemeinschaft verstand, sondern auch durch die Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS/Montanunion; Juli 1952) erreicht werden. Deren Gründungsstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg, einigten sich 1952 ebenfalls auf die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), welche allerdings 1954 durch die Ablehnung der Französischen Assemblée Nationale scheiterte. Auch das Konzept einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG), welche auf einer gemeinsamen Verfassung basieren sollte, wurde hierauf verworfen. Doch diese Bestrebungen lassen bereits vermuten, „die europäische Integration wurde weniger aus wirtschaftlichen denn aus politischen Motiven begonnen.“[16] Im März 1953 wurden die Verträge zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und des EURATOM - Abkommens in Rom unterzeichnet. Die EWG begründet die Zollunion, womit die Außenhandelspolitik zum ersten gemeinschaftliche Politiksektor wird. Die supranationalen Strukturen[17] der Gemeinschaft sind deutlich auf Integration ausgerichtet; politische Einigung sollte durch wirtschaftliche Integration und Kooperation erreicht werden.

Mit der Unterzeichnung des Vertrages zur Europäischen Gemeinschaft (EG) fusionierten EWG, EGKS und EURATOM. Im Oktober 1970 wird die Europäische Politische Zusammenarbeit begründet, welche der späteren Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) Vorschub leisten sollte. Auf dem Pariser Gipfel (1972) wurde die Einrichtung neuer gemeinschaftlicher Politikfelder beschlossen. Zwei Jahre darauf wurde, ebenfalls in Paris, der Europäische Rat (ER) eingerichtet und die Direktwahl des Europäischen Parlamentes ab dem Jahre 1979 entschieden. Gemäß Art. 237 EWGV, welcher eine mögliche Erweiterung durch Neumitglieder, die eine demokratische Verfassungen besitzen und die Menschenrechte und Grundfreiheiten schützen, vorsieht, traten am 1. Januar 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark der Gemeinschaft bei[18], gefolgt von Griechenland, Spanien und Portugal[19]. Das Ende des Kalten Krieges versetzte Europa und die Welt in eine globalpolitisch veränderte Situation. Die EG wurde durch die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 indirekt erweitert. Österreich war das erste Land, welches sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, mit welchem auch die österreichische Neutralität hinfällig wurde, Ende 1989 als Beitrittskandidat bewarb. Zum 1. Januar 1995 trat es zusammen mit Finnland und Schweden der EG bei. Bereits 1984 hatten sich die EG - Mitgliedsstaaten auf die Gründung der Europäischen Union (EU) geeinigt. Ein Jahr darauf, im Dezember 1985, wurde die Einheitliche Europäische Akte (EEA) vom ER in Luxemburg unterzeichnet. Wichtigste Innovationen[20] des zum 1. Juli 1987 in Kraft getretenen Dokuments sind die Einführung der qualifizierten Mehrheit im Ministerrat, die Vollendung des Binnenmarktes, die funktionelle Stärkung des EP, ein neuer Vertragsteil mit Betonung der EPZ, sowie die Einführung neuer Politikfelder zur kooperativen Zusammenarbeit. Die EU, deren Ratifizierung 1992 durch die Mitgliedsstaaten abgeschlossen wurde[21], trat zum 1. November 1993 in Kraft. Der Vertrag zur EU (EUV), setzte rechtliche und institutionelle Voraussetzungen für die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die Zusammenarbeit für Justiz- und Innenpolitik (ZJI), die GASP und verstärkte die Mitwirkungsrechte des EP. Heutzutage ist die EU in allen Politikfeldern aktiv. Die Einführung des Euro zum 1.Januar 2002 als offizielle Währung in EU - Europa hat neben ihrer ökonomischen auch eine symbolisch bedeutsame Dimension. Mit der Agenda 2000 wurden die finanziellen Rahmenbedingungen für die größte Erweiterung in der Geschichte der Union gesetzt: am 1. Mai 2004 traten zehn neue Mitgliedsstaaten bei, was quasi einer Verdopplung ihrer Größe gleichkommt. Dringende Reformen sind notwendig, um die EU an ökonomische Globalisierung, die volle Integration der neuen Mitglieder sowie eventueller weiterer Kandidaten, und die Anforderung an sie, vermehrt auch außerhalb ihres Territoriums zu agieren, anpassungsfähig zu machen.

3.) Zur Verfassung der Europäischen Union

3.1 Einige Anmerkungen zur erfassung generell

Der Begriff der Verfassung lässt sich vielfältig umschreiben: „[...] faktischer Zustand, Lebensordnung, Konvention, (Sozial-) Kontrakt, [...] Rechtsquelle, Normkomplex, ideale/positive Rechtsordnung, Organisationsstatut [...].“[22] Oder in einem Satz: „the constitution designates the core principles of any given polity.“[23] Generell lassen sich die Hauptfunktionen von Verfassungen in der Erfüllung von Integrations- Gestaltungs- und Problemlösungsfunktionen zur Erschaffung einer dauerhaften Ordnung erklären. Glaeßner und Reutter differenzieren die verfassungsrechtlichen Regelungsbereiche Staat und Gesellschaft, und die Regelungsrichtungen, wobei letztere in Ordnung (statisch) und Gestaltung (dynamisch) unterschieden werden[24]: den Staat[25] betreffend, begründet das Verfassungsrecht die statische Ordnung von Rechtsstaat, Demokratie und Bundesstaat. Hingegen findet es gestalterische Wirkung im Bereich formulierter Staatsziele. Statisches Verfassungsrecht bezogen auf die Gesellschaft impliziert die Grund- und Freiheitsrechte, dynamisch wird es im Bereich des politischen Prozesses klassifiziert. Elazar differenziert drei Dimensionen von Verfassung: frame of government, power maps (Gewaltenteilung, Kompetenzverteilung) und moral principles.[26] Hauptelemente demokratischer Verfassungen sind Legitimation, Transparenz, Kontrolle und die Partizipation der Bürger. In ihrer Funktion soll eine Verfassung die rechtliche Verschrankung staatlichen Handelns, die Normierung von Verfahren politischer Machtausübung sowie die Grenzbildung der Herrschaftslegitimität mittels des Rechts erwirken. Durch die Formulierung und Gewährleistung von individuellen Grund- und Freiheitsrechten werden Staat und Gesellschaft normativ voneinander gefenzt. „Die prekäre Situation der Verfassung ergibt sich daraus, dass sie die oberste Gewalt selber zum Gegenstand hat. Erklärter Zweck ist die Verrechtlichung politischer Machtausübung.“[27]

3.2 Idee und Elaboration der europäischen Verfassung

Die Ausarbeitung durch den Europäischen Konvent

Der Fall des Eisernen Vorhangs Ende der 1980er Jahre und die hieraus resultierenden drastischen globalpolitischen Veränderungen entflammten in Europa Diskussionen über Grundsätze und Zukunft der Europäischen Union.

Die Regierungskonferenzen von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) erzielten nicht die gewünschten Resultate: Steigerung der demokratischen Legitimität, der Effektivität europäischer Mehrebenenpolitik und der Transparenz EU-politischer und -bürokratischer Strukturen. Beim Treffen des Europäischen Rates in Laeken (Belgien) am 14./15. Dezember 2001 wurde die Einsetzung eines Europäischen Konvents unter Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d`Estaing beschlossen[28] mit dem Auftrag, innerhalb von 16 Monaten ein Reformkonzept für die EU zu erstellen.

Parallel zur Arbeit des Konventes[29] wurde auf Initiative des Europäischen Rates eine intensive öffentliche Debatte zivilgesellschaftlicher Akteure eröffnet. Des weiteren wurden die Tagungen des Konvents der Öffentlichkeit zugängig gemacht, um somit Partizipation und Prozesstransparenz zu fördern und, durch die Einbeziehung von mehrheitlich parlamentarischen und gesellschaftlichen Vertretern, der Entwicklung des EU Verfassungsentwurfes ein möglichst hohes Maß an demokratischer Legitimation zu verleihen.

Zum 1. Juli 2003 hatten sich die Konventsmitglieder auf einen ersten Entwurf für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) geeinigt, für dessen Erstellung sie de facto eigentlich keinen expliziten Auftrag besessen hatten. Bei der dreimonatigen Brüsseler Regierungskonferenz 2003 kam es jedoch zu keiner konsensuellen Einigung über den Entwurf des Vertrages über eine Verfassung für Europa, welcher die bestehenden EU-, EG- und EURATOM-Verträge[30] hätte ersetzen sollen. Somit wurde dieses Konzept am 12./13. Dezember 2003 von den europäischen Staats- und Regierungschefs verworfen. Die Zustimmung aller Beteiligten, welcher es nach den Bestimmungen der EU - Gründungsvertragsregelungen zur Ratifizierung bedurfte, wurde aufgrund der Meinungsdivergenzen über Fragen der Kommissionszusammensetzung, der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, den Gottesbezug in der Präambel und die Neudefinierung der qualifizierten Mehrheit im Ministerrat nicht erreicht. Insbesondere letztgenannter Punkt schien ausschlaggebend: die doppelte Mehrheit bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit stieß bei Polen und Spanien auf massive Ablehnung.[31] Ad tempus ortae causae wurde das schlechte Verhandlungsklima der Konferenz, welche durch die unterschiedlichen Meinungen der Mitgliedsstaaten zum Irakkrieg zusätzliche Brisanz erfuhr, durch die geringe Initiative der zu jener Zeit amtierenden italienischen Ratspräsidentschaft unter Silvio Berlusconi in keinster Weise amelioriert. „Der gescheiterte Gipfel von Brüssel ist ]aber[ schon deshalb kein Drama, weil mit dem Verhandlungsabbruch das Verfassungsprojekt keineswegs begraben [...]“[32] wurde. Die Konferenz der Regierungsvertreter konsultierte bis Juni 2004 über den Verfassungsentwurf, analog zum Europäischen Konvent. Die Ratifizierung der überarbeiteten Verfassung, in welchem sich letztendlich die ursprüngliche Grundstruktur sowie circa 90 Prozent der ursprünglichen Konventsvorschläge durchsetzten konnten, fand am 29. Oktober 2004 in Rom statt.

[...]


[1] Siehe Hanesch, Walter: „Der Sozialstaat in der Globalisierung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3. Dezember 1999 (B 49/1999); S.3-10; hier S.4f.: Indikatoren der Globalisierung sind: „[...] das rasche Wachstum des Welthandels in den beiden letzen Jahrzehnten. [...] Die Tatsache, dass seit Mitte der achtziger Jahre die Auslandsinvestitionen dramatisch angestiegen sind. [...] Explosionsartig zugenommen haben [...] die Geld- und Kapitalströme, die auf den internationalen Finanzmärkten auf der Suche nach den höchsten Renditen herumvagabundieren. [...] Durch die Verbreitung neuer Kommunikationstechnologien und das sinken der Transport- und Kommunikationskosten haben sich [...] die Möglichkeiten für eine weltweit vernetzte Produktion potenziert, wodurch interregionale bzw. zwischenstaatliche Produktivitäts-, Qualifikations- uns Lohnkostenunterschiede im Zuge flexibler Produktionsstrategien zunehmend besser ausgenutzt werden können.“

[2] Siehe: Grimm, Dieter: „Treaty or Constitution? The legal basis of the European Union after Maastricht“, in: Eriksen, Erik Oddvar; John Erik Fossum; Augustín José Menéndez (Hrsg.): „Developing a constitution for Europe“; Routledge, New York/Oxon (2004), S.80

[3] Nach Glaeßner und Reutter lässt sich Verfassungsentstehung folgendermaßen charakterisieren: Durch die Entstehung einer Verfassung wird rechtlich ungebundene Politik durch formellen/informellen Gründungsakt konstitutionell qualitativ. Siehe hierzu: Glaeßner, Gert-Joachim; Werner Reutter: „Verfassung, Politik und Politikwissenschaft“, in: Glaeßner, Gert-Joachim; Werner Reutter; Charlie Jeffery (Hrsg.): „Verfassungspolitik und Verfassungswandel. Deutschland und Großbritannien im Vergleich“ (1. Aufl.); Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden (2001); S. 9-27. Siehe hierzu vor allem S.15f.

[4] Ebd.: Im Prozess des Verfassungswandels ist Politik rechtlich gebunden. Politik kann hierbei als Medium zur Transformation des Verfassungsrechts verstanden werden. Diese Version im Bezug auf die EU - Verfassung wird beispielsweise durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gestützt, welcher „[...] in seiner Rechtsprechung an verschiedenen Stellen deutlich gemacht ]hat[, dass die Unionsverträge, obwohl in der Form völkerrechtlicher Übereinkünfte beschlossen, die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft darstellten.“ (Ebd.; S.21)

[5] Siehe hierzu: Jachtenfuchs, Markus; Beate Kohler-Koch (Hrsg.): „Verfassungspolitik in der Europäischen Union“ (Nachdruck der MZES-Arbeitspapiere 50-55), Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Mannheim (2002); S.2.

[6] Siehe ergänzend auch Kapitel 3.1

[7] Siehe: Schwegmann, Friedrich G.: „Verfassung“; in: Nohlen, Dieter; Rainer - Olaf Schultze (Hrsg.): „Lexikon der Politikwissenschaft: Theorien, Methoden, Begriffe“ (Band II); Verlag C.H. Beck, München (2002); S.1005f.

[8] Ebd.: S.1005

[9] Ebd.: S.1006

[10] Ebd.; Schwegmann bezeichnet Verfassungsgrundsätze als „[...] die grundlegenden Verfassungsmerkmale westlicher Demokratien“. Als Grundsätze benennt er folgende: Volkssouveränität (einschl. Mehrparteiensystem, Gründungs- und Wirkungsfreiheit von Parteien, Recht auf Opposition), Mehrheitsprinzip, Grundrechtsgeltung (Freiheits- und Gleichheitsrechte), Institutionelle Differenzierung staatlicher Herrschaft (Gewaltenteilung, Föderalismus) und die Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns. Siehe hierzu: Schwegmann; Friedrich G.: „Verfassungsgrundsätze“, in: Nohlen; Schultze (Hrsg.): „Lexikon der Politikwissenschaft“ (Band II); S.1007f.

[11] Ebd. Hinzufügend kann hier erläutert werden, dass Verfassungen regulativ auf die Relation Bürger – Bürger, Bürger – Staat und die der staatlichen Institutionen zueinander einwirken.

[12] Siehe: Grimm, Dieter: „Die Zukunft der Verfassung“ (1. Aufl.); Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. (1991); S.11

[13] Siehe hierzu Kap. 3.1

[14] Wird in diesem Text von der EU - Verfassung oder Verfassungsentwurf gesprochen, so ist generell der Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) gemeint, welcher vom Europäischen Konvent unter Leitung von Valérie Giscard d´Estaing von Ende 2001 bis Mitte 2004 er- und überarbeitet und am 29. Oktober 2004 von den Regierungschefs der EU - Mitgliedsstaaten in Rom unterzeichnet wurde. Siehe: European Communities: “Treaty establishing a constitution for Europe” (2005); eine deutsche Version des EU - Verfassungsentwurfes ist in den deutschen EU - Informationszentren sowie online erhältlich, siehe: http://europa.eu.int/constitution/de/lstoc1_de.htm

[15] Siehe hierzu: Jachtenfuchs; Kohler-Koch (Hrsg.): „Verfassungspolitik in der Europäischen Union“; S.1

[16] Scharpf, Fritz W.: „Regieren in Europa: effektiv und demokratisch?“ (Schriften des Max – Planck – Instituts für Gesellschaftsforschung, Sonderband [Aus dem Engl. übers. von Christoph Schmid]); Campus Verlag; Frankfurt a.M., New York (1999); S.48

[17] Supranational: Unabhängige Stellung der Kommission, gemeinschaftliche Eigeneinnahmen, Gemeinschafts-recht, Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat.

[18] Norwegen war ein vierter Beitrittskandidat. Die Mitgliedschaft scheiterte jedoch am Referendum im September 1972, bei welchem sich 53,5 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung gegen den Beitritt aussprachen. Für detaillierte Erläuterungen zum geschichtlichen Entwicklungsprozess der EG/EU siehe beispielsweise: Pollacco, Christopher: „European Integration. The Maltese Experience”; Agenda, Luqa (2004)

[19] Griechenland kam nach dem Militärregime, welches seit Ende der 1960 durch einen coup d`Etat regierte, 1974 unter die sozialdemokratische Führung von Konstantinos Karamanlis, wodurch Beitrittsverhandlungen möglich wurden. Der Estado Novo Marcello Caetanos, welcher den portugiesischen Diktator Salazar nach dessen Tod 1968 ablöste, wurde 1974 durch die Junta seines Amtes enthoben und Portugal wurde Demokratie. Ein Jahr später starb der spanische Diktator Francisco Franco, sodass auch Spanien demokratisch werden konnte.

[20] Vertragsänderungen sind gemäß Art. 236 EWGV / Art. N EUV legitim.

[21] In den meisten Mitgliedsstaaten wurde der EUV durch die Parlamente ratifiziert. In Irland, Frankreich und Dänemark wurden Referenden abgehalten; Irlands Wähler bejahten den Vertrag, in Frankreich wurde nur eine knappe Mehrheit von 51,05 Prozent erreicht. Das erste dänische Referendum scheiterte. Erst als den Dänen Sonderregelungen bezüglich der WWU und der gemeinsamen Verteidigungspolitik eingeräumt wurden, bejahten diese den EUV im zweiten Referendum 1992. Auch Großbritannien erhielt das Recht auf ein opting out für die WWU und hat das Sozialprotokoll nicht unterzeichnet.

[22] Siehe: Frankenberg, Günter: „Zur Rolle der Verfassung im Prozess der Integration“, S.43, in: Vorländer, Hans (Hrsg.): „Integration durch Verfassung“; West-deutscher Verlag GmbH, Wiesbaden (2002); S.43-70. Siehe auch die Definitionen Grimms und Schwegmanns in der Einleitung dieser Arbeit.

[23] Siehe: Eriksen, Fossum, Menéndez: „Introduction: A Constitution in the making?“, in: Eriksen; Fossum; Menéndez (Hrsg.): „Developing a constitution for Europe“; S.2

[24] Siehe: Glaeßner; Reutter: „Verfassung, Politik und Politikwissenschaft“, S.13, in: Glaeßner; Reutter; Jeffery (Hrsg.): „Verfassungspolitik und Verfassungswandel. Deutschland und Großbritannien im Vergleich“; S.9-27

[25] Siehe hierzu: Böckenförde, Ernst - Wolfgang: „Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungs-theorie und zum Verfassungsrecht“; Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. (1991); S.29: „Der Begriff der Verfassung ist älter als der des Staates. Gleichwohl wird in der Gegenwart der Begriff der Verfassung und einen engen Zusammenhang zum Staat gestellt.“

[26] Siehe hierzu Elazar, Daniel J.: „Constitution-making: The pre-eminently Political Act“, insbesondere S.234f, in: Banting, Keith G.; Richard Simeon (Hrsg.): „Redesigning the state: The politics of constitutional change“; University of Toronto Press, Toronto (1985); S. 232-248

[27] Siehe: Grimm: „Die Zukunft der Verfassung“; S.14

[28] Neben den beiden Vizepräsidenten Jean - Luc Dehaene (ehemals belgischer Regierungschef) und Giuliano Amato (ehemals italienischer Regierungschef) wurden Vertreter der Regierungschefs aller Mitgliedsstaaten, 30 Nationalparlamentarier, 16 Europäische Parlamentarier, zwei Kommissionsvertreter sowie je ein Regierungsvertreter und zwei Parlamentarier pro Bewerber sowie der Türkei berufen, dem Konvent beizuwohnen. Zusätzlich fungierten drei Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialausschusses, drei Vertreter der europäischen Sozialpartner (freie Berufe, Arbeitgeber, Gewerkschaften), sechs Vertreter des Ausschusses der Regionen und der Europäische Bürgerbeauftragte als Beobachter.

[29] Siehe hierzu Elazars Kommentar zur Verfassungsschaffung, in: Elazar.: „Constitution-making: The pre-eminently Political Act“; S.233: „A constitution is also a political artefact; [...] making one combines science, art and craft, including the identification of basic scientific principles of constitutional design and the technologies which are derived from them by a constitutional […] group of artisans.“

[30] Der EGKS - Vertrag war im Jahre 2002 abgelaufen.

[31] Eine aus spanischer und polnischer Sicht logische Reaktion: Die doppelte Mehrheit hätte für sie als mittelgroße Mitgliedsstaaten einen Stimmenverlust zugunsten der kleinen und großen Staaten im Vergleich zu den in Nizza getroffenen Bestimmungen bedeutet.

[32] Siehe: Schieder, Siegfried: „In guter Verfasstheit? Nutzen und Nachteil eines europäischen Verfassungs-vertrages“, S.14, in: Aus Politik und Zeitgeschichte; 19.April 2004 (B17/2004); S.13-20.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Verfassungspolitik durch Vertrag: Politik und Verfassungsdilemma der Europäischen Union
Untertitel
Demokratische, legitimatorische und Effektivitätsdiskrepanzen europäischen Regierens und resultierende Konsequenzen für die Nicht-Ratifizierung der EU Verfassung 2005
Hochschule
Universität Augsburg  (Phil. - Soz. Fakultaet)
Veranstaltung
Verfassungspolitik
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
31
Katalognummer
V80828
ISBN (eBook)
9783638875356
ISBN (Buch)
9783638876476
Dateigröße
621 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verfassungspolitik, Vertrag, Politik, Verfassungsdilemma, Europäischen, Union, Verfassungspolitik
Arbeit zitieren
Dominik Kalweit (Autor:in), 2006, Verfassungspolitik durch Vertrag: Politik und Verfassungsdilemma der Europäischen Union, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80828

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