Edgar Degas. Zeit und Zeitgeschehen in der Ballettprobe


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2002

25 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Bildbeschreibung

2. Inwieweit ist die dargestellte Situation charakteris-tisch fur das Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts ?

3. Erzahlte Zeit (Die Zeit der Handlung)

4. Die Darstellungsart

5. Die Zeit in der Zeit

6. Resumee

Abgekurzt zitierte Literatur

1. Bildbeschreibung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Egdar Degas: Die Ballettprobe, 1874, 66 mal 100 Zentimeter, Glasgow, The Burrel Collection

Dieses Bild zeigt noch den Ballettsaal der alten Pariser Oper, die 1873 niedergebrannt ist.1 Links sieht man das angeschnittene Motiv einer Wendeltreppe. Auf dieser Treppe erscheint am oberen Bildrand das barfuBige Beinpaar einer absteigenden Tanzerin. Das Motiv der angeschnittenen Beine wiederholt sich in abgewandelter Form in der Mitte der Treppe. Dort wird eine Tanzschulerin von der Wendeltreppe verdeckt, so dass nur ein Teil ihres Kleides und die Beine sichtbar sind. Am linken oberen Bildrand proben zwei weitere Tanzerinnen. Auch diese sind im Anschnitt gegeben und teilweise von dem Treppengelander verdeckt.

Am rechten Bildrand befindet sich eine Figurengruppe, die aus zwei Tanzschulerinnen und einer alteren Frau, bei der es sich moglicherweise um die Mutter beider oder eines der beiden Madchen handelt, besteht. Eines der Madchen hat einen grunen Pullover ubergezogen und sitzt auf einem Stuhl. Mit offensichtlichem Interesse schaut es zu, wie sich das andere vorbeugt, um sich von der Mutter das Kleid schnuren zu lassen. Das Gesicht und die linke Korperpartie dieses Madchens sind vom rechten Bildrand abgetrennt.

Bei der Mutter oder assistierenden Frau handelt es sich um Degas' Haushalterin, Sabine Neyt, die bereits fur andere Ballettmotive als Assistentin Modell gestanden hatte.[2]

Hinter ihr erscheint in perspektivischer Verkurzung die Figur des Tanzlehrers. Gekleidet mit einem beigen Jackett und einem auffallend rot leuchtenden Pullover hebt er sich pragnant von dem angegrauten Anstrich der Wand ab. In dem Tanzlehrer erkennt man Jules Perrot. Dieser war in der Mitte des 19. Jahrhunderts der beruhmteste franzosische Tanzer und auBerdem ein geachteter Choreograph. Um 1874, als Degas an diesem Bild arbeitete, hatte sich Perrot langst aus dem aktiven Buhnenleben zuruckgezogen. Zuletzt arbeitete er als Tanzlehrer. Sein Bildnis entstand nach einer Fotovorlage von 1861.[3] Ebenfalls im Hintergrund probt eine funfkopfige Figurengruppe vor einer Spiegelwand. Die Schulerinnen sind ihrem Lehrer zugewandt, doch dieser ist zu sehr mit sich selbst beschaftigt um sie zu beachten.

Unmittelbar an das Treppenmotiv schlieBt das Segment des Raumes an. Dieser Bildraum ist in Form eines ockerfarbenen HolzfuBbodens dargestellt und durch das helle Tageslicht, das durch drei hohe Fenster in den Raum einfallt, partiell aufgehellt. Dieser Teil des FuBbodens ist uberwiegend leer und beansprucht den groBten Teil des Bildgefuges. Er stellt nichts Verbindendes zwischen den Figurengruppen dar, sondern wirkt eher distanzierend. Durch seine relative GroBflachigkeit und die zentrale Position zwischen der Wendeltreppe und den angeschnittenen und dezentralisierten Personengruppen an den beiden Bildrandern, die ihn zu saumen scheinen, erhalt der freie Raum eine gewisse Prioritat - vielleicht sogar eine Domination gegenuber dem eigentlichen Geschehen.

Den AbschluB des Raumes bildet eine beige-graue Wand, die den Ballettsaal - als einen Ort der Kunst - von der Realitat des Alltags trennt.

2. Inwieweit ist die dargestellte Situation charakteris- tisch fur das Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts ?

In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich in Paris eine neue Kunstrichtung, deren Kennzeichen eine "kraftvolle Neigung zum Realismus“[4] war. Initiiert durch die Schule von Barbizon und weiterentwickelt durch die Erfindung der Fotografie und das Bekanntwerden japanischer Farbholzschnitte, trug auch die Einrichtung des „Salon des Refuses'1 im Jahre 1863, die auf die Initiative Napoleon III. zuruckzufuhren ist, zur Verbreitung dieser neuen Kunstrichtung bei.

Degas hatte sich unter dem Einfluss Manets, der ihn in den Kreis der Gruppe von Batignolles eingefuhrt hatte, zeitgenossischen Sujets zugewandt und wurde nach Sutton „ insofern ein Kind seiner Zeit, als er den Glanz des Pariser Lebens wahrend des zweiten Kaiserreiches darstellte“[5].

Bereits 1867 - im Jahr der Weltausstellung - gab es in Paris ein relativ groBes Angebot kultureller Veranstaltungen. In der Regel hatte man die Wahl zwischen ca. 30 verschiedenen Darbietungen aus den Bereichen Theater, Oper, Tanz, Zirkus und Pantomime. In dieser Hinsicht war Paris unter den europaischen GroBstadten fuhrend.

Das Glanzstuck des Second Empire war die Opera, die unter der Anleitung Haussmanns errichtet worden war. Offentliche Ausschreibungen fur das Opernprojekt erfolgten im Dezember 1860; von den 170 eingereichten Entwurfen erhielt der des Architekten Charles Garnier den Zuschlag. Die Bauzeit der Opera betrug 14 Jahre und die Kosten beliefen sich auf 33 Millionen Francs. Fur die aufwendige Gestaltung wurden 90 Kunstler engagiert, welche die extravagante Ornamentik ausgefuhrten.[6]

Die Oper, die mit Abstand das kostspieligste Bauwerk des zweiten Kaiserreichs gewesen ist, war nach Jordan „ein Palast fur den KunstgenuB ... sie feierte die Zivilisation so, wie Bahnhofe ein Loblied auf Industrie, Wissenschaft, Kapital und Fortschritt sangen.“[7] Sie blieb bis zum Ende des Jahrhunderts die „ glanzvollste Pariser Kultureinrichtung“[8].Das Ballett, das zu dieser Zeit ein fester Bestandteil der Oper war, erfreute sich einer auBerordentlichen Beliebtheit. Kendall schreibt dazu:

„In nineteenth-century Paris the ballett was a highly popular form of entertainment, conspicuously patronized by the rich and fashinable but avidly followed by the city's burgeoning middle classes. With ist celebrated stars and scandals, the dance enjoyed something of role of the cinema in our own culture..."[9]

Das Ballett hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert zweierlei Funktionen: Einerseits lieferte es den kulturellen Genuss und anderseits diente es der Befriedigung amouroser Bedurfnisse. Die Kulissen der Oper waren nach Herbert „bevorzugte Jagdgrunde reicher Herren“[10], welche die Damen des Balletts belagerten.

Die Abonnenten der Hauptlogen hatten einen Zugang zum Foyer der Tanzerinnen, das als „Gruner Raum“ bezeichnet wurde. GleichermaBen konnten sie bis in die Garderoben der Ballettmadchen vordringen. Dieser distanzlose und relativ freizugige Umgang zwischen den Tanzerinnen und den Opernbesuchern war in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Selbstverstandlichkeit, die sich vor den Augen der Offentlichkeit vollzog. So konnte man zu dieser Zeit beispielsweise auf den Pariser Boulevards Fotografien kaufen, welche die Tanzerinnen mit ihren Bewunderern im „Grunen Raum“ zeigten. Allerdings waren diese Realitaten nicht immer konsensfahig: Kritische Beobachter dieser Gegebenheiten bezeichneten den „Grunen Raum“ als „Madchen-Markt“ und stellten die Institution Oper insgesamt in Frage.

Auf dem „Sportplatz hinter den Kulissen der Oper“[11] konnte man Finanziers, Borsenmakler, reiche Auslander und Diplomaten finden; bezeichnet als „Lions“, warben sie dort um die Gunst der Madchen. Ihr Geld und ihr Prestige brachten ihnen allerdings nicht nur die Sympathie der Tanzerinnen ein, auch bei den Opernmanagern waren sie gern gesehene Gaste - hauptsachlich auch deshalb, weil viele von ihnen aus Regierungskreisen kamen.

Die Verbindungen zwischen den Herren der Bourgoisie und den Ballettmadchen dienten jedoch nicht nur dem privaten Vergnugen, sie hatten durchaus auch eine gesellschaftliche Relevanz, denn der Umgang mit schonen Tanzerinnen galt als prestigefordend und war somit „ ein fortwahrender AnlaB fur gesellschaftlich stimulierten Neid.“[12]

Degas hatte sich dem Thema Oper und Ballett ab 1872 zugewandt.[13] Er besuchte die Oper in der Regel dreimal wochentlich und fertigte dort nicht nur Skizzen an, sondern vermerkte seine Eindrucke, nebst genauester Angaben uber Farbwirkungen, in Notizbuchern, die ihm dann als Arbeitsgrundlage dienten.[14] Seine Bilder, die in ihrer Endfassung Fluchtigkeit und das Augenblickliche einer kontingenten Situation suggerieren, sind also keineswegs die Produkte einer planlosen Spontaneitat; sie sind die Resultate einer sorgfaltigen Vorbereitung.

Die meisten von Degas' Ballettszenen stellen relativ unbekannte Tanzerinnen dar, da es ihm bei diesen Darstellungen primar um die Wiedergabe der Bewegung ging. Kendall schreibt dazu:

„For Degas, the ballet was first and foremost an engagement with the human body, one of the greatest challenges for any artist and the principal concern of the masters he so persistently revered. Wheter in repose or in wild, revealing movement, the ballet dancer allowed Degas to address the body in all its extremes of dynamism, offering an utterly modern equivalent to the goddesses and heroines, the nymphs and dryads of the past.“

Die Tanzschulerinnen wurden von Monsieur Roqueplan, der die Pariser Oper von 1849 bis 1854 geleitet hatte, als „verwahrloste, unterernahrte Kinder" beschrieben, "die abgelegte Kleider trugen und standig um ein paar Sous bettelten, um SuBigkeiten zu kaufen.“[15] Sie stammten aus der sogenannten „Unterschicht“ und waren die Tochter von Handlern, Conciergen, Schlachtern oder Kutschern. Familien der Bourgoisie schickten ihre Tochter nicht in die Ballettschule oder Oper, da dies - wegen des Umgangs, der dort herrschte - einen sozialen Abstieg bedeutet hatte. Diese Einstellung anderte sich erst in den achtziger Jahren und war um die Jahrhundertwende fast vollstandig vergessen.

Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Oper ihre einstige Vormachtstellung als bedeutendste Pariser Kultureinrichtung verloren. Das franzosische Ballett in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts „war als solches dem Untergang geweiht. Degas sorgte dafur, daB es fur immer lebendig bleiben wird.“[16]

Die Fahigkeit zum Verzicht und Abstand „ zu allem und zu jedem“[17] sind nach Keller charakteristisch fur Degas' Kunst: Er kritisiert nicht, mischt sich nicht ein und beschrankt sich in seiner bildnerischen Ausfuhrung auf die Wiedergabe des Wesentlichen.[18] Nach Blunden beruht Degas' Leistung primar auf seiner Beobachtungsgabe.[19] Er ubt in seinen Gemalden und Pastellen keinerlei Sozialkritik an der Institution Oper und an den Zustanden am Ballett. Die dargestellte Situation ist so zu nehmen, wie sie ist, ohne Uber-Interpretation ihres tatsachlichen Bedeutungsgehaltes: „Wo eine Tanzerin den Kopf in die Hand stutzt, ermudet vom Auftritt, wo eine andere sich niederbuckt, um die Bander zu knupfen, die den Tanzschuh zu halten haben, da ist nichts zu lesen als: Ausruhen.“[20]

In diesem Sinne realisiert Degas nach Keller das naturalistische Ideal des Unbeteiligtseins:

„Ebenso brutend, mit sich beschaftigt, wie unvermittelt voll auf den Betrachter gerichtet, mehr in schonheitlichem Stolz als herausfordernd wie zuweilen bei Manet, verdecken die Menschen in seinen Bildern und Zeichnungen vollstandig die Empfindungen ihres Schopfers.“[21]

[...]


[1] vgl.: Herbert 1989, S 141 ff

[2] vgl.: Sutton 1986, S 164f

[3] vgl.: Herbert 1989, S141ff.

Jules Perrot wurde von Degas mehrfach in Zeichnungen und Gemalden darge­stellt. Er erscheint u.a. in den Bildern: Die Ballettschule des Monsieur Perrot (1875, Paris, Musee d’Orsay) und Ballettschule (1876, New York, Metropolitan Museum).

[4] Sutton 1986, S 56

[5] ebd.,S 56

[6] vgl.: Jordan 1996, S 228

[7] ebd.,S 229

[8] ebd., S 150

[9] Kendall 1996, S 6f

[10] Jordan 1996, S 124

[11] ebd., S 126

[12] ebd., S 132

[13] Zwar hatte sich Degas bereits in den spaten sechziger Jahren dahingehend mit dem Thema „Oper“ beschaftigt, dass er Portrats von Mitgliedern des Opern- orchesters anfertigte (Das Orchester der Opera, 1868/69, Paris, Musee d’Orsay); eine intensivere Beschaftigung mit dieser Thematik erfolgte aber erst ab 1872. Das Thema „Oper und Ballett“ beschaftigte Degas mehr als vierzig Jahre. In die- sem Zeitraum entstanden tausende von Zeichnungen, Olgemalden, Pastellen und Drucken.(Vgl.: Kendall 1996, S 5)

[14] vgl.: Sjtton 1986, S 160

[15] Browse 1988, S 232

[16] Browse 1988, S 241

[17] Keller 1988, S 122

[18] vgl.: ebd., S 122

[19] vgl.: Blunden 1979, S 29

[20] Keller 1988, S 116

[21] Keller 1990, S 64f En wesentliches Kriterium des Naturalismus, der sich um 1850 in der Abwendung von der romantischen Malerei, ihrer Rhetorik und ihrem aufdringlichen Appell an das Gefuhl des Betrachters zeigte, ist seine Distanziertheit. Der Naturalismus gibt das Gesehene so objektiv wie moglich wieder; er beschreibt die vorgefundene Stuation naturgetreu so, wie sie ist. Er beschonigt nicht, und seine Stuationsbe- schreibung ist ungetrubt von personlichen Empfindungen. Der Naturalismus ist

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Edgar Degas. Zeit und Zeitgeschehen in der Ballettprobe
Autor
Jahr
2002
Seiten
25
Katalognummer
V8056
ISBN (eBook)
9783638151382
Dateigröße
664 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Edgar, Degas, Zeit, Zeitgeschehen, Ballettprobe
Arbeit zitieren
Dr. Sabrina Cercelovic (Autor:in), 2002, Edgar Degas. Zeit und Zeitgeschehen in der Ballettprobe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8056

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