Ästhetische Dimensionen im Bibliodrama

Musik, Klang und Stimme als neue Wege hermeneutischer Erschließung biblischer Texte


Diplomarbeit, 2005

69 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung

2 Am Anfang war das Wort... - Eine theologische selbstreferentielle Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama
2.1 Das Kriterium der Aktualität und Lebensnähe im Bibliodrama
2.2 Das Kriterium der Textzentrierung im Bibliodrama
2.3 Das Kriterium der Leiblichkeit im Bibliodrama
2.4 Das ethische Kriterium im Bibliodrama

3 Und das Wort wurde sinnlich - Eine philosophische Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama
3.1 Dem „Geheimnis“ auf der Spur – Was ereignet sich nach Pasquay im Bibliodrama?
3.2 Der Atmosphärebegriff des Philosophen Gernot Böhme
3.2.1 Die Notwendigkeit einer neuen Ästhetik als Aisthetik
3.2.2 Atmosphäre als zentraler Gegenstand und Begriff der Aisthetik
3.2.3 Ästhetische Arbeit
3.3 Das „unverfügbare Geheimnis“ bleibt gewahrt – Ein Fazit

4 Und das Wort war Klang - Eine textbezogene Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama
4.1 Musik – zwei parallele aber gegenläufige Wege zwischen Mensch und Bibel
4.2 Die Spur der Musik im Text
4.2.1 Der musikalische Raum des Alten und des Neuen Testaments
4.2.2 Die semiotische Qualität musikalischer Elemente im Alten und Neuen Testament
4.3 Der ‚Textraum’ darf klingen – Ein Fazit

5 Und das Wort sang zu mir - Eine musikphilosophische/musikpraktische Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama
5.1 ’Wo sind wir, wenn wir Musik hören?’ – Eine Sloterdijk’sche Prämisse für das musikalisch geprägte Bibliodrama
5.1.1 Das aktive Hören geistlicher Musik im Bibliodrama – Die Bibliophonie nach Teichert
5.1.2 Die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach – Ein Beispiel nach Teichert
5.2 Musikalische Gestaltung als Mittel der ‚Hervorholung’ – Aspekte nach Warns/Redecker

6 Und das Wort traf sein Echo – Eine tiefenpsychologische/ musikpraktische Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama
6.1 Musikalische Urmuster
6.2 Die Jung’schen Archetypen
6.3 Die Korrespondenz zwischen Klangmustern und Urmustern

7 Und das Wort wurde Musik - Eine methodische/musikpraktische Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama
7.1 Der eigene musikalische Ausdruck im Bibliodrama
7.2 Die drei Phasen des Bibliodramas
7.2.1 Eine Vorbereitungsphase musikalischer Art
7.2.2 Eine musikalisch ausgerichtete Spiel- und Gestaltungsphase
7.2.2.1 Die erste individuelle Berührung mit dem Text
7.2.2.2 Die Erarbeitung und Präsentation kollektiver Klangbilder
7.2.2.3 Musikalische Interaktion zwischen Individuen und Gruppe
7.2.3 Die Reflexionsphase

8 ...wurde zur Melodie des Lebens – Ein Fazit

Literaturverzeichnis:

1 Einleitung

Auf der Suche nach neuen Formen der Annäherung an das ‚Buch der Bücher’, nach einer ganzheitlichen Begegnung von biblischem Text und menschlichen Gefühlen und Erfahrungen, haben Anfang der siebziger Jahre Theologen, Theaterpädagogen, Psychologen und Menschen mit künstlerischen Begabungen oder philosophischem Interesse in mehreren Ländern der Erde eine neue Form religiösen Lebens initiiert. Die Gründer der Bibliodrama-Bewegung suchten nach einem neuen, emotionalen, leibbezogenen, hermeneutischen Zugang zum biblischen Text, der den individuellen und kollektiven Erfahrungskontext der Menschen stärker berücksichtigen sollte. Ihrem Wirken und einer stetig wachsenden Zahl von Interessierten, die zunächst auch aus theologischer Sicht kritisch beobachteten und später selbst zur Bibliodramabewegung stießen, ist es zu verdanken, dass Bibliodrama heute nicht mehr nur am Rande wahrgenommen wird, sondern in den Formenkanon gelebter Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirchen hineingewachsen und anerkannt ist.

Durch seine gesamte Geschichte hindurch ist Bibliodrama stets experimentell und aufgeschlossen für Neues geblieben. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Zentrierung auf den biblischen Text hat es sich Zugangsversuchen von den verschiedensten Seiten geöffnet und ist dadurch selbst farbiger, eindrücklicher und als Form der Religionsausübung lebensnaher und lebendiger geworden. Gleiches gilt auch für den Diskurs über die Formen seiner Praxis und die Wege seiner Gestaltung, der über die einzelnen Bibliodrama-‚Schulen’ und inzwischen etablierte, auf nationaler Ebene organisierte Bibliodrama-Gesellschaften hinweg im Rahmen eines offenen internationalen Netzwerkes auch im interreligiösen Dialog geführt werden soll.

Genau in diesem Kontext bewegt sich die folgende Arbeit. Sie versucht einen – wie später deutlich wird - durchaus ‚klingenden’ Beitrag in dem Diskurs zu leisten, der heute mit ausgeprägter Bereitschaft zum Experimentieren von den ‚BibliodramatikerInnen’ und ‚BibliodramaturgInnen’ geführt wird. Im Mittelpunkt meiner Untersuchungen steht die Frage nach der grundsätzlichen Legitimität eines wesentlich musikalisch geprägten Zuganges zum Bibliodrama sowie nach den Möglichkeiten und Varianten der Nutzung musikalischer Ausdrucksformen als ästhetischen, und damit an die körperliche Wahrnehmung gebundenen hermeneutischen Zugängen zum biblischen Text.

Exemplarisch für die mögliche Vielzahl ästhetischer Ausdrucksformen konzentriert sich die Arbeit somit auf den Bereich der Musik, der Klänge im weiteren und engeren Sinne sowie auf den musikalischen Gebrauch der Stimme.

Dabei geht es nicht darum, das einfache rhythmische Muster eines zur Hörbarkeit gebrachten Herzschlages als ursprünglichste individuelle und zugleich kollektiv verbindende Grundmelodie des Lebens oder gar ein hochkomplexes, meisterhaft komponiertes Bach’sches Oratorium als Konkurrenz oder Alternative zu den sich im Bibliodrama entfaltenden Dimensionen des biblischen Textes zu etablieren. Im Gegenteil, hier geht es vielmehr um die Untersuchung eines möglichen parallelen - und im Sinne von Ganzheitlichkeit ergänzenden - Zugangs zum biblischen Text innerhalb des Bibliodramas.

Meine Untersuchungen sollen die These belegen, dass Musik, Klang und Stimme (im musikalischen Sinne) dem Bibliodrama neue Dimensionen hinzufügen und zu einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit biblischen Texten und damit zu ihrem tieferen Verständnis im Sinne lebendiger Begegnung und Verinnerlichung beitragen kann. In der Überlagerung der Dimensionen von Text und Klang entsteht schließlich das musikalisch geprägte Bibliodrama.

Der allgemeinen Erfahrung folgend, dass sich gerade in interdisziplinären Grenzbereichen, im Zusammentreffen der Erkenntnisse voneinander differierender Forschungsdisziplinen Entdeckung ereignet, nähert sich mein Exkurs dem Untersuchungsgegenstand Musik, Klang und Stimme im Bibliodrama aus unterschiedlichen Richtungen an:

Auftakt bildet eine gewissermaßen selbstreferentielle Annäherung aus theologischer Richtung an die Thematik mit der Frage: Was will Bibliodrama, welchen grundlegenden Kriterien hat es sich zu stellen und mit ihm folgerichtig die bibliodramatische Arbeit mit den vorgenannten drei Kategorien (Musik, Klang und Stimme) musikalischer Entäußerung?

Darauf aufbauend folgt eine philosophische Annäherung vom Standpunkt eines vorrangig leibbezogenen Verständnisses von Ästhetik. Die Analyse und Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Atmosphäre“ des Philosophen Gernot Böhme, führt auf dessen Weg von Aufdeckung und ethischer Kritik des Spektrums „Ästhetischer Arbeit“, als deren Medien Musik, Klang und Stimme gelten können, schließlich zum Bibliodrama selbst, als Raum, in dem sich Atmosphäre ereignet und ästhetische Arbeit geleistet wird.

Der Nachweis, dass ästhetische Arbeit im Bibliodrama gerade über die Medien Musik, Klang und Stimme einen legitimierenden Bezug zum biblischen Text hat, erfolgt im Zuge einer textbezogenen Annäherung anhand ausgewählter biblischer Texte. Es wird deutlich, dass sich die Einführung musikalischer Elemente in das bibliodramatische Spiel nicht auf den Status einer kunstvollen Beigabe reduzieren lässt, sondern auf tiefen Sinn- und Symbolbezügen zum biblischen Text basiert, der seinerseits nicht, ohne an Eindringlichkeit und Aussagekraft zu verlieren, auf seine musikalischen Anklänge verzichten kann.

Auf welchen Wegen diese Sinn- und Symbolbezüge im Bibliodrama über Musik erlebbar werden und zur Erfahrung gebracht werden können, versucht eine musikphilosophisch/musikpraktische Annäherung an das Bibliodrama zu klären. Dies erfolgt beispielhaft über die Untersuchung von Aspekten des Hörens geistlicher Musik und die Darstellung erster Erfahrungen damit in der bibliodramatischen Praxis.

Worauf Musik, Klang und Stimme beim Menschen im Gestaltungsprozess des Bibliodramas stoßen, womit diese Kategorien bei der Auslösung eines Echos, einer Resonanz in der menschlichen Psyche korrespondieren, versucht schließlich eine tiefenpsychologisch/musikpraktische Annäherung auf der Basis der Erkenntnisse C. G. Jungs über Existenz und Elemente eines „kollektiven Unbewussten“ zu klären. Auf der Grundlage korrespondierender empirischer Resultate musiktherapeutischer bzw. musikpädagogischer Forschung und Praxis wird der Versuch unternommen, die Erkenntnisse Jungs in den für das musikalisch geprägte Bibliodrama relevanten Klangraum hinüberzudeuten.

Mit einer, den Exkurs abschließenden methodischen/musikpraktischen Annäherung möchte ich in einer Analyse erster Schritte bekannter Persönlichkeiten der Bibliodrama-Bewegung auf dem Wege der Nutzung musikalischer Formensprache im Bibliodrama und über die Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen eigene Gedanken und Anregungen zu Musik, Klang und Stimme im Bibliodrama formulieren und diese in den offenen Diskurs über das Bibliodrama einbringen. Sie tragen ausschließlich exemplarischen Charakter und sind als weiter zu entwickelnde Anregungen zu verstehen, die im einzelnen durchaus nicht unstrittig sind und daher einer experimentell-praktischen Überprüfung bedürfen.

Im Interesse der Gewinnung prägnanter und verallgemeinerungswürdiger Schlüsse werden hier und da weitere Eingrenzungen meines Untersuchungsgegenstandes vorzunehmen sein. Sie sind jedoch notwendig, rein pragmatischer Natur und in keinem Fall als Unterschätzung des Formenreichtums menschlicher Ausdrucksfähigkeit und Ergriffenheit in der Begegnung mit dem biblischen Text zu verstehen.

2 Am Anfang war das Wort... - Eine theologische selbstreferentielle Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama

2.1 Das Kriterium der Aktualität und Lebensnähe im Bibliodrama

Der Theologe und Philosoph Prof. Paul Tillich antwortet auf die Frage der Menschen nach Gott sinngemäß: Gott ist das, was euch unbedingt angeht. Bezieht man diese Antwort auf die mit dem Gottesbegriff eng verbundenen Fragen nach dem Glauben und der Religion, kann man mit dem Fragen nicht mehr aufhören: Was aber geht uns ‚unbedingt’ an? Ist es primär ein theoretisches System von Weltanschauung, das versucht, uns unsere Wirklichkeit zu erklären, oder ist es nicht vielmehr gerade diese Wirklichkeit, auf deren Fragen wir in einer Weltanschauung Antworten suchen?

Ist es seine Religion, die Hiob eine fertige Therapie gegen seine schiere Verzweiflung präsentiert oder ist es nicht gerade die Lebenswirklichkeit des kaum zu beschreibenden Leidensweges eines Menschen, die ihn erst dazu bringt, die richtigen Fragen an seinen Gott zu stellen, in diesem Fragen selbst auf Antworten zu stoßen und mit diesen Antworten dann zu seiner Religion, zu seinem Glauben, zu seinem Gott zu finden? Erst im ‚unbedingten’ Berührtsein durch die Lebenswirklichkeit entsteht also Religion.

Was aber ist die Lebenswirklichkeit, der wir Heutigen uns stellen müssen? Begleiten wir nicht alle Hiob ein Stück seines schweren Weges? Die Philosophin, Theologin und Publizistin Dorothee Sölle führt uns in ihrem Werk ‚Mystik und Widerstand’ bei ihrer Suche nach einem wesensbestimmenden Kriterium wahrhaftiger mystischer, und damit für sie zutiefst religiöser Erfahrung auf eine Spur, die uns mit Hiob verbindet:

„Damals wie heute sind Fragen nach Leibeigenschaft und Arbeitsteilung, Sklaverei und Sexualverhalten, Krieg und Steuerzahlen, Rüstung und Wissenschaftsverständnis für das Aus-dir-selbst-Herausgehen zentral.“ (Sölle 2003: 75)

Lebenswirklichkeit ‚schreit’ also nach Ent- Äußerung, nach Aus -Einandersetzung, gebiert schließlich die Fragen, die Hiob an seinen Gott stellt, so wie auch wir es tun. Die Art des Menschen zu fragen, die konkreten Wege, sich seinem Gott zu nähern, werden also immer, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, von den Gegebenheiten seiner Lebenswirklichkeit bestimmt.

Die Realität der uns umgebenden Gesellschaft ist von einer schier unübersehbaren Zahl von Widersprüchlichkeiten und Brüchen geprägt, und kein Mensch vermag heute mehr für alle verbindliche Antworten zu geben. Und dennoch sehnen sich immer mehr Menschen nach einem erreichbaren, verlässlichen Horizont, an den sie ihre Fragen heften können, nach einem Halt in einer Welt voller Haltlosigkeiten.

Dementsprechend mannigfaltig sind die Wege, mit denen Menschen heute inmitten unserer Gesellschaft nach religiösem Erleben suchen. Soviel Suchende - soviel Wege oder Irrwege. Ob Christen beider Konfessionen, Anhänger des Zen-Buddhismus, Esoteriker oder auf anderen Wegen nach spiritueller Erfahrung Suchende – sie alle, so wesensverschieden sie auch sind, können sich einer Sphäre nicht entziehen: ihrer Verwurzelung in der Lebenswirklichkeit. Ob ihre Suche sich aber auf Wegen oder Irrwegen vollzieht, scheidet sich an ihrer Stellung zu dem von Sölle formulierten Kriterium.

„Es kommt darauf an, im Pluralismus der Methoden die sozialgeschichtliche Kontextualität nicht zu übersehen.“ (Sölle 2003: 76)

Wie aber muss eine ‚Methode’ beschaffen sein, wenn sie sich als Weg klar von einem Irrweg unterscheiden will? Sölle sieht als konstituierendes Merkmal eines solchen Weges die Einheit von Institution, Intellekt und Mystik[1]:

„Das Zusammenspiel der drei – im Christentum durch Petrus, Paulus und Johannes verkörperten – Elemente ist notwendig, aber zur Zeit innerhalb der noch-christlichen Kultur der reichen Welt tief gestört. Vereinfacht gesagt herrschen in der römischen Kirche Petrus und seine Gefolgsleute, im Protestantismus Paulus und die Seinen, während das mystische Element verdrängt wird und unsichtbar bleibt. Die Mystik ist heimatlos – und wird doch von vielen gebraucht und gesucht.“ (Sölle 2003: 74f)

Mystik definiert Sölle in diesem Zusammenhang mit Thomas von Aquino[2] als ‚Erfahrungsbezogene Gottesverbundenheit’ (vgl. Sölle 2003: 70).

Wenn Mystik denn erfahrungsbezogene – also aus der Lebenswirklichkeit geschöpfte und sich auf spezifischem Wege in der Psyche des Menschen entäußernde - Gottesverbundenheit ist und diese wiederum Thema und Ziel der Begegnung des Menschen mit dem biblischen Text im Bibliodrama, kann auch das Bibliodrama durch seine spezifisch ästhetischen Möglichkeiten Zugänge zu mystischem Erleben öffnen. Bibliodrama und mystisches Erleben stehen also in gewisser Hinsicht in einer Form-Inhalt-Beziehung zueinander.

Der soeben vollzogene Exkurs belegt nicht nur das unvermeidbar aktive Hineinreichen individueller und gesellschaftlicher Erfahrung in den bibliodramatisch-hermeneutischen Raum. Er legitimiert darüber hinaus die gezielte Aktivierung des sozial geprägten Erfahrungshintergrundes als Katalysator der ästhetischen Annäherung an den biblischen Text.

Gesellschaftliche Realität nicht nur kognitiv zu verarbeiten, sondern auch und gerade mitfühlend zu erschließen und in fragende Beziehung zum biblischen Text zu setzen, löst direkte persönliche Berührung aus. Dort wo direkte persönliche Berührung entsteht, wachsen Motive und Fähigkeiten zum gestaltenden und schließlich gesellschaftsverändernden Handeln.

Dass der von der Bibliodramabewegung beschrittene Weg inzwischen die ihm zukommende Anerkennung der kirchlichen Institution erfahren hat, bestätigt der Theologische Ausschuss der Arnoldshainer Konferenz. Dieser hat 1992 elf Zugänge zur Bibel beschrieben, u. a. das Bibliodrama. Obwohl nicht jeder dieser Zugänge seine ungeteilte Zustimmung findet, war er sich darüber einig, dass die Vielfalt der Auslegungsweisen „die Pluralität in der Kirche und ihrer Existenz in einer pluralistischen Gesellschaft“ wiederspiegelt und das die Verschiedenartigkeit der Zugänge zwar durch ein Spannungsverhältnis gekennzeichnet ist, aber auch als Bereicherung erfahren werden kann (vgl. Das Buch Gottes 1992: 183f).

2.2 Das Kriterium der Textzentrierung im Bibliodrama

Die Charta des 2003 gegründeten Europäischen Netzwerkes Bibliodrama stellt programmatisch den biblischen Text in das Zentrum des Bibliodramas „als eine[r] eigenständige[n] Erneuerungs- und Befreiungsbewegung innerhalb und außerhalb der Kirchen“ (Charta, 2004: 1).

Wie aber ist diese Textzentrierung zu verstehen? Bedeutet, den biblischen Text als konstituierendes Wesensmerkmal von Bibliodrama zu definieren, gleichzeitig eine dogmatische Festschreibung des bibliodramatischen Spiels auf seinen Wortlaut?

Der Professor für Praktische Theologie Dr. Gerhard Marcel Martin sucht in der Folge dieser Frage aus einer Fülle von Theorieangeboten nach einem offenen Theorieansatz zur Erschließung von biblischen Texten, der sowohl Erklärungskraft wie auch Praxisrelevanz hat. Er stößt dabei auf eine dem Strukturalismus[3] nahestehende Texttheorie Roland Barthes. Diese postuliert ein „Eigenleben des Textes“ (Martin 2001: 34), der zufolge ein Text nicht nur eine für alle gültige Botschaft enthält, sondern ein ganzes Konglomerat solcher Botschaften oder Lesarten. Welche Botschaft ein Text aus sich entlässt, steht daher in direkter Abhängigkeit zum aktuellen Leser. Mit einem solchen Theorieansatz bleibt die Lebendigkeit („offene Rezeption“) komplexer, also auch religiöser Texte – und zwar frei den tatsächlichen Wortlaut umspielend - erhalten, ohne dass diese ihre Substanz dabei einbüßen.

„Solche Texte erscheinen [...] wie ein Phönix aus der Asche ihrer Interpretationen. Sie sind für offene Rezeption geradezu wie gemacht und wirken wie ein Katalysator, der umfassende Umsetzungsprozesse in Gang bringt, dessen Präsenz dabei unabdingbar ist, der sich selbst substantiell aber nicht verändert.“ (Martin 2001: 35)

Für Martin haben religiöse Texte, trotz ihrer Erscheinung in einem durch die jeweilige Bibelübersetzung definierten Wortlaut, immer Deutungsspielräume oder sog. „Bedeutungshöfe“. Zur Bezeichnung dieser Mehrdeutigkeit verwendet Martin die Begriffe „Textfeld“ bzw. „Textraum“ (vgl. Martin 2001: 35). In diese raumhafte Mehrdimensionalität soll der Textrezipient hineingeführt werden, um ihre Ausdehnungen und Grenzen zu erforschen.

Martins Überlegungen zum Verhältnis von historisch-kritischer Exegese und Bibliodrama wenden sich in diesem Kontext gegen ein argumentatives Gegeneinanderstellen beider hermeneutischer Wege: Die historisch-kritische Exegese ist, so Martin, mit all ihren Teildisziplinen (von einer Text-, Literar-, Traditions-, Redaktionskritik bis hin zur Bestimmung des Sitzes im Leben) gerade im Hinblick auf bibliodramatische Zugänge fundamental und unerlässlich. Dennoch:

„Die theologische Aufgabe einer Auslegung biblischer Texte besteht [...] nicht nur in einer historischen und strukturalistischen Bestandsaufnahme biblischer Traditionen, sondern im Wagnis einer aktiven interpretatorischen Fortsetzung und Neu-Setzung des Überlieferungsprozesses.“ [Und etwas zugespitzter: G.B.] „Verwalten wir den Bestand oder werden wir Teil der Überlieferungsbewegung? Geben wir die Asche weiter oder das Feuer?“ (Martin 2001: 37)

Die historisch-kritische Exegese wird damit keineswegs an den Rand gedrängt, sondern kann durch neue Auslegungswege nicht nur bereichert, ja sogar in ihren eigenen Fragestellungen konkretisiert werden. So ist bspw. die Frage nach dem „Sitz im Leben“ in letzter Konsequenz auch eine Zuspitzung gesellschaftlicher und (welt)geschichtlicher Perspektiven. Der entscheidende Vorteil neuer, alternativer Auslegungswege besteht für Martin darin, dass in deren Folge die „Existenzwahrheit biblischer Überlieferung zweifellos konkreter“ - also mehr auf das rezipierende Individuum und seine gesellschaftliche Realität bezogen - in Erscheinung tritt „als in der existentialen Interpretation“ (vgl. Martin 2001: 37) und damit zu einem Beweg-Grund für konkretes menschliches Handeln wird.

Ein Plädoyer für alternative Auslegungswege biblischer Texte kommt auch von einer anderen Seite und mit einem anderen, aber nicht weniger gewichtigen Ausgangspunkt: Sölle konstatiert ein generelles Scheitern der Sprache in dem Versuch, mystische Erfahrungen als Gotteserfahrungen – also dass, was in der bibliodramatischen Annäherung an den Text entstehen kann - zu verbalisieren und auf diesem Wege mit anderen zu teilen:

„Die Sprache [...] ist unfähig, wirkliche Erfahrung der Einheit [mit Gott und anderen Menschen, G.B.] mitzuteilen; cognitio Dei experimentalis [experimentell vermittelte Gotteserfahrung, G.B.], also nicht durch Buch oder Lehre vermittelte Erfahrung Gottes, ist in der normalen Sprache nicht vorgesehen. Was nicht beobachtet werden kann, ist auch nicht mitteilbar.“ (Sölle 2003: 81)

Die Begrenztheit der Sprache dominiert damit auch das sich im Bibliodrama entfaltende Spannungsfeld zwischen der ‚Enge’ des ins Zentrum gestellten biblischen Wortlautes und der ‚Weite’ seines möglichen Sinn-Erfühlens und Sinn-Erfahrens. Sie beeinflusst zum einen das Verständnis des biblischen Textes selbst, zum anderen das Kommunizieren und Verstehen der TeilnehmerInnen untereinander. Es stellt sich damit die Frage nach Sphären einer nichtsprachlichen Vermittlung zwischen Bibeltext und Rezipienten sowie zwischen den Rezipienten untereinander, die dieser Begrenztheit nicht unterliegen oder als Vermittler fungieren können. Als mögliche Wege, sprachlich nicht Vermittelbares im Textraum des Bibliodramas kommunizierbar zu machen, sollen Musik, Klang und Stimme in der weiteren Folge dieser Arbeit untersucht werden.

2.3 Das Kriterium der Leiblichkeit im Bibliodrama

Die Theologin Dr. Hildrun Keßler, Professorin an der Evangelischen Fachhochschule Berlin, untersucht in Ihrer Dissertation die Rolle von Leiblichkeit im Bibliodrama und entwickelt ein wesentliches Kriterium bibliodramatischer Praxis:

„Biblische Texte, denen sich auf bibliodramatischem Weg genähert wird, legen sich nicht ausschließlich in erneuten Texten und in verbaler Form aus, vielmehr ist in der Aneignung das leibhaftige Vermögen des gesamten Menschen angesprochen: durch Bilder, Gesten, Klänge und Worte.“ (Keßler 1996: 16)

Leibhaftiges Vermögen des Menschen schließt also dessen körperliche Ausdrucksmöglichkeiten ein, geht aber offensichtlich weit über diese hinaus. Leib und Körper sind – wie offenbar wird – Begriffe, deren Inhalte, Definitionsräume und gegenseitige Überlagerungen in der deutschen Sprache nicht klar umrissen sind und teilweise diskursiv gegeneinander stehen. Keßler sucht eine Unterscheidung über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verortung von Empfindungen bzw. über deren Relativität oder Ganzheitlichkeit:

„Leibliche Empfindungen sind weder diffuse Gefühle, noch relativ an einen Ort gebunden, vielmehr sind sie spürbar genau zu bestimmen, aber örtlich keineswegs genau zu lokalisieren. Mit einem Schlag besetzen sie den gesamten Leib und kommen einer absoluten Erfahrung gleich. Körperlich ist man von einem Gefühl relativ und in den Organen ergriffen, leiblich hingegen als ganzer Mensch, ohne das spürbar Leibliche ganz genau verorten zu können.“ (Keßler 1996: 146)

Keßler sucht schließlich einen Weg aus dem Erklärungsnotstand dreier nebeneinander her bestehender Beziehungsmodelle von Leib und Körper heraus und schlägt einen gemeinsamen Bezugspunkt außerhalb des diskursiv reflektierten Beziehungssystems von Leib und Körper vor: „[...] Körperliches und Leibliches konstituieren gemeinsam menschliche Existenz.“ (Keßler 1996: 147)

Im verbindenden Sinne dieses Bezugspunktes spreche ich mit Keßler in meiner Arbeit von Leib und Leiblichkeit mit deren immanenten Hinweis auf Körper und Körperlichkeit, ohne letztere explizit zu nennen, es sei denn, es ist im Sinne besseren Textverständnisses unumgänglich. Dies bedeutet ausdrücklich keine Unterschlagung von Differenz und gegenseitiger Beeinflussung dieser beiden Kategorien.

Weil nun soziale und kulturelle Aspekte Leiblichkeit beeinflussen, und Leiblichkeit wiederum individuell handlungsrelevant wird, ergibt sich über die Grenzen der Individualität hinaus eine Ausstrahlung von Leiblichkeit in das umgebende soziale Gefüge hinein. Mehr noch: Das umgebende soziale Gefüge kann unter gewissen Voraussetzungen die Qualitäten von Leiblichkeit annehmen.

Keßler beruft sich in diesem Zusammenhang auf Dietrich Bonhoeffer, der den Leibbegriff unter den Aspekt seiner gemeindebildenden Kraft stellt und eine Leiblichkeit für eine Gemeinde postuliert, die unter der „Idee der Willensgemeinschaft“ (Dietrich Bonhoeffer zit. nach Keßler 1996: 148) steht (vgl. Keßler 1996: 147f). Dies ist zentraler Ansatzpunkt und Legitimation von Bibliodrama.

Dieser äußerst knappe Exkurs zum Kriterium der Leiblichkeit bietet lediglich einen kurzen Blick aus philosophischer Richtung auf einen fundamentalen Hintergrund für den Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit. Er wird von anderen Ausgangspunkten einer Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama her in den folgenden Kapiteln ausführlicher diskutiert.

Grundsätzlich ist aber bereits an dieser Stelle ein Hinweis auf den Leib-Seele- bzw. Körper-Geist-Dualismus[4] als einem Aspekt dieser Thematik von Bedeutung. Dies gilt insofern, als diese Arbeit den Versuch unternimmt - durch Untersuchung und Darstellung der spezifisch leiblichen, also körper-geistigen Erlebnisqualitäten von Musik, Klang und Stimme - für das Bibliodrama neue Wege zu erschließen, auf denen es zur Relativierung einer vom Zeitgeist geprägten Spaltung menschlicher Konstitution zwischen Wahrnehmen und Empfinden, zwischen Denken und Fühlen, Körperlichem und Seelischem beitragen kann.

Das Denken der Gegenwart ist von dem dualistischen Menschenbild der griechischen Philosophie geprägt. Entsprechend dieser Vorstellung ist der vergängliche Körper von der unsterblichen Seele getrennt. Das Alte Testament kennt diese Spaltung nicht. Der Körper wird als eine ‚psychosomatische Einheit’ verstanden – eine Auffassung, die in gewisser Hinsicht mit dem Begriff der Leiblichkeit nach Bonhoeffer korrespondiert. Denn gerade diese Einheit, als ein in der Schöpfung selbst verankerter Aspekt menschlichen Daseins ist es, die den Menschen zur Beziehung (auch Gottesbeziehung) und Kommunikation befähigt (vgl. Maier in: Wörterbuch der Feministischen Theologie 2002: 332).

Wie nahe beieinander, ja eng miteinander verbunden Körperliches und Seelisches im Verständnis des Menschen einstmals existierte, zeigt folgende etymologische Skizze des Begriffes der Seele: Im Hebräischen heißt das Wort Seele ‚näfäsch’(nefĕs). Die Grundbedeutung dieses Begriffes ist ‚Atem’ bzw. ‚Kehle’ und verweist also auf ursprünglich Körperliches, auf die Lebendigkeit und Bedürftigkeit des Individuums (vgl. Maier in: Wörterbuch der Feministischen Theologie 2002: 332). Atem und Kehle aber befinden sich in nächster Nähe zur Stimme, zum Klang und auch zum Gesang.

„[...] Was in den Menschen hineingeht und was aus ihm herauskommt – Luft, Wasser, Nahrung, Töne, Sprache -, konzentriert sich im Engpass der Gurgel.“ (Schröer/Staubli 1998: 62)

Gesang aber ist Körpermusik, Zusammenspiel zwischen Körper und Geist in gestaltender Tätigkeit und wird zum leiblichen Erleben. Welche Qualität ganzheitliches Erleben in der musikalischen Sphäre des Gesanges schließlich annehmen kann, schildert der Gesangspädagoge und Musiktherapeut Romeo Alavi Kia. Er beschreibt die Beziehung zwischen einem Sänger und seinem Publikum als die eines liebenden Paares. Wohl keine Metapher als die der Liebe ist geeigneter, Körperliches und Seelisches zueinander zu bringen und in der Empfindung des ganzheitlichen Leibes aufgehen zu lassen: Der Sänger ist der Liebende, das Publikum die Geliebte, und das, was zwischen beiden entsteht, Alavi Kia spricht von ‚Ekstase’ (die höchste Form leiblichen, ganzheitlichen Empfindens), bezeichnet er als die Grundbedingung für das Gelingen ihrer Beziehung. Das Publikum möchte von dem Sänger in seiner eigenen Ekstasefähigkeit angeregt werden. Wenn dies gelingt, dann vertauschen Sänger und Publikum ihre Ausgangspositionen. Der Sänger wird zum Geliebten und der Zuhörer zur Liebenden (vgl. Alavi Kia 1997: 50). Die höchste Form der Leiblichkeit ereignet sich schließlich im erotischen Akt der Vereinigung in dem die Individuen in einer seelischen Einheit aufgehen.

2.4 Das ethische Kriterium im Bibliodrama

Die zentrale und wesensbestimmende Stellung des biblischen Textes im Bibliodrama legt zunächst den Schluss nahe, das an den biblischen Kontext gebundene und damit per se christlich konditionierte bibliodramatische Spiel bedürfe keiner objektiven, gewissermaßen externen ethischen Instanz. Dennoch ist das Bibliodrama, wenn es seine mögliche Rolle als neue und erneuernde Form religiösen Lebens annimmt und dementsprechend ambitioniert in die Mitte der Gesellschaft drängt, auch allen gesellschaftlichen Einflüssen, unabhängig ihrer ethischen Prägung ausgesetzt. Aus diesem Grunde ist selbst das Bibliodrama zunächst wegen seiner programmatisch deklarierten Offenheit für Menschen und Geistesströmungen auch jenseits der christlichen Religion und im weiteren wegen seiner experimentellen Offenheit für Methoden, ästhetische Mittel und Medien auf ethische Grenzsetzungen angewiesen, über die gerade mit nicht konfessionell gebundenen und fremdreligiösen TeilnehmerInnen Konsens hergestellt werden muss. Im übrigen beweist die Kirchengeschichte mit ihren inquisitorischen Entgleisungen, aber auch das außerhalb der Kirchen entstandene neuzeitliche Sekten-Unwesen, dass die Bibel, insoweit sie als von Menschen gemacht missdeutet und fehlinterpretiert werden kann, allein offensichtlich nicht ausreicht, Denken und Handeln ethisch zu konditionieren.

Insoweit sich ethische Setzungen des biblischen Textes durch den individuellen Erfahrungshintergrund gebrochen nicht notwendig konsistent im Handeln eines Menschen manifestieren, bedarf es eines in der gesellschaftlichen Praxis überprüfbaren Kriteriums ethischer Natur.

Sölle definiert in ihrem Werk ‚Mystik und Widerstand’ ausgehend von der Notwendigkeit einer „Hermeneutik des Verdachts“, die die „Ehrlichkeit der Anhänger“ nicht als hinreichendes Kriterium zur Unterscheidung wahrer von falscher Mystik gelten lässt, ein ethisches Kriterium, dass in seiner Tragweite auch für das Bibliodrama gelten kann:

„Die Grundlage für die notwendige Unterscheidung der Geister muß eine andere sein, und die einzig mögliche ist die einer Ethik, die sich am Lebensrecht auch der biologisch Minderwertigen oder, aktueller gesagt, ökonomisch Unverwertbaren orientiert. Mystische Erfahrung geht zwar als eine unmittelbar religiöse über die ethische Forderung hinaus, aber doch nicht so, dass sie die Grundlagen einer Ethik des Geschöpfseins aufheben oder negieren und in Selbstherrlichkeit zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterscheiden könnte [...]. Die Kriterien echter Mystik [...] sind die der Ethik.“ (Sölle 2003: 79f)

Dieses ethische Kriterium trägt allgemeinverbindlichen Charakter, bedarf aber vor dem Hintergrund seiner notwendigen Überprüfbarkeit hinsichtlich der Besonderheiten bibliodramatischer Praxis unbedingt einer weiteren Konkretisierung, die aus Gründen der Nachvollziehbarkeit meines Exkurses erst im entsprechenden Teil des folgenden Kapitels vorgenommen wird.

3 Und das Wort wurde sinnlich - Eine philosophische Annäherung an das musikalisch geprägte Bibliodrama

3.1 Dem „Geheimnis“ auf der Spur – Was ereignet sich nach Pasquay im Bibliodrama?

Ist das Bibliodrama eine geheime Welt, die nur Insidern oder besonders spirituell veranlagten Menschen zugänglich ist? Was geschieht im Bibliodrama, in bibliodramatischen Prozessen? Welche besondere Art von Zugang zum biblischen Text bietet das Bibliodrama? Was fange ich an mit einem Satz wie ‚ES hat mich berührt!’, mit dem SeminarteilnehmerInnen ihre konkreten Erfahrungen und Erlebnisse von etwas offensichtlich Unaussprechbarem manchmal zusammenfassen? Dieses Berührt–, Geöffnet– und Bewegtwerden wird gespürt, erahnt, erlebt, erfahren und gilt als höchstes und schützenswertes Gut. Der Gemeindepfarrer und 2. Vorsitzende der Gesellschaft für Bibliodrama e.V. Andreas Pasquay beschreibt dieses ‚ES’ als etwas, sich jedem rationalen Zugriff Entziehendes:

„Ausgesprochen, analysiert oder gar in einen rechten Rahmen gerückt würde ES – das Geheimnis im Bibliodrama – sich selber verflüchtigen. Es wird sich dann entziehen – mit der gleichen Eindeutigkeit, mit der es im Prozess wirkte, die Teilnehmenden ‚berührte, erfüllte und bewegte’ [Hervorhebung durch G.B.].“ (Pasquay: TEXTRAUM 19/03: 4)

Dieses Geheimnis ist nach Pasquay zugleich notwendig und unabdingbar mit dem Bibliodrama verbunden, weil es dessen innere Antriebskraft und Motor ist.[5] In bibliodramatischen Prozessen werden Bereiche angestoßen, die sonst offensichtlich nur schwer zugänglich sind: angefangen bei erahnten ‚inneren Räumen’ bis hin zu bekennender ‚tiefer Spiritualität’.

Während eines solchen Prozesses geht es darum, das eigene Gespür für diese inneren Räume zu öffnen, sich berühren zu lassen, denn weil es nicht wirklich greifbar, verfügbar ist, „bleibt [das Geheimnis, G.B.] im Zwischen von Gruppe, Leitung und Text.“ (Pasquay: TEXTRAUM 19/03: 6).

Pasquays Ausführungen und seine Begriffswahl im zitierten Artikel des ‚TEXTRAUM’ (19,03) offenbaren viel von der Wirkung des Unaussprechlichen auf ihn selbst. Sie sind dem emotionalen Raum verpflichtet und bleiben als solche doch ‚nur’ Schilderungen unmittelbaren Erlebens. Reichen aber begeisternde, poetische, vielleicht sogar mystifizierende Umschreibungen da aus, wo es, wie im Bibliodrama, um dynamische Prozesse geht, die von Leitenden und Teilnehmenden aktiv beeinflusst werden? Ist die Frage danach, wie und auf welchem Wege dies geschieht, nicht legitim und sei es auch ‚nur’ unter ethischem Aspekt, umsomehr als eine vom Zeitgeist ‚beseelte’ und immer manipulativer agierende Gesellschaft den kontextuellen Hintergrund und rauen Gegenwind für das Bibliodrama als Form religiösen Lebens bildet? Reicht es aus, in beinahe regredierendem Zurückschrecken, einen Schleier lieber nicht zu lüften? Was kann sich schon Desillusionierendes hinter ihm verbergen? Ist das Geheimnis wirklich in Gefahr? - Ganz sicher nicht, wie sich im folgenden erweisen wird! Das Unverfügbare wird unverfügbar bleiben, denn alles Erkannte muss der Unendlichkeit des Nichterkannten unterliegen! Doch mit dem wissenschaftlichen Exkurs auf das Bibliodrama zu vervielfachen sich die Dimensionen seiner Entfaltung und die Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung für den Menschen. Und das bestätigt schließlich Pasquay selbst:

„Die Erfahrung zeigt, dass sich das ES [das Geheimnis, G.B.] vorrangig auf der Ebene der Ästhetik und der Atmosphäre eines Bibliodramas äußert. Ästhetik – nicht einschränkend als Wiedergabe des Schönen gemeint, sondern als Form, das Unsagbare in Form und in kommunizierbare Äußerungen zu bringen.“ (Pasquay: TEXTRAUM 19/03: 6)

Ich werde nun in diesem Kapitel einen Weg der Erklärung untersuchen, der es ermöglicht, sich dem Geheimnis soweit anzunähern, dass es sich im Sinne Pasquays nicht verflüchtigt, und dennoch neue Zugänge zu sich selbst offenbart.

[...]


[1] Die Mystik ist eine in allen Religionen mögliche Haltung innerer spiritueller Erfahrung. Höchstes Ziel ist es die sog. "unio mystica", die Vereinigung der Seele mit Gott zu erlangen. Mystik bezeichnet die unmittelbare erlebte Erfahrung und/oder das Erlebnis einer göttlichen bzw. transzendenten Realität, die das gewöhnliche Bewusstsein und die gewöhnliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen übersteigt (vgl. www.wikipedia.de 2005). Zu den prominenten christlichen Mystikern zählt auch die Ordensfrau und Komponistin Hildegard von Bingen (1098-1179), von der im Kapitel 4 näher die Rede sein wird.

[2] Thomas von Aquin (um 1225 bei Aquino bis 1274) war ein italienischer Theologe und Philosoph des Mittelalters.

[3] Strukturalismus ist eine in Frankreich entstandene wissenschaftliche Grundauffassung oder Forschungsmethode, die ihren Höhepunkt in den 60er und 70er Jahren des 20.Jahrhunderts hatte. Ihr Hauptanliegen ist das Aufdecken unbewusster universaler menschlicher Denkprinzipien. Die von Ferdinand de Saussure begründete strukturale Linguistik behauptet, dass Sprachen Zeichensysteme seien, denen eine unbewusste Struktur zugrunde liege, die aufdeckbar sei (vgl. Möller 2005).

[4] Der Leib-Seele-Dualismus ist ein klassisches Problem der abendländischen Philosophie und reflektiert die Unterscheidung von Geistigem und Materiellem. Mit René Descartes kam der Diskurs über den Leib-Seele-Dualismus in die neuzeitliche Philosophie. Er vertrat den dualistischen Standpunkt, dass sich zwei Substanzen gegenüberstehen - die res extensa (Materie) und die res cogitans (Bewusstsein). Aus empirischen Gründen sah er sich jedoch zur Annahme einer Wechselwirkung zwischen beiden genötigt (vgl. www.wikipedia.de, 2005). Im Verlaufe der Entwicklung von Geistes- und Naturwissenschaften spielte und spielt der Leib-Seele-Dualismus immer wieder eine zentrale Rolle, wenn es um die Bestimmung von deren Position zum Menschen geht.

[5] Pasquay grenzt in diesem Zusammenhang das Bibliodrama eindeutig von Praktiken der Esoterik, des Okkulten o. ä. ab, die sich zwar den Anschein des Geheimnisvollen geben, es aber absichtsvoll und pragmatisch auf schnelle Wirkung bedacht hervorrufen wollen (vgl. Pasquay: TEXTRAUM 19/03: 4f). Geheimnisvolles wird hier also auf manipulative Weise inszeniert und entsteht nicht von selbst im Zusammenspiel von Mensch und Ereignis. Entsprechend sind sowohl Leitende wie auch Teilnehmer keine wahrhaftigen ‚Träger von Geheimnissen’ (Pasquay).

Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Ästhetische Dimensionen im Bibliodrama
Untertitel
Musik, Klang und Stimme als neue Wege hermeneutischer Erschließung biblischer Texte
Hochschule
Evangelische Hochschule Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
69
Katalognummer
V80408
ISBN (eBook)
9783638830089
ISBN (Buch)
9783638832786
Dateigröße
834 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dimensionen, Bibliodrama
Arbeit zitieren
Gerlinde Braun (Autor:in), 2005, Ästhetische Dimensionen im Bibliodrama, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80408

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