Die hessischen Erziehungsstellen. Strukturbedingungen und Organisation aus pädagogischer Perspektive


Magisterarbeit, 2007

93 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung – Problemstellung

II. Die pädagogische Perspektive
II.1 Pflegekinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen
II.2 Was brauchen diese „schwierigen“ Pflegekinder?
II.3 Pädagogische Professionalisierung

III. Strukturbedingungen und Organisation der Erziehungsstellen des LWV Hessen
III.1 Gesetzliche Bestimmungen
III.2 Die Organisation des Jugendamtes
III.3 Organisation und pädagogische Konzeption
III.4 Rechtliche Beziehungen

IV. Auswirkungen der strukturellen Vorgaben
IV.1 Auswirkungen der Organisation des Fachdienstes und der Erziehungsstellen – Ergebnis 1
IV.2 Auswirkungen der Organisation der Jugendamtsverwaltung
IV.3 Auswirkungen der Mittelzuweisung
IV.4 Ergebnis 2
IV.5 Auswirkungen des Rechtsanspruchsregelungen
IV.6 Auswirkungen der Zuständigkeitsregelungen
IV.7 Auswirkungen der „gerichtlichen Überprüfbarkeit“
IV.8 Ergebnis 3
IV.9 Auswirkungen der Verschwiegenheitspflicht – Ergebnis 4
IV.10 Ergebnisübersicht und Reflexion

V. Förderliche Strukturen

VI. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

I. Einleitung – Problemstellung

In den alten Bundesländern wurden im Jahr 2000 38.617 Kinder in Pflegefamilien betreut[1]. Zwischen 5 und 10% dieser Pflegekinder sind in professionellen Pflegefamilien untergebracht – in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg werden diese professionellen Pflegefamilien „Erziehungsstellen“ genannt. Diese Bezeichnung hat sich auch weitgehend durchgesetzt. Andere Bezeichnungen sind zum Beispiel sonder(pädagogische), sozialpädagogische oder heilpädagogische Pflegestellen/-familien, professionelle Pflegestelle, Vollzeitpflege für besonders erziehungsbedürftige junge Menschen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass in der Regel mindestens ein Elternteil der betreuenden Familie eine pädagogische Ausbildung vorweisen kann.

Im System der Jugendhilfe gehören die Erziehungsstellen, neben der Pflegefamilie und dem Heim, zu den „Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses“, sie sind aber im Vergleich zu den beiden anderen genannten eine recht neue Angebotsform, die rechtlich zwischen den beiden erstgenannten einzuordnen ist. Die ersten Erziehungsstellen wurden in den 70er Jahren in Hessen (dort vom Landeswohlfahrtsverband (LWV)) und in Westfalen für eine sich verändernde Klientel geschaffen: Die Kinder, für die eine Pflegefamilie gesucht wurde, waren zunehmend älter und die Zahl der „erziehungsschwierigen“ Kinder nahm zu.

Die Erziehungsstellen wurden also für Kinder konzipiert, die aufgrund ihrer besonders schwierigen Situation oder ihres Alters nicht in normale Pflegefamilien vermittelt werden können, für die aber auch – dies vor allem auch im Zuge der kritischen Diskussion um die Heimerziehung und der zu dieser Zeit zunehmenden Bevorzugung familiennaher Betreuungsformen – eine Unterbringung im Heim pädagogisch nicht sinnvoll erschien. Erziehungsstellen wurden geschaffen, um die Vorteile der Heimerziehung (pädagogisches Fachpersonal) mit den Vorteilen der Unterbringung in Pflegefamilien (familiärer Rahmen) zu verbinden und so den besonderen pädagogischen Erfordernissen erziehungsschwieriger und älterer Kinder zu entsprechen. Die Hoffnung auf die Leistungsfähigkeit der neuen Erziehungsstellen gründete sich also auf die pädagogische Professionalität einerseits und das nicht-institutionelle Arrangement in der Familie andererseits.

Doch die Erziehungsstelle und das betreute Kind bleiben – trotz der Ansiedlung außerhalb des klassischen Heims – eingebunden in ein Netz vielfältiger Beziehungen und Abhängigkeiten. Die Erziehungsstelle ist Teil von komplexen Strukturen, in denen verschiedene Institutionen ihre Funktionen ausüben. Die Verwendung des Strukturbegriffs im Plural verweist auf die verschiedenen Ebenen, auf denen Strukturen wirken. Erstens ist hier die Rechtsstruktur zu nennen, die die Rechte und Leistungsansprüche der Bürger gegenüber dem Staat und dessen Pflichten gegenüber den Bürgern in Gesetzen – in diesem Fall vor allem im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) – normiert. Zweitens ist die Organisationsstruktur zu nennen, in die die Erziehungsstelle eingebettet ist, also die Organisation der Jugendhilfe, insbesondere des Jugendamtes, im weiteren und der Erziehungsstellen im engeren Sinne. An dritter Stelle schließlich steht die – informelle – Handlungsstruktur, die sich innerhalb der Organisationsstruktur herausbildet. Sie wird im Wesentlichen durch die Professionalität des pädagogischen Handelns bestimmt.

Strukturen begrenzen das Handeln und ermöglichen es zugleich. Umgekehrt gilt, dass das Handeln die Organisation strukturiert und Strukturen immer wieder neu hervorbringt. Struktur und Handeln sind also zwei Seiten derselben Medaille, wenn man von „Handlungsstruktur“ spricht kommt dies deutlich zum Ausdruck. Wenn ich in dieser Arbeit hauptsächlich über Strukturen spreche und auch zu analytischen Zwecken versuche, Struktur von Handeln getrennt zu behandeln, so darf man dabei nie die andere Seite – das Handeln – ganz vergessen.

Meine Ausgangsthese lautet nun, dass die Qualität pädagogischer Maßnahmen in Hilfesystemen wie dem der Erziehungsstellen nicht nur von der Professionalität des pädagogischen Handelns abhängt, sondern auch von der Struktur des Hilfesystems. Der Zweck des Systems der Erziehungsstellen ist, den Kindern, die in Erziehungsstellen betreut werden sollen, die besondere Hilfe zu geben, die sie brauchen. Die meisten der Kinder mussten Erfahrungen von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch durchleben, sind oft traumatisiert, jedenfalls aber in ihrer Entwicklung und Integration in die Gesellschaft gefährdet. Die besonders schwierigen Situationen, in denen sich die Kinder befinden, erfordern professionelle pädagogische Hilfe, weil hier das alltägliche erzieherische Handeln nach Intuition an seine Grenzen stößt, ganz zu schweigen davon, dass keine „normale“ Pflegefamilie bereit ist, die zu erwartenden Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, das Abbruchrisiko zudem sehr hoch wäre. Es ist also zum einen – so mein Ausgangspunkt – professionelles pädagogisches Handeln nötig. Zum anderen aber ist eine Struktur des Hilfesystems nötig, die das erforderliche professionelle Handeln ermöglicht und wenn möglich auch unterstützt.

Daraus leitet sich die Fragestellung meiner Arbeit ab: Sind die strukturellen Bedingungen, unter denen die hessischen Erziehungsstellen arbeiten, professioneller pädagogischer Arbeit dienlich, behindern sie aber zumindest nicht? Und vor allem: Dienen die Strukturen auch den Adressaten der pädagogischen Hilfe, also den betroffenen Kindern?

Der LWV Hessen war mit der Gründung seiner Erziehungsstellen zwar mit bundesweiter Vorreiter dieser neuen Hilfeform, ist aber mittlerweile in Hessen nicht mehr einziger, wenn auch nach wie vor größter Träger von Erziehungsstellen. Der Rahmen dieser Arbeit würde gesprengt, sollte die Organisationsstruktur sämtlicher Anbieter von Erziehungsstellen in Hessen mit einbezogen werden. Ich beziehe mich daher im Folgenden ausschließlich auf die Erziehungsstellen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Da sich die Analyse aber zu einem großen Teil mit den den Erziehungsstellen übergeordneten Strukturen beschäftigt, bleiben die Ergebnisse für diesen Teil übertragbar.

Die strukturellen Bedingungen der Arbeit in den Erziehungsstellen des LWV sollen also analysiert und so die Vor- und Nachteile der vorhandenen Struktur für die Qualität der Maßnahme herausgearbeitet werden. Dies geschieht aus pädagogischer Perspektive: Die pädagogischen Erfordernisse für das Kind sowie die notwendigen Bedingungen für professionelles pädagogisches Handeln, dienen mir als Analyseinstrument: An ihnen soll die Struktur in ihren verschiedenen Aspekten gemessen werden.

Ich spreche bewusst nicht nur von professionellem Handeln, sondern von „pädagogischen Erfordernissen“, weil ich nicht nur die Professionellen und die Bedingungen für professionelle Arbeit in den Mittelpunkt stellen will, sondern auch die, um die es in dem ganzen Arrangement der Erziehungsstelle eigentlich geht: Um die Kinder und Jugendlichen, die Hilfe brauchen. Ich gehe also davon aus, dass den pädagogischen Erfordernissen zwar zu einem wesentlichen Teil durch professionelles Handeln entsprochen wird, ich gehe aber auch davon aus – siehe dazu meine obige Ausgangsthese – dass es Strukturbedingungen gibt, die unabhängig von der Professionalität pädagogischen Handelns wirken, beabsichtigt oder unbeabsichtigt.

Es stellt sich die berechtigte Frage, ob es in meiner Arbeit um die Frage nach dem Kindeswohl in Erziehungsstellen geht. Tatsächlich liegt dieser Begriff nahe bei der von mir gewählten pädagogischen Perspektive. Beide stellen, so scheint es, das Kind in den Mittelpunkt. Oft wird kritisch vorgetragen, der Begriff des Kindeswohls lasse zu viel Spielraum in der Interpretation dessen, was das Wohl des Kindes eigentlich ist. Diesen Vorwurf kann man der Pädagogik allerdings auch machen, die ebenfalls über keine konsensfähige Theorie verfügt, was genau für welches Kind pädagogisch sinnvoll ist. Man kann davon ausgehen, dass die Offenheit des Begriffs des Kindeswohls auch eine Folge der Vielfalt von Sichtweisen innerhalb der Pädagogik ist. Auf den Begriff „Kindeswohl“ wird nun deshalb verzichtet, weil er nicht nur ein pädagogischer, sondern vor allem auch ein rechtlicher Begriff ist und sich– wie von Zitelmann (2001) ausführlich dargestellt – im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Bereichen bewegt. Die pädagogische Perspektive zu wählen erlaubt mir, direkt auf ein pädagogisches Verständnis von Kindern in Erziehungsstellen zurückzugreifen, ohne den Begriff des Kindeswohls in seinen verschiedenen Bedeutungen vorher „auseinander zu nehmen“. Gegenstand der Pädagogik ist das Wohl des Kindes an sich, ohne sich – zunächst – mit der Verrechtlichung dieses Anliegens in der deutschen Gesetzgebung beschäftigen zu müssen. Letzteres ist aber Gegenstand eines Teils dieser Arbeit: Die rechtlichen Bestimmungen zum Kindeswohl werden mit einem pädagogischen Verständnis von Kindeswohl – mit den pädagogischen Erfordernissen – verglichen. Ohne eine begriffliche Differenzierung käme es zu logischen Problemen: Ich kann nicht etwas mit sich selbst vergleichen. Von „pädagogischen Erfordernissen“ zu sprechen und nicht vom „Kindeswohl“ bedeutet, eindeutig die pädagogische Perspektive einzunehmen, betont die Abgrenzung zum rechtlichen Begriff und umgeht somit das Problem.

Im folgenden zweiten Kapitel werde ich diese pädagogische Perspektive, die später Ausgangspunkt der Strukturanalyse sein wird, genau darlegen: Im Mittelpunkt steht die schwierige Situation der Kinder, die in Erziehungsstellen betreut werden. Für den theoretischen Standpunkt, von dem aus ich diese Situationen interpretiere und daraus ableite, was die Kinder brauchen, greife ich auf ein pädagogisches Selbstverständnis zurück, das ich hier mit dem Begriff der „Individualpädagogik“ andeuten will, und dem die Psychoanalytische Pädagogik sehr nahe steht. Letztere bietet mit der Einbeziehung des Pädagogen in den pädagogischen Prozess auch einen guten Anknüpfungspunkt an die Theorie professionalisierten Handelns von Oevermann. Aus der Erarbeitung des pädagogischen Standpunktes, einer klaren pädagogischen Sichtweise auf die Situation der Kinder in Erziehungsstellen, leiten sich dann die „Fragen“ ab, die später an die Struktur und Organisation der Erziehungsstellen gestellt werden sollen: Die Schlüsselbegriffe des erarbeiteten Standpunktes stellen die Messlatte dar, mit der gemessen werden soll.

Im dritten Kapitel werden die Erziehungsstellen des LWV Hessen, ihre Organisationsform und die weiterreichenden Strukturen beschrieben, in die sie eingebettet sind. Hierzu folge ich den oben aufgezählten strukturellen Ebenen. Informelle Handlungsstrukturen, die von der pädagogischen Professionalität abhängen, bleiben, da sie außerhalb meiner Fragestellung liegen, unberücksichtigt.

Das vierte Kapitel ist für die kritische Analyse vorgesehen: Die im zweiten Kapitel erarbeiteten Fragen werden an die im dritten Kapitel dargestellten Strukturbedingungen gestellt und beantwortet, eine Reflexion der Schlussfolgerungen aus den Antworten schließt sich an.

Gegenstand des fünften Kapitels ist der Versuch, Grundsätze förderlicher Strukturen zu formulieren.

Der gesamte Gang der Untersuchung wird im letzten sechsten Kapitel zusammengefasst.

II. Die pädagogische Perspektive

II.1 Pflegekinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen

Pflegekinder leben nicht ohne Grund nicht in ihrer Herkunftsfamilie. Auch vor dem Hintergrund, dass die Jugendhilfe heute zumindest konzeptionell verstärkt auf Prävention und familienunterstützende Hilfen ausgerichtet ist, kann man davon ausgehen, dass die Kinder, zu deren Wohl – als letztes Mittel der Wahl – auf eine Fremdunterbringung zurückgegriffen wird, aus belasteten Lebenslagen stammen, die nicht (mehr) ohne weiteres mit anderen Hilfen „korrigiert“ werden können. Pflegekinder kommen also in der Regel aus schwierigen, teilweise extremen Lebensverhältnissen. Winkler spricht von Vernachlässigung als Normalfall: „Trotz aller Unsicherheiten über die Zahl der Betroffenen kann man davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche vor ihrer Fremdplatzierung vernachlässigt oder misshandelt waren“ (2005: 713). Die unsicheren Zahlen, die er nennt, bleiben zwar hinter dieser Aussage zurück: In 9% der Fälle wird Vernachlässigung als Grund für eine eingreifende Maßnahme angegeben, in 4% der Fälle Kindesmisshandlung und in 3% der Fälle sexueller Missbrauch (Zahlen von 1999, ähnlich für 1997, aus: Winkler 2005: 712). Für die in die Erziehungsstellen vermittelten, „besonders entwicklungsbeeinträchtigten“ (§ 33 Satz 2 KJHG) Kinder und Jugendlichen, die zum Teil schwerwiegende Verhaltensstörungen zeigen, sind diese Zahlen aber nur bedingt aussagekräftig. Für sie scheint Winklers Aussage von „Vernachlässigung als Normalfall“ plausibel.

Es handelt sich bei den Lebenssituationen der betroffenen Kinder um Multiproblemlagen, wobei die „klassischen Elendssituationen prävalieren“ (Winkler 2005: 716). Strukturelle Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit der Eltern, beengte Wohnverhältnisse, frühe Elternschaft oder auch große Kinderzahl, niederer Bildungsstatus der Eltern „gehen einher mit schwierigen familiären Situationen, Elternverlusten und Beziehungsabbrüchen, Alkoholismus, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit der Eltern, Gewalterfahrungen“ (Winkler 2005: 716). Vernachlässigung ist einerseits strukturelle Vernachlässigung, wie Winkler betont, andererseits aber auch eine Folge fehlender persönlicher und emotionaler Ressourcen der Eltern, die ihrerseits auch schon auf pathologische Sozialisationsbedingungen zurückzuführen sind. Oft ist die Geschichte des Kindes die der Eltern (vgl. Westermann 1996).

Aus den schwierigen Lebenssituationen der Kinder

„entstehen physisch-gesundheitliche Belastungen wie psychische Deprivationen, die nicht selten in die Nähe psychiatrisch zu diagnostizierender Symptome führen; legt man Befunde der Gehirnforschung und der Entwicklungspsychologie zu Grunde, muss man als Folge früher Vernachlässigung und massiver Misshandlung davon ausgehen, dass Schädigungen auch der neuronalen Entwicklung eingetreten sind, die – wenn überhaupt – nur mühsam zu revidieren sind.“ (Winkler 2005: 716f.)

Rund ein Drittel der misshandelten Kinder ist unter 6 Jahre alt (Winkler 2005: 712) Für diese sind stationäre Unterbringungsformen im Heim eher unwahrscheinlich. Insbesondere für jüngere Kinder unter 10 Jahren sind familiennahe Betreuungsverhältnisse relevant. So sind auch zwischen 60 und 70% der in Pflegefamilien vermittelten Kinder jünger als 10 Jahre (eigene Berechnung aus: Statistisches Bundesamt 2005: Tabelle 1). Diese Zahlen gelten auch für die hessischen Erziehungsstellen, über die die Planungsgruppe PETRA 1991 Daten erhoben hat. 79 von 115 Kindern waren zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in eine Erziehungsstelle 10 Jahre oder jünger, dies sind 68,6%. Das durchschnittliche Alter bei der Aufnahme lag bei 9,5 Jahren (Planungsgruppe PETRA 1995: 70f.).

Pflegekinder kommen nicht nur ursprünglich aus einer schwierigen Lebenssituation, sie haben zum Teil schon mehrere Stationen der Fremdunterbringung hinter sich. 26% der in Pflegefamilien vermittelten Kinder lebten vorher in einer anderen Pflegefamilie (17%) oder in einem Heim (9%, Statistisches Bundesamt 2005: Tabelle 3.1). Diese Zahlen sind allerdings nicht auf die in Erziehungsstellen vermittelten Kinder übertragbar. Sie hatten „im Durchschnitt zwischen zwei und drei Lebensstationen hinter sich“ (Planungsgruppe PETRA 1995: 72). Nur 19,5% der Kinder wurden direkt aus ihrer ursprünglichen Lebenssituation in eine Erziehungsstelle vermittelt. (ebd.).

„Die Überwiegende Zahl der Kinder wurde bereits in Institutionen der Jugendhilfe oder der Psychiatrie betreut. Aus den Zahlen der LWV-Erhebung wissen wir zusätzlich, dass knapp 60% der Kinder vorausgegangene Hilfe in ambulanten Beratungsstellen erhielten. Bereits an der hohen Anzahl der Lebensstationen und der vorausgegangenen Hilfen wird deutlich, dass es sich bei Erziehungsstellenkindern um stark problembehaftete Kinder handelt.“ (Planungsgruppe PETRA 1995: 72)

60% der Kinder besuchte vor der Aufnahme in die Erziehungsstelle die Grundschule, 23% die Sonderschule. Der Anteil der Realschüler und Gymnasiasten lag unter 5% (Planungsgruppe PETRA 1995: 71).

„Drei Viertel der Kinder sind ehelich geboren, vor der Aufnahme in die Erziehungsstelle waren jedoch nur noch ein Drittel der Eltern verheiratet. 45% der Kinder kommen aus Elternhäusern, die zum Zeitpunkt der Aufnahme alleinerziehend waren. (...) Diese Daten zeigen, dass es sich bei den Herkunftsfamilien also um überdurchschnittlich instabile Familienverhältnisse handelt.“ (Planungsgruppe PETRA 1995: 72)

Es ist also festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche, die in Erziehungsstellen untergebracht werden, meist unter den oben beschriebenen, extrem schwierigen Lebensbedingungen aufgewachsen sind. Sie zeigen als Folge dieser Lebensbedingungen „Verhaltensstörungen“, sind „besonders entwicklungsbeeinträchtigt“, oder „erziehungsschwierig“.

Nach der Aufnahme in eine Erziehungsstelle ist die Lebenslage der Kinder zwar zunächst einmal entschärft, da sie sich nicht mehr unmittelbar in einer misshandelnden oder vernachlässigenden Beziehung befinden, doch ihre neue Lebenssituation ist alles andere als einfach und wirft vielfältige neue Probleme auf, mit denen sie – während sie noch mit der Bewältigung ihrer erlittenen Vernachlässigung oder ihres mehrfachen Lebensortwechsels beschäftigt sind – zusätzlich konfrontiert sind.

Pflegekinder befinden sich an der zentralen Stelle des schwierigen Dreiecksverhältnisses leibliche Eltern – Kind – Pflegeeltern. Sie müssen die Beziehung zu ihren Ersatzeltern in ihre Lebensgeschichte integrieren und die Beziehung zu ihren leiblichen Eltern neu ordnen. Oft findet ein Kampf der Eltern um „ihr Kind“ statt, vor allem dann, wenn es nicht gelingt, die Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses im Einvernehmen mit den leiblichen Eltern zu gewähren. Ersatzelternschaften, die in Frontstellung gegenüber den leiblichen Eltern herbeigeführt werden (müssen), erschweren es dem Kind, den Beziehungswechsel zu bewältigen, also die – immer vorhandene – Bindung an seine leiblichen Eltern zu lockern und ohne Schuldgefühle neue Beziehungen zu seinen Ersatzeltern einzugehen.

Auch die Beziehungen zu eventuell vorhandenen Geschwisterkindern sowohl in der Ursprungs- als auch in der Ersatzfamilie müssen neu gestaltet oder aufgebaut werden.

Gleiches gilt für das schulische Umfeld und das Wohnumfeld bzw. die Nachbarschaft: Ist mit dem Familienwechsel ein Wohnortwechsel und zusätzlich ein Wechsel der Schule oder des Kindergartens verbunden, muss sich auch hier das Kind auf neue Menschen und Orte einstellen. Erziehungsstellenfamilien bzw. –eltern sind häufig der Mittelschicht zuzurechnen, während Pflegekinder häufig aus Unterschichtverhältnissen stammen2. Unterschiedliche Werte, auch unterschiedliche Sprachgewohnheiten treffen aufeinander, die um so schwieriger für Kind und Ersatzeltern zu ertragen und zu überwinden sind, je älter einerseits das Kind ist, und je größer andererseits die Unterschiede sind.

Kurz: Das Kind, das seinen Lebensort wechselt, muss in jeder Hinsicht seinen Platz an diesem neuen Ort finden und hat zahlreiche und auch schwierige Veränderungen zu bewältigen. Doch auch die Erziehungsstelleneltern und die betreuenden Mitarbeiter des Fachdienstes Erziehungsstellen stehen in dieser Situation vor einer besonderen pädagogischen Aufgabe.

Das pädagogische Verständnis für diese Aufgabe in der Erziehungsstellenarbeit, das dieser Arbeit zu Grunde liegt, soll nun in den kommenden Abschnitten dieses Kapitels dargelegt werden.

II.2 Was brauchen diese „schwierigen“ Pflegekinder?

II.2.1 Überlegungen zum pädagogischen Selbstverständnis

Jede Überlegung, was die Kinder brauchen, die unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen sind und nun zusätzlich den Wechsel in eine neue Familie bewältigen müssen, baut auf theoretischen Annahmen auf, was in einem Kind passiert und passiert ist, wie Verhaltensstörungen zu erklären sind und was für eine Rolle das Umfeld bei den Verhaltensstörungen spielt.

Das an Schultypen orientierte herkömmliche Denken der Sonderpädagogik definiert Verhaltensstörung schlicht als erhebliche Abweichung vom Regelverhalten, durch die das Erreichen des Erziehungszieles erschwert oder gefährdet wird, was eine besondere auf personale und soziale Integration zielende erzieherische Hilfe erfordert. Diese Definition greift allerdings zu kurz, denn sie schließt kein Verständnis von der Ursache der Verhaltensstörung ein und macht das Kind zum Objekt, das an Normen gemessen wird. Das Erziehungsziel lautet „personale und soziale Integration“, etwas weniger euphemistisch ausgedrückt Normenkonformität.

Mittlerweile besteht im pädagogischen Diskurs weitgehende Einigkeit darüber, dass die Kinder und Jugendlichen als Subjekte wahrzunehmen sind, die ihre Lebenssituation aktiv bewältigen und steuern. Die Kinder verarbeiten Missbrauch und Misshandlung, Vernachlässigung als Lebensthemen, sie sind in den biografischen Zusammenhang eingebettet (vgl. Winkler 2005: 718f.). Das Verhalten der Kinder dient ihnen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation, ist also funktional, auch wenn es abweichendes, „gestörtes“ Verhalten ist.

Noch weiter geht eine Definition von Verhaltensstörung, die von folgenden Bestimmungspunkten getragen wird: Eine Verhaltensstörung entsteht, wenn die Umwelt in der angemessenen Anpassung an das Kind versagt hat. Das Kind ist gezwungen sich an diese Umwelt anzupassen, verliert dabei aber seine persönliche Identität. Die Situation, in der das Kind lebt, ist so gestört, dass es mit Entwicklungsstörungen reagiert. Jedes Verhalten ist als eine grundsätzlich sinnvolle Äußerung zur Bewältigung der Situation zu sehen. Die Verhaltensstörung ist Ausdruck des schweren psychischen Leids, der subjektiven Erfahrung der verlorenen Identität (vgl. Neidhardt 1984: 28f.). Die Definition, aus der Neidhardt die genannten Punkte abgeleitet hat, stammt von dem Psychoanalytiker Winnicott (1978: 216):

„Dieses hässliche Wort – Verhaltensstörung – bedeutet, dass zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Umwelt in der angemessenen Anpassung an das Kind versagt hat und das Kind daher gezwungen ist, entweder die Deckungsarbeit selbst zu übernehmen und so seine persönliche Identität zu verlieren oder in der Gesellschaft um sich zu schlagen und damit jemand anderes zu zwingen die Deckung zu übernehmen, so dass es die Möglichkeit bekommt, noch einmal mit der persönlichen Integration anzufangen.“

II.2.2 Psychoanalytische Pädagogik als theoretischer Standpunkt

Die Psychoanalyse hat seit ihren Anfängen einen starken Einfluss auf die Heilpädagogik gehabt. Ihr Begründer Sigmund Freud sah sowohl eine prophylaktische als auch eine heilpädagogische Anwendung der Psychoanalyse im Bereich der Erziehung als wünschenswert an, betonte aber auch, dass sie nur Hilfsmittel sei und nicht geeignet an ihre Stelle zu treten (vgl. Neidhardt 1984: 23). Die ersten, die diesen Hinweis ernst nahmen und die Psychoanalyse in der pädagogischen Praxis der Heimerziehung anwendeten, waren August Aichhorn (Jugendheim Oberhollabrunn 1919-21), Siegfried Bernfeld (Kinderheim Baumgarten 1919/20), Fritz Redl (um 1930) und Bruno Bettelheim (Orthogenic School, Chicago ca. 1950-73). So verfügt die Psychoanalytische Pädagogik „von allen therapeutischen Richtungen sicherlich über die längste und vielschichtigste Tradition in der Erziehung schwieriger Kinder“ (Göppel 2000: 230).

Von allen anderen pädagogischen Richtungen unterscheidet sich die Psychoanalytische Pädagogik dadurch, dass sie die zentralen Erkenntnisse der Psychoanalyse in die Reflexion ihres pädagogischen Handelns aufnimmt: Erkenntnisse über Wesen und Wirksamkeit des Unbewussten, über Übertragungsidentifizierungen und über die Dynamik von Trauma, Wiederholungszwang und Projektiver Identifizierung (vgl. Müller/Krebs/Finger-Trescher 2002) – diese psychoanalytischen Perspektiven ermöglichen es dem Pädagogen, die „‘Struktur des Kindes’, d.h. seine Entwicklungsgeschichte, seine aktuelle Lebenssituation, seine innere Konflikthaftigkeit, seine Abwehrtendenz, seine Wunsch- und Angstwelt“ (Göppel 2000: 231) besser zu verstehen. Besonders zeichnet sich die Psychoanalytische Pädagogik aber auch dadurch aus, dass sie nicht nur das eine Kind verstehen will, sondern auch das andere Kind: das verdrängte innere Kind des Pädagogen selbst. Die innere, meist unbewusste Beteiligung der Professionellen wird in die Reflexion pädagogischen Handelns mit einbezogen.

Bevor ich zur Situation des Pflegekindes aus der Perspektive der Psychoanalytischen Pädagogik zurückkehre, soll die Frage geklärt werden, in welchem Verhältnis die Psychoanalytische Pädagogik zur Psychoanalyse, bzw. die Pädagogik zur Therapie zu sehen ist. Besonders in den pädagogischen Grenzbereichen, dort wo Pädagogik in der Arbeit mit besonders schwierigen Kindern oft an ihre Grenzen zu stoßen scheint, verschwimmen die Grenzen zu therapeutischen Methoden, die mittlerweile auch in das pädagogische Handeln integriert werden. Die Diskussion der Abgrenzungsversuche der verschiedenen beteiligten pädagogischen Disziplinen zu therapeutischen Verfahren wurde (und wird) oft stark polarisierend geführt, wenn auch die pädagogischen Disziplinen, die es mit besonders schwierigem Klientel zu tun haben – insbesondere die Verhaltensgestörtenpädagogik – vergleichsweise offen gegenüber Einflüssen aus therapeutischen Angeboten sind (vgl. Göppel 2000). Psychoanalyse und Psychoanalytische Pädagogik nehmen in dieser Diskussion eine Sonderstellung ein, denn die Psychoanalyse „hat sich am klarsten von der Vorstellung distanziert, dem Erzieher neue Mittel oder wirksame Techniken an die Hand geben zu können, mit denen er seine Aufgaben besser bewältigen könnte“ (Göppel 2000: 230). Die Psychoanalytische Pädagogik bedient sich der Psychoanalyse als „Reflexionshilfe“ (Warzecha 2001: 46) Für die Psychoanalytische Pädagogik leistet die Psychoanalyse „nur das eine, allerdings Unverzichtbare: sie weckt die Aufmerksamkeit für die Dunkelstellen des pädagogischen Feldes, für die zumeist übergangene Innenwelt und Befindlichkeit der beteiligten Subjekte und bezieht diese in den pädagogischen Diskurs mit ein“ (Bittner 1996: 259). Das Handeln des psychoanalytischen Pädagogen bleibt pädagogisch, er wendet keine neuen Methoden an, keine therapeutischen Techniken, aber sein Handeln findet statt vor dem Hintergrund einer psychoanalytischen Vorstellung, was in dem Kind vor sich geht. Doch auch schon diese Gegenüberstellung ist zu polarisierend, denn sie unterstellt einen eindeutigen inhaltlichen Unterschied zwischen pädagogischem und therapeutischem Handeln, ein Unterschied der so nicht festgestellt werden kann. Oevermann (1996: 146f.) spricht von der jedem pädagogischen Handeln faktisch innewohnenden „therapeutischen Dimension“ und ebnet so jeden Abgrenzungsversuch ein. Er sieht pädagogisches Handeln als einen Fall therapeutischen Handelns. Logisch betrachtet kann sich dann nur noch die Therapie gegen die „pädagogische Therapie“ abgrenzen. Diesen Versuch unternimmt zum Beispiel Körner (1996), indem er die Grenzen sozialpädagogischen Handelns herausarbeitet, nachdem er zunächst die Analogien zwischen Psychoanalyse und Pädagogik ausführlich belegt. Spätestens hier wird klar, dass die Unterschiede allenfalls gradueller Art sind. Hier schließt sich der Kreis mit einem Rückblick auf Freud, der schon auf die grundsätzlich gleiche Struktur der menschlichen Psyche hingewiesen hatte – gleich ob „gestört“ oder „normal“: Der Unterschied von „normal“ zu „krank“ ist ein gradueller. Daher begrüßte er auch die Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse in der Pädagogik.

Psychoanalytische Pädagogik erkennt also an, dass die Ursache für die „Verhaltensstörungen“ des Kindes in der Umwelt des Kindes liegen, die nicht in der Lage war, sich so weit an das Kind anzupassen, dass es sich gesund entwickeln konnte. Daher nennt sie die Störungen Umwelt- und Entwicklungsstörungen. Folglich liegt der Schlüssel für eine Behebung der Entwicklungsstörungen auch nicht im Kind selbst, das irgendwie an die Umwelt angepasst werden muss, sondern er liegt in der – erwachsenen, verstehenden und reifen – Umwelt, die sich so lange in angemessener Weise an das Kind anpassen und den Schutz wieder übernehmen muss, bis es wieder bereit ist, seine eigenen Schutzmechanismen aufzugeben und sein Verhalten zu ändern.

An dieser Stelle lässt sich die psychoanalytische Sichtweise deutlich von einem systemischen Verständnis von „Verhaltensstörungen“ abgrenzen. Systemisch betrachtet ist eine Verhaltensstörung eines Kindes die Folge eines aus dem Gleichgewicht geratenen Systems – meist der Familie mit ihren inneren Beziehungen, das heißt den Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. Der Schlüssel zur Auflösung der Verhaltensstörungen des Kindes liegt dann in der Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Familie. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass nicht das Kind, sondern die Familie im Mittelpunkt des pädagogischen Verständnisses steht. Das Kind mit seinen Umwelt- und Entwicklungsstörungen ist der Familie als Ganzes – wie jedes andere Familienmitglied auch – untergeordnet. Allerdings sind Kinder aufgrund ihres geringeren Lebensalters auch immer die schwächsten Familienmitglieder – und die abhängigsten. Sie sind auf ihre erwachsenen Bezugspersonen als Mittler zur Welt angewiesen. Jedes Kind braucht mindestens einen erwachsenen, reifen Menschen als Bezugsperson, der in der Lage ist, sich auf den Entwicklungsstand des Kindes angemessen einzustellen, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen und es vor Gefahren zu schützen. In weniger schwerwiegenden Fällen finden Kinder mit Umwelt- und Entwicklungsstörungen diese Grundbedürfnisse oft noch in ihrer Ursprungsfamilie befriedigt. Für in Erziehungsstellen vermittelte Kinder trifft dies nicht zu. Im Fall von Vernachlässigung oder Misshandlung hat das Familiensystem in seiner Schutzfunktion für das Kind so weitgehend versagt (in den meisten Fällen hat es wiederholt versagt), dass eine systemische Sichtweise, die erst über die Gesundung des Systems das Wohlergehen des Kindes wieder herstellen will, nicht mehr angemessen ist. Die systemische Sichtweise würde in diesen Fällen das Kind zum Baustein der Therapie seiner Eltern machen – eine Rolle, die ein Kind nicht übernehmen kann, denn nicht die Erwachsenen sind auf das Kind angewiesen, sondern das Kind auf die Erwachsenen.

Die Psychoanalytische Pädagogik trägt dieser Grundannahme Rechnung, indem sie das Kind mit seinen Entwicklungsbedürfnissen in den Mittelpunkt der pädagogischen Intervention stellt und über eine bedingungslose Anpassung der Umwelt, die diesen Entwicklungsbedürfnissen entspricht, eine nachholende Entwicklung des Kindes ermöglicht – und damit dem Kind neue Wege öffnet, die – vielleicht – dazu führen, dass es seine dem Selbstschutz dienenden „Verhaltensstörungen“ ablegen und sich sozial integrieren kann, jedenfalls aber dazu, dass es seine Autonomie wiedererlangt.

In ihrer Konzentration auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes und in ihrer Anerkennung der subjektiven Funktionalität seiner „Verhaltensstörungen“ ist die psychoanalytische Pädagogik schon immer Individualpädagogik gewesen. Immer ging es den psychoanalytisch orientierten Pädagogen zuallererst um den Autonomiegewinn der ihnen Anvertrauten, um eine Öffnung ihrer Lebenssituation, die „gesellschaftliche Funktionsfähigkeit“ stellt sich in den meisten Fällen nebenher ein, als Folge ihres „So-wie-sie-sind-Angenommenseins“.

II.2.3 Die psychoanalytische Sicht auf das Pflegekind

Die psychoanalytische Pädagogik bezieht die psychoanalytische Sicht der Vorgänge im fremdplazierten Kind in ihre Reflexion mit ein: Was passiert aus Sicht der Psychoanalyse im Kind, wenn es von seinen Eltern vernachlässigt oder misshandelt wird und welche psychischen Vorgänge sind zu erwarten, wenn es in eine Erziehungsstelle kommt? Wie sieht es dann mit der Beziehung zu seinen leiblichen Eltern aus? Braucht das Kind Besuchskontakte?

Monika Nienstedt und Arnim Westermann (1998) haben die psychoanalytische Perspektive auf die Situation von Pflegekindern ausführlich dargestellt.

Diese Sichtweise soll anhand der Situation von Erziehungsstellenkindern zwischen Ursprungs- und Ersatzfamilie verdeutlicht werden. Gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen zwei Familien, in dessen Mittelpunkt sich die Kinder befinden, ist durch Gesetze stark geregelt. Ein anderer Bereich, der strukturellen Einflüssen unterworfen ist, ist zum Beispiel die Kontaktanbahnung und Vermittlung von Kindern in Erziehungsstellen. Darauf wird weiter unten eingegangen.

Nicht behandelt werden sollen hier die Integrationsprozesse in die Ersatzfamilie oder besondere Störungen im Einzelnen aus psychoanalytischer Sicht: Die erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgaben entscheidet sich fast ausschließlich auf der Handlungsebene und ist daher im Zusammenhang dieser Arbeit nicht relevant.

Aus psychoanalytischer Perspektive spielt die Qualität der Beziehung zu den primären Bezugspersonen – in der Regel sind dies die leiblichen Eltern – eine große Rolle.

Kinder sind immer an ihre Eltern gebunden, auch wenn sie von ihnen vernachlässigt oder misshandelt wurden. Sie sind von den Eltern abhängig. Wenn das Kind die Eltern als nicht-schützend erlebt, wenn seine Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden oder es durch sie Gewalt ausgesetzt ist, werden die Eltern zu überwältigenden Eltern, die die Signale des Kindes nicht wahrnehmen. Das Kind hat keine Möglichkeit, Einfluss auf die Eltern auszuüben, es ist nicht nur abhängig, sondern auch macht- und schutzlos.

„Vergegenwärtigen wir uns, wie ein Kind diese Situation zu bewältigen sucht: Das Kind verdrängt und verleugnet die bedrohlichen Erfahrungen, die es statt an den Eltern an anderen Menschen in einer Übertragungsbeziehung festmacht: ‘Meine Eltern haben mich nie geschlagen. Sie haben mich immer gut versorgt, alle anderen aber sind bedrohlich.’ Es identifiziert sich mit dem Angreifer, idealisiert die bedrohlichen Objekte, rechtfertigt sie und entwickelt gleichzeitig ein negatives Selbst, die Überzeugung ein böses und schlechtes Kind zu sein. Mit dieser Konstruktion kann das Kind nicht nur seine Ängste in Schach halten, sondern gleichzeitig auch seine Ohnmachtsgefühle verringern: Wenn nicht die Eltern böse sind (...), sondern wenn statt dessen das Kind böse und für die Misshandlung und Vernachlässigung selbst verantwortlich ist, dann schreibt das Kind sich statt der ohnmächtigen Opferrolle eine aktive Verursacherrolle zu und hat es damit vermeintlich selbst in der Hand, das Verhalten der Eltern zu steuern. Und dies sucht es – sofern es von seinen Ich-Fähigkeiten her dazu in der Lage ist – durch Überanpassung an ihre Erwartungen zu tun.“ (Nienstedt/Westermann 1998: 211f.)

Diese Konstellation wird Angstbindung genannt: Die Bindung an die Eltern ist auf eine überwältigende Angst des Kindes vor ihnen zurückzuführen, die es durch die eben beschriebene Strategie versucht zu bewältigen.

Diese Verarbeitungsformen führen zu der „oft betonten ‘engen Bindung’ misshandelter Kinder an ihre Eltern. Sie verführen allzu leicht zu der irrigen Meinung, dass die Kinder trotz aller schrecklichen Erfahrungen die Eltern lieben würden und eine erhaltenswerte Beziehung zu ihnen hätten. Hier wird in unzulässiger und falscher Weise aus dem Bindungs- und Anpassungsverhalten der Kinder [...] auf die Qualität der Beziehung geschlossen, die sich bei näherer Betrachtung als reine Angstbindung erweisen würde.“ (Nienstedt/Westermann 1998: 212)

Der Analyse der Eltern-Kind-Beziehung kommt daher eine große Bedeutung zu. Traumatisierten, durch ihre Eltern vernachlässigten oder misshandelten Kindern, die durch Angstabwehr an diese gebunden sind, muss die Möglichkeit gegeben werden, neue, korrigierende Erfahrungen zu machen und eine kritische Distanz zu den Eltern zu entwickeln. Dafür ist eine wichtige Voraussetzung,

„dass das Kind sich vor dem erneuten Einfluß der als mörderisch erlebten Menschen, seinen leiblichen Eltern, wirklich geschützt fühlen kann, dass es die Erfahrung macht, dass sie keine Macht mehr über es haben (...). Und das bedeutet in allen Fällen, in denen ein Kind die Eltern als nicht schützend und höchst unbefriedigend, als beängstigend und bedrohlich erlebt hat, dass das Kind vor jeglichem weiteren Kontakt mit den Eltern geschützt werden muss.“ (Nienstedt/Westermann 1998: 211)

Nienstedt und Westermann weisen aber auch darauf hin, dass in diesen Fällen Kontakte zur Ursprungsfamilie dann denkbar sind,

„wenn die Eltern schrittweise ihren Anspruch auf ihre Elternrolle aufgeben können, ihre elterlichen Funktionen an die Pflegeeltern delegieren, tolerieren, dass die Kinder zu den Pflegeeltern schrittweise Eltern-Kind-Beziehungen entwickeln und ihnen damit eine langfristige Perspektive und eindeutige Orientierungen in der Pflegefamilie sichern.“ (Nienstedt/Westermann 1998: 182)

Denn:

„Das Kind braucht, wenn es nicht in absehbarer Zeit zu seinen Eltern zurückkehren kann und soll, eine verlässliche Perspektive und die Möglichkeit, sich ohne Schuldgefühle an diejenigen, die es nun erziehen sollen, auch emotional zu binden.“ (Nienstedt/Westermann 1998: 187)

Es geht also zuallererst – und dies betrifft alle Fälle von Fremdunterbringung – um eine für das Kind klare, eindeutige und verlässliche Entscheidung, in welcher Familie es leben wird und wer damit seine primären Bezugspersonen sein werden. Dabei muss klar sein, dass eine langfristige Fremdplazierung immer einen Wechsel der primären Bezugspersonen bedeutet, dass also eine Fremdunterbringung nur dann indiziert ist, wenn das Kind keine positiven Beziehungen zu seinen Eltern hat bzw. die Eltern grundsätzlich nicht „in der Lage erscheinen, dem Kind emotional sichere und geeignete Voraussetzungen für eine halbwegs gesunde Persönlichkeitsentwicklung zu bieten“ (Nienstedt/Westermann 1998: 189). Andernfalls

„muss möglichst rasch ein Weg gefunden werden (z.B. in Form von Tagespflege), der gewährleistet, dass sie die primären Bezugspersonen des Kindes bleiben, sofern die Eltern in der Lage sind, die Stunden, die sie pro Tag mit dem Kind verbringen, emotional befriedigend zu gestalten.(...) In allen anderen Fällen muss, wenn eine Rückgliederung in absehbarer Zeit nicht möglich erscheint, auf den Beziehungsaufbau zu den Pflegeeltern gesetzt werden und den leiblichen Eltern geholfen werden, sich schrittweise emotional vom Kind zu lösen.“ (Nienstedt/Westermann 1998: 189)

Kontakte sind dann grundsätzlich möglich, wenn sie die Perspektive des Kindes nicht immer wieder in Frage stellen und das Kind sich mit dieser Perspektive auch geschützt fühlt. Aufrechterhaltene Besuchskontakte, so auch Nienstedt/Westermann

„müssen den Gewinn einer kritischen Distanz und die Entwicklung neuer Beziehungen nicht zwangsläufig behindern, auch wenn häufig nach den Besuchen Rückschritte bei den Kindern und Rückfälle in alte Verhaltensmuster zu beobachten sind, da durch jeden Besuch die alten Erfahrungen und Kommunikationsstrukturen wieder belebt werden.“ (1998: 187)

In schweren Fällen von Traumatisierung durch die Eltern geht es zusätzlich um einen besonderen Schutz vor erneuter Bedrohung: Dabei muss die Bedrohung objektiv nicht notwendigerweise vorhanden sein, die Bedrohung kann allein durch die Wiederbelebung des erlittenen Traumas bei einer Begegnung mit dem misshandelnden Vater oder der vernachlässigenden Mutter hergestellt werden, es ist eine subjektive Bedrohung, die vom Kind als ein Verrat an der Sicherheit seiner neuen Situation empfunden wird. Ein Kontakt mit den leiblichen Eltern ist erst dann sinnvoll, wenn das Kind ein Alter erreicht hat, in dem es eine solche Begegnung und Wiederbelebung – mit professioneller Hilfe – rational vor- und nachbereiten kann, also dann, wenn es in der Lage ist, sich von sich selbst zu distanzieren.

Auf jeden Fall aber muss aus psychoanalytischer Sicht dafür Sorge getragen werden, dass das Kind sich aus der Angstbindung zu seinen Eltern lösen kann. Dies ist nicht möglich, wenn das Kind auf die Beziehung zu den Angstobjekten verpflichtet und in ihr festgehalten wird. Der Kontakt zu den Eltern zum richtigen Zeitpunkt und unter den richtigen Bedingungen kann aber den Prozess der Ablösung auch unterstützen und Idealisierungen vermeiden helfen.

Die Frage nach Besuchskontakten ist daher nicht grundsätzlich zu lösen. Die Frage ist nur, wie und unter welchen Bedingungen, wann und wie häufig mit welchen Ansprüchen und Erwartungen Besuchskontakte stattfinden sollen.

Unerlässlich erscheint dagegen die Arbeit mit den leiblichen Eltern: Der Aufbau einer helfenden Beziehung des Sozialarbeiters zu den leiblichen Eltern, aus der das Kind ausgeblendet bleibt, ist eine günstige Voraussetzung zur Erarbeitung einer langfristigen Perspektive für alle Beteiligten. Zusätzlich hilft es auch dem (älteren) Kind in der Erziehungsstelle, wenn es weiß, dass auch seinen Eltern geholfen wird und nimmt ihm Schuldgefühle. Zur Arbeit mit den Eltern gehört dann auch, dass den Eltern keine falschen Hoffnungen gemacht werden und dass sie auf die Ablösungsschritte des Kindes vorbereitet werden. Die Anwesenheit des Sozialarbeiters als „neutralem Dritten“ zwischen Ursprungsfamilie und Erziehungsstelle spielt auch für Besuchskontakte sowie für Vereinbarungen mit den Eltern – insbesondere dann, wenn sie Forderungen und Einschränkungen enthalten – eine wichtige Rolle (vgl. Nienstedt/Westermann 1998: 189f.)

II.2.4 Was brauchen Erziehungsstellenkinder? – Grundsätze psychoanalytischer Pädagogik für die Arbeit in Erziehungsstellen

Die Beziehung zu erwachsenen Bezugspersonen ist für eine gelingende Pädagogik mit umwelt- und entwicklungsgestörten Kindern in Erziehungsstellen entscheidend. Diese Beziehung wird nicht nur durch professionalisiertes Handeln des Pädagogen ermöglicht, sondern auch durch Strukturen, die den Beziehungsaufbau zu neuen Bezugspersonen zulassen, vielleicht sogar unterstützen. Andersherum ausgedrückt heißt das, dass eine Beziehung der Erziehungsstelleneltern zum Kind, die aus pädagogischer Sicht notwendig für das Kind ist, auch durch vorhandene Strukturen verhindert oder erschwert werden kann.

Die Beziehung zwischen Kind und Erziehungsstelleneltern beginnt mit der Vermittlung. Die sorgfältige Gestaltung des Vermittlungsprozesses entscheidet wesentlich über eine gelingende Integration des Kindes in die neue Familie. Wichtig ist vor allem, dass die Entscheidung, in einer bestimmten Familie leben zu wollen, vom Kind selbst geäußert wird. Dies ist der erste Schritt, dem Kind wieder seine Autonomie zurückzugeben und außerdem notwendige Grundlage für ein pädagogisches Arbeitsbündnis, wie es Oevermann (1996) beschreibt. Darauf soll weiter unten eingegangen werden. Der Vermittlungsprozess muss also von Anfang an so gestaltet sein, dass das Kind so weit es ihm möglich ist eigentätig und selbstbestimmt den – schwierigen – Schritt in eine mögliche neue Familie macht. Dazu ist eine ausreichende Zeitperspektive nötig. Bei vorliegender Misshandlung oder Vernachlässigung muss bei einer Herausnahme des Kindes aus der Ursprungsfamilie zunächst eine Übergangslösung gefunden werden, etwa im Heim oder in einer Kurzzeitpflegestelle, von wo aus die Vermittlung in eine langfristige Erziehungsstelle in Ruhe und ohne Druck angegangen werden kann.

Ist das Kind schließlich in einer Erziehungsstelle angekommen, so sind bei optimaler Vermittlung einige Voraussetzungen für einen Beziehungsaufbau schon erfüllt. Die weiteren Voraussetzungen für eine gelingende und heilende Beziehung zwischen Erziehungsstelleneltern und Kind sind mit den Schlagworten Schutz, Vertrauen und Geborgenheit , Verlässlichkeit, Sicherheit, Klarheit und Zeit knapp zusammengefasst. Im vorhergehenden Abschnitt ist der Aspekt des Schutzes im Zusammenhang mit Misshandlung und Vernachlässigung und der daraus resultierenden Angstbindung erläutert worden. Nur wenn das Kind geschützt ist, kann es aufhören sich selbst zu schützen und nur so kann es seine Autonomie wiedererlangen. Schutz bedeutet Schutz vor Gefahren und Gewalt, Erfüllung existentieller körperlicher und emotionaler Grundbedürfnisse, Schutz auch vor dem Ausgeschlossensein durch bedingungsloses Annehmen des Kindes, wie es ist und Schutz vor verpflichtenden Beziehungen, die von Angst geprägt sind. Der Schutz des Kindes wiederum steht auf der subjektiven Gefühlsebene in engem Zusammenhang mit Vertrauen und Geborgenheit. Nur ein geschütztes Kind kann (wieder) beginnen, zu vertrauen und sich geborgen fühlen, und auch dies sind notwendige Voraussetzungen für eine gelingende Beziehung zwischen neuen Eltern und neuem Kind.

Ebenfalls in enger Verbindung mit dem Schutz des Kindes steht die Verlässlichkeit und Sicherheit. Verlässlichkeit betont mehr noch als Schutz die langfristige Perspektive. Verlässlichkeit bedeutet für das Kind, sich über lange Zeit auf seine schützende Erziehungsstelle verlassen zu können, es bedeutet Sicherheit in der Zukunftsperspektive – nämlich sicher sein zu können, von nun an keiner Bedrohung mehr ausgesetzt zu werden und geschützt zu sein.

Damit Verlässlichkeit und Sicherheit sich einstellen können, benötigen sowohl das Kind als auch die Erziehungsstelleneltern Klarheit über die Perspektiven des Kindes zwischen leiblichen Eltern und Erziehungsstelle. Es muss baldmöglichst klargestellt werden, wer die primären Bezugspersonen des Kindes sein werden. Ist an eine Rückführung des Kindes in die Ursprungsfamilie gedacht, so muss dieser Perspektive entsprechend der Kontakt zu den leiblichen Eltern mit regelmäßigen Besuchen gestaltet werden und es muss aktiv an einer baldigen Rückführung, vor allem durch die Arbeit mit den leiblichen Eltern, gearbeitet werden. Erweist sich eine baldige Rückführung des Kindes als nicht machbar, so ist sie auszuschließen. Die Perspektive der Rückführung, während das Kind schon in einer anderen Familie lebt, kann immer nur eine Übergangslösung sein. Übergangslösungen verlangen nach einer endgültigen Lösung in einem auch für das Kind absehbaren Zeitraum. Für das Kind bedeutet es ein permanentes „Zwischendrin“, es weiß nicht, was mit ihm geschehen wird. Solange es sich im Übergang befindet, muss das Kind daher immer Objekt seiner Umwelt bleiben (gleiches gilt im Übrigen für alle weiteren Beteiligten, insbesondere auch die Erziehungsstelleneltern). Eine tiefere Beziehung zwischen dem Kind und seinen Ersatzeltern wird verhindert. Um eine Vertrauensbeziehung eingehen zu können, benötigen beide Seiten Klarheit über die Perspektive ihrer Beziehung.

Die erforderliche Klarheit wird am ehesten durch eine Erziehungsplanung geschaffen, an der alle Betroffenen – auch das Kind und die leiblichen Eltern – aktiv beteiligt werden.

Und schließlich ist die Zeit, die dem Entstehen einer Beziehung und der nachholenden Entwicklung des Kindes (vgl. Neidhardt 1984) gegeben wird, ein ausschlaggebender Faktor. Beziehungen brauchen Zeit. Konzepte, die grundsätzlich eine kurzfristige Fremdunterbringung und schnellstmögliche Rückführung in die Ursprungsfamilie vorsehen, sind nur für akute Notsituationen denkbar, in denen im Kern eine gesunde, positive Beziehung und Bindung zwischen Eltern und Kind gegeben ist und die Familie im Anschluss an die Rückführung in der Bewältigung ihrer akuten Problemlage mittels sozialpädagogischer Familienhilfe unterstützt werden kann. Andernfalls ist zur Heilung und Stabilisierung der psychischen Gesundheit des Kindes eine langfristige Unterbringung erforderlich, „die zunächst den Zusammenhang einer die Orientierung und das Handeln neu ordnenden organisierten Umwelt, geduldige, Aggressionen ertragende Bezugspersonen und endlich den mühsamen Aufbau von Beziehungen ermöglicht“ (Winkler 2005: 720). Zur schnellen Rückführung schreibt Winkler weiter:

„Das Ausmaß von Aggressivität und Destruktivität von zutiefst verletzten Kindern lässt zweifeln, dass die Haltung stets sinnvoll und hilfreich ist, die auf eine rasche Rückkehr in das Familiensystem oder gar einen Verbleib in diesem zielt. Familiäre Konstellationen können in einem dramatischen Ausmaß zerstörerisch wirken, so dass der neue Lebensort fast als Überlebensort bezeichnet werden muss.“ (ders. 2005: 720)

Die unter diesen Bedingungen mögliche, zugleich persönliche und pädagogische, vertrauensvolle Beziehung zwischen dem erziehenden Erwachsenen und dem Kind ist die Grundlage dafür, dass das verletzte, in Handlungsmustern gefangene Kind, das nicht Herr seiner selbst sein kann, weil es sich unablässig schützen muss, seine Autonomie wiedererlangt. Winkler (2005: 718f.) schreibt: „So besteht das Drama der Vernachlässigung und der Misshandlung auch darin, dass alle Beteiligten auf Grund des Mangels an Handlungsoptionen und Handlungsmöglichkeiten zu einer Eskalation der Situation beitragen. [...] Die pädagogische Arbeit zielt insofern auf Wiederherstellung von Autonomie.“ Das Kind ist grundsätzlich als Subjekt wahrzunehmen, das seine Lebenssituation aktiv bewältigt und steuert. Es darf nicht – wie zuvor durch Vernachlässigung oder Misshandlung geschehen – weiter zum Objekt seiner Umwelt gemacht werden.

Autonomie wird auch ermöglicht über das grundsätzliche Prinzip der Mitwirkung und der Wahl, diese wiederum sind ohne Transparenz und sorgfältige Information nicht zu denken. Formale, sinnvolle Regelungen können nicht nur Sicherheit bieten, vor allem zu Beginn der neuen Lebenssituation, sondern auch für Transparenz sorgen. Autonomie bedeutet das Gegenteil der Verpflichtung auf nicht selbst gewählte Lebensumstände oder auch Beziehungen. Autonomie ist auch nur möglich in einer grundsätzlich geöffneten Lebenssituation, die die Wahl lässt, aber auch Sicherheit bietet, also in der nicht mit Ausschluss gedroht wird und stets die Freiheit bleibt zu gehen. Bei der Wiederherstellung von Autonomie geht es daher immer um die Bereitstellung eines „Raums der Möglichkeiten“, um ein

„Arrangement [...], das eine Öffnung der Situation und eine Erweiterung der biografisch erworbenen Handlungsmöglichkeiten anstrebt. [...] Nötig ist eine neue Konstellation der Beziehungen, die aber möglichst durch die Kinder und Jugendlichen selbst aufgebaut werden muss; Fremdplatzierungen können hier nur Sicherheit gewähren wie einen Horizont an Möglichkeiten eröffnen, in welchem eine Neuausrichtung des eigenen Handelns und der eigenen Biografie möglich wird.“ (Winkler 2005: 719)

[...]


[1] Die Situation in den neuen Ländern weist – auch heute noch – erhebliche Besonderheiten auf, daher beschränken sich die Zahlen auf die alten Bundesländer (vgl. Jordan 2005:187)

2 Dieser Satz mag antiquiert wirken – er wurde vor der von Herrn Müntefering angestoßenen Diskussion über die Existenz oder Nichtexistenz einer Unterschicht in Deutschland formuliert – trotzdem oder gerade deswegen wird er nicht gestrichen.

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Die hessischen Erziehungsstellen. Strukturbedingungen und Organisation aus pädagogischer Perspektive
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,1
Autor
Jahr
2007
Seiten
93
Katalognummer
V80294
ISBN (eBook)
9783638826068
ISBN (Buch)
9783638837835
Dateigröße
881 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Erziehungsstellen, Analyse, Strukturbedingungen, Organisation, Perspektive
Arbeit zitieren
M.A. Colette Sierk (Autor:in), 2007, Die hessischen Erziehungsstellen. Strukturbedingungen und Organisation aus pädagogischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80294

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