Richterliche Normenkontrolle, Normenkontrollrat und Prüfungsrecht des Bundespräsidenten: Überschneidungs- oder Ergänzungsverhältnis?


Studienarbeit, 2007

43 Seiten, Note: 16,0 Punkte (sehr gut)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Ausgestaltung der Kontrollbefugnisse

I. Richterliche Normenkontrolle
1. Inzidentkontrolle
2. Prinzipale Normenkontrolle
3. Verfassungsgerichtliche Normenkontrolle
a) Abstrakte Normenkontrolle
b) Konkrete Normenkontrolle
c) Kommunale Verfassungsbeschwerde
d) Verfassungsbeschwerde
e) Nichterfüllung des Art. 72 Abs. 2 GG
f) Entscheidungswirkung
g) Ausnahme: Organstreit
h) Entscheidungsinitiative
i) Kontrollmaßstab
j) Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle
(1) Trennung von Politik und Recht
(2) Gesetzgeberischer Prognosespielraum
(3) Zwischenergebnis
4. Ergebnis

II. Prüfungsrecht des Bundespräsidenten
1. Formelles Prüfungsrecht
a) Evidenzkontrolle
b) Sachlich eingeschränkte Kontrolle
c) Umfassende Kontrolle
d) Zwischenergebnis
2. Materielles Prüfungsrecht
a) Wortlaut und Systematik
b) Amtseid und Präsidentenanklage
c) Untrennbarkeit formeller und materieller Prüfung
d) Konkurrenz zum BVerfG und Antragsberechtigung
e) Historische Auslegung
(1) Entstehungsgeschichte
(2) Vergleich mit der Weimarer Reichsverfassung
f) Gewohnheitsrecht
g) Mangelnde Sachkunde
h) Verfassungsmäßige Bindung, Art. 20 III GG
i) Zwischenergebnis: Evidenzkontrolle
3. Entscheidungsinitiative
4. Prüfungsmaßstab
5. Rechtsfolge und Entscheidungswirkung
6. Ergebnis

III. Normenkontrollrat
1. Aufgabe und Funktionsweise
2. Prüfungsmaßstab
3. Prüfungsgegenstand
4. Entscheidungsinitiative
5. Entscheidungswirkung und Rechtsfolge
6. Ergebnis
B. Verhältnis der Prüfungsbefugnisse
I. Prüfungszeitpunkt

II. Antragserfordernis versus „Routinekontrolle“

III. Entscheidungswirkung

IV. Prüfungsmaßstab

V. Schlussfolgerungen

VI. Ergebnis

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Es werden nur die in Kirchner/Butz, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache (5. Auflage, Berlin 2003) erläuterten Abkürzungen verwendet.

A. Ausgestaltung der Kontrollbefugnisse

Es ist zu untersuchen, ob sich die richterliche Normenkontrolle, das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten und die Prüfungskompetenz des Nationalen Normenkontrollrates

1. ergänzen oder
2. überschneiden.

Um auf dieses Verhältnis eingehen zu können, ist es zunächst erforderlich, sich einen Überblick über die verschiedenen Kontrollbefugnisse und -organe zu verschaffen, d. h. über den Prüfungsmaßstab des jeweiligen Organs, die rechtliche Wirkung der Prüfung, deren Ziele, Umfang und Grenzen. Insbesondere ist zu untersuchen, durch wessen Initiative die entsprechende Kontrolle in Gang gesetzt wird.

I. Richterliche Normenkontrolle

Die richterliche Normenkontrolle ist in verschiedenen Konstellationen anzutreffen. Die Befugnis eines Richters für die Kontrolle hängt ab vom Rang der Norm.

1. Inzidentkontrolle

Untergesetzliche und vorkonstitutionelle Normen unterliegen der Inzidentkontrolle durch die einfachen Gerichte, d. h. es wird anlässlich eines konkreten Verfahrens entschieden, ob eine Norm unanwendbar ist oder nicht1. Es kann jedoch nicht die Nichtigkeit der Norm festgestellt werden, sondern sie wird lediglich im gerade vorliegenden Fall ggf. nicht angewendet2. Die Rechtskraft des Urteils wirkt lediglich inter partes. Jedoch nimmt das Kontrollergebnis, also die Entscheidung über die Anwendbarkeit der Norm, als Vorfrage nicht an dieser Bindung teil; die Inzidentkontrolle bindet also nicht einmal das erkennende Gericht in künftigen Prozessen3. Faktisch mag die Entscheidung zwar Ausstrahlungswirkung auf andere Fälle haben, insbesondere wenn die Entscheidung von einem höheren Gericht ergeht. Rechtlich gesehen wird hierdurch jedoch weder die Wirksamkeit der Norm berührt noch der Inhalt der Norm beeinflusst. Folglich kann die richterliche Inzidentkontrolle von vornherein nicht in Konkurrenz mit den Prüfungsrechten geraten, die auf die Wirksamkeit einer Norm Einfluss nehmen oder deren Inhalt verbessern sollen. Sie hilft lediglich Ungerechtigkeiten im Einzelfall zu vermeiden und ist daher eher Rechts anwendung als Rechts kontrolle. Die richterliche Inzidentkontrolle steht daher zu den weiteren Prüfungskompetenzen in einem Ergänzungsverhältnis.

2. Prinzipale Normenkontrolle

Für die vorliegende Arbeit relevant sind daher jene Spruchkörper, die die Gültigkeit einer Norm überprüfen und deren Entscheidung allgemein verbindliche Wirkung (erga omnes) entfaltet. Dies betrifft zunächst das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte in Normenkontrollverfahren. Eine zusätzliche Ausnahme bildet das Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO, in welchem das Oberverwaltungsgericht über die Gültigkeit von Satzungen, Rechtsverordnungen nach dem BauGB und sonstigem untergesetzlichen Landesrecht entscheidet.

Da das OVG im Normenkontrollverfahren, ebenso wie die Landesverfassungsgerichte, ausschließlich über die Gültigkeit von Normen des Landesrechts entscheidet4, ergeben sich keine Berührungspunkte mit dem Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, denn dieser fertigt nur Bundes gesetze aus. Auch der Nationale Normenkontrollrat kann aus kompetenzrechtlichen Gründen nur Bundesrecht, nicht Landesrecht überprüfen5. Wegen dieses klar voneinander abgegrenzten Prüfungsgegenstandes scheidet eine Überschneidung hier also ebenfalls aus.

Die Arbeit wendet sich daher im Folgenden der richterlichen Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zu, denn es besitzt das Verwerfungsmonopol für formelle nachkonstitutionelle Bundesgesetze.

3. Verfassungsgerichtliche Normenkontrolle

Die Existenz und Tragweite des verfassungsgerichtlichen Prüfungsrechts ist gesetzlich normiert; die möglichen Verfahrensarten wurden durch die Föderalismusreform erweitert. Demnach bestehen folgende Normenkontrollmöglichkeiten durch das BVerfG: a) Abstrakte Normenkontrolle

Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 77 ff. BVerfGG entscheidet das BVerfG auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz. Es müssen keine speziellen Voraussetzungen für die Antragsbefugnis vorliegen, denn es genügt ein sog. Klarstellungsinteresse.

b) Konkrete Normenkontrolle

Bei einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG entscheidet das BVerfG auf Antrag eines Gerichts über die Gültigkeit einer Norm (nur formelle nachkonstitutionelle Gesetze, s. o.), auf die es bei der Entscheidung ankommt.

c) Kommunale Verfassungsbeschwerde

Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, §§ 13 Nr. 8a, 91 ff. BVerfGG entscheidet das BVerfG im Verfahren der Kommunalen Verfassungsbeschwerde darüber, ob ein Gesetz gegen das Recht auf Selbstverwaltung der Gemeinden verstößt.

d) Verfassungsbeschwerde

Auch im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff BVerfGG entscheidet das BVerfG auf Antrag eines jeden Grundrechtsträgers über die Gültigkeit von Normen. Dabei kann die Norm unmittelbar (Rechtssatzverfassungsbeschwerde) oder inzident (Urteilsverfassungsbeschwerde) kontrolliert werden6 ; das Gesetz wird in beiden Fällen für nichtig erklärt7 (§ 95 Abs. 3 S. 2, 3 BVerfGG), es tritt also eine Wirkung erga omnes ein. Voraussetzung für die Klagebefugnis ist die eigene, gegenwärtige und unmittelbare Beschwer des Klägers durch oder auf Grund des Gesetzes.

e) Nichterf ü llung des Art. 72 Abs. 2 GG

Seit der Föderalismusreform entscheidet das BVerfG nunmehr nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, §§ 13 Nr. 6a, 76 ff. BVerfGG auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes auch über die Frage, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht.

f) Entscheidungswirkung

Gemeinsam ist allen Verfahren die Rechtsfolge: Verstößt die Norm gegen Verfassungsrecht, so stellt das BVerfG grundsätzlich deren Nichtigkeit bzw. Teilnichtigkeit8 fest, §§ 78, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG. Diese Feststellung wirkt nach ganz überwiegender Auffassung deklaratorisch; das Gesetz ist ex tunc nichtig9. Im Ausnahmefall erklärt das BVerfG die Norm nicht für nichtig, sondern lediglich für unvereinbar mit dem GG10. Das ist vor allem dann der Fall, wenn nur eine Ergänzung der Norm den verfassungsmäßigen Zustand herstellt oder wenn der verfassungswidrige Zustand selbst durch die Aufhebung der Norm nicht erreicht werden kann11. Damit

verbunden wird zumeist ein Regelungs- bzw.

Nachbesserungsauftrag12 an den Gesetzgeber gerichtet. In seltenen Fällen trifft das BVerfG sogar selbst eine Übergangsregelung13 In wieder anderen Fällen hält es die Regelung für „noch verfassungsgemäß“ und begnügt es sich mit einem bloßen Appell14

an den Gesetzgeber.

Die Entscheidungen des BVerfG in den genannten Verfahren erwachsen in Gesetzeskraft, § 31 Abs. 2 BVerfGG.

g) Ausnahme: Organstreit

Eine Ausnahme vom oben Gesagten stellt das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG dar. In diesem entscheidet das BVerfG über die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme eines obersten Bundesorgans anhand des Umfanges seiner Rechte und Pflichten. Eine Maßnahme kann auch der Erlass eines Gesetzes sein15 (nicht das Gesetz als solches16 ), wenn das Gesetz für den Antragsteller gem. § 64 Abs. 1 BVerfGG rechtserheblich ist. Demnach kann auch der Organstreit indirekt zur Normenkontrolle führen. Im Organstreit wird allerdings lediglich über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme entschieden, eine Entscheidung über die Gültigkeit der Norm ist dem BVerfG nach § 67 S. 1 BVerfGG versagt17.

h) Entscheidungsinitiative

Allen Verfahren ist gemeinsam, dass das BVerfG nur auf Antrag - wenn auch durch unterschiedliche Antragsberechtigte - tätig wird. Das Gericht entscheidet also nur, „wenn es gefragt ist“18, nicht von sich aus. Dies stellt zwar für ein gerichtliches Verfahren eine Selbstverständlichkeit dar, ist jedoch für den später anzustellenden Vergleich bedeutsam.

i) Kontrollma ß stab

Das Verfassungsgericht führt eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle19 durch, d. h. es ist darauf beschränkt, festzustellen, ob eine Norm vom zuständigen Normgeber im richtigen Verfahren erlassen wurde (formelle Rechtmäßigkeit) und ob ihr Inhalt mit höherrangigen Normen vereinbar ist (materielle Prüfung)20. Prüfungsmaßstab ist insofern das Grundgesetz. Ist Kontrollgegenstand ein Landesgesetz, so wird es zusätzlich an sonstigem Bundesrecht gemessen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG).

j) Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Weitgehend Einigkeit besteht darüber, dass das BVerfG nicht „Politik treiben“21, also durch die Normenkontrolle mit seiner Meinung nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten soll. Zur Begründung werden allerdings unterschiedliche Meinungen vertreten.

(1) Trennung von Politik und Recht

Einige versuchen hierzu, Politik und Recht strikt zu trennen. Diese Idee vom „Judicial self-restraint“ ist dem Amerikanischen Verfassungsrecht entliehen. Inhalt und Bedeutung dieses Begriffs sind weitgehend unklar22. Einige sehen ihn in die Nähe der Political- question-doctrine gerückt23, der besagt, dass politische Akte per se nicht justiziabel seien24.

Es ergibt sich allerdings das Problem, dass die Festlegung dessen, was nun „politisch“ ist, schwer feststellbar ist, denn auch hierbei handelt es sich um eine politische Frage25.

Vor allem aber ergeben sich Unterschiede zwischen der amerikanischen Verfassung und dem deutschen Grundgesetz, das eine solche „Selbstbeschränkung“ nicht zulässt. Denn diese würde darauf hinauslaufen, dass das Gericht selbst entscheidet, ob es einen Fall zur Entscheidung annehmen will oder nicht (Kompetenz- Kompetenz). Dem steht das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und die Kompetenzordnung des Art. 93 GG als Zwang zur Sachentscheidung entgegen26, aus denen sich ergibt, dass Mangoldt/Klein/Starck- Vo ß kuhle, Art. 93, Rn. 36; 6 sich das BVerfG unliebsamer Fälle nicht einfach dadurch entledigen darf, dass es sie zu einer politischen Frage erklärt.

(2) Gesetzgeberischer Prognosespielraum

Richtigerweise darf daher die Kontrolle „politischer“ Entscheidungen in Form von Gesetzen nicht vollkommen aufgeben werden, sondern es muss der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers durch einen modifizierten Kontrollmaßstab Rechnung getragen werden.

Das BVerfG erkennt deshalb dem Gesetzgeber grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Dabei differenziert es nach den Besonderheiten der jeweiligen Regelungsbereiche und Entscheidungssituationen des Gesetzgebers und richtet seine Kontrolldichte danach aus27. Die Prüfungsdichte variiert dann von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensiven inhaltlichen Kontrolle28.

(3) Zwischenergebnis

Das BVerfG behält sich also im Grundsatz eine Kontrolle vor, räumt dem Gesetzgeber aber eine Einschätzungsprärogative ein, um nicht zum „Ersatzgesetzgeber“ zu werden.

4. Ergebnis

Die richterliche Inzidentkontrolle ist eher Rechtsanwendung, die Normenkontrolle der OVG und der Landesverfassungsgerichte bezieht sich nur auf Landesrecht. Beide überschneiden sich daher nicht mit den Prüfungsrechten des Bundespräsidenten und des Nationalen Normenkontrollrates.

Für das BVerfG kann festgehalten werden, dass es Gesetze ausschließlich auf Antrag am Maßstab der Verfassung prüft und dabei in „politischen“ Fragen Zurückhaltung übt. Auf das Verhältnis des BVerfG zu den anderen Prüfungsorganen wird an gegebener Stelle eingegangen.

II. Pr ü fungsrecht des Bundespr ä sidenten

Weitaus umstrittener als die richterliche Normenkontrolle ist das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht. Nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG werden die „nach den Vorschriften des Grundgesetzes zu Stande gekommen Gesetze“ vom Bundespräsidenten ausgefertigt. Ausfertigung bedeutet Herstellung der Originalgesetzesurkunde29. Der Bundespräsident bekundet mit seiner Unterschrift, dass das Gesetz authentisch rechtmäßig sei; folglich muss er es vorher prüfen30. Um die Reichweite dieses Prüfungsrechts bestimmen zu können, bedarf die o. g. Vorschrift der Auslegung.

1. Formelles Prüfungsrecht

Unstrittig kommt dem Bundespräsidenten ein formelles Prüfungsrecht zu31, denn es ist unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 GG ableitbar32. Umstritten ist allerdings der Umfang dieser Prüfungskompetenz.

a) Evidenzkontrolle

In der Staatspraxis haben sich einige Bundespräsidenten darauf beschränkt, Gesetze auf offenkundige und zweifelsfreie formelle Verfassungsverstöße zu prüfen33. Begründet wird dies mit der Abgrenzung der Aufgaben des Bundespräsidenten und des BVerfG, das letztverbindlich über die Gültigkeit der Gesetze zu entscheiden habe34.

b) Sachlich eingeschr ä nkte Kontrolle

Unabhängig davon soll nach einer weiteren Ansicht der sachliche

Prüfungsumfang auf die Tatbestandsmerkmale der

Art. 78, 81 Abs. 2 S. 1 und 115d Abs. 2 S. 3 GG beschränkt sein, denn nur diese Vorschriften handelten ausdrücklich vom „Zustandekommen“ der Gesetze35. Abgestellt wird also auf die Übereinstimmung des Wortlautes des Art. 82 GG mit dem Wortlaut dieser Vorschriften; Regelungen über das Gesetzgebungsverfahren allgemein oder die Gesetzgebungszuständigkeiten seien nicht erfasst. Dies ergebe sich auch aus der Schlussformel, deren Inhalt der Bundespräsident verantworte36.

c) Umfassende Kontrolle

Richtigerweise ist dem Bundespräsidenten jedoch ein umfassendes formelles Prüfungsrecht zuzugestehen37. Die Staatspraxis an sich rechtfertigt eine Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle keinesfalls, denn sie ist Gegenstand, nicht Maßstab der verfassungsrechtlichen Beurteilung38. Dem Wortlaut des GG lässt sich weder eine Differenzierung zwischen offenkundigen und versteckten Verstößen39 noch eine Beschränkung auf verschiedene Verfahrensnormen40 entnehmen. Ebenso lässt sich aus der Schlussformel keine Begrenzung, sondern lediglich ein Mindestumfang („Rechte des Bundesrates“) ableiten41. Auch kann gerade der Bundespräsident als letzter Akteur im Gesetzgebungsverfahren wie kein anderer die formelle Ordnungsmäßigkeit des gesamten Verfahrens überblicken42. Ferner hat der Bundespräsident bezüglich der formellen Rechtmäßigkeit wegen seiner rechtsstaatlichen Bindung nach Art. 20 Abs. 3 GG eine Prüfungspflicht, es ist gerade seine („staatsnotarielle“) Funktion, die Wahrung der Formvorschriften sicherzustellen43. Hinzu kommt, dass die starke politische Aufladung materieller Fragen44 sich wohl kaum auf die formelle Prüfung erstrecken dürfte. Schließlich wird auch die Letztverbindlichkeit der Entscheidung des BVerfG nicht angetastet, da die Entscheidung des Bundespräsidenten - wie auch immer diese ausfällt - justiziabel im Wege des Organstreits ist45.

d) Zwischenergebnis

Folglich ist dem Bundespräsidenten eine umfangreiche formelle Prüfungskompetenz zuzuerkennen.

2. Materielles Prüfungsrecht

Das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ist bereits in seiner Existenz umstritten; soweit es bejaht wird, unterscheiden sich die Ansichten in dessen Umfang. Auch hier bedarf die Vorschrift des Art. 82 Abs. 1 GG der Interpretation.

a) Wortlaut und Systematik

Der Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 GG stimmt teilweise mit dem des Art. 78 GG überein („zustande kommen“). Dabei enthält Art. 78 GG ausschließlich Regelungen über das Verfahren der Gesetzgeber. Aus dieser Übereinstimmung des Wortlautes könnte geschlussfolgert werden, dass dem Bundespräsidenten kein materielles Prüfungsrecht zusteht46 (vgl. dazu bereits oben). Andererseits kann der gleiche Begriff in unterschiedlichen Vorschriften durchaus unterschiedlich gebraucht werden47. Außerdem verlangt Art. 82 GG, dass das Gesetz nach „ den Vorschriften“ des Grundgesetzes zu Stande gekommen ist. Diese Formulierung kann über die in Art. 78 normierten Voraussetzungen hinausgehen und materielles Verfassungsrecht, u. a. die Grundrechte und die verfassungsgestaltenden

Grundentscheidungen, mit einschließen48. Folglich ist der Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 GG nicht eindeutig49.

b) Amtseid und Pr ä sidentenanklage

Ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten könnte sich jedoch aus dem Amtseid des Bundespräsidenten ergeben, den dieser nach Art. 56 GG zu leisten hat50.

[...]


1 Hk-VerwR- Unruh ( Hrsg: Fehling u. a.), § 47 VwGO, Rn. 4.

2 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 335.

3 Bettermann, Normenkontrolle, DVBl 1982, 91, 93.

4 Eyermann- Schmidt, § 47, Rn. 9.

5 Schröder, Normenkontrollrat, DÖV 2007, 45, 46.

6 Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung, S. 14 f.

7 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 378.

8 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 384 ff.

9 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 378 ff., m. w. N., Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 63 f.

10 Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung, S. 88.

11 Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung, S. 88 f.

12 Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung, S. 45 f.

13 Etwa in BVerfGE 88, 203, 209 (Schwangerschaftsabbruch II).

14 Hein, Unvereinbarkeitserklärung, S. 15.

15 BVerfGE 1, 8, 220; 92, 80, 87; 103, 164, 169.

16 BVerfGE 102, 224, 234.

17 BVerfGE 24, 300, 351.

18 Steiner, Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919, 2920.

19 BVerfGE 2, 143, 178.

20 Bettermann, Normenkontrolle, DVBl 1982, 91, 93 f.

21 BVerfGE 36, 1, 14.

22 Mangoldt/Klein/Starck- Vo ß kuhle, Art. 93, Rn. 36.

23 Burchardt, Grenzen, S. 63.

24 Burchardt, Grenzen, S. 51.

25 Ooyen, Begriff des Politischen, S. 197.

26 Burchardt, Grenzen, S. 59 ff.;Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 505.

27 Schuppert, Gesetzgebung, ZG Sonderheft 2003, 1, 18 ff.

28 BVerfGE 50, 290, 333.

29 Pohl, Prüfungskompetenz, S. 73.

30 Mewing, Prüfungskompetenz, S. 15 ff., Pohl, Prüfungskompetenz, S. 78.

31 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 712.

32 Dreier- Bauer, Art. 82, Rn. 12; Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 712.

33 Rau, Gesetzesprüfungsrecht, DVBl 2004, 1, 3.

34 Rau, Gesetzesprüfungsrecht, DVBl 2004, 1, 3.

35 Sachs- L ü cke, Art. 82, Rn. 3 f.

36 Sachs- L ü cke, Art. 82, Rn. 5.

37 H. M., statt vieler Mangoldt/Klein/Starck- Brenner, Art. 82, Rn. 23, m. w. N.

38 BVerfGE 91, 148, 171.

39 Lutze, Missverständnis, NVwZ 2003, 323, 324.

40 Kahl/Benner, Gesetzgebungsverfahren, Jura 2005, 869, 874.

41 Pohl, Prüfungskompetenz, S. 99.

42 Kahl/Benner, Gesetzgebungsverfahren, Jura 2005, 869, 874.

43 Mangoldt/Klein/Starck- Brenner, Art. 82, Rn. 23 f.

44 Kahl/Benner, Gesetzgebungsverfahren, Jura 2005, 869, 874.

45 Lutze, Missverständnis, NVwZ 2003, 323, 325.

46 Friesenhahn, Prüfungsrecht, S. 679 f.; Sachs- L ü cke, Art. 82, Rn. 3 f.

47 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 713.

48 Epping, Ausfertigungsverweigerungsrecht, JZ 1991, 1102, 1105.

49 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 713.

50 Arndt, Prüfungsrecht, DÖV 1958, 604, 605; Nawiasky, Grundgedanken, S. 113.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Richterliche Normenkontrolle, Normenkontrollrat und Prüfungsrecht des Bundespräsidenten: Überschneidungs- oder Ergänzungsverhältnis?
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstaltung
Gesetzgebungslehre
Note
16,0 Punkte (sehr gut)
Autor
Jahr
2007
Seiten
43
Katalognummer
V80253
ISBN (eBook)
9783638862882
ISBN (Buch)
9783638927468
Dateigröße
627 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
- hohe Sachkenntnis - sorgfältige Auswertung des Schrifttums - zielstrebige, überzeugende Argumentation
Schlagworte
Richterliche, Normenkontrolle, Normenkontrollrat, Prüfungsrecht, Bundespräsidenten, Ergänzungsverhältnis, Gesetzgebungslehre
Arbeit zitieren
Christoph Ryczewski (Autor:in), 2007, Richterliche Normenkontrolle, Normenkontrollrat und Prüfungsrecht des Bundespräsidenten: Überschneidungs- oder Ergänzungsverhältnis?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80253

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