Warum abstrakt?


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1971

14 Seiten


Leseprobe


WARUM ABSTRAKT? REFLEXIONEN ZU EINEM AUFSATZ VON SIR HERBERT READ[1]

Von Wolfgang Ruttkowski

Sir Herbert Read (1892-1968), der mehrere nützliche Einführungen in die moderne Kunst geschrieben hat, stellte einmal in einem Artikel[2] mit dem kurzen Titel, „Why Abstract?" fünf Argumente gegen abstrakte Kunst, die ihm der Schriftleiter einer New Yorker Zeitschrift geliefert hatte, zusammen, um sie zu widerlegen.

Die pädagogische Absicht, dem interessierten Laien in einfacher Sprache den Zugang zu moderner Kunst zu erleichtern (die auch andere Essays von Read auszeichnet), wird jeder begrüßen. Die Argumentation selbst kann jedoch den kaum überzeugen, der viele der Zweifel an abstrakter Kunst teilt. Ein genaues Lesen der fünf Einwände und ihrer Widerlegungen fordert deshalb Gegenargumente heraus, die hier kurz notiert werden sollen. (Sie könnten von einem anderen Leser dieser Zeitschrift wiederum korrigiert werden. Eine derartige Diskussion, in der jeder genau auf die Argumente des anderen eingeht, sollte alle Fragen klären können, die überhaupt zu klären sind, - und die übrigen deutlich abgrenzen.)

Ich übersetze jeweils zuerst den Einwand des Schriftleiters ungekürzt, dann Sir Herberts Widerlegung auf die Hauptpunkte verkürzt (kursiv) und füge schließlich meine eigenen Bemerkungen (durch kleine Buchstaben genau auf den Text bezogen) hinzu:

I. SIE (ABSTRAKTE KUNST) VERMITTELT KEINEN GEHALT (MEANING). SIE ZEIGT NUR DEN KÜNSTLER IM SELBSTGESPRÄCH.

Was ist der "Gehalt"[a] eines Gemäldes oder einer Skulptur? Kunst ist für sie [die sozialistischen Realisten] ebenso wie für Tolstoi und Ruskin ein Vehikel für irgendeine Botschaft (message)über soziale Verhältnisse, Naturphänomene oder menschliche Beziehungen; und das Kunstwerk soll unser Seinsverständnis vertiefen. Handelt es sich, dabei um einen rationalen Vorgang, die Art von Verständigung, die auf logische Sprachäußerungen [b] begrenzt bleiben sollte; oder möglicherweise um einen irrationalen Prozess[c] Äußerungen, die nur mit visuellen Symbolen [d] gemacht werden können?

Der Verteidiger der abstrakten Kunst glaubt, dass alle Kunst eine Art symbolischen Gesprächs [e] darstellt und dass selbst gegenstandsgebundene Gestaltung ihren Gebalt [f] (message) eher durch Form und Farbe als durch die Nachahmung der sichtbaren Dingeübermittelt. Er verweist darauf, dass andere Künste, wie Musik und Architektur, nichts imitieren, sondern durch abstrakte Verbindungen von Tönen, Intervallen, Proportionen und Rhythmen wirken. Es gibt keinen Grund, warum die Verbindungen von Linien und Farben auf einer Leinwand oder von Masse und Volumen in einer Skulptur nicht auf die gleiche Weise abstrakt sein sollten[g]. Es ist nur eine Gewohnheit von begrenzter historischer Bedeutung, daran festzuhalten, dass die bildenden Künste ihren Gehalt (meaning) durch die Nachbildung von zufällig durch die Natur entwickelten Formen vermitteln sollten [h]. Dann könnte die Musik mit gleicher Logik auf die Imitation von Vogellauten und Donner begrenzt werden [i]; und die Architektur auf die Nachbildung von H6hlen und Bergen[j].

Das abstrakte Kunstwerk mag rätselhaft sein, - aber es ist nicht ohne Gebalt (meaningless)[k]: es ist ein Symbol, das für die tiefsten Gefühle und Eingebungen des Künstlers stehen mag, und in dem der Beschauer seine eigenen Gefühle und Eingebungen ausgedrückt und gedeutet finden kann.

Reads erste Frage [a], eigentlich eine, „Gegenfrage", zielt bereits in das Zentrum des Problemzusammenhangs. Sie zwingt uns deshalb, sofort mit einer weiteren Gegenfrage zu antworten: Der, „Gehalt" eines Werkes der bildenden Kunst wird doch wohl nicht zuletzt von seinem Grad der Abstraktion bestimmt?

Dass alle Kunst (auch die naturalistische) von der sichtbaren Realität abstrahiert, abstrahieren muss, ist ein Gemeinplatz der Ästhetik. Wir brauchen hier nur an die Notwendigkeit der Auswahl und Betonung des Bedeutenden zu erinnern, an die abtrennende und deshalb vom „Wirrwarr der Erscheinungen" abstrahierende Funktion des Rahmens, Vorhanges, Podestes etc., an den exemplarischen und zugleich transparenten Charakter des Kunstwerkes, der durch seine einmalige Struktur unterstrichen wird, an den vom Tatsächlichen abstrahierenden Charakter jedes Stils (Personal- und Zeitstils). Dass z. B. die dynamische Steigerung barocker Gestaltung ebenso von der Wirklichkeit abweicht wie die statische Abstraktion des Kubismus, leuchtet ein. Selbst im Realismus kann die persönliche Sehweise des Künstlers, die wir Personalstil nennen, nicht ganz ausgeschaltet werden. Auch das ideale Mittelmass klassischer und klassizistischer Gestaltung entspricht nicht der immer individuell ausfallenden Wirklichkeit. Read sagt selbst zu Beginn des nächsten Abschnitts, dass es keine "naturgetreue" Abbildung der Gegenstände gibt, weil jede Abbildung bereits Interpretation ist. (Letzteres trifft übrigens auch für die künstlerische Photographie zu.)

Der Vorgang des Abstrahierens (= lat. abziehen) konnte jedoch bis zum Beginn der gegenstandslosen (= konsequent abstrakten) Kunst vielseitig aufgefasst werden. Es musste in jedem einzelnen Falle gefragt werden, was, wovon und wieweit abstrahiert wurde. Die Frage danach, was im jeweiligen Kunstwerk (von der- Wirklichkeit) abstrahiert wird, kann mit der nach dem Gehalt identisch sein. Zumeist wird die Antwort auf Begriffe wie „das Exemplarische", das „Typische", das „uns alle Angehende" zielen.

Wovon abstrahiert wird, hängt dann vom Stoff des Kunstwerkes (d. h. von der verarbeiteten Wirklichkeit) ab: zumeist vom Banalen, Alltäglichen, Unbedeutenden, Kleinlichen. Wieweit abstrahiert wird, bestimmt weitgehend die Gestalt des Kunstwerkes und damit zugleich seinen Stil.

Wenn aber, wie in der "gegenstandslosen" Kunst, von allem Stofflichen abstrahiert wird, weil alle Realität als banal, unbedeutend oder gar störend empfunden wird, kann auf die Frage danach, was abstrahiert wird, nur noch auf formale und allenfalls tiefenpsychologische Elemente hingewiesen werden. In der abendländischen Entwicklung wurde dieses Extrem erst im 20. Jahrhundert erreicht. Unsere Kunst hat die gegensätzlichste Entwicklung durchgemacht, von der wir wissen. Sie bemühte sich von der Renaissance bis zum Impressionismus mit größerer Konsequenz und mehr Erfolg als jede andere um die objektive Darstellung der sichtbaren Wirklichkeit; und sie entfernte sich von dieser seit etwa 1910 wiederum konsequenter als jede andere.

Wir können also den so vagen und verallgemeinernden Begriff "abstrakte Kunst" nicht diskutieren, ohne zuvor unterschieden zu haben, von welcher Art Abstraktion wir sprechen. Die zuvor benutzten Hilfsbegriffe (Inhalt, Gestalt, Gehalt) verweisen auf verschiedene zusammenwirkende Elemente oder Schichten des Kunstwerkes. Sie werden in der bildenden Kunst oft durch ähnliche ersetzt, z. B. Textur (Farben, Töne, Bewegungen, alles Material ), Struktur (als ästhetische Organisation der Texturelemente verstanden) und Expression (menschlichen Erlebens durch Textur und Struktur).

Auch diese Dreiteilung kann je nach den Bedürfnissen der zu betrachtenden Kunst differenziert werden: Gehalt oder Expression können z. B. auf Psychologisches zielen (etwa in der Kunst des Porträts, des Monologs, der Kurzgeschichte) oder auch auf Weltanschauliches (soziale, philosophische, religiöse Anliegen usw.) oder nur auf tiefenpsychologische Symbole. Es wird immer Entscheidung (bewusste oder unbewusste) des einzelnen Künstlers bleiben, in welchen Schichten er sein Werk ansiedelt. Und es braucht wohl kaum betont zu werden, dass ein Werk nicht unbedingt an Wert verliert, wenn es von einigen Schichten absieht (abstrahiert). Ebenso sollte das Publikum in der Auswahl seiner Kunst die Entscheidung haben, auf welche Schichten es besonderen Wert legt und nicht verzichten will: z. B. auf logische Handlungsführung, psychologische Bedeutung und Konsequenz, tiefenpsychologische Symbolik, weltanschauliche Transparenz usw., oder auch allein auf sensible Textur.

Die Verwirrung setzt da ein, wo der Künstler selbst (und deshalb auch sein Publikum) sich nicht über sein Anliegen im Klaren ist, was sich häufig in den konkreten Titeln völlig abstrakter Bilder ausdrückt. Wenn man dem großenteils unbewusst schaffenden Künstler diese Unentschiedenheit gern verzeiht, so doch keinesfalls dem Kunstkritiker und -philosophen, der „mit der Zeit gehen" möchte und deshalb seine Unsicherheit hinter metaphorischem Jargon verbirgt. Denn der letztere, als Kunstwissenschaftler angesehen, verstärkt mit seinen Pseudo-Analysen beim Publikum die Zweifel, anstatt ihm zu helfen, und ermutigt andererseits bei vielen „Künstlern" die Tendenz zur Scharlatanerie.

Auch der sonst zu Recht so angesehene Herbert Read ist m. E. hier nicht sehr hilfreich. Was hilft es dem verständnislosen Publikum, von einem „irrationalen Prozess" [c] und „symbolischen Gespräch" [e] zu erfahren, die es nicht versteht? Da in gegenstandsloser Kunst bewussst jeder Bezug zur Wirklichkeit vermieden wird, kann niemand wissen, wofür die ,visuellen Symbole" [d] stehen. Der Gebrauch des Wortes "Gespräch" [e] ist hier besonders verwirrend, weil dieses ein gegenseitiges Verstehen durch eine gemeinsame Sprache voraussetzt. - In einem Nebensatz [b]

[...]

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Details

Titel
Warum abstrakt?
Hochschule
Kyoto Sangyo University  (German Department)
Autor
Jahr
1971
Seiten
14
Katalognummer
V7921
ISBN (eBook)
9783638150200
ISBN (Buch)
9783638798969
Dateigröße
497 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Veröffentlicht in: Zeitschrift für Ästhetik XVI/1 (1971) 43-55.
Schlagworte
Abstrakte Kunst, Kunsttheorie, Herbert Read
Arbeit zitieren
Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 1971, Warum abstrakt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7921

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