Das Selbst und das Fremde in Chinua Achebes Romanwerk


Examensarbeit, 2007

88 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


I N H A L T S V E R Z E I C H N I S

1. EINLEITUNG

2. KONSTRUKTIONEN DES SELBST UND DES FREMDEN

3. THINGS FALL APART
3.1 Kontext
3.2 Das Selbst
3.2.1 Temporalität und Verortung
3.2.2 Darstellung einer pluralistischen Gesellschaft
3.2.3 Erzählstimme
3.2.4 Das Sprichwort als kollektive Identitätsquelle
3.2.5 Okonkwo als Kontrastfigur zu Umuofia
3.3 Das Fremde
3.3.1 Das Bild über die Fremden vor ihrer Ankunft
3.3.2 Die Ankunft der Fremden in Abame
3.3.3 Darstellung und Wahrnehmung der Veränderungen im Klan
3.3.4 Die Darstellung handelnder weißer Figuren
3.4 Zwischenfazit

4. ARROW OF GOD
4.1 Kontext
4.2 Das Selbst
4.2.1 Erzählstimme
4.2.2 Die Spaltung Umuaros
4.2.3 Ezeulus Verhältnis zur Tradition und zum Wandel
4.3 Das Fremde
4.3.1 Government Hill
4.3.2 Die Entlarvung der ethnozentrischen Ignoranz des Kolonialherrn
4.3.3 Die Befriedung primitiver Stämme
4.3.4 Die Darstellung der Weißen – eine alternative Lesart?
4.4 Die Anderen
4.5 Zwischenfazit

5. NO LONGER AT EASE
5.1 Kontext
5.2 Das Selbst
5.2.1 Das narrative Chaos
5.2.2 Die UPU als Bindeglied zwischen Tradition und Moderne
5.2.3 Die Heimkehr des Fremden
5.2.4 Die Opposition von Tradition und Moderne
5.3 Das Fremde
5.3.1 Die stereotype Darstellung weißer Charaktere
5.3.2 Mr. Green und Miss Tomlinson
5.4 Zwischenfazit

6. A MAN OF THE PEOPLE
6.1 Kontext
6.2 Erzählstimme
6.3 Tradition und Moderne im postkolonialen Staat
6.4 Die Darstellung des Fremden
6.5 Zwischenfazit

7. ANTHILLS OF THE SAVANNAH
7.1 Kontext
7.2 Erzählstimme
7.3 Die Darstellung Sams
7.4 Die Suche nach einer sozialen und nationalen Identität
7.5 Zwischenfazit

8. ZUSAMMENFASSUNG

9. LITERATURVERZEICHNIS

1. Einleitung

Die anglophone afrikanische Literatur hat in den vergangenen Jahren in der anglistischen Literaturwissenschaft zunehmend an Bedeutung gewonnen. Durch die Bildung eines eigenen literarischen Kanons ist sie zugleich maßgeblich daran beteiligt, den bestehenden anglistischen Literaturkanon zu erweitern und mitzuprägen. Einen Eckpfeiler dieser Entwicklung stellt der weltweit mit Abstand meistgelesene afrikanische Roman Things Fall Apart dar, dessen Verfasser Chinua Achebe gemeinhin als Vater des afrikanischen Romans bezeichnet wird.

In Achebes Romanen spielen die Konzepte und Konstrukte bezüglich des Selbst und des Fremden eine zentrale Rolle. In dieser Arbeit möchte ich daher der Frage nachgehen, in welcher Form das Selbst und das Fremde in seinen bisher fünf veröffentlichten Romanen dargestellt wird. Verbunden mit dem Thema dieser Arbeit sind folgende Fragestellungen zu verfolgen: Aus welcher Perspektive wird die eigene Kultur vor der Ankunft der Europäer gegen Ende des 19. Jahrhunderts (und danach) dargestellt? Wie werden hingegen die Europäer wahrgenommen? Welche Konsequenzen hat diese Begegnung für die Traditionen und Werte der Igbo? Wie steht es um die kulturelle und nationale Basis eines Nigeria kurz vor seiner Unabhängigkeit und mit welchen Mitteln lässt sich der postkoloniale afrikanische Staat darstellen? Anlehnend an Simon Gikandis Analyse von Achebes Romanen soll zugleich untersucht werden, inwiefern Achebes Erzählstrategien Identität widerspiegeln[1].

Achebes Romanwerk eignet auch deshalb besonders für die Analyse dieser zentralen Fragen afrikanischer Identität, da er die Geschichte – im doppelten Sinne – und die Kultur seines Landes (und im Besonderen die der Igbo) zum Gegenstand macht. In seinen ersten drei Büchern richtet er sein Hauptaugenmerk auf die Rekonstruktion der Vergangenheit seines Volkes in Abgrenzung zu ihrer Darstellung in großen Werken des westlichen Literaturkanons[2]. In seinem Erstlingswerk Things Fall Apart (1958) wird zunächst die Kultur der Igbo unmittelbar vor der Ankunft der Weißen thematisiert. Im Anschluss an die Analyse von Things Fall Apart folgt die Untersuchung von Achebes drittem Roman Arrow of God (1964), der in der Hochphase der britischen Präsenz in Nigeria um das Jahr 1920 spielt. Die Analyse von No Longer at Ease (1960), Achebes zweitem Roman, der den Übergang zum Postkolonialismus gegen Mitte der 1950er Jahre zum Gegenstand hat, wird aus Gründen der Chronologie erst im Anschluss daran behandelt.

In den ersten drei Romanen ist eine eindeutige Zuschreibung in das Selbst und das Fremde möglich und weitestgehend gleichbedeutend mit der Gegenüberstellung von schwarzer und weißer Kultur. Aus diesem Grunde sollen diese separat behandelt werden. Jedoch gibt es in diesen Romanen bereits eine Übernahme weißer Kulturelemente, insbesondere der Religion, in die Igbo-Kultur. Da in diesen Romanen zwischen dem Selbst und dem Fremden eine deutliche Unterscheidung gemacht werden kann, werden sie nach dem gleichen Analyseschema untersucht. Hingegen lässt sich der Schwerpunkt dieser Bipolarität in den letzen beiden Romanen nur noch bedingt feststellen, weshalb eine Abänderung der Kapiteleinteilung vorgenommen wird.

In einer abschließenden Zusammenfassung werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengetragen und Anregungen für weitere Analysen gegeben.

2. Konstruktionen des Selbst und des Fremden

Um Chinua Achebes Romanwerk hinsichtlich des Themas systematisch untersuchen zu können, bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit dem bipolaren Begriffspaar des „Selbst“ und des „Fremden“.

Bipolare Einteilungen sind bestimmend für die koloniale Rhetorik, in der konstruierte Einheiten wie „der Westen“ oder „das Abendland“, über das Wesen des Fremden oder des Anderen („den Orient“, „das Morgenland“, „Schwarzafrika“) bestimmen. Mittels der Diskursherrschaft, die von der militärischen und wissenschaftlichen Macht herrührt, modelliert und verortet sich das Selbst in Abgrenzung zum Fremden entsprechend den eigenen Vorstellungen. Wesentlich ist hierbei, dass unversöhnliche Unterschiede, idealiter Gegensätze, herausgestellt werden, um die Überlegenheit über das Fremde zu verdeutlichen und diese durch immer wiederkehrende Binäroppositionen zu manifestieren (wie Zivilisation und Barbarei, Religion und Götzenverehrung, Modernität und Rückständigkeit, Zentrum und Peripherie, Herr und Diener oder Subjekt und Objekt).

Ein zentraler Gegenstand postkolonialer Kritik ist die Analyse solcher Binäroppositionen, insbesondere ihres Entstehens (bzw. ihrer Erfindung) und Tradierung. In seinem Hauptwerk „Orientalism“ geht Edward Said der Frage nach, auf welche Weise „der Westen“ den Orient aus seiner eigenen Imagination und für sich erschuf:

„The choice of ,Oriental’ was canonical; it had been employed by Chaucer and Mandeville, by Shakespeare, Dryden, Pope, and Byron. It designated Asia or the East, geographically, morally, culturally. One could speak in Europe of an Oriental personality, an Oriental atmosphere, an Oriental tale, Oriental despotism, or an Oriental mode of production, and be understood“ (Said, 1979, S. 32f).

Said behauptet, dass der „Kanon“ bis in die Antike zurückzuverfolgen und bereits damals nicht nur auf die Literatur beschränkt gewesen sei. So führt er an, dass bereits der Tragödiendichter Aischylos und Herodot, eine klare Trennung zwischen Europa und Asien (zugunsten des ersteren) vorgenommen haben, in der Asien das Fremde bzw. Feindliche verkörpert (s. ebd., S. 56ff). Das Wesentliche hierbei ist, dass es sich bei ihnen um Darstellungen des Anderen – des Fremden – handelt und diese zur Bildung des „Kanons“ selbst insofern beitragen, als sie lediglich Gegenstand der Beobachtung und Projektionsfläche für westliche Phantasien sind:

„Empirical data about the Orient or about any of its parts count for very little; what matters and is decisive is what I have been calling the Orientalist vision, a vision by no means confined to the professional scholar, but rather the common possession of all who have thought about the Orient in the West. (…) – fixed, laid out, boxed in, imprisoned (...)“ (ebd., S. 69f).

Die „Funktion“ des Orients[3] besteht darin, als unterlegene und fremde Kultur Teil einer westlichen Fiktion zu sein, die vor dem Hintergrund dieser Fremdheit die Überlegenheit ihrer eigenen Kultur definiert.

Durch die wissenschaftliche Zuwendung des Westens zum Orient zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wird ein Zusammenhang zwischen Sprache und Rasse hergestellt, welche ihrerseits in Klassen eingegliedert werden (s. ebd., S. 98ff). Das Entscheidende hierbei besteht darin, dass diesen Sprachen und auch ihren Sprechern, jegliche Dynamik abgesprochen und sie als eine homogene Einheit bzw. als (fremdartige) Objekte betrachteten wurden:

„From the outset then, Orientalism carried forward (…) a newly found scientific self-consciousness based on the linguistic importance of the Orient to Europe and (…) a proclivity to divide, subdivide, and redivide its subject matter without ever changing its mind about the Orient as being always the same, unchanging, uniform, and radically peculiar object“ (ebd., S. 98).

Die koloniale Dominanz über weite Teile des Orients gegen Ende des 20. Jahrhunderts bedient sich jenes Kanons; Kolonialisierung wird gerechtfertigt aufgrund der rassischen Überlegenheit über die Fremdkultur. Das Fremde ist a priori nicht in der Lage über sich, sein Land und seine Umwelt zu urteilen, was im Umkehrschluss den Kolonialherrn dazu beruft, diese Aufgabe zu übernehmen:

„The European is a close reasoner; his statements of fact are devoid of any ambiguity; he is a natural logician, albeit he may not have studied logic; he is by nature sceptical and requires proof before he can accept the truth of any proposition; his trained intelligence works like a piece of mechanism. The mind of the Oriental, on the other hand (…) is eminently wanting in symmetry. His reasoning is of the most slipshod description“ (Evelyn Baring, Modern Egypt, zitiert nach Said, 1979, S. 38).

Ein weiteres Konstrukt der europäischen „imaginative geography“ (ebd., S. 49ff) stellt das so genannte Schwarzafrika dar. Mudimbe spricht in diesem Zusammenhang von einer westlichen Erfindung eines primitiven Afrika, das „has become not only the Other who is everyone else except me, but rather the key which, in its abnormal differences, specifies the identity of the Same“ (Mudimbe, 1988, S. 12).

Diese „abnormalen Unterschiede“ sind auf eine Ansammlung von Phantasien - Herodot, so zitiert Mudimbe, spricht von „dog-headed humans“ und „human beings who have their eyes in their breasts“ (ebd., S. 71) - zurückzuführen. Da die Erkundung Subsahara-Afrikas zu Herodots Zeiten nicht erfolgen konnte – dies geschah erst im 15. Jahrhundert durch portugiesische Seefahrer – kreierte die antike Geschichtsschreibung, so Mudimbe, eine „geography of monstrosity“ (ebd., S. 71), bei deren Einwohnern es sich nicht um gewöhnliche Menschen handeln konnte.

Doch erst die stark an den Naturwissenschaften orientierten Sozialwissenschaften des 18. Jahrhunderts erklären das gesamte Gebiet südlich der Sahara zu einer kultur-, gott- und wertefreien Zone und ihre Bewohner zu Wilden[4].

„[N]ineteenth-century anthropologists depict the essential paradigm of the European invention of Africa: Us/Them. Often they express the belief that the African is a negation of all human experience, or is at least an exemplary exception in terms of evolution“ (ebd., S. 71).

Bei der Suche nach der (bzw. einer) eigenen kulturellen Identität und ihren Darstellungsformen sieht sich die postkoloniale Literatur damit konfrontiert, diesen ethnozentrischen Darstellungen zu entgegnen. Hierzu ist sowohl eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit als auch mit dem Fremdbild der Kolonialisten unumgänglich.

Nachdem in diesem Kapitel versucht wurde, den Konstruktcharakter der Begriffe des „Selbst“ und des „Fremden“ hervorzuheben, wird es bei der Analyse von Achebes Romanwerk in den folgenden Kapiteln nun darauf ankommen, diese beiden Konstrukte festzustellen, jedoch auch mögliche Veränderungen und Entwicklungen aufzuzeigen. Dabei beschränkt sich die Analyse nicht nur auf das Handeln der Romanfiguren, sondern es wird für die Analyse auch die Erzählperspektive miteinbezogen.

1. Einleitung

Die anglophone afrikanische Literatur hat in den vergangenen Jahren in der anglistischen Literaturwissenschaft zunehmend an Bedeutung gewonnen. Durch die Bildung eines eigenen literarischen Kanons ist sie zugleich maßgeblich daran beteiligt, den bestehenden anglistischen Literaturkanon zu erweitern und mitzuprägen. Einen Eckpfeiler dieser Entwicklung stellt der weltweit mit Abstand meistgelesene afrikanische Roman Things Fall Apart dar, dessen Verfasser Chinua Achebe gemeinhin als Vater des afrikanischen Romans bezeichnet wird.

In Achebes Romanen spielen die Konzepte und Konstrukte bezüglich des Selbst und des Fremden eine zentrale Rolle. In dieser Arbeit möchte ich daher der Frage nachgehen, in welcher Form das Selbst und das Fremde in seinen bisher fünf veröffentlichten Romanen dargestellt werden. Verbunden mit dem Thema dieser Arbeit sind folgende Fragestellungen zu verfolgen: Aus welcher Perspektive wird die eigene Kultur vor der Ankunft der Europäer gegen Ende des 19. Jahrhunderts (und danach) dargestellt? Wie werden hingegen die Europäer wahrgenommen? Welche Konsequenzen hat diese Begegnung für die Traditionen und Werte der Igbo? Wie steht es um die kulturelle und nationale Basis eines Nigeria kurz vor seiner Unabhängigkeit und mit welchen Mitteln lässt sich der postkoloniale afrikanische Staat darstellen? Anlehnend an Simon Gikandis Analyse von Achebes Romanen soll zugleich untersucht werden, inwiefern Achebes Erzählstrategien Identität widerspiegeln[5].

Achebes Romanwerk eignet sich auch deshalb besonders für die Analyse dieser zentralen Fragen afrikanischer Identität, da er die Geschichte – im doppelten Sinne – und die Kultur seines Landes (und im Besonderen die der Igbo) zum Gegenstand macht. In seinen ersten drei Büchern richtet er sein Hauptaugenmerk auf die Rekonstruktion der Vergangenheit seines Volkes in Abgrenzung zu seiner Darstellung in großen Werken des westlichen Literaturkanons[6]. In seinem Erstlingswerk Things Fall Apart (1958) wird zunächst die Kultur der Igbo unmittelbar vor der Ankunft der Weißen thematisiert. Im Anschluss an die Analyse von Things Fall Apart folgt die Untersuchung von Achebes drittem Roman Arrow of God (1964), der in der Hochphase der britischen Präsenz in Nigeria um das Jahr 1920 spielt. Die Analyse von No Longer at Ease (1960), Achebes zweitem Roman, der das letzte Jahrzehnt der Fremdherrschaft gegen Mitte der 1950er Jahre zum Gegenstand hat, wird aus Gründen der Chronologie erst im Anschluss daran behandelt.

In den ersten drei Romanen ist eine eindeutige Zuschreibung in das Selbst und das Fremde möglich und weitestgehend gleichbedeutend mit der Gegenüberstellung von schwarzer und weißer Kultur. Aus diesem Grunde sollen diese separat behandelt werden. Jedoch gibt es in diesen Romanen bereits eine Übernahme weißer Kulturelemente, insbesondere der Religion, in die Igbo-Kultur. Da in diesen Romanen zwischen dem Selbst und dem Fremden dennoch eine deutliche Unterscheidung gemacht werden kann, werden sie nach dem gleichen Analyseschema untersucht. Hingegen lässt sich der Schwerpunkt dieser Bipolarität in den letzen beiden Romanen nur noch bedingt feststellen, weshalb eine Abänderung der Kapiteleinteilung vorgenommen wird.

In einer abschließenden Zusammenfassung werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengetragen und Anregungen für weitere Analysen gegeben.

2. Konstruktionen des Selbst und des Fremden

Um Chinua Achebes Romanwerk hinsichtlich des Themas systematisch untersuchen zu können, bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit dem bipolaren Begriffspaar des „Selbst“ und des „Fremden“.

Bipolare Einteilungen sind bestimmend für die koloniale Rhetorik, in der konstruierte Einheiten wie „der Westen“ oder „das Abendland“, über das Wesen des Fremden oder des Anderen („den Orient“, „das Morgenland“, „Schwarzafrika“) bestimmen. Mittels der Diskursherrschaft, die von der militärischen und wissenschaftlichen Macht herrührt, modelliert und verortet sich das Selbst in Abgrenzung zum Fremden entsprechend den eigenen Vorstellungen. Wesentlich ist hierbei, dass unversöhnliche Unterschiede, idealiter Gegensätze, herausgestellt werden, um die Überlegenheit über das Fremde zu verdeutlichen und diese durch immer wiederkehrende Binäroppositionen zu manifestieren (wie Zivilisation und Barbarei, Religion und Götzenverehrung, Modernität und Rückständigkeit, Zentrum und Peripherie, Herr und Diener oder Subjekt und Objekt).

Ein zentraler Gegenstand postkolonialer Kritik ist die Analyse solcher Binäroppositionen, insbesondere ihres Entstehens (bzw. ihrer Erfindung) und ihrer Tradierung. In seinem Hauptwerk „Orientalism“ geht Edward Said der Frage nach, auf welche Weise „der Westen“ den Orient aus seiner eigenen Imagination und für sich erschuf:

„The choice of ,Oriental’ was canonical; it had been employed by Chaucer and Mandeville, by Shakespeare, Dryden, Pope, and Byron. It designated Asia or the East, geographically, morally, culturally. One could speak in Europe of an Oriental personality, an Oriental atmosphere, an Oriental tale, Oriental despotism, or an Oriental mode of production, and be understood“ (Said, 1979, S. 32f).

Said behauptet, dass der „Kanon“ bis in die Antike zurückzuverfolgen und bereits damals nicht auf die Literatur beschränkt gewesen sei. So führt er an, dass bereits der Tragödiendichter Aischylos und Herodot, eine klare Trennung zwischen Europa und Asien (zugunsten des ersteren) vorgenommen haben, in der Asien das Fremde bzw. Feindliche verkörpert (s. ebd., S. 56ff). Das Wesentliche hierbei besteht darin, dass es sich um Darstellungen des Anderen – des Fremden – handelt und dieses zur Bildung des Kanons selbst insofern beiträgt, als es lediglich Gegenstand der Beobachtung und Projektionsfläche für westliche Phantasien ist:

„Empirical data about the Orient or about any of its parts count for very little; what matters and is decisive is what I have been calling the Orientalist vision, a vision by no means confined to the professional scholar, but rather the common possession of all who have thought about the Orient in the West. (…) – fixed, laid out, boxed in, imprisoned (...)“ (ebd., S. 69f).

Die „Funktion“ des Orients[7] beschränkt sich somit darauf, als unterlegene und fremde Kultur Teil einer Fiktion des Westens zu sein, der vor dem Hintergrund dieser Fremdheit die Überlegenheit seiner eigenen Kultur definiert.

Durch die wissenschaftliche Zuwendung des Westens zum Orient zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wird ein Zusammenhang zwischen Sprache und Rasse hergestellt, worauf ihre Einordnung in verschiedene Klassen und Systeme erfolgt (s. ebd., S. 98ff). In diesem Zuge wird bestimmten Sprachen und auch ihren Sprechern jegliche Dynamik abgesprochen und diese als eine homogene Einheit bzw. als fremdartige Objekte betrachtet und analysiert:

„From the outset then, Orientalism carried forward (…) a newly found scientific self-consciousness based on the linguistic importance of the Orient to Europe and (…) a proclivity to divide, subdivide, and redivide its subject matter without ever changing its mind about the Orient as being always the same, unchanging, uniform, and radically peculiar object“ (ebd., S. 98).

Die koloniale Dominanz über weite Teile des Orients gegen Ende des 20. Jahrhunderts bedient sich jenes Kanons. Kolonialisierung legitimiert sich aufgrund der rassischen Überlegenheit über die Fremdkultur. Das Fremde ist a priori nicht in der Lage über sich, sein Land und seine Umwelt zu urteilen, was im Umkehrschluss den Kolonialherrn dazu beruft, diese Aufgabe zu übernehmen:

„The European is a close reasoner; his statements of fact are devoid of any ambiguity; he is a natural logician, albeit he may not have studied logic; he is by nature sceptical and requires proof before he can accept the truth of any proposition; his trained intelligence works like a piece of mechanism. The mind of the Oriental, on the other hand (…) is eminently wanting in symmetry. His reasoning is of the most slipshod description“ (Evelyn Baring, Modern Egypt, zitiert nach Said, 1979, S. 38).

Ein weiteres Konstrukt der europäischen „imaginative geography“ (ebd., S. 49ff) stellt das so genannte Schwarzafrika dar. Mudimbe spricht in diesem Zusammenhang von einer westlichen Erfindung eines primitiven Afrika, das „has become not only the Other who is everyone else except me, but rather the key which, in its abnormal differences, specifies the identity of the Same“ (Mudimbe, 1988, S. 12).

Diese „abnormalen Unterschiede“ sind auf eine Ansammlung von Phantasien zurückzuführen. Herodot, so zitiert Mudimbe, spricht von „dog-headed humans“ und „human beings who have their eyes in their breasts“ (ebd., S. 71). Da die Erkundung Subsahara-Afrikas zu Herodots Zeiten nicht erfolgen konnte – dies geschah erst im 15. Jahrhundert durch portugiesische Seefahrer – kreierte die antike Geschichtsschreibung, so Mudimbe, eine „geography of monstrosity“ (ebd., S. 71), bei deren Einwohnern es sich nicht um gewöhnliche Menschen handeln konnte.

Doch erst die stark an den Naturwissenschaften orientierten Sozialwissenschaften des 18. Jahrhunderts erklären das gesamte Gebiet südlich der Sahara zu einer kultur-, gott- und wertefreien Zone und ihre Bewohner zu Wilden[8].

„[N]ineteenth-century anthropologists depict the essential paradigm of the European invention of Africa: Us/Them. Often they express the belief that the African is a negation of all human experience, or is at least an exemplary exception in terms of evolution“ (ebd.).

Bei der Suche nach der (bzw. einer) eigenen kulturellen Identität und ihren Darstellungsformen sieht sich die postkoloniale Literatur damit konfrontiert, diesen ethnozentrischen Darstellungen zu entgegnen. Hierzu ist sowohl eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit als auch mit dem Fremdbild der Kolonialisten unumgänglich.

Nachdem in diesem Kapitel versucht wurde, den Konstruktcharakter der Begriffe des „Selbst“ und des „Fremden“ hervorzuheben, wird es bei der Analyse von Achebes Romanwerk in den folgenden Kapiteln nun darauf ankommen, diese beiden Konstrukte festzustellen, jedoch auch mögliche Veränderungen und Entwicklungen aufzuzeigen. Dabei beschränkt sich die Analyse nicht nur auf das Handeln der Romanfiguren, sondern es wird auch die Erzählperspektive miteinbezogen.

3. Things Fall Apart

3.1 Kontext

Den ersten und umfangreichsten der insgesamt drei Teile des Romans widmet Achebe der Darstellung der Igbo vor der Ankunft der ersten Europäer in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts[9].

Dass die Rekonstruktion dieser Vergangenheit zugleich als Antwort auf fremde Darstellungen von Afrika geschieht, wird durch den Romantitel[10] angedeutet. Hieran wird auch am Ende des Romans erinnert, da die letzten „Worte“ einer weißen Figur, dem District Commissioner, und seinem Verständnis von Afrika vorbehalten sind. Dies ist für Achebes Strategie des „writing back“ (Yousaf, 2003, S. 17) von größter Bedeutung. Nachdem er nämlich ein Afrika mit Afrikanern[11] (und aus afrikanischer Perspektive) dargestellt hat, erweisen sich jene fremden Darstellungen Afrikas als gegenstandslos.

3.2 Das Selbst

3.2.1 Temporalität und Verortung

Zu Beginn des Buches setzt Achebe die Igbo-Gesellschaft anhand seines Helden Okonkwo in einen zeitlichen und örtlichen Rahmen. Hierbei stehen die erzählerischen Mittel, mit denen er eine würdevolle Igbo-Kultur ohne Einflüsse von außen darstellt, im Vordergrund:

„Okonkwo was well known throughout the nine villages and even beyond. His fame rested on solid personal achievements. As a young man of eighteen he had brought honor to his village by throwing Amalinze the Cat. Amalinze was the great wrestler who for seven years was unbeaten, from Umuofia to Mbaino. He was called the Cat because his back would never touch the earth. It was this man that Okonkwo threw in a fight which the old men agreed was one of the fiercest since the founder of their town engaged in a spirit of the wild for seven days and seven nights“ (Things Fall Apart[12], S. 3).

Die Erzählung wendet sich in diesem Abschnitt indirekt gegen die koloniale Darstellung eines Afrika ohne Geschichte. In diesem Zusammenhang spricht Gikandi sogar von einer „revolutionary nature“ (Gikandi, 1991, S. 26) von Achebes Text:

„But if we read this paragraph within a larger discursive context, then the same elements acquire a different meaning and insist on being read as marks of difference vis-à-vis the colonial discourse that has fixed Africans as a people without history“ (ebd., S. 26f).

In dieser Lesart kommt der Historizität eine enorme Bedeutung zu. So wird an dieser Stelle auch auf den Gründungsmythos und den Gründungsvater Umuofias hingewiesen und damit dem Igbo-Volk als Ganzem eine Herkunft attestiert. Zahlreiche Begriffe wie „for seven years, for seven days and seven nights“ (so auch das New Yam Feast und die Week of Peace) deuten auf eine besondere Zeitwahrnehmung aus der Innenperspektive der Igbo hin. Somit wird Europa das Monopol über die Zeiteinteilung abgesprochen und dem Klan ein eigener Umgang mit Zeit und Geschichte eingeräumt.

Neben der zeitlichen Implementierung findet zugleich die räumliche statt. Der Romanheld Okonkwo wird zwischen Umuofia und Mbaino – zwei der insgesamt neun Gemeinschaftsdörfer – verortet.

3.2.2 Darstellung einer pluralistischen Gesellschaft

Die Lebensgrundlage der neun Dörfer und das Symbol für den sozialen Status eines Mannes ist die Knollenfrucht Yam, welche für den wirtschaftlichen und materiellen Charakter der patriarchalischen Igbo-Gesellschaft steht:

„His [Okonkwos] mother and sisters worked hard enough, but they grew women’s crops, like coco-yams, beans and cassava. Yam, the king of crops, was a man’s crop“ (TFA, S. 22f).

Die Würdigung und das Prestige eines Mannes werden an der Menge seiner Yam gemessen, was ihn u.a. dazu befähigt, mehrere Frauen zu ehelichen:

„With yams, which are wealth, a man could take titles in the clan; that is, he could achieve power and influence the conduct of the affairs of the clan. Conversely a man without yams was not able to take titles: he is described as agbala a word which (…) denotes ,a woman’ and a man without titles“ (Killam, 1977, S. 19).

Ungeachtet dessen wird auch Männern ohne Titel Wertschätzung zuteil. So besitzt Okonkwos verschuldeter Vater Unoka keine Titel und ist dennoch in die Gesellschaft integriert. Dass dieser es trotz seiner Trägheit immer wieder schafft, sich Geld – als eigene Währung gilt die Kaurischnecke (s. TFA, S. 4) – zu leihen, erklärt sich daher, dass er aufgrund seiner musikalischen Fähigkeiten als Flötenspieler und seiner menschlichen Eigenschaften doch ein gewisses Ansehen genießt. Neben der materialistischen Hierarchie haben die individuellen Qualitäten des Einzelnen somit ebenfalls Gewicht, wenngleich das Flötespielen zu den weiblichen Tugenden bzw. „female principles“ (Killam, 1977, S. 19) zählt.

Den männlichen Tugenden steht der Grundsatz „Nneka – Mother is Supreme“ (TFA, S. 133) gegenüber, der einen Grundpfeiler der Igbo-Kultur darstellt.

Achebe vermeidet es ein romantisch-verklärendes Bild der Igbo zu entwerfen und beschreibt auch Opferrituale wie die Ermordung von Okonkwos Ziehsohn Ikemefuna (vgl. TFA, S. 61), die Tötung von Zwillingen (vgl. ebd., S. 147), Kindsverstümmelung (vgl. ebd., S. 78f) und Ausschluss der „heidnischen“osu (vgl. ebd., S. 156) aus dem gesellschaftlichen Leben. Hierzu gehören auch Okonkwos fünf Totenkopftrophäen, aus denen er bei Festlichkeiten Palmwein trinkt (vgl. ebd., S. 10).

Die Opferung von Okonkwos Vater prangert die Erzählstimme nicht an, sondern stellt sie im Sinne der Überlieferung als ein – wenn auch bedauerliches – religiöses Ritual in Umuofia dar:

„Unoka was an ill-fated man. He had a bad chi[13] or personal god, and evil fortune followed him to the grave, or rather to his death, for he had no grave. He died of the swelling which was an abomination to the earth goddess. When a man was afflicted with swelling in the stomach and the limbs he was not allowed to die in the house. He was carried to the Evil Forest and left there to die. (…) The sickness was an abomination to the earth, and was not given the first of the second burial. Such was Unoka’s fate. When they carried him away, he took with him his flute“ (ebd., S. 18).

Gleichwohl werden bestehende Bräuche durch die handelnden Personen ständig hinterfragt. Am ersten Morgengrauen nach Okonkwos Verbannung nach Mbanta stürmen sein bester Freund Obierika und die Hinterbliebenen aus Ezeudus Reihen, dessen Sohn Okonkwo versehentlich tötete, sein Gelände und vernichten sein ganzes Vermögen (Häuser, Scheune und Tiere). Obwohl diese Bestrafung zum Zwecke der Reinigung im Klan und der Verhinderung von Hassgefühlen dient und daher als notwendig angesehen wird, zweifelt Obierika derartige Entscheidungen der Erdgöttin an:

„Why should a man suffer so grievously for an offense he had committed inadvertently? (…) He remembered his wife’s twin children, whom he had thrown away. What crime had they committed? The Earth decreed that they were an offense on the land and must be destroyed“ (ebd., S. 125).

Die Gegenseitigkeit – das Sowohl-als-auch sowie das Ja-aber – stellt das Fundament der Religion und Denkart der Igbo dar, dessen Ziel eine Balance der Dinge ist. Dies wird am Konzept des chi deutlich, über den zwei Auffassungen bestehen: Die eine besagt, dass man seinen chi nicht herausfordern oder besiegen kann (wie im Falle Unokas). Nach der anderen ist jeder Mensch für sein eigenes Schicksal verantwortlich: „[T]he Ibo people have a proverb that when a man says yes his chi says yes also“ (ebd., S. 27). Aus diesem Grunde „kann“ Okonkwos Scheitern am Ende des Romans auf seinen vom Vater vererbten chi zurückgeführt werden, wohingegen es an anderer Stelle heißt: „Okonkwo said yes very strongly; so his chi agreed“ (ebd., S. 27). Diese gegensätzlichen Auslegungen schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus, sondern bedingen einander.

3.2.3 Erzählstimme

Die oben angeführten Passagen sind unverzichtbar, um die Pluralität der Igbo-Gesellschaft nachvollziehen zu können. Achebe ist jedoch vorsichtig bei der Beschreibung der Igbo-Kultur, um jegliche Stereotypisierungen zu vermeiden. Um diesem Anspruch zu genügen, lässt er seinen Erzähler an zahlreichen Stellen Positionen wechseln, um somit Platz für verschiedene Möglichkeiten der Darstellung und ihrer Interpretation zu schaffen. Carroll sieht in der Erzählstimme einen „wise and sympathetic elder of the tribe“ (Carroll, 1990, S. 33). Gikandi lehnt diese Zuschreibung ab, da es sich bei ihr nicht um eine Person handelt[14]. Demnach spricht die Erzählstimme mit einer „double voice“ (Gikandi, 1991, S. 45). So zeigt sie beispielsweise für den im Evil Forest ausgesetzten Unoka Mitgefühl („Such was Unoka’s fate. When they carried him away, he took with him his flute“, TFA, S. 18), während sie ihn zu Beginn des Romans abschätzig charakterisiert:

„In his days he was lazy and improvident (…). If any money came his way, and it seldom did, he immediately bought gourds of palm-wine, called round his neighbors and made merry. (…) Unoka was, of course, a debtor, and he owed every neighbor some money (…)“ (ebd., S. 4).

In diesem Abschnitt gibt die Erzählstimme keine beliebige oder persönliche Meinung preis, sondern spricht stellvertretend für Umuofia, wo Unokas Trägheit keine Wertschätzung erfährt. Es besteht jedoch keine Regelmäßigkeit dafür, wann und aus welchen Gründen sie mit einer anderen Stimme spricht. So distanziert sie sich an anderer Stelle ohne erkennbaren Grund von jenen Menschen, deren Traditionen sie selbst vertritt:

„Fortunately among these people a man was judged according to his worth and not according to the worth of his father“ (ebd., S. 8).

Bei diesem Erzählverfahren kommt die Ambivalenz, welche mit dem Igbo-Sprichwort „Wherever something stands, another thing stands beside it“ (No Longer at Ease, S. 149) ausgedrückt wird, zum Tragen. Ambivalenz ist von zentraler Bedeutung für alle Bereiche der Igbo-Kultur, insbesondere deshalb, weil sich der Mensch selbst als duales Wesen begreift (chi). Dies gilt jedoch gleichermaßen für die Form, in der über ihn erzählt wird.

Durch die Koppelung der dualen Erzählstimme mit der dualen Weltanschauung der Igbo entstehen zahlreiche komplexe Bedeutungsebenen, wobei sich Dualität nicht auf das Konzept des chi beschränkt[15]:

„Duality appeals to Achebe precisely because it produces a multiplicity of meanings and indeterminate zones of representation (…)“ (Gikandi, 1991, S. 20).

Nichts ist absolut, es gibt immer etwas neben etwas Anderem. Vor dem Hintergrund, dass sich die Erzählung gegen die Darstellung eines primitiven Afrika richtet, wird deutlich, dass sowohl die Dualität der Erzählstimme als auch die Dualität des Weltbilds der Igbo in krassem Gegensatz zu eben jener ethnozentrischen Darstellung eines fremden, aber dennoch erklärbaren – da primitiven – Afrika stehen. Die Kultur der Igbo ist demnach keine veränderungsfeindliche Einheit und der Roman keine Bestandsaufnahme einer erstarrten Gesellschaft. Zudem kann die Komplexität einer Kultur niemals „vollständig“, beispielsweise durch anthropologische Ansätze, dargestellt und erklärt werden, da ein solcher Ansatz zwangsläufig Stereotypisierungen erzeugen würde. Die duale Erzählstimme verhindert das Aufkommen von Stereotypisierungen, indem sie sich nicht auf lediglich eine Perspektive beschränkt.

3.2.4 Das Sprichwort als kollektive Identitätsquelle

Angesichts der Tatsache, dass Achebe gegen eine koloniale Darstellung Afrikas schreibt, in dem der Redeanteil und Sprechfähigkeit schwarzer Figuren auf ein Minimum reduziert sind[16], nimmt die Sprache in TFA eine wichtige Stellung ein. So wird betont, welche Wertschätzung die Kunst der gesprochenen Sprache – eine Schriftsprache existiert nicht – für die Igbo annimmt, wobei die hohe Stellung von Sprichwörtern[17] eigens mit einem Sprichwort wiedergegeben wird: „Among the Ibo the art of conversation is regarded very highly, and proverbs are the palm-oil with which words are eaten“ (TFA, S. 7).

Die Redekunst eines Mannes stattet ihn mit hohem Ansehen aus und, insbesondere wenn er ein Titelträger ist, mit Macht[18] innerhalb der Gemeinschaft. Bei Sprichwörtern handelt sich um ein gemeinsames Kulturgut, von dem der Sprecher zu verschiedenen Begebenheiten und Zwecken Gebrauch machen kann. So wendet sich Okonkwo vor Beginn seiner Karriere, in der er zahlreiche Missernten in Kauf nehmen muss, an den vermögenden Nwakibie mit den Worten:

„I have come to you for help (…). I have cleared a farm but have no yams to sow. I am not afraid of work. The lizard that jumped from the high iroko tree to the ground said he would praise himself if no one else did. If you give me some yam seeds I shall not fail you“ (ebd., S. 21).

Nwakibie schmückt seine Antwort an Okonkwo mit zwei Sprichwörtern:

„Eneke the bird says that since men have learned to shoot without missing, he has learned to fly without perching. I have learned to be stingy with my yams. But I can trust you. I know as I look at you. As our fathers said, you can tell a ripe corn by its look“ (ebd., S. 22).

Der Gebrauch von Sprichwörtern in dieser Konversation deutet auf ein hohes Maß an Empathie für das Gegenüber hin, welchem mit Demut und Respekt begegnet wird. Hierbei wird das eigentliche Anliegen zunächst kunstvoll bzw. höflich, verschleiert. Das Wesentliche beim Gebrauch von Sprichwörtern besteht darin, dass man – trotz aller Verschleierung – vom Gegenüber verstanden wird. Es handelt sich bei ihnen letztlich um gemeinsame kulturelle Bedeutungs- und Wahrnehmungswelten, auf deren Basis kollektive Identität erst möglich ist. In den meisten Sprichwörtern kommen zentrale Symbole dieser Bedeutungswelten zur Anwendung, welche die kollektiven Werte verkörpern: Das bereits zitierte „chi -Sprichwort“ festigt die religiöse und zugleich existenzielle Wahrnehmung des Individuums, wohingegen in anderen die besondere Verbundenheit zur unmittelbaren Umwelt, d.h. der Natur („the high iroko tree“) und der Tierwelt („lizard“, „Eneke the bird“) bekräftigt wird.

Es ist jedoch zu beobachten, dass diese Kollektivwerte -und Bedeutungen während und nach der kolonialen Begegnung zunehmend abgeschwächt werden. Hinsichtlich der Bedeutungen von Dingen führt Gikandi den „Evil Forest“ an, wo die ersten Missionare sich niederlassen und ihren Aufenthalt entgegen den Erwartungen Umuofias schadlos überstehen: „From this moment on, the evil forest will mean different things to different people (…)“ (Gikandi, 1991, S. 49). Auf diese Weise geraten Bedeutungen, die zuvor eindeutig und festgelegt waren, in eine „semantic crisis“ (ebd.).

Bezogen auf die Sprichwörter bedeutet dies aber nicht, dass sie aussterben. Sie sind weiterhin in Gebrauch, besitzen jedoch nicht mehr die Kraft, als Identitätsquelle zu dienen[19].

3.2.5 Okonkwo als Kontrastfigur zu Umuofia

Die Erzählung bietet viele Beispiele für Abweichungen vom Normalen. So redet Ezinma, Tochter von Okonkwos zweiter Frau, ihre Mutter mit ihrem Vornamen „Ekwefi“ (TFA, S. 40) an. Die nur Männern vorbehaltene Polygamie symbolisiert nicht eine Tyrannenherrschaft von Männern. Dies verdeutlicht die Beschreibung eines außergewöhnlichen und unzertrennlichen Ehepaars, in der die Witwe wegen ihrer Trauer beim Anblick ihres verstorbenen Mannes selbst stirbt. Entscheidend bei dieser Szene ist Okonkwos Bewertung dieser innigen, gleichberechtigten Beziehung zwischen Mann und Frau, welche er jedoch instinktiv ablehnt:

[...]


[1] „(…) Achebe’s seminal status in the history of African literature lies precisely in his ability to have realized that the novel provided a new way of reorganizing African cultures, especially in the crucial juncture of transition from colonialism to national independence, and his fundamental belief that narrative can indeed propose an alternative world beyond the realities imprisoned in colonial and postcolonial relations of power. In other words, Achebe was possibly the first of our writers to recognize the function of the novel not solely as a mode of representing reality, but one which had limitless possibilities of inventing a new national community. In Achebe’s works, questions of national identity are closely related to narrative strategies; fiction allows the writer to express a different vision and perspective“ (Gikandi, 1991, S. 3).

[2] Die ersten drei Romane können als Trilogie angesehen werden, da die Folgeromane zu Things Fall Apart ohnehin Bezüge zu diesem aufweisen. So ist bspw. Obi Okonkwo in No Longer at Ease der Enkel des Helden Okonkwo aus Things Fall Apart. Das in Things Fall Apart geplante Buch des District Commissioners mit den Titel The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger wird in Arrow of God näher behandelt. Zugleich nehmen zwei der drei Romane explizit Bezug auf koloniale Literatur oder rassistische Diskurse, gegen die sie z urück schreiben: Things Fall Apart ist ein Zitat aus W. B. Yeats’ Gedicht The Second Coming, während No Longer at Ease T. S. Eliots Gedicht The Return of the Magi entnommen ist (vgl. Yousaf, 2003, S. 43).

[3] Hierbei dient der Orient als Oberbegriff für zahlreiche unterschiedliche kulturelle Strömungen aus verschiedenen Epochen wie z.B. die des Alten Ägypten (und Persien), die gesamte islamische Kultur sowie Indien und China. Saids Analyse beschränkt sich größtenteils auf den Nahen Osten und die islamische Kultur (vgl. Said, 1979, S. 53ff).

[4] Dass diese Einteilung auch gegen Mitte des 20. Jahrhunderts Bestand hatte, bestätigt auch Frantz Fanon: „Africa is divided into Black and White, and the names that are substituted—Africa South of the Sahara, Africa North of the Sahara—do not manage to hide this latent racism. (…). [I]t is affirmed that White Africa has a thousand-year-old tradition of culture; that she is Mediterranean, that she is a continuation of Europe, and that she shares in Greco-Latin civilization. Black Africa is looked on as a region that is inert, brutal, uncivilized, in a word, savage“ (Fanon, 1967, S. 161).

[5] „(…) Achebe’s seminal status in the history of African literature lies precisely in his ability to have realized that the novel provided a new way of reorganizing African cultures, especially in the crucial juncture of transition from colonialism to national independence, and his fundamental belief that narrative can indeed propose an alternative world beyond the realities imprisoned in colonial and postcolonial relations of power. In other words, Achebe was possibly the first of our writers to recognize the function of the novel not solely as a mode of representing reality, but one which had limitless possibilities of inventing a new national community. In Achebe’s works, questions of national identity are closely related to narrative strategies; fiction allows the writer to express a different vision and perspective“ (Gikandi, 1991, S. 3).

[6] Die ersten drei Romane können als Trilogie angesehen werden, da die Folgeromane zu Things Fall Apart ohnehin Bezüge zu diesem aufweisen. So ist bspw. Obi Okonkwo in No Longer at Ease der Enkel des Helden Okonkwo aus Things Fall Apart. Das in Things Fall Apart geplante Buch des District Commissioners mit den Titel The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger wird in Arrow of God näher behandelt. Zugleich nehmen zwei der drei Romane explizit Bezug auf koloniale Literatur oder rassistische Diskurse, gegen die sie z urück schreiben: Things Fall Apart ist ein Zitat aus W. B. Yeats’ Gedicht The Second Coming, während No Longer at Ease T. S. Eliots Gedicht The Return of the Magi entnommen ist (vgl. Yousaf, 2003, S. 43).

[7] Hierbei dient der Orient als Oberbegriff für zahlreiche unterschiedliche kulturelle Strömungen aus verschiedenen Epochen wie z.B. die des Alten Ägypten (und Persien), die gesamte islamische Kultur sowie Indien und China. Saids Analyse beschränkt sich größtenteils auf den Nahen Osten und die islamische Kultur (vgl. Said, 1979, S. 53ff).

[8] Dass diese Einteilung auch gegen Mitte des 20. Jahrhunderts Bestand hatte, bestätigt auch Frantz Fanon: „Africa is divided into Black and White, and the names that are substituted—Africa South of the Sahara, Africa North of the Sahara—do not manage to hide this latent racism. (…). [I]t is affirmed that White Africa has a thousand-year-old tradition of culture; that she is Mediterranean, that she is a continuation of Europe, and that she shares in Greco-Latin civilization. Black Africa is looked on as a region that is inert, brutal, uncivilized, in a word, savage“ (Fanon, 1967, S. 161).

[9] Ein exaktes Datum kann nicht nachgewiesen werden. David Carroll belegt jedoch, dass die ersten Missionsstationen nicht vor Mitte des neunzehnten Jahrhunderts errichtet wurden (vgl. Carroll, 1990, S. 18).

[10] Achebe stellt seinem Buch die ersten vier Zeilen aus Yeats’ 1921 veröffentlichtem Gedicht „The Second Coming“ voran. Yeats Gedicht handelt jedoch vom „Auseinanderfallen“ der christlichen Welt, die vom Erwachen einer „sphinx“ herausgefordert wird: „[R]ough beast (…) that slouches toward Bethlehem“ (Yeats, 1996, S. 187). Diese Logik kehrt Achebe in seinem Roman systematisch um (vgl. Yousaf, 2003, S. 43).

[11] Carroll verwendet in Bezug auf die Darstellung von Afrika(nern) in Conrads Heart of Darkness, die Formulierung „an Africa without Africans“ (Carroll, 1990, S.2).

[12] Fortan TFA

[13] Obwohl im Glossar zu TFA chi als „persönlicher Gott“ übersetzt und auch im Roman explizit verwendet wird, hält Achebe die Übersetzung „personal spirit“ für angemessener (vgl. Okoye, 1987, S. 87).

[14] Gikandi bestreitet jedoch nicht, dass die Erzählstimme Umuofias Werte vertritt: „[H]e or she is aligned with the Igbo conceptual system“ (Gikandi, 1991, S. 46).

[15] So nimmt auch Evil Forest zwei Bedeutungen an; es bezeichnet zum einen den verwunschenen Ort der bösen Geister, wo all jene bestattet werden, deren Geist oder Leib eine Beschmutzung der Erde und ihrer Göttin Ani darstellt, zum anderen jedoch den Führer der neun egwugwu bzw. der Gerichtsbarkeit (s. TFA, S. 89). Noch komplexer ist Agbala, das sowohl für das Orakel sowie für Umuofias Gott steht, während mit agbala Frauen und titellose Männer bezeichnet werden.

[16] vgl. Achebes Kritik an kolonialer Lektüre, zu der er Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness zählt: „In the entire novel [sic!] Conrad allows no more than a dozen words in broken English to one and a half Africans: the cannibal who says ,Catch ‘im…eat ‘im,’ and the half-caste who announces ,Mistah Kurtz – he dead’“ (Achebe, 1990, S. 17).

[17] Sprichwörter stellen einen Teil der „oral culture“ dar. Zu dieser gehören auch Volkssagen und Lieder (vgl. TFA, S. 51, 60, 118ff, 96ff), aber auch zahlreiche Zeremonien (Kundgebungen, Gerichtsverhandlungen), die nach einem bestimmten „Protokoll“ ablaufen (vgl. u.a. TFA, S. 10f, 202f).

[18] Dies wird insbesondere in Arrow of God deutlich, als der mächtige Redner Nwaka ein Rededuell (gegen den Protagonisten Ezeulu) aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten gewinnt (vgl. Arrow of God, S. 15ff).

[19] Dies wird insbesondere in A Man of the People deutlich, in dem – wenn auch aufgrund eines veränderten Kontexts und einer anderen Zeit – Sprichwörter lediglich den Status von Klischees annehmen (vgl. A Man of the People, S. 122).

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Das Selbst und das Fremde in Chinua Achebes Romanwerk
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Anglististisches Institut)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
88
Katalognummer
V79050
ISBN (eBook)
9783638856423
ISBN (Buch)
9783638855235
Dateigröße
718 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbst, Fremde, Chinua, Achebes, Romanwerk
Arbeit zitieren
Sener Saltürk (Autor:in), 2007, Das Selbst und das Fremde in Chinua Achebes Romanwerk, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79050

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