Karl May als Pädagoge


Magisterarbeit, 2001

90 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die ereignisreiche Lebensgeschichte Karl Mays als Grundlage für dessen humanistische Tendenzen
1. Die Kindheit des Schriftstellers - Gründe für dessen Introversion
2. Karl May im Zuchthaus - Erfahrungen mit der Schizophrenie des Autors
3. Karl Mays Lebenswandel im Zusammenhang mit seinen schriftstellerischen Bemühungen
4. Die Welt der Erzählungen des Schriftstellers

III. Zusammenfassung - ein kurzes Fazit zum Schluß

Bibliographie

Lies nicht die Worte nur; erforsch den Sinn;

als Taucher sollst du tief hinuntersteigen,

Und wenn dann ‚ich’ dir klar geworden bin,

dann wird sich auch dein eigenes ‚Ich’ dir zeigen[1].

I. Einleitung

Karl May ist Umfragen zufolge einer der bekanntesten, aber auch gleichzeitig der umstrittenste Schriftsteller Deutschlands. Schon zu Lebzeiten sah er sich einer beispiellosen, unbarmherzigen Hetze gegen seine Person einschließlich seiner Werke ausgesetzt[2], die dann in der Berufungsverhandlung von Berlin-Moabit am 18. Dezember 1911 gipfelte, in der der gefährlichste seiner Gegner, der Journalist und Herausgeber diverser zeitkritischer Lektüre, Rudolf Lebius, endgültig zum Schweigen gebracht werden konnte.[3]

Auch in der Literaturwissenschaft fand Karl May wenig Beachtung. Existierte er doch, mit Aus­nahme einer Dissertation in den dreißiger Jahren, als Forschungsobjekt überhaupt nicht.

Das aufopferungsvolle Engagement der im Jahre 1969 gegründeten Karl-May-Gesellschaft, führte im wesentlichen zu einer Akzeptanz des Autors und seiner Arbeiten als eine wissenschaftliche Dis­ziplin.

In den letzten Jahren erschien eine Fülle von Dissertationen und anderen akademischen Abhand­lungen. Darüber hinaus wurde eine fast unüberschaubare Anzahl von Jahrbüchern und diverser Sekundärliteratur veröffentlicht.[4] Die gesamte Auflage der Karl May-Bücher weltweit belief sich bis 1996 auf zirka 130-140 Millionen Stück.[5]

Doch auch im öffentlichen Leben erfuhr die Person Karl May und seine Werke eine erhebliche Aufwertung.

Die nationalsozialistische Führung des Deutschen Reiches von 1933-1945 hielt große Stücke auf den Volksschriftsteller. Karl May galt als Adolf Hitlers Lieblingsautor. Er empfahl unter anderem seinem Neffen, Winnetou als Vorbild zu sehen.[6] Der deutsche „Führer und Reichskanzler“ besuchte den schon legendären Vortrag des Schriftstellers „Empor ins Reich der Edelmenschen“ am 22. März in Wien und soll sowohl von der Person Karl May, als auch von dem Vortrag selbst, überaus begei­stert gewesen sein[7]. In den Augen des Reichsbauministers Albert Speer, galt Winnetou als „Musterbeispiel eines Kompanieführers“[8]. Karl Mays Figuren erinnerten an die Theorie des Übermenschen. Das Pflichtbe­wußtsein und der Heldenmut der Protagonisten seiner Werke waren gute Voraussetzungen für Sol­daten. So mußte sich Karl May in der folgenden Generation posthum den Vorwurf gefallen lassen, er sei, ähnlich wie Nietzsche und Wagner ein „Wegbereiter des Faschismus“ gewesen.[9] Berühmte Dichtungen wie z.B. „Der Mir von Dschinnistan“ oder „Winnetou IV“, sprechen allerdings eindeutig gegen eine fa­schistische Tendenz in Mays Werken. Deren Inhalt ist offensichtlich von einer stark pazifistischen Absicht des Autors geprägt.[10] In seiner Reiseerzäh­lung „Old Surehand. Erster Band“ betont der Schriftsteller leidenschaftlich die Gleichheit einer jeden Menschenrasse im Angesicht des Schöpfers[11].

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, eine enthusiastische Karl-May-Begeisterung.

Im Jahre 1964 meldete die Deutsche Wochenschau, daß in Essen, „unter einem Publikumsandrang, der sonst nur in Bundesligaspielen gilt“, eine Filmpreisverleihung stattfand. Der Hauptdarsteller des Filmes „Winnetou I“, Lex Barker, empfing die „goldene Leinwand“ für drei Millionen Kinobe­sucher, ausgezeichnet durch die Deutschen Filmtheaterbesitzer. Des weiteren wurde von einem Phä­nomen gesprochen, daß die Anziehungskraft des Filmes auch zukünftig ungebrochen bliebe.[12]

In der DDR galt Karl May zwischen 1945 und 1981 als „Unperson“ und wurde geächtet.[13] Es war nicht nur der Druck der Kriegsfolgen, der dem Schriftsteller ein Totalverbot der SED-Zensur eingebracht hatte[14]. May stellte in den Augen der dortigen Parteifunktionäre eine „Gefahr für das öffentliche Leben“ im so­zialistischen Einheitsstaat dar. Christian Heermann, ein Publizist aus dem Osten, begründete dies wie folgt. Die Person und die Werke, des aus dem kleinen erzgebirgischen Weberstädtchens Ernstthal stammenden Autors, konnten in der fernsehlosen Zeit ein Individuum voll in Anspruch nehmen. Außerdem paßten die Helden Karl Mays nicht in die sozialistische Welt. Sie reisten wohin sie auch wollten, waren frei und ungebunden, fuhren durch ferne Länder, wollten nichts von ge­setzlichen Ordnungen wissen und richteten sich dementsprechend auch nicht danach. Zudem wollte die DDR eine eigene Abenteuerliteratur schaffen.[15] Doch unter dem Druck der Volksstimmung, mußte die Ächtung, des im östlichen Teil Deutschlands sehr beliebten Schriftstellers, wieder aufgehoben wer­den.[16]

Bekannte west- bzw. gesamtdeutsche Politiker würdigten die Arbeit Karl Mays. Der Altbundes­kanzler Helmut Kohl, derzeit im Rahmen der CDU - Spendenaffäre sehr umstritten, wird wie folgt zitiert. „Die Erde sehnt sich nach Ruhe, heißt es in Ardistan und Dschinnistan, die Menschheit nach Frieden. Und die Geschichte will nicht mehr Taten des Hasses, sondern Taten der Liebe verzeich­nen. Das entsprach den Vorstellungen, mit denen ich als Schüler Karl May gelesen habe.“ Der ehemalige Kanzlerkandidat und Parteivorsitzende der SPD Oskar Lafontaine, der im Jahre 1999 durch seine spektakuären Veröffentlichungen über parteiinterne Angelegenheiten bei seinen sozia­listischen Fraktionsgenossen in Verruf geraten ist, äußert sich folgendermaßen über den Autor: „Karl May, das ist ein Volksklassiker, der klassenlose deutsche Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts. Seine Fangemeinde ist riesig, seine Lesebücher gehören zum gemeinsamen emotio­nalen Bestand der Nation.“[17]

Der folgende Abschnitt soll dem Leser der vorliegenden Abhandlung als Einführung in die Thematik dienen und nachweisen, welchen Stellenwert die Arbeiten Karl Mays hinsichtlich ihrer pädagogi­schen Effizienz einnehmen.

Der Schriftsteller bekannte sich zum sogenannten Edelmenschentum, das ohne Bedenken als eine praktizierende Form des Humanismus bezeichnet werden kann. May versuchte mit Erfolg, wie die nachfolgenden Statistiken zeigen werden, dem Konsumenten seiner Romane spannende und fesselnde Abenteuergeschichten zu präsentieren, die dennoch nicht nur rein unterhaltenden Charakter besit­zen, sondern darauf bedacht sind, den humanistischen Gedanken der „Edelmenschlichkeit“ zu ver­mitteln um somit einen positiven Einfluß auf den jeweiligen Leser auszuüben. Insbesondere die noch formbare Jugend kann durch den Konsum dieser Lektüre noch moralisch beeinflußt werden, um ihren Charakter zu festigen und das sittliche Empfinden zu stärken, wie die folgende Darstel­lung zeigt.

Hans-Henning Gerlach schildert in seinem Vorwort zu dem, die Reiserouten der Helden Mays be­schreibenden Karl-May-Atlas, eindrucksvoll, wie ihn der Schriftsteller und seine Werke in den Jugendjahren begleiteten und im positiven Sinne nachhaltig beeinflußten. Sein Leben war durch und durch geprägt von den fast übermenschlich erscheinenden Protagonisten der Mayschen Erzäh­lungen. Er verbrachte einen großen Teil seiner Freizeit draußen in der Natur, eine Tatsache, die er auch den Büchern des deutschen Volksschriftstellers zu verdanken hat. Dieser legte großen Wert auf die Schilderung einer noch reinen, sauberen und zauberhaften Wildnis. Damit sprach er beson­ders die Jugend an, da diese die Reinheit der Natur (gleichzusetzen mit der Unbeschwertheit und dem kindlichen Gemüt) im Gegensatz zum Erwachsenen, noch nicht verloren hat, sondern diese erst zu umfassen und kennenzulernen sucht.

Auf einem ihrer „Beutezüge“ erlegte der junge Hans-Henning und seine Freunde eine Taube. Doch die in zahlreichen Kämpfen mit Gleichaltrigen abgehärtete Clique war von dem Tod des Tieres im Endeffekt so betroffen, daß sie es beerdigte und den Grabhügel mit einem Weidenkreuz schmückte. Im Gegensatz zu vielen ihrer Altersgenossen, die erfahrungsgemäß eher dazu geneigt gewesen wären, dem Vogel vor seinem Ableben noch große Qualen zu bereiten, wandte sich das durch die Lektüre Karl Mays geschulte sittliche Empfinden an die Jugendlichen und ihr morali­sches Gewissen machte ihnen vermutlich sehr zu schaffen. War es denn nötig dieses Lebewesen völlig sinnlos, nur so zum Spaß, zu töten?[18] Diese Frage werden sich die Kinder wohl gestellt haben, denn die Hel­den Mays erlegten das Wild auch nicht ohne Zweck, sondern nur um sich notwendigerweise ernäh­ren zu können.[19] Anhand dieses Beispiels wird einwandfrei der erzieherische Charakter der Werke Karl Mays deutlich.

Der erst siebzehnjährige Tischlerlehrling Rainer Gagelmann, seines Zeichens Karl May-Enthusiast, startete im Jahre 1965 eine Umfrage unter zeitgenössischen Schriftstellern, wie z.B. Ingeborg Bachmann oder Friedrich Georg Jünger, und erhielt eine größtenteils positive Resonanz hinsichtlich seiner an die Autoren gerichtete Umfrage „Soll die Jugend Karl May lesen?“. Die überwältigende Mehrheit der Befragten befürwortete die Lektüre der Werke Mays und befand diese als durchaus „geeignet“ zum Studium durch Heranwachsende.[20]

Eine repräsentative Befragung der Schülerinnen und Schüler des Abiturjahrganges 1999 im Lise-Meitner-Gymnasiums des Bildungszentrums in Königsbach/Baden, ergab, daß 42% der männlichen Jugendlichen im Alter von 8-15 Jahren Karl May gelesen haben. 63%(!) der Gymnasiasten und 36% der weiblichen Jugendlichen betonten, daß Karl-May-Filme von ihnen bevorzugt konsumiert wurden.

In der Reihe der Lieblingsbücher rangiert, der Umfrage zufolge, der Volksschriftsteller ebenfalls ganz vorne.[21]

Diese empirischen Nachforschungen sprechen wohl für sich und stellen eindeutig den hohen Stel­lenwert Karl Mays bei den Jugendlichen heraus, in einer Zeit, die geprägt ist von Technologie, zu­nehmendem Leistungsdruck in Schule, Beruf und Gesellschaft und einer stetig ansteigenden Ag­gressions- bzw. Gewaltbereitschaft der Teenager.

Generell sollte für die derzeitige Generation von Heranwachsenden folgendes Motto gelten: „Weg von der ‚Straße’ - mit Karl May durch eine unbeschwerte und lehrreiche Jugend, ohne den immer­währenden Anforderungen der heutigen ‚Leistungsgesellschaft’ ausgesetzt zu sein.“ Der Weg zum Edelmenschentum, den der Volksschriftsteller in seinen Werken beschreibt, bietet den Betroffenen die Möglichkeit, sich das nötige Quantum an Moralität und Sittlichkeit anzueignen, um der beste­henden Gefahr der Verwahrlosung und Verrohung zu entgehen, die derzeit unter den Jugendlichen herrscht. Die Lektüre der Werke Mays bietet außerdem eine ausgezeichnete Abwechslung vom täg­lichen Alltagsstreß, wodurch dem Leser persönliche Freiräume geschaffen werden, in denen er sich, angeregt durch den Inhalt des Lesestoffes, kreativ entfalten kann. So ist der Konsument der spannenden Erzählungen in der Lage, sich von der monotonen, tristen Gegenwart, in eine ereignis­reiche Phantasiewelt zu versetzen, die ihm die Möglichkeit bietet, ganz neue, geistige, respektive seelische Erfahrungen zu erleben, von denen er in der Realität niemals in Kenntnis gesetzt wird.

Einen weiteren Einsatzbereich für die erzieherisch-pädagogische Arbeit mit dem Schrifttum Karl Mays, stellt die Resozialisierung von Strafgefangenen, einsitzend in den zahlreichen Justizvoll­zugsanstalten dieses Landes, dar. Verschiedene Lockerungsmaßnahmen während des „geschlosse­nen Vollzugs“, bei einer „guten Führung“ des Gefängnisinsassen sind z.B. der Freigang über das Wochenende, oder die Überweisung des Kriminellen in ein sogenanntes „Freigängerhaus“. Der Insasse hat dann die Möglichkeit einer geregelten Arbeit in „Freiheit“ nachzugehen, muß sich aber nach Dienstschluß wieder in der o.g. Örtlichkeit einfinden. Nach Aussagen eines ehemaligen Freigängers, der dem Autor dieser Arbeit persönlich bekannt ist, stellen diese sogenannten Frei­räume aber keine besonders gute Möglichkeit zur Resozialisierung dar. Der ständige Kontakt mit Gleichgesinnten während des „Einschlusses“, abends oder in der Nacht, verhindert eine Loslösung des Inneren eines Betroffenen von dem unsäglich negativen Gedankengut eines Verbrechers. Er wird somit nie die moralische und sittliche Gesinnung eines „normalen“ Mitgliedes der Gesell­schaft erreichen. Damit ist er aber keinesfalls fähig, nach der Abbüßung der Strafe ein geregeltes Leben in der „Zivilisation“ zu führen. Persönliche Umfragen in diesem Milieu bestätigen eine enorm hohe Rückfallquote bei ehemaligen Strafgefangenen.

Um nun die „verdorbene“ Psyche eines solchen kriminellen Individuums moralisch und sittlich zu „stärken“, besteht die Möglichkeit, den Insassen einer JVA. durch das intensive Studium der ge­fängniseigenen Bibel zur Läuterung zu führen, in diesem speziellen Fall durch die Vermittlung des christlichen Gedankengutes. Die Idee ist im Allgemeinen nicht schlecht und außerdem sehr lo­benswert. Jedoch ist zu befürchten, daß der Gefangene, für diese Maßnahme der positiven, geisti­gen und seelischen Beeinflussung, nur sehr schwer zugänglich ist.

Für viele der „schweren Jungs“ wird die Lektüre des „Wortes Gottes“ wahrscheinlich nur langwei­lig sein. Der Hauptdarsteller der biblischen Geschichte, Jesus, wird in dem größten aller Werke zumeist als eine unscheinbare, eher schwächliche Person dargestellt, die niemals irgend­welche spektakulären Heldentaten verübt. Auch die Anstaltspfarrer haben zumeist nur im Rahmen ihres Theologiestudiums am Schreibtisch „gekämpft“. Gerade aber das Gegenteil dieser Attribute ist es, was die ehemals Kriminellen anspricht. Jetzt existiert da in den Werken Karl Mays aber ein breitschultriger Zeitgenosse namens Old Firehand, ein „harter Bursche“, wie der Großteil der Ge­fangenen selbst. Dieser Held der Erzählungen des Volksschriftstellers sieht sich in seinen Abenteu­ern einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzt. Er muß auf dem Territorium der „dark and bloody grounds“ in erbitterten Kämpfen gegen ihm feindlich gesinnte Indianer oder verbrecherische Tramps bestehen. Der Gefangene sieht hier Parallelen zu seinem eigenen Überlebenskampf „auf der Straße“. Er ist von diesem „Westmann“ begeistert, genau so stellt er sich sein Vorbild vor. Der Unterschied des ehrlichen Trappers zu dem unbarmherzigen, skrupellosen Straßenkämpfer besteht aber in dem humanen Gedankengut, das Karl May seinen Protagonisten vermittelt. Old Firehand ist zwar, wenn es sein muß, ein unerbittlicher Fighter, tötet aber niemals sinnlos uns schont seine Geg­ner, soweit er sein eigenes Leben nicht bedroht sieht oder es die Situation nicht anders zuläßt (vgl.: Notwehr!).

Dem Leser wird hier ein sittlich einwandfreies Ideal geliefert, das gerade auf den Strafgefangenen beispielhaft wirkt. So kann die Lektüre der Werke Mays dem Kriminellen eine positive moralische Gesinnung vermitteln, um dadurch im Umgang mit der Gesellschaft, außerhalb der Gefängnismau­ern, zu bestehen. Ein erneutes Auftreten der Straffälligkeit bei dem Betroffenen, kann auf diese Weise erheblich gemindert werden.

Daß diese Behauptung in die Praxis umgesetzt wird, bestätigt die Tatsache, daß sich z.B. in der Gefängnisbibliothek des „Musterknastes“ Waldeck bei Rostock „der komplette Karl May“ befin­det. Somit sind die Werke des Autors jedem JVA-Insassen zugänglich, der sich wiederum von der pädagogischen Wirkungskraft der schriftstellerischen Inhalte Mays beeindrucken lassen kann.[22]

Roderich Haug bestätigt auf die Anfrage vom 30. Juni 1998, im Auftrag des Lektorats des Karl May Verlages in Bamberg, die Vermutung, daß positive Erfahrungen mit der Lektüre von Karl-May-Romanen als pädagogisches Hilfsmittel in Erziehungsanstalten und dergleichen, schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gesammelt wurden[23].

Im nun folgenden Hauptteil dieser Abhandlung soll die ereignisreiche Lebensgeschichte Karl Mays interpretiert werden. Ein Schwerpunkt ist hierbei die Erfassung erkennbarer, humanistischer Ten­denzen in der Entwicklungsphase des Schriftstellers. Die Entfaltung des „Edelmenschentums“ im Inneren Mays, zieht sich durch die gesamte „Laufbahn“ des gebürtigen Ernstthalers, auch während existentiell schwieriger Phasen. Seine Herkunft und diverse, den Geist, bzw. die Seele des jungen Karl Friedrich prägenden Erlebnisse in der Kindheit und als Heranwachsender zeigen auf, wie ein „Nährboden“ für Mays spätere enthusiastische Hinwendung zum seelischen „Innenleben“ (= Introversion) seiner eigenen Person, aber auch das Interesse für die Psyche fremder Individuen, geschaffen wurde. Diese Entwicklung hatte aber nicht nur positive Konsequenzen für den Webers­sohn. Eine sehr zweifelhafte Verurteilung des Ernstthalers aufgrund eines Diebstahls, führte zu einer Kette weiterer Straftaten. In diesem Zeitraum erlebte er eine krankhafte Persönlichkeitsspal­tung, die durchaus schizophrene Züge annahm. Der Verlauf dieser Krankheit und deren Hinter­gründe werden speziell erörtert. Im Zuchthaus erfuhr der inhaftierte May eine aus seinem Inneren resultierende Neuorientierung, die ihn auch dazu veranlaßte, sich mit Hingabe der Schriftstellerei zu widmen, um seine Erfahrungen der Menschheit weiterzugeben. Es wird beschrieben, wie dieser positive „Lebenswandel“ des später weltbekannten Autors vonstatten ging. Außerdem wird erörtert, welchen Einfluß diese sogenannte „Läuterung“ auf die geistige Grundhaltung und die seelische Verfassung Karl Friedrichs hatte.

Die o.g. Interpretation wird anhand der Auslegung der Selbstbiographie Karl Mays „Mein Leben und Streben“ vollzogen. Seine dort publizierten Empfindungen und Gedankengänge, mögen sie auch zum Teil sehr subjektiv erscheinen, sind die einzige Möglichkeit, die seelische Verfassung Mays wiederzugeben. Es ist keiner, sei er auch ein noch so guter „Kenner“ des Schriftstellers, in der Lage, dessen innere Empfindungen in diesbezüglicher Sekundärliteratur zu publizieren, um dann zu behaupten, seine Meinung über Karl May sei die wahrhaftige. Nachprüfbare Fakten lassen sich zwar durch intensive Forschung auf ihre Korrektheit überprüfen um somit einen objektiven Eindruck von Karl May zu erhalten. Die seelischen Vorgänge, die der Dichter sein eigen nennen darf, sind aber ausschließlich Interpretationssache und variabel deutbar. Außerdem liefert der Ver­fasser dem jeweiligen Leser oftmals nur eine unglaubliche, sensationelle Geschichte über den Au­tor, um die Umsatzzahlen seines Verlages zu steigern. Namen der Karl May diffamie­renden Literaten, sollen an dieser Stelle ausdrücklich nicht erwähnt werden.

Daraufhin folgt die Darstellung des „Edelmenschentums“ in Karl Mays Werken, unter Berücksich­tigung der sogenannten „Menschheitsfrage“. Es soll aufgezeigt werden, wie die Welt der Erzählun­gen des Schriftstellers aufgebaut und planmäßig gegliedert ist. Anhand veranschaulichender Bei­spiele aus den Erzählungen Karl Mays, wird erörtert, wie der Autor in didaktisch ausgezeichneter Weise dem Leser seine Vorstellung vom Ideal des „Edelmenschen“ vermittelt. Dabei wird auch die Symbolik erklärt, die jedem seiner Romane zu eigen ist. Diese ist nicht nur in seinen sogenannten „Alterswerken“ ab ca. 1900 nachzuvollziehen. Vielmehr sind alle seine Reiseerzählungen als Gleichnisse, symbolisch, bildlich zu nehmen. In diesem Kapitel wird außerdem diskutiert, inwiefern der eigene, reichhaltige Erfahrungsschatz des Schriftstellers eine Rolle in seinen Werken spielt.

Die Behauptungen der vorliegenden Abhandlung werden durch Vergleiche zu weltbekannten Phi­losophen, wie z.B. Hegel und Parallelen zu dem christlichen „Sprachorgan“, der Bibel untermauert. Die Philosophie des Edelmenschentums stellt hier praktisch einen „Leitfaden“ dar, der durch die gesamte Arbeit verläuft.

Im Schlußteil erfolgt eine knappe Zusammenfassung der Fakten, die in den einzelnen Kapiteln er­örtert wurden. Außerdem soll ein Fazit die Errungenschaften im Umgang mit den Werken und der Person Karl Mays hinsichtlich ihrer pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Effizienz betonen und einen diesbezüglichen Ausblick in die Zukunft bieten.

Die Literaturlage ist als „gut“ zu bezeichnen. Die Aufarbeitung Karl Mays Selbstbiographie und die Erfassung seiner persönlichen Gedankengänge, geschah anhand der Bearbeitung des Werkes „Mein Leben und Streben“ von 1910. Der Vortrag des Schriftstellers in Wien „Empor ins Reich der Edel­menschen!“ vom 22. März 1912 fand bei der Interpretation besondere Beachtung. Die exemplari­schen Beispiele aus den Erzählungen Karl Mays, entstammen hauptsächlich den „Gesammelten Werken“, herausgegeben vom Karl-May-Verlag in Bamberg.

Weiterhin beinhaltet diese Arbeit die Nutzung diverser historischer und zeitgenössischer Quellen in Form von Zeitungsberichten, Zeitschriftenartikel und Videodokumentationen. Ein dokumentierter Briefwechsel mit dem Karl-May-Verlag steht dem Autor dieses Werkes ebenfalls zur Verfügung.

Zum Thema bezogene Sekundärliteratur ist ebenfalls in ausreichendem Maße vorhanden.

Die Karl-May-Freunde stehen vor der großen Aufgabe, der Öffentlichkeit das Werk und die Person May noch näher zu bringen. Die breite Masse der Bevölkerung sollte auf diese Weise endlich von der pädagogischen Effizienz des o.g. Schrifttums überzeugt werden. Ein nicht zu unterschätzender Anteil der heutigen Gesellschaft erhält als Folge diffamierender Hypothesen, ein vollkommen fal­sches Bild von dem Volksschriftsteller und seiner Arbeit. Beispielsweise bezeichnet Wolfdietrich Schnurre die „weltanschaulichen“ Ansichten des Autors als „kitschig“[24]. Dieses anmaßende Urteil über Karl Mays Le­bensphilosophie hat natürlich „weder Hand, noch Fuß“.

Es ist aber durchaus richtig, daß die auf den ersten Blick als unsinnig erscheinende Behauptung der o.g. Person, auf einem reellen Hintergrund basiert. Wenn in der heutigen Generation ein Indivi­duum nicht konform mit bestimmten Handlungsweisen, bzw. diversen weltanschaulichen Ansich­ten der Gesellschaft ist und mit seinem Standpunkt sogar moralisch im Recht wäre, wird er von der Allgemeinheit oftmals als „nicht normal“ eingestuft. Andere Lebensformen und Verhaltensweisen werden nun einmal von der „leistungsorientierten“ und zum Teil intoleranten Allgemeinheit nicht anerkannt, insbesondere wenn es um die Begriffe „Freiheit“, „Humanität“ und „soziales Verhalten“ geht. Wenn nun Karl May introvertiert in seiner eigenen, moralisch perfekten Phantasiewelt lebt, besitzt ein anderes Individuum noch lange nicht das Recht, den Schriftsteller aufgrund seiner Über­zeugung abzuurteilen. Vielleicht bedarf es einer „reinen“ und unbedarften Person, die Gedanken­gänge und das Verhalten Mays richtig zu interpretieren. Es wäre auch empfehlenswert, wie schon in den Versen am Beginn der vorliegenden Arbeit dargestellt, die Worte Karl Mays „an und für sich“ zu lesen, um somit seinen Ansichten folgen zu können. Möglicherweise animiert diese Abhandlung den einen oder anderen Leser, die Vorgänge im Inneren Karl Mays, aber auch seine Werke, besser verstehen zu lernen. Wahrscheinlich erhält dieser dann eine ganz neue Meinung über den berühmten Autor.

II. Die ereignisreiche Lebensgeschichte Karl Mays als Grundlage für dessen humanistische Tendenzen

1. Die Kindheit des Schriftstellers - Gründe für dessen Introversion

Vor Beginn der eigentlichen Erörterung des o.g. Themas, sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich festgestellt, daß die nun folgende Bearbeitung fast ausschließlich auf Quellenstudium beruht, um die Gedankengänge Karl Mays, während deren Interpretation, nicht zu verfälschen. Sehr wohl stellt die Nutzung der diesbezüglichen Sekundärliteratur aber eine ausgezeichnete Maßnahme dar, die erarbeiteten Ausführungen, wenn notwendig, zu vertiefen oder zu ergänzen.

Die ausgesprochen gute Fähigkeit des Volksschriftstellers, sich in die Bedürfnisse und das Verlangen, aber auch die Fehler der Menschheit, hineinzuversetzen, beruht u.a. auf der Tatsache, daß Karl Friedrich ein auffallend introvertierter Mensch gewesen ist. Er besaß sozusagen die Wendung nach innen, zum Innerseelischen hin. Dieser Sachverhalt hatte seine Wurzeln in der frühen Kindheit des Schriftstellers. Seine Herkunft aus sehr ärmlichen Verhältnissen, das gespaltene Verhältnis zu seinen familiären Angehörigen, seine vorübergehende Blindheit, aber auch die prägenden Erfahrungen im Umgang mit der ihn umgebenden Gesellschaft, waren der Auslöser für den oben beschriebenen Seelenzustand Karl Mays.

„Ich bin der Sohn blutarmer Webersleute“[25] stellte der Autor in seiner „Beichte“ des Jahres 1908 unverblümt fest. Die Vorsilbe „blut“ gehört zu Mays häufiger Wortwahl in seinen Werken[26]. Damit hat es folgende, tiefergreifende Bewandtnis. Die Vorsilbe „Blut“ kann hier zur Betonung des nachfolgenden Adjektivs „arm“ stehen, um den damaligen, gesellschaftlichen Zustand der „Webersleute“ besonders hervorzuheben. In diesem speziellen Falle unterstreicht dieses unscheinbare Wort aber die „Lebensphilosophie“ Karl Mays und soll der Menschheit außerdem noch als eine unmißverständliche Warnung dienen. Für eine fremde Person zu „bluten“, sein Lebenselixier für andere zu lassen, bedeutet die Opferbereitschaft, das selbstlose Handeln einer Person, zum Wohle andere Individuen. Diese Bereitschaft, sich uneigennützig für andere einzusetzen, ist ein wichtiger Bestandteil des „Edelmenschentums“, dessen Bedeutung dem aufmerksamen Leser im Verlaufe dieser Abhandlung vermittelt wird. Somit beinhaltet das Adjektiv „blutarm“ die Aufopferung der scheinbar „mittellosen“ Individuen für die gesamte Menschheit. Auch Jesus von Nazareth, der Inbegriff des Wohltäters auf Erden, war ein scheinbar bettelarmes Wesen, besaß aber, von Gott ausgestattet, metaphysische Reichtümer. Er hatte während seiner Kreuzigung für die menschliche Rasse sein Blut vergossen, vielmehr hat er aus diesem Grunde sein Leben gelassen[27].

Doch nicht alle Menschen besitzen diese edlen Züge, wie der junge May schmerzvoll selbst feststellen mußte. Deshalb ist „Blut“ auch als Warnung zu verstehen. Es erinnert die wohlhabenden, gesunden Individuen an das Elend, das auch sie ganz plötzlich, sogar unverschuldet, erreichen kann. Vorsicht vor Hochmut und falschem Glanz, will dieses Wort außerdem noch sagen. Denn es existieren auch edelmütig erscheinende Individuen, die, unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit, Kapital aus einer Sache schlagen wollen, die eigentlich für das Gemeinwohl bestimmt ist.

Dennoch ist es unbedingt notwendig, die Armut und die schlechten Seiten des Lebens kennengelernt zu haben, um aus eigener, leidvoller Erfahrung, das „Gute“ zu begreifen und alltägliche bzw. selbstverständlich erscheinende Elemente schätzen zu lernen. Denn wo soll sonst der Maßstab angesetzt werden, etwas als „gut“ oder „schlecht“ zu beurteilen, wenn die konträre Situation dem Betrachter völlig unbekannt ist. Erst wenn ein Geschöpf Kenntnis von der entgegengesetzten Position genommen hat, respektive diese in voller Intensität miterlebt hat, besitzt es die nötige Reife, die Menschheit aufzuklären und, wenn möglich, zu einem Besseren zu bewegen.

Die Not in der vielköpfigen Familie May, wohnhaft in dem kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen Ernstthal, war sehr groß. Die Verpflegung der Sippschaft bestand zum Teil nur aus dem, was die Natur ihr bot. Getreideabfall und Kartoffelschalen wurden „erbettelt“, um die lebensnotwendige Nährstoffversorgung zu sichern.[28] Die Schlafräume der ärmlichen Unterkunft wurden von zahlreichen Mäusen und Ratten heimgesucht[29]. Die Pocken, eine unter Umständen tödlich endende Ansteckungskrankheit, brachte der leidgeprüften Familie noch mehr Pein. Eine von Karls Schwestern wurde durch die Blattern im Gesicht völlig entstellt.[30] Die Mutter Karls, Christiane Wilhelmine, mußte in Zusammenarbeit mit der Familie sogar zeitweise Leichenhandschuhe nähen, um ihre Kinder zu ernähren und mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen.[31] Das Leben am Rande des Existenzminimums und die Konfrontation mit den, das innere Wesen eines Menschen prägenden, leidvollen Erfahrungen, belasteten den Jungen physisch, als auch psychisch auf das Äußerste. Deshalb ist zu verstehen, warum May die Sehnsucht hegte, aus jener Tristesse aufzustreben, um sein persönliches „Seelenheil“ zu finden. Er war der festen Überzeugung, daß in jedem Geschöpf „Liebe, Licht und Wärme“ stecke, auch wenn es aus den tiefsten Niederungen der Armut entsprang. Ein jeder ist in der Lage diese positiven Attribute in seinem Inneren zu finden, wenn er das nur wirklich will. Besitzt das irdische Wesen erst einmal diese Eigenschaften, dann ist es reicher als der wohlhabendste Geschäftsmann. Denn er kann der Menschheit nun etwas geben, das von Herzen kommt. Die an Kapital reichen Personen werden ihr Leben lang immer von anderen abhängig sein. Denn können diese Individuen ihre zweifelhafte Macht ausüben, wenn sie das zu unterdrückende Gegenüber nicht haben? Von wem empfangen die Geschäftemacher ihr Geld, wenn nicht von denen, die für sie arbeiten? Der Eigentümer metaphysischen Reichtums in Form ethischer Werte ist aber fähig, seinem noch unwissenden Gegenüber, die ganze Fülle seiner diesbezüglichen Erfahrungen zu vermitteln und das macht ihn zum Gebenden. So wird er nur Glück und Zufriedenheit ernten.[32] Wie sich Karl diese, für ihn revolutionären Erkenntnisse zu Nutzen machte, wird im Verlauf dieser Abhandlung erläutert.

Der junge Karl May fand in seiner Familie exakt die konträre Situation wieder, die im vorigen Abschnitt beschrieben wurde. Sie wurde von Mutter und Vater verkörpert. Erstere stellte, sozusagen, die „gute Seele“ des Hauses May dar und zeichnete sich durch edelmenschliche Charakterzüge aus. Karl Friedrich schildert sie als eine „Märtyrerin“ und „Heilige“, die trotz der eigenen Armut die Opferbereitschaft aufbrachte, andere in einer selbstlosen Weise zu unterstützen, wenn diese selbst der Hilfe bedurften. Sie war ausgesprochen fleißig und handelte stets uneigennützig, meistens zum Wohle ihrer Kinder. Ihre eigene Hilflosigkeit wußte Christiane Wilhelmine, vor allem in Gegenwart ihrer Kinder, immer geschickt zu überspielen. Nur wenn sie sich alleine wähnte, äußerten sich ihre Ängste und Sorgen, in einer unkontrollierten Gefühlsregung.[33]

Heinrich August May, war, so der Schriftsteller im Originalton, „ein Mensch mit zwei Seelen“. Das Familienoberhaupt galt einerseits als ein sehr „weiches“ Geschöpf[34], was sich zum Teil auch darin äußerte, daß er wenig Konstanz in seinen Handlungen zeigte. Heinrich bevorzugte es, seinen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen, als lange Zeit schwer zu arbeiten und für den Familienunterhalt zu sorgen. Er bewies zwar im Handwerk recht viel Geschick, war aber unglücklicherweise eine sehr naive Person, die sehr unter ihrer Gutgläubigkeit litt. Beispielsweise zog er, während des Handels mit abgebrühten Kaufleuten, stets den Kürzeren und kam meistens, in Unkenntnis des Betrugs, mit minderwertiger Ware nach Hause. Diese Geschäftsuntüchtigkeit, beanspruchte die Familie finanziell sehr stark und brachte sie nicht zuletzt fast bis an den Ruin.[35]

Karls Vater war ein Mann, der von zwei total unterschiedlichen Charakterzügen geprägt war. Vor allem während seiner Arbeitszeit am Webstuhl (Heimarbeit!), war er ausgesprochen aggressiv. Da herrschte im Hause May absolute Ruhe. Ein jeder fürchtete sich, ihn mit irgendeiner Gefühlsregung zu provozieren. Dann hängte er den dreimal geflochtenen Strick, den er bezeichnenderweise den „birkenen Hans“ nannte, von seinem Arbeitsgerät ab, um sich in eindringlicher Weise Respekt zu verschaffen. Heinrich August drosch dann so lange auf sein Opfer ein, bis er keine Kraft mehr hatte. Karls älteste Schwester, ein äußerst liebes Mädchen, wurde sogar noch als Braut durch Ohrfeigen diesen Züchtigungsmaßnahmen unterworfen, nur weil sie von einem Spaziergang mit ihrem Bräutigam etwas später nach Hause kam, als ihr erlaubt worden war. Diese Züchtigungen endeten oftmals mit einer Reihe blauer Striemen am Körper, des von den Schlägen Betroffenen.

Hatte das „Familienoberhaupt“ aber endlich seine unliebsame Tätigkeit am Webstuhl beendet, wandelte es sich vom brutalen Schläger, zum fürsorglichen Familienvater. Er wirkte dann wie ein „Engel“, der keiner „Seele“ etwas zuleide tun konnte. Dennoch, so bezeugte May, hatte jeder auch in solchen, friedvollen Momenten, das Gefühl, als könnte es jedem Moment zu einem erneuten Jähzornausbruch Heinrichs kommen.[36]

Karl May lernte auf diese Weise zwei extreme Gegensätze kennen: die fürsorgliche Mutter, die sich stets für andere einsetzte, ohne bewußt eigenen Nutzen daraus zu ziehen und den primär jähzornigen und gewalttätigen Vater, der sich lieber zu seinem eigenen Wohle bereicherte, anstatt konstant für den Familienunterhalt zu sorgen.

Beinahe jedes Kind eignet sich im Laufe seiner Jugend zumindest eine der Charaktereigenschaften beider Elternteile an, in diesem Falle auch der junge Karl. Er verinnerlichte aufgrund dieser Erfahrungen, ein als „naiv“ zu bezeichnendes Rechtsempfinden, das seine seelische Konstitution nachhaltig prägte. Auf diese Weise wurde der Grundstein für Mays Neigung zum „praktizierenden Humanismus“ (im Prinzip das Edelmenschentum) gelegt, dessen Werte er, nicht zuletzt durch die barmherzigen Taten seiner Mutter, in so anschaulicher Weise vermittelt bekam. Vermutlich infizierte das negative „Vorbild“ des Vaters das Innere des Weberssohnes so, daß dessen verhängnisvoller Keim ihn unter anderem dazu verleitete, als junger Mann die verschiedenen Schlechtigkeiten der menschlichen Existenz voll und ganz auszukosten. Personen, die von so unterschiedlichen Charakteren geprägt wurden, neigen oftmals dazu, von einem Extrem in das andere zu fallen. Es ist oft nur ein kleiner Schritt, von der Praktizierung des positiven Gedankengutes eines Elternteils, bis zur Ausübung des bisher so verabscheuten Gegensatzes. Der Volksmund sagt dazu: „Zwei Seelen wohnen in einer Brust.“ So wurde auch bei May aus dem gesteigerten Rechtsempfinden ein „Unrecht“.

Infolge einer schweren Krankheit, erblindete Karl kurz nach seiner Geburt. Ganze vier Jahre mußte der Junge in völliger Dunkelheit leben, ehe er in Dresden durch eine Augenoperation die Sehkraft wiedererlangte.[37]

In dieser schweren Zeit war es die sogenannte „Ernstthaler Großmutter“, die dem Kind zur Seite stand und ihm „seelischen“ Beistand leistete. Den Behauptungen Karl Mays zufolge, war sie wohl diejenige Person, die den größten Einfluß auf seine Entwicklung ausgeübt hatte. Der Schriftsteller beschrieb sie als ein „tiefgründiges“ und „edles“ Wesen, aus dessen Innerem er die Kraft schöpfen konnte, um das Gedeihen seines eigenes „Ichs“ voranzutreiben. Denn diese alte Frau war, so Karl May, selbst „Seele, nichts als Seele.“[38]

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was der Begriff „Seele“ denn eigentlich im philosophischen Sinne bedeutet. Gewiß gibt es mehrere Ansätze, diesen Ausdruck zu erklären. Dennoch ist Karl Mays sogenanntes „Droschkengleichnis“ wohl eine der anschaulichsten Methoden, hierfür eine Definition zu liefern. Das menschliche Individuum wird da mit einer Kutsche gleichgesetzt. Der Wagen dieses Gefährts stellt den Leib des Menschen dar. Die Beschaffenheit dieses Vehikels kann unterschiedliche Formen aufweisen, genau so wie der Körper eines jeden Erdenbürgers nie dem anderen gleicht. Das Pferd, das den Karren zieht, weist, je nach Abstammung, unterschiedliche Charaktereigenschaften auf, es symbolisiert das Triebleben einer Person. Der Leib an sich ist tot, solange, bis das Pferd vorgespannt wird. Nun könnte sich die Droschke eigentlich in Bewegung setzen, doch würde sie, durch den Urtrieb des Gaules gesteuert, ziellos durch die Gegend fahren. Zur Steuerung der Droschke ist also ein Kutscher erforderlich, der sinnbildlich das Triebleben (die „Anima“) eines Menschen „zügelt“. Damit ist er in der Lage, das Gefährt (im Falle einer möglichen Inbetriebnahme) in eine noch unbestimmte Richtung zu lenken. In diesem Zusammenhang ist vermutlich die sogenannte „moralische Gesinnung“ zu einem großen Teil für die Formung, bzw. die grundlegene Kontrolle des Urtriebs verantwortlich. Der Kutscher, mit all seinen charakterlichen Eigenschaften, das ist die Seele. Dennoch ist eine Fahrt zu diesem Zeitpunkt noch nutzlos, da das Ziel der imaginären Reise noch nicht bekannt ist. Eine vage Richtung alleine genügt noch nicht, um der „Exkursion“ einen wahrhaftigen Sinn zu geben. Diese Aufgabe (die sogenannte Zielzuweisung) übernimmt der Fahrgast, der, ebenfalls in allen seinen charakterlichen Eigenschaften, den Geist darstellt. Nur durch die Vereinigung des Geistes mit der Seele, wird der angestrebte Zweck (die Vollkommenheit) des Ganzen erreicht. Erst dann ist der Erdenbürger effizient handlungsfähig, die Droschke kann ihre Fahrt beginnen. Der Kutscher verdient so lange an den Fahrgästen, bis er eine gewisse Selbstständigkeit erreicht hat. Genau so „adelt“ und bereichert der Geist die Seele, bis diese selber Geist wird. Ist dieser Schritt vollzogen, hat das Wesen die Unabhängigkeit von allem irdischen Dasein erreicht und ist nun ein wesentlicher Bestandteil eines Miteinanders, fernab jedweder weltlicher Zweckabhängigkeit.[39]

Die Großmutter des heranwachsenden May brachte die idealen Voraussetzungen mit, den kindlichen Trieb ihres Enkels zu bändigen, um dem Jungen, gleich dem eben genannten Kutscher, die vage Richtung seines zukünftigen Lebensweges zu weisen. Ihre Vergangenheit weist eindeutige Parallelen zur derzeitigen Existenz der Familie May auf. Sie war ebenfalls in tiefster Not geboren. Außerdem mußte sie ohne Rücksicht auf ihr eigenes Befinden, ihren schwerkranken Vater ernähren und pflegen. Dennoch meisterte sie ihr Schicksal mit Bravour. Christiane Wilhelmine besaß nämlich einen Charakterzug, der durchaus typisch für Menschen ärmerer Bevölkerungsschichten ist. Ein Großteil dieser armen Kreaturen ist so fest im Glauben an die Erlösung (im biblischen Sinne), daß sie in keiner noch so ausweglosen Situation die Hoffnung verlieren. Dies resultiert vermutlich aus der steten und intensiven Auseinandersetzung mit dem persönlichen Leid, ohne daß der Betroffene jedoch tatsächlich mit seinem „Schicksal“ zu hadern beginnt. Trotz ihres Daseins am Rande des Existenzminimums, blicken jene Individuen gewöhnlich mit Zuversicht in die ferne Zukunft. Dieser ausgesprochen große Optimismus gibt den bedauernswerten Wesen die Kraft, trotz der widrigen Lebensumstände durchzuhalten und weiter um die Sicherung ihres kargen Daseins zu kämpfen. Karl May bekräftigte diesbezüglich, daß ein jedes Individuum, das fest und zuversichtlich im Glauben ist, den „Erdenjammer“ hinter sich geschoben hat und nur noch „Sonnenschein“ und „Gottesfrieden“ vor ihm liegen. Letzteres bedeutet praktisch den sinnbildlichen Aufstieg von der irdischen Tristesse, in eine metaphysisch höhere Sphäre: dem imaginären Reich der Edelmenschen.[40] Nur die wirklich notleidenden Menschen (nicht nur abhängig vom materiellen Besitz) sind im Allgemeinen noch dazu in der Lage, so richtig auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände zu „hoffen“. Ein vermeintlich wohlhabendes Wesen wird aufgrund seines materiellen „Reichtums“ weniger das brennende Verlangen im Inneren besitzen, nach einem „höheren“, besseren Dasein zu streben. Es ist auch so mit den Umständen seiner bisherigen Existenz recht zufrieden. Hat aber das bedürftige Geschöpf einmal den o.g. spirituellen Schritt vollzogen, ist es, trotz seiner sichtbaren „irdischen“ Armut, im Besitz eines Reichtums, der den Wert materieller Güter bei weitem übersteigt. Es verfügt über die Freiheit des Geistes, respektive der Seele von jeglicher irdischen Zweckmäßigkeit. Damit wird jenes Individuum zum Bestandteil eines großen „Miteinanders“ - einer Gemeinschaft von Existenzen die praktisch in einem ganzheitlichen „Gefüge“ leben und sich dementsprechend gegenseitig ergänzen, ohne sich jedoch in eine Abhängigkeit des Gegenübers zu begeben (vgl. hierzu das „Droschkengleichnis“).

Die o.g. positiven Eigenschaften waren auch Mays Großmutter zu eigen. Sie entsprachen exakt den Vorstellungen, die auch der junge Karl in seinem tiefsten Inneren hegte.

Im Rahmen allabendlicher „Lesestunden, die im Hause May abgehalten wurden, fand ein Buch besondere Beachtung. Der Titel des Werkes lautete „Der Hakawati“ (arabisch: Märchenerzähler). Es beinhaltete mehrere aufschlußreiche orientalische Märchen. Über die genaue Herkunft des Werkes kann im Prinzip nur spekuliert werden. Vermutlich handelte es sich hierbei aber nur um eine äußerst gelungene Erfindung Mays, als Konsequenz dessen ausgeprägter Phantasie und Einbildungskraft.[41] Die populärste Erzählung in jener Sammlung diverser Geschichten, war ohne Zweifel „Das Märchen von Sitara“. Dieses Gleichnis liefert dem Leser ein ausschließlich auf ethischen Gesichtspunkten beruhendes Bild der Erde. Anhand einer bis ins letzte Detail hervorragend durchdachter Symbolik, wird hier u.a. eine perfekte Definition des „Edelmenschentums“ dargestellt. Dessen Bedeutung sollte dem aufmerksamen Leser anhand des intensiven Studiums der vorliegenden Abhandlung offensichtlich werden.[42] Christiane Kretzschmar, so hieß Mays Großmutter mit bürgerlichem Namen, kannte diese Erzählungen alle. Sie war in der Lage, den Inhalt der Werke beinahe wörtlich zu rezitieren. An manchen Stellen des Buches veränderte sie jedoch absichtlich die Struktur des Geschehens, ohne den Kern der Aussage im wesentlichen zu beeinflussen. Auf diese Weise wurde der spirituelle Sinn und damit die eigentliche Bedeutung der Lektüre dem interessierten Publikum intuitiv nahegebracht.[43]

Christiane Kretschmar hatte die recht seltene Begabung, den Stoff ihrer Erzählungen äußert anschaulich wiederzugeben. Ihre Schilderungen waren keine banale Aneinanderreihung von Wörtern und Sätzen. Die Großmutter gab den Inhalt der Geschichten so realistisch und plastisch wieder, daß sich jeder Zuhörer mit der Handlung vollkommen identifizieren konnte. Ob sie nun aus der Bibel, oder aus den orientalischen Märchen schöpfte: als Fazit ergab sich stets der Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, beziehungsweise der Sieg des „Guten“ über das „Böse“ (Vor allem letztere Feststellung beinhaltet vermutlich nicht primär die Suggestion positiven Gedankengutes an ihre Zuhörer, sondern ihre tatsächliche Überzeugung, resultierend aus dem Inhalt des Lesestoffes.). Christiane machte ihre Zuhörer darauf aufmerksam, daß das irdische Geschehen nur ein Gleichnis sei, da der Ursprung aller Wahrheit nicht im niederen, sondern nur im höheren Leben liege.[44] Dieser Sachverhalt ist folgendermaßen zu erklären. Die ganzheitliche Erkenntnis der sogenannten „Wahrheit“ ist vermutlich nur dann möglich, wenn die metaphysische Einigung des Geistes mit der Seele im Inneren eines Menschen schon vollzogen wurde (das sogenannte Prinzip der Vollkommenheit der inneren Kräfte). Als Konsequenz dieses perfektionierten „Bewußtseins“, verschwinden die imaginären Grenzen der verschiedenen (zum Teil im vorliegenden Text genannten) allzu weltlichen Gegensätze. Jegliche weltliche Substanz erscheint dann offensichtlich als Bestandteil eines großen Gefüges, in dem die o.g. profanen Differenzen gänzlich bedeutungslos werden. Die Ganzheit der scheinbar konträren Materie stammt generell aus einem überdimensionalen „Schmelztiegel“, der als Universum bezeichnet wird. Gleich einem vorherbestimmten und unbeeinflußbaren Kreislauf, wird sie in unbestimmter Zeit auch dorthin wieder verschwinden (vgl. in diesem Zusammenhang die Wechselbeziehung zwischen Himmel und Erde, vor allem hinsichtlich der „Evolutionstheorie“!). Im praktischen Leben ist die wahrhaftige Erkenntnis jenes Umstandes oftmals mit einem Rückschritt der persönlichen Entwicklung gleichzusetzen, insbesondere unter Berücksichtigung der ökonomischen Aspekte des Einzelnen. Der Weg zur o.g. Einsicht erfordert zumeist große Opferbereitschaft des Betroffenen und ein Verzicht auf jegliche irdische Reize, um auf diese Weise den diesbezüglichen, sogenannten „inneren Höhenflug“ der metaphysischen Kräfte zu aktivieren (dies ist grundsätzlich die Voraussetzung für den Eintritt in eine höhere, spirituelle Sphäre). Ist aber die Barriere der weltlichen, bzw. materiellen Versuchung erst einmal beiseite geschafft, hat das betreffende Wesen den letzten herausragenden Sieg über die irdisch zweckgebundene Knechtschaft und Selbstsucht erreicht und ist somit prädestiniert in das besagte Reich der vollkommenen Geschöpfe aufzusteigen.

Karl May war überzeugt davon, daß Christiane ihre zum Teil phänomenalen Konklusionen nicht als Konsequenz einer stark ausgeprägten, rationalen Auffassungsgabe zog. Er vermutete vielmehr angeborene, vermutlich göttliche Gnade, bzw. Genius als den wesentlichen Faktor, der seiner Großmutter diese Gabe bescherte. Infolgedessen erschien May die Wahrhaftigkeit des o.g. Sachverhaltes als sehr glaubhaft.[45]

Neben dem „Märchen von Sitara“, war Karl May besonders von einer Erzählung ergriffen, die „von der verloren gegangenen und vergessenen Menschenseele“ handelte. Der sensible Junge hatte Mitleid mit diesem verschollenen „Wesen“. Er saß oft stundenlang da und grübelte angestrengt über den Verbleib der armseligen Kreatur nach. Als Konsequenz seiner kindlichen Unbefangenheit setzte sich der Weberssohn selbst das Ziel, jene Kraft aus dem Inneren eines Menschen unter allen Umständen zu finden.[46] Diese kleine Episode aus der Kindheit ist ein richtungsweisender Fingerzeig, für seine Bestimmung in der fernen Zukunft. Natürlich konnte der Ernstthaler die genaue Bedeutung jenes Sachverhaltes, infolge seiner Unreife zu dem Zeitpunkt noch nicht begreifen. Erst später erkannte Karl May offensichtlich die ihm obliegende Befähigung, die Psyche eines fremden Individuums vom „innerseelischen“ Standpunkt aus zu beurteilen. Die o.g. Begebenheit schuf in jenem Kontext praktisch den geeigneten „Nährboden“ im Kern Mays, der eine eminent wichtige Voraussetzung für die Entwicklung seiner erkennbaren Begabung darstellte.

Eines Tages offenbarte die Großmutter schließlich ihrem Enkel, daß er dieses „bedauernswerte Geschöpf“ sei, von dem die Erzählung handelte. Sie prophezeite Karl, daß dessen „verlorene“ Seele (vgl. dazu Kapitel 2) sicher zu sich selbst zurückfinden werde.[47] Wir wissen diesbezüglich, daß May zu einem späteren Zeitpunkt - trotz der damalig extrem widrigen Lebensumstände - die Rückkehr zu seinem „Ich“ meisterte. Diese Erfahrung übermittelte er später als Autor dem Leser seiner Werke, um dessen (eventuell) „verirrte“ Seele zu rehabilitieren und damit dem Betroffenen einen Neuanfang zu ermöglichen. (vgl. hierzu u.a. die Einleitung der vorliegenden Abhandlung). Die konkreten Umstände des o.g. Sachverhaltes werden dem Leser verständlich, wenn er aufmerksam Mays innere Entwicklung im Laufe seines Lebens verfolgt (vgl. hierzu die folgenden Kapitel der vorliegenden Abhandlung!).

In diesem Zusammenhang schwor Christiane auf eine Instanz, die den Menschen während seines irdischen Daseins begleitet und seine Geschicke lenkt - Gott[48]. Gemäß der Theologie Calvins hat die absolute Allmacht und Gerechtigkeit des „Schöpfers“, von Uranfang an jeden Einzelnen zur Gnade oder zur Verdammnis vorherbestimmt (= Prädestination)[49]. Die sogenannte „Vorsehung“ ist damit praktisch in der Lage, der Existenz eines Betroffenen eine von Gott vorherbestimmte Wendung zu geben, unabhängig von dem Gefüge der diversen Kräfte in dessen Inneren. Auch im Leben Mays spielte das Schicksal eine wichtige Rolle, wie im Laufe der Abhandlung noch festzustellen sein wird. In seinen Werken betont der Schriftsteller ausdrücklich die allgegenwärtige Präsenz der Prädestination, die unabwendbar das irdische Dasein des Menschen diktiert.[50]

Infolge seiner Blindheit konnte Karl die verschiedenen Personen, bzw. Gegenstände nicht visuell erfassen, um sich von ihnen ein plastisches Bild zu machen, sondern sie nur fühlen, hören und auch riechen. Beispielsweise wußte das Kind nicht, wie ein Tisch, ein Hund oder gar ein Mensch wirklich aussieht. Er konnte sich in seinem Inneren stets nur ein theoretisches Abbild von dem besagten Gegenüber schaffen. Diese „Figur“ bezeichnete der Schriftsteller als „seelisch“. Bei einer Unterhaltung vernahm der Blinde nicht die Wortphrasen, in direktem Zusammenhang mit dem real existierenden Körper, sondern einfach nur die Eindrücke, resultierend aus dem Inneren seines „Partners“. Das äußere Erscheinungsbild war für ihn in dieser Situation bedeutungs- und nutzlos. Für eine explizite Beurteilung des Betreffenden, reichte Karl ein „Blick“ in dessen Seele. Gemäß eigener Aussage, war die o.g. Fähigkeit Karl Mays lebenslanger Begleiter. Nicht zuletzt diesem Umstand ist es zu verdanken, daß der Autor den unwiderstehlichen Drang verspürte, Zeit seines Lebens danach zu streben, das wahrhaftige Wesen des Menschen (dessen Seele) zu verstehen und zu begreifen. Jene Begabung war wiederum Vorraussetzung, für eine hervorragende, emotionsgeladene Darstellung der Charakterzüge seiner Protagonisten in den verschiedenen Erzählungen. Daraus resultierten dann die einfühlsamen Schilderungen von Schicksalen bzw. die allgegenwärtige Präsenz des „Edelmenschentums“, das das „höchste Gut“ seiner Werke repräsentierte.[51]

Das intensive seelische Empfinden wird zumeist nur sehr wenigen, vor allem aber den introvertierten Erdenbürgern direkt bewußt. Überwiegend die erblindeten Individuen sind es, die in einer regelrechten „Abhängigkeit“ zu jenem psychischen Wahrnehmungsvermögen stehen. Aufgrund ihrer fehlenden Sehkraft, entwickeln sich deren andere, nicht visuellen Sinne, in einem viel größeren Ausmaß, als dies bei einem gesunden Menschen der Fall wäre. Diese ersetzen praktisch das Augenlicht. Da die blinde Person aber nicht fähig ist, sich eine plastische Darstellung von ihrer Umwelt zu machen, versucht sie, von ihrem Gegenüber ein Abbild in ihrem Innersten zu schaffen (s.o.). Dabei erkennen die betroffenen Menschen zum Teil Eigenschaften und Werte an dem Geschöpf oder an dem Gegenstand, die einem Gesunden in einer ähnlichen Situation nie bewußt würden. Dies beruht auf der Tatsache, daß der Sehende sich, hinsichtlich seines Urteils, zu sehr auf visuelle Eindrücke verläßt. Der Mensch ohne Augenlicht ist in der Lage, sich in ein ihm fremdes Individuum praktisch „hineinzudenken“. Er kann dessen Charakter oder dessen Absichten, nur durch den Gebrauch der ihm noch verbliebenen Sinne, begreifen und dies, ohne das Wesen jemals gesehen zu haben. So kreiert er eine eigene Vorstellung von seinem Gegenüber, die oftmals eher der Wirklichkeit entspricht, als die Darstellung eines gesunden Menschen. In diesem Zusammenhang beschreibt der Schriftsteller Karl May, in dem Roman „Der Weg zum Glück“, vortrefflich sein eigenes Schicksal aus der Kindheit: „Das Gehör, das Gefühl, der Geruch, der Geschmack. Meine Ohren sind, seit ich blind bin, so scharf geworden, daß ich alles hör, - auch, was ich nicht hören soll. Ich erkenn an der Stimm den Menschen, durchschau was er denkt.“[52]

Die o.g. Fähigkeiten bleiben den meisten Betroffenen erhalten, auch wenn sie, z.B. durch eine Operation, wieder ihre Sehkraft erlangt haben. Jener Sachverhalt trifft auch auf Karl May zu.

In seiner Kindheit verbrachte Karl Friedrich die meiste Zeit bei seiner Großmutter. So konnte ihr positiver Einfluß auf sein Seelenleben besonders zur Entfaltung kommen. Sie ersetzte dem blinden Jungen praktisch das ihm fehlende Augenlicht, so daß er sich von ihrer Allgegenwart und ihrem Tun lenken ließ. Dies führte soweit, daß er sich ihre ganze Vielfalt herausragender Eigenschaften verinnerlichte und ihr zunehmend ähnlich wurde.

[...]


[1] Zitiert nach Karl May, Gerechtigkeit für Karl May!, hrsg. von Ludwig Gurlitt, in: Lothar Schmid, „ICH“. Karl Mays Leben und Werk, Bamberg 1995/39, S.506.

[2] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.232-298.

[3] Claus Roxin, Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1970, Hamburg 1970, S.11-46.

[4] Lothar Schmid, „ICH“. Karl Mays Leben und Werk, Bamberg 1995/39, S.9-12.

[5] Lothar Schmid in: Karl May - Eine unendliche Geschichte. Ein Film von Uta Kolano, mdr/Arte 1996.

[6] George L. Mosse, Der nationalsozialistische Alltag, Frankfurt am Main, 1993/3, S.10

[7] Ekkehard Bartsch, Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1970, Hamburg 1970, S.50,51.

[8] Karl May - Eine unendliche Geschichte. Ein Film von Uta Kolano, mdr/Arte 1996.

[9] Karl May - Eine unendliche Geschichte. Ein Film von Ute Kolano, mdr/ Arte 1996.

[10] z.B. Roland Schmid, Der Mir von Dschinnistan, Bamberg 1967, S.500, bzw. Roland Schmid, Winnetous Erben, Bamberg 1960, S.263, 264.

[11] E. A. Schmid, Old Surehand. Erster Band, Bamberg 1949, S.199, 200.

[12] TV-Mitschnitt der Deutschen Wochenschau(1964).

[13] Karl May - Eine unendliche Geschichte. Ein Film von Uta Kolano, mdr/Arte 1996.

[14] Lothar Schmid,“ICH“. Karl Mays Leben und Werk, Bamberg 1995/39, S.9.10.

[15] Karl May - Eine unendliche Geschichte. Ein Film von Uta Kolano, mdr/Arte 1996.

[16] Lothar Schmid, “ICH“. Karl Mays Leben und Werk, Bamberg 1995/39, S.10, 11.

[17] Karl May - Eine unendliche Geschichte. Ein Film von Uta Kolano, mdr/Arte 1996.

[18] Lothar und Bernhard Schmid, Karl-May-Atlas, Bamberg 1998/2, S.14, 15.

[19] E. A. Schmid, Old Surehand. Zweiter Band, Bamberg 1949, S.419.

[20] Roland Schmid, Soll die Jugend Karl May lesen?, Bamberg 1967.

[21] Abitur-Jahrgang 1999 LMG Königsbach, Abicalypse Now ‘99, Königsbach-Stein 1999, S.228, 229.

[22] Zur Strafe fernsehen, in: FOCUS 15(1997), S.119.

[23] Roderich Haug, Antwortbrief vom 08.Juli1998, auf die Anfrage vom 30.Juni1998, Bamberg 1998.

[24] Roland Schmid, Soll die Jugend Karl May lesen?, Bamberg 1967, S.29.

[25] Zitiert nach Karl May, Meine Beichte, Radebeul 1908, S.1.

[26] z.B.: in „Der Wurzelsepp“, S.269.

[27] Evangelische Kirche in Deutschland und Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1985, S.38 - 41 (NT.).

[28] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.39, 40.

[29] Ebenda, S.13.

[30] Ebenda, S.19.

[31] Ebenda, S.39.

[32] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.37, 38.

[33] Ebenda, S.9, 18-20.

[34] Ebenda, S.9.

[35] Ebenda, S.10, 17-18.

[36] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.10, 11.

[37] Ebenda, S.16, 20.

[38] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.20.

[39] Auszug aus Karl Mays Vortrag zu Lawrence, Massachusetts, am 18. Oktober 1908.

[40] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.20, 21.

[41] Lothar Schmid, „ICH“. Karl Mays Leben und Werk, Bamberg 1995/39, S.46, 47.

[42] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.1 - 7.

[43] Ebenda, S.21, 22.

[44] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S. 29,30.

[45] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.30.

[46] Ebenda, S.30.

[47] Ebenda, S.30, 31.

[48] Ebenda, S. 31.

[49] Gerhard Bonwetsch u.a. (Bearb.), Grundriß der Geschichte. Band II. Vom Ende der Völkerwanderung bis zum Ende des Absolutismus, Stuttgart 1956, S.116.

[50] z.B.: E. A. Schmid, Zobeljäger und Kosak, Bamberg 1951, S. 500,501.

[51] Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S.31.

[52] Roland Schmid, Der Wurzelsepp, Bamberg 1960, S.499.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Karl May als Pädagoge
Hochschule
Universität Karlsruhe (TH)  (Institut für Geistes- und Sozialwissenschaften)
Note
gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
90
Katalognummer
V78972
ISBN (eBook)
9783638877893
ISBN (Buch)
9783638928090
Dateigröße
814 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Karl, Pädagoge
Arbeit zitieren
Magister Artium Michael Krinzeßa (Autor:in), 2001, Karl May als Pädagoge, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78972

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