Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" – an der Schwelle zum modernen Subjekt


Hausarbeit, 2003

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Teil I. Literatur und Kriminalität - Allgemeine Betrachtungen
Die Kriminalgeschichte- zwischen den Diskursen
Öffentlichkeit
Leserbildung
Von der Tat zum Täter
Der Täter- das Ausnahmeexemplar seiner Gattung
Schwelle I
Schwelle II
Agamben und die Ausnahme

Teil II: Subjekt und Souveränität- zwischen den Ordnungen
Topographie
Hin und Her
Bergab
Ins Außen
Paradox der Souveränität
Der Bann
Der Ort der Souveränität
Nach hinten
Nach vorn
Back to reality
Aussichten
Kreuzung
Ganz modern

Fazit

Literaturverzeichnis

Teil I. Literatur und Kriminalität - Allgemeine Betrachtungen

Die Kriminalgeschichte- zwischen den Diskursen

Der Verbrecher aus verlorener Ehre von Friedrich Schiller[1] kann in das Genre der Kriminalgeschichten eingeordnet werden.

Der Gegenstand dieser Erzählungen, bzw. handlungsleitendes Motiv ist Kriminalität. Dieses Phänomen ist Bestandteil und Resultat der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Dem Rechtsdiskurs kommt, als Fachdisziplin, die viel und detailliertes Wissen über das Phänomen der Kriminalität produziert, verwaltet und institutionalisiert, ein hegemonialer Status in der Konstruktion von Kriminalität gegenüber anderen Diskursen zu, die ebenso ihren Anteil daran haben. Eine Schnittstelle zu dem literarischen, paraliterarischen und publizistischen Diskurs stellt der simple Befund, dass in der Strafrechtspflege, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte das „Erzählen“ eine Rolle spielt. Es finden sich zahlreiche Typen von „Erzählungen“, Schilderungen der Zeugen, der Delinquenten, die Erzählung der Biographie des Inkriminierten oder des Tathergangs, die funktionalisiert, tradiert und institutionalisiert werden. Sowohl der Form als auch der Inhalt dieser Erzählungen ist durchzogen von Mustern und Darstellungsweisen, die dem öffentlichen Diskurs, darunter auch dem literarischem, entstammen. Der juristische Diskurs orientiert sich ständig an dem, worauf er sich richtet. So ist die Bedeutung von einem Begriff wie "Gerechtigkeit" kulturellem, soziologischen und historischen Veränderungen unterzogen, zudem nimmt hat er, je nachdem in welchem Kontext und in welcher Funktion er Anwendung findet, andere Bedeutung. Wolfgang Naucke weist auf die Differenzen zwischen einer poetischen Gerechtigkeit und dem Fach-Strafrecht hin.[2]

Vorausgreifend wird hier eine Annäherung der beiden Vorstellungen in dem Bewusstsein und Gedankengut der Aufklärung postuliert. Die Entdeckung der Vernunft als Instrument zur Selbstbefreiung bringt eine Verfestigung der Werte mit sich. Moralisches Handeln wird zu sittlichem Handeln, das transzendentalnotwendig an die Freiheit gebunden ist. Die Freiheit des mündigen Bürgers ist es, sich vernunftgemäß sittlich zu verhalten. Solange Vernunft einen Parameter a priori meint, ist sie allgemeingültiges sinnstiftendes Prinzip, aus dem auch die Bedeutung von Tugend und Laster hervorgehen. Die Idee vom sittlichen Staat enthält diese Voraussetzungen. Wenn die Vernunft zwingend tugendhaft ist, und alle Menschen immer Zugang zur Vernunft haben, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Mündigkeit des einzelnen Bürgers eine äußere Gesetzgebung überflüssig macht.

In literarischen Darstellungen kann der juristische Diskurs ergänzt, kompensiert oder kritisch überschritten werden. So wird für den Verbrecher aus verlorener Ehre die detaillierte Präsentation des Täters in seiner Herkunft und in seinem sozialen Umfeld, so wie die seiner Motivationen, gerne in Bezug gesetzt zu der zeitgenössischen Rechtsprechung, der es nur um die Feststellung des strafbaren Tatbestands geht.[3] So heißt es im Text: "Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Beklagten."[4] Der Erzähler hingegen legt in seiner literarischen Schilderung der wahren Begebenheit gerade auf die Darstellung der Psyche und der Herkunft des Täters besonderen Wert. Für das Verhältnis von Literatur und Rechtsdiskurs bedeutet das, dass die literarische Darstellung von Kriminalität sich nicht auf eine Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrungen beschränkt, also sich bestimmten Vorgaben gegenüber reaktiv verhält, sondern auch selbst kollektive Wahrnehmung und Wertung von Kriminalität beeinflusst. So kann die literarisierende Darstellung von Verbrechen von Schiller über P. J. A. Feuerbach bis zum Neuen Pitaval als Medium für einen vortheoretischen und unspezifischen Wissenszusammenhang für die Disziplin Kriminologie gesehen werden, die sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts voll etabliert.[5]

Obwohl der Verbrecher aus verlorener Ehre in vielen Merkmalen dem Genre der Kriminalgeschichte entspricht, hebt die Erzählung sich doch von anderen ab. Tatsächlich ist es nicht zu übersehen, dass sich viele Kriminalgeschichten, die im Zusammenhang zu Schillers Erzählung situiert sind, neben ihr recht ungeschliffen ausmachen, in ihnen ist das Primat des Inhalts vor der Form unüberlesbar ist. Damit ist auch gleich ein entscheidendes Merkmal der Kriminalgeschichten genannt: die Authentizität. Der Stoff des authentischen Kriminalberichtes sind außergewöhnliche und unglaubliche Verbrechen. Die Sensationalität steigert sich durch die betonte Authentizität des Stoffes, so sehr, daß eine künstlerische Verdichtung unwichtiger wird.

Öffentlichkeit

Die Zeit der Spätaufklärung ist auch die Zeit in der die Massenmedien ihren Ursprung haben. Sie stellen eine Öffentlichkeit her, die als öffentliche Meinung, einen zentralen Stellenwert in der Konzeption einer demokratischen Gesellschaftsordnung einnimmt.[6] Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre situiert sich klar als Teil dieser neuen Publizität. Zunächst einmal durch die Publikation in dem Volksmedium „Zeitschrift“, und zwar, bekanntermaßen, in Schillers eigener Zeitschrift, der „Thalia“ im Jahr 1786. In diesem Projekt spiegelt sich Schillers eigene Position. Er sieht sich als Dichter und in dieser Eigenschaft zugleich als öffentliche Person. Dem Wunsch nach Unabhängigkeit des eigenen Künstlertums korreliert die Sichtweise der eigenen Aufgabe als eine öffentliche. Der positive Begriff einer Öffentlichkeit, die die Freiheit des Bürgers gewährleisten soll, geht Hand in Hand mit der Vorstellung einer Emanzipation des Individuums von jeglicher höheren Instanz durch Bildung, wobei Bildung hier unspezifisch und ideal als eine Ausbildung der Vernunft zu verstehen ist.

Schiller versteht sich als Volksdichter und mit dem Anspruch, mit jedem seiner Lieder allen Volksklassen Genüge zu tun, liegt er voll im Trend der Zeit. So stellt er sich die Aufgabe, Kunst zu schaffen, die nicht nur an die gebildete Elite, an deren Fortschritt und Entwicklung Schiller unbestreitbar interessiert ist, sondern an alle Glieder der Nation gerichtet ist.[7] Die republikanische Idee von prinzipieller Gleichheit spiegelt sich hier ebenso wider, wie die maßgeblich von Hobbes geprägte Vorstellung der Gesellschaft als einem Körper, der sich aus ihren Teilhabern, den Bürgern nicht nur zusammensetzt, sondern sich auch über sie definiert.

Leserbildung

Für die Umsetzung der Bildungsintention nennt Schiller die geeignete Wahl des Stoffes, nämlich das Allgemeinmenschliche, als auch dessen Simple Bearbeitung als Voraussetzungen.

Die didaktische Intention des Textes kann nur erreicht werden, wenn der Stoff eine Identifikation des Lesers mit dem Geschehen zuläßt. „Die Belehrung geht mit der Beziehung verloren, und die Geschichte, anstatt eine Schule der Bildung zu sein, muß sich mit einem armseligen Verdienste um unsre Neugier begnügen.“[8]

Im Genre der Kriminalgeschichten drückt sich die Nähe zum Alltag des Lesers, die ein hohes Identifikationspotential gewährleistet, in der Austauschbarkeit von Produzent und Rezipient aus. Die Geschichten behandeln wahre Begebenheiten, sie handeln vom Bauern, der aus Geiz seine Söhne erschlägt, der Liebende, der aus Verzweiflung zum Mörder wird. Die Sensationalität der Fälle nährt sich von ihrer Authentizität, thematisches Leitmotiv für die Auswahl des Stoffes ist der Konflikt zwischen moralischer und rechtlicher Ordnung, in dem sich gleichermaßen der Verbrecher als auch der zum Urteil aufgerufene Leser befinden. Im Gegensatz zur idealisierten literarischen Fiktion, in der der Held immer besser ist als man selbst und der Böse immer schlechter, besteht hier bewußte Nähe zwischen dem realen Leben und seiner literarischen Aufbearbeitung. Die Identifikation des Lesers ist guter Boden für die Behandlung moralischer Probleme, die schulend sein soll. Schiller problematisiert die moralisch-didaktische Intention in der Vorrede zu seiner Erzählung problematisiert. Seine Fabel ist bereits thematisch unterrrichtend „für Herz und Geist“, voller didaktischer Erfolg, den „heilsamen Schrecken{s}, der die stolze Gesundheit warnet“[9] garantiert aber erst die kunstfertige Umsetzung des formalen Programms. Es besteht, bekanntermaßen, darin, den Held kalt werden zu lassen, wie den Leser, um, über dessen Identifikation mit dem Menschen im Verbrecher, zu einer freien Reflexion über den schmalen Grat der Tugend, auf dem jeder Mensch wandelt, zu gelangen.

Die Reichweite von Schillers Intention und sein Verständnis von der Funktion von Kunst in der sich modernisierenden, ausdifferenzierenden Gesellschaft, die sich bereits in der Editionsgeschichte und in der Gestaltung des Verbrechers aus verlorener Ehre ablesen lassen, werden von ihm später in der Ästhetischen Erziehung des Menschen[10] detailliert erarbeitet.

Von der Tat zum Täter

Die Kriminalgeschichte der Spätaufklärung unterscheidet sich von der Tradition der authentischen Kriminalberichte, wie sie beispielsweise die Historischen Relationen

vereint. Hier werden die Kapitalverbrechen, die kriminalistischen Ermittlungen, die Ergreifung, das Inquisitionsprotokoll, die Urteilsakte, sowie der Exekutionspomp genüßlich und mit juridischen Materialien aufgeschwemmt beschrieben. Vorgeschichte und Herkunft werden dabei nicht berücksichtigt. Diesem Modell einer Besserung durch Abschreckung, erteilt der moderne Schiller eine definitive Absage, beleidigt sie doch die republikanische Freiheit des Lesers, der sich als mündiger Bürger nicht von solchen derben Tricks gängeln lassen soll. Die Schwerpunktverlagerung von der juristischen Rhetorik zur anthropologisch motivierten Darstellung des Täters ist die Alternative.[11] Die Urteilsfindung mag zwar real bereits abgeschlossen und wie in den meisten Fällen, auch vollzogen sein, tritt aber in den Hintergrund zugunsten einer Erzählung der Umstände und der Motivationen, die das sensationelle Verbrechen menschlich nachvollziehbar machen und dem Leser eine freie Urteilsfindung ermöglichen soll.[12] Das Verbrechen unterliegt hier nicht länger einem unangreifbaren Verhängnis, sondern ist Folge von Ursachen. Urteilsfindung heißt damit Kausalanalyse und die Einbeziehung des soziologischen und psychologischen Felds in das der möglichen Ursachen erweitert dasselbe immens.[13]

Diesbezüglich ist Schillers Selbstverständnis als Historiograph relevant. Die Erzählung bleibt, trotz der künstlerischen und moralisch-didaktischen Überhöhung, doch authentischer Kriminalbericht, das heißt, ein Stück Geschichtsschreibung. Was der Untertitel explizit benennt, erfährt in der einleitenden Rede eine problematisierende Thematisierung und in der Erzählung programmatische Umsetzung. Es „läßt sich manches gegen die gewöhnliche Behandlung der Geschichte einwenden.“[14] Schiller versteht unter einer authentischen, historischen Darstellung, eine lückenlose Darstellung der Ereignisse, die als Kausalzusammenhänge begriffen werden. Orientiert am empirischen Modell der Naturwissenschaften soll der Entstehung einer „moralischen Erscheinung“ ebensoviel „Aufmerksamkeit als einer physischen“[15] bemessen werden. Dazu gehört auch die Visualisierung der unsichtbaren Vorgänge, die sich in der Seele der Handelnden abspielen. In dem Verständnis von Geschichte, als einer Kausalfolge der Ereignisse, reflektiert sich die Rationalität, die in der Aufklärung als „Vernunft“ gehandelt wird. Es ist bekannt, daß die Orientierung an den Methoden und Fortschritten der Naturwissenschaften, die Herausbildung einer Rationalität, die kausalanalytisch funktioniert und bis heute hegemonial ist, befördert hat. Der Prozeß ist eng geknüpft an die Vorstellung des selbstbestimmten Subjekts, das die es umgebende Empirie mit Hilfe der kausallogischer Regeln erschließen, verstehen und damit auch beurteilen kann.

Der Täter- das Ausnahmeexemplar seiner Gattung

Der Täter ist nicht länger nur in Hinblick auf die von ihm begangene Gesetzwidrigkeit definiert, sondern wird als Ausnahmemensch interessant. „In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.“[16] Und weiter „die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und- es ist möglich, auch die Gerechtigkeit.“[17] Dahinter steht die Auffassung einer generellen Egalität der Menschen. Der Verbrecher soll nicht als „ein Geschöpf fremder Gattung, dessen Blut anders umläuft als das unsrige“[18] erscheinen, sondern wird explizit als Ausnahme für die Regel namhaft gemacht. Es sind die Ideen der Aufklärung, des mündigen Individuums, das sich der republikanischen Freiheit in Ausübung seiner Vernunft erfreut und die Vorstellung der räsonnierenden Öffentlichkeit als Motor der Reform, welche eine sinnvolle Situierung der Kriminalgeschichte ermöglichen. Doch der „neue“ Blick auf den Täter als Mensch, der in der Literatur nicht nur als rechtliches, sondern auch als psychologisches und biologisches Wesen erscheint, ist nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung der Wirklichkeit des Phänomens Kriminalität interessant.[19]

Schwelle I

Hier aber soll mehr als der für die Aufklärung charakteristische Erscheinung des Menschen als selbstbewußtes Subjekt über die Diskurse der Anthropologie, der Psychologie und -selbstreferentiell- über den Vernunftdiskurs, der Subjektivierung des Menschen als Bürger und damit als Teilhaber an einer modernen Souveränitätsordnung nachgegangen werden. Die Lesart wird vor dem Hintergrund von Agambens Souveränitätskritik durchgeführt und legitimiert sich anhand folgender Thesen.

Der Text basiert auf einem historischen Fall, seine Darstellung gibt Aufschluß über das Gedankengut und die Intention der Aufklärer. Es handelt sich damit um eine Darstellung im Geiste genau jener Epoche, in der Agamben den Umbruch der Souveränitätsordnungen verortet. Er knüpft die Begründung einer modernen Rechtsordnung an die Erklärung der Menschenrechte, deren philosophische Provenienz in der Kantschen Aufklärungsphilosophie[20] hier nicht weiter ausgeführt werden muß. Man kann auch, weniger kompliziert, auf die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft als Resultat der Aufklärung, wie sie sich ja vor allem in der Französischen Revolution deutlicher nicht hätte vollziehen können, verweisen. Auch wenn Agambens Argumentation letztlich auf eine, durchaus kritische zu sehende These für unsere Gegenwart hinausläuft, geht er doch für seine Analyse der heutigen modernen Gesellschaft auf ihre historische Etablierung zurück. Im weiteren soll der Sonnenwirt also als ein historisches Subjekt intelligibel werden, dessen Selbst und sein Verhältnis zur Gesellschaft sich eben diesem Übergang in die moderne Ordnung der Biopolitik ausgesetzt sieht.

Die anthropologisierende Thematisierung seiner Motivationen erscheint dann nicht nur mit Foucault als symptomatisch für die Erscheinung des Menschen, als handelndes, erkennendes und selbst-verantwortliches Subjekt und zugleich als Objekt der Wissenschaften, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzieht. Was hier den Beginn der Moderne und damit auch den der Biopolitik bezeichnet, wird mit Agamben als eine ihr vorausgehende Verschiebung der souveränen Ordnung lesbar, die in der Beschlagnahmung des eigentlichen Lebens durch die Souveränität besteht, auf der Ebene des Individuums sichtbar. Der Verbrecher aus verlorener Ehre, als Geschichte eines Individuums, das an die Grenzen der souveränen Ordnung gerät, öffnet sich einer Untersuchung der souveränen Strukturen und deren historisch codierten Effekten. Die Literatur liefert hier das Fleisch, das dem Gerippe abstrakter Überlegungen abgeht. Darüber hinaus ist es mein Anliegen, mit der Verquickung von theoretischer strukturaler Überlegungen mit historisch-faktischem Inhalt der Tendenz einer Nivellierung aller Differenzen, die in ihrem historischen Ablauf gerne unkritisch unter dem Begriff „Fortschritt“ zusammengefaßt werden, entgegenzutreten. Es geht vielmehr um eine Relativierung des optimistischen Humanismus- und Emanzipationsprogramms der Aufklärung durch das Denken und Aufzeigen der Strukturen, die ihr konstant unterliegen. Emanzipation wird so zu einem Oberflächeneffekt und eben nicht radikal Neues[21], die Hoffnung auf Transzendierung der Ordnung als utopische entlarvt.

Schwelle II

Mit dem zweiten Argument, das für eine agamben-affine Untersuchung spricht, bewegen wir uns schon ganz in dessen Terminologie. Der Sonnenwirt wird zum Verbrecher aus verlorener Ehre, die Ehre wird einem Menschen von seinen Mitmenschen zugesprochen, es handelt sich um eine äußere Zuschreibung. In der Diskussion der Aufklärung orientiert sich diese Zuschreibung an den Vorstellungen von Moral, Moral wird hier idealiter identisch gedacht mit dem allen Menschen zukommenden Vernunftvermögen, das immer eine vernünftige und damit auch sittliche Entscheidung ermöglicht. Schiller stellt mit seiner Ursachenforschung diese klare Vorgabe in Frage, neben Faulheit und Feigheit erscheinen die „unveränderliche Struktur der menschlichen Seele“, sprich der zutiefst menschliche Antagonismus zwischen Trieb und Pflicht der Schillers Anthropologie bestimmt, und die „veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmen“[22] als, möglicherweise entschuldbare, Gründe für unsittliches, lasterhaftes Verhalten. Vor diesem Hintergrund ist der Sonnenwirt eine lehrreiche Ausnahme für alle Menschen.

Die Annäherung und der Dialog der Bereiche von Recht und Moral ergibt sich aus der in jener Zeit sich vollziehenden Neufassung des Menschen als Gemeinschaftswesen, und das heißt als Staatsbürger. Staatsbürgerschaft meint hier ein selbstdiszipliniertes, kontrolliertes Handeln, im Sinne einer Verantwortung für die Gemeinschaft. Die angestrebte Identität von innerem und positiven Gesetz wird am Verbrecher, der das geschriebene Gesetz übertritt exemplifiziert.[23]

Sein Weg zeichnet neben dem einer zutiefst menschlichen Verirrung auch den eines bürgerlichen Rechtssubjekts, der von der Macht, die ihm das Recht auf Leben verleiht, und so die Gemeinschaft begründet, ausgeschlossen wird. Er ist damit nicht nur die moralische, zeitlos gedachte Ausnahme, sondern auch die Ausnahme aus einer souveränen Ordnung, die ihre Macht in der feierlichen Entziehung des Lebens ausübt: „er starb durch des Henkers Hand.“[24] Warum läßt sich der sich vollziehende Wandel in der Konstitution des Individuums in seinem Verhältnis zur Gesellschaft (vom Untertan zum mündigen Bürger) in der Aufklärung gerade im Bereich der Delinquenz gewinnbringend verfolgen? Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Rändern gibt Aufschluß über ihre innere Konstruktion. An der Ausnahme erscheint die Regel oft deutlicher als in ihrer Befolgung, die Diskrimination des Verbrechers erfolgt nicht nur in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Selbstverständnis des rechtschaffenen Bürgers, sondern konstituiert es entscheidend. So erlaubt das Thema der Kriminalgeschichten Rückschlüsse auf die Konzeption einer (Rechts)- Gesellschaft und ihrer Bürger, die hier im Literarischen den Umgang mit der Ausnahme, dem Kriminellen als dem Außenstehenden, für eine Kritik öffnet.

Agamben und die Ausnahme

In Agambens Analyse der Souveränität spielt der Begriff der Ausnahme eine zentrale Rolle. Die souveräne Macht wendet sich auf den Normalfall an, indem sie sich von der Ausnahme abwendet. Dabei bleibt sie auf eine komplexe Art und Weise, die Agamben, neben anderen Spezifika, unter dem Begriff des Banns subsumiert, mit ihr verbunden. Sie steht nicht jenseits der Regel, als das von der Norm und des Gesetzes nicht Erfaßbare, ist mehr als „die Kraft des wirklichen Lebens [welche] die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik“[25] durchbricht.

Die souveräne Macht hat kein Dasein jenseits des Banns, die Ausnahme ist ihr als Potenz stets präsent. In der Beziehung der Ausnahme zur Regel liegt eine Möglichkeit sich der explizit souveränen Machtausübung als Bann zu nähern. Die Ausnahme hat die Form einer einschließenden Ausschließung. Im Gegensatz zum Beispiel, das aufgrund seiner Zugehörigkeit herausgehoben, also ausgeschlossen ist, ist die Ausnahme in den Normalfall eingeschlossen, eben weil sie nicht dazu gehört. Die Nichtzugehörigkeit zum inneren Bereich der Norm kann nur von dem Innen aus erwiesen werden, durch eine Ausnahme. Das was die Repräsentationsmöglichkeit der Norm übersteigt, ist somit in der Figur der Ausnahme eingeschlossen.[26] „Sie ist dasjenige, was nicht in das ganze eingeschlossen werden kann, zu dem sie gehört, und nicht zu der Menge gehören kann, in die sie immer schon eingeschlossen ist.“[27] Die Ausnahme ist das konstitutive Außen der Regel. Der Begriff des konstitutiven Außen steht im Gegensatz zum einfachen Äußeren, Beziehungslosen. Es bezeichnet das, was eine Norm voraussetzt. Um sich auf etwas im Innen anwenden zu können, setzt sie zugleich etwas voraus, von dem sie sich abwenden kann.

[...]


[1] Diese Erzählung erschien erstmals 1786 unter dem Titel "der Verbrecher aus Infamie". Im folgenden wird nach der Reclam Ausgabe zitiert: Schiller, Friedrich: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. Stuttgart [1964] 1994 (im folgenden: Schiller, S. )

[2] Naucke, Wolfgang: >Verfachlichung< des Strafrechts. In: Schönert, Jörg (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Tübingen 1983, S. 55- 67, hier S. 65f

[3] Oettinger stellt für die Strafrechtspflege des 18. Jahrhunderts fest: „Liest man in den großen Strafgesetzwerken des 18. Jahrhunderts, [...] so fällt auf, daß es hier immer nur um die Feststellung des strafbaren Tatbestandes geht, daß hingegen die Frage, warum der Täter so gehandelt hat, die Frage, wie er dazu gekommen ist, dies zu tun oder jenes zu unterlassen, fast immer unberücksichtigt bleibt. [...]Vergeblich sucht man in der zeitgenössischen Kriminaljustiz einen Hinweis darauf, daß das Phänomen der Schuld in dem Sinne problematisiert wurde, daß die Handlungsfreiheit des einzelnen auf Grund sozial und psychologisch unterschiedlicher Voraussetzungen differenziert beurteilt werden müßte.“ Oettinger, Klaus: Schillers Erzählung "der Verbrecher aus Infamie". Ein Beitrag zur Rechtsaufklärung der Zeit. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16, 1972, S. 266-276, hier S. 267

[4] Schiller, S. 8

[5] Vgl. Schönert, Jörg (Hg.): Literatur und Kriminalität, a.a.O., Tübingen 1983, S. 8

[6] Der allgemeine Wille des souveränen Volks ist Grundlage für die Gesetzgebung einer Volksregierung, eine freie Öffentlichkeit zu seiner Formulierung Voraussetzung. Vgl. hierzu auch die Begrifflichkeiten bei Saint-Just, in: Fischer, Peter (Hg.): Reden der Französischen Revolution. München 1989, S. 217-225

[7] Für Schillers Publikumsbegriff vgl.: Köpf, Gerhard: Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Geschichtlichkeit, Erzählstrategie und „republikanische Freiheit“ des Lesers. München, 1978, S. 18-20 und S. 36ff

[8] Schiller, S. 4

[9] Schiller, S. 4

[10] Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart [1905] 1995. (im folgenden: Schiller 2, S. )

[11] Schönert, Jörg (Hg.): Erzählte Kriminalität. a.a. O. S. 194f

[12] Holger Daimat sieht eine Trennung zwischen Moral und Recht und interpretier sie als Voraussetzung für eine Urteilsbildung, die nicht einhergeht mit Kritik an der bestehenden positiven Rechtsprechung. Er stützt das Argument mit der Teleologie der Geschichten, die vom Ende her erzählen. Das widerspricht der belehrenden Intention der Narrationen, in denen die Faktizität der Exekution aufgehoben wird durch eine neue Urteilsfindung.

Vgl. Daimat, Holger: Der unglückliche Mörder. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 107, 1988, S. 517-541

[13] Die Fokussierung auf den Täter hinter der Tat wird ergänzt durch die Einbeziehung des Opfers. Man bedenke die Beredsamkeit die heutzutage der Leiche dank Gerichtsmedizin, Spurensuche und DNA-Analysen zukommt.

[14] Schiller, S. 4

[15] Schiller, S. 5

[16] Schiller, S. 1

[17] Schiller, S. 6

[18] Schiller, S. 4

[19] Zu diesem Thema finden sich eine Anzahl von interdisziplinären Studien, an deren Entstehung vor allem Jörg Schönert entscheidenden Anteil hat.

[20] Vgl. hierzu: Bielefeldt, Heiner: Die Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos. Darmstadt 1998, S. 47ff

[21] Vgl. hierzu: Laclau, Ernesto: Jenseits von Emanzipation. In: Ders.: Emanzipation und Differenz. Wien 2002, S. 23-44

[22] Schiller, S. 5

[23] Diese Sicht entspringt der positiven Anthropologie der Aufklärung, die dem Menschen einen natürlichen Sozial- und Moralitätstrieb zuspricht und dem Kontext der moral sense theory entstammt.

[24] Schiller, S. 6

[25] Schmitt, Carl: Verfassungsrechtliche Aufsätze. Berlin, 1985, S. 265, zit. nach: Horn, Eva: Die Regel der Ausnahme. Revolutionäre Souveränität und bloßes Leben in Brechts Maßnahme. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75, 2001, S. 680-709, hier S. 684

[26] Agamben, S. 32

[27] Agamben, S. 35

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" – an der Schwelle zum modernen Subjekt
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
27
Katalognummer
V78689
ISBN (eBook)
9783638850988
Dateigröße
468 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Dozenten: ausgezeichnete Interpretation, gute Theorie.
Schlagworte
Schillers, Verbrecher, Ehre, Schwelle, Subjekt
Arbeit zitieren
Kerstin Weich (Autor:in), 2003, Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" – an der Schwelle zum modernen Subjekt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78689

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