Berlin-Romane des 20. Jahrhunderts


Magisterarbeit, 2007

74 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Berlin Alexanderplatz - Agon Stadt
1.1 „Das ist die Berliner Luft“
1.1.2 Berlin: Das Paris des 20. Jahrhunderts
1.1.3 Berlin: Das Dublin Deutschlands
1.1.4 Die Ankunft der Weltliteratur auf dem Alex
1.2 Leben im Rhythmus der Dampframme
1.3 Das Personal der Großstadt
1.3.1 Masse - Mensch/ Massenmensch: Bewältigungsformen zwischen den Weltkriegen
1.3.2 Ausweg Wahnsinn: Biberkopf kommt unter die Räder
1.4 Veränderte Wahrnehmung = Verändertes Schreiben
1.4.1 Die Stadt als Organismus (Döblin und der Expressionismus)
1.4.2 Döblins „steinerner Stil“ (Döblin als Kronzeuge der Neuen Sachlichkeit)
1.4.3 Erzähltechnik: Montagestil

2. Herr Lehmann - Soziotop Stadt
2.1 „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“
2.1.1 Kreuzberger Nächte sind lang
2.1.2 Frank Lehmann: Von der Provinz in die Enklave
2.2 Von Strategen und Kudamm-Idioten. Oder: Frank Lehmann fährt Bus und Bahn
2.3 Protagonist oder Heiliger? Zur Personenkonstellation in „Herr Lehmann“
2.3.1 Provinzialität in der Großstadt: „Das ist doch in 61!“
2.3.2 Geteilte Stadt, Gebrochenes Herz: Ausgerechnet Fanta-Rainer
2.3.3 Die Kunst des Insiderseins ohne Insider zu sein: Zur Freundschaft von Frank und Karl
2.4 Erzähltechnik: Die Rückkehr des Erzählers?
2.4.1 Ennui versus Ostalgie
2.4.2 Schreibender Sänger oder singender Schreiber?
2.4.3 Montagestil revisited, wie erzählt die Postmoderne?

Schluss

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten1 2

Einleitung

Die Großstadt ist der genuine Lebensraum des 20. Jahrhunderts.3 Vorbei sind die Zeiten des „Zurück zur Natur“, bereits in den Achtzigerjahren des 19. Jahr- hunderts entdecken die Naturalisten das Stadtmilieu als Stoff für ihre Literatur und spätestens mit dem Expressionismus wird Urbanität zum Schlagwort für eine ganze Dichtergeneration.4 Die Inspiration durch rauschende Verkehrs- ströme, durch die Kakophonie der Großstadt und durch die Vermischung ver- schiedenster Schichten, Milieus und Nationalitäten hat bis heute nicht an Wir- kung verloren. Auch wenn immer wieder die Provinz als einziger Raum der Kontemplation und der wahren Erkenntnismöglichkeit ins Feld geführt wird und so eine Stadt - Land Dichotomie immer wieder aufscheint, ohne die tau- sendfachen Reize von Metropolis ist moderne Literatur nicht denk- und schreibbar.

Die Faszination für große Städte indes, lässt sich noch weiter zurückverfolgen als bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bereits im Altertum zieht die Agglome- ration von Menschen das Interesse auf sich. Das Motivlexikon5 nennt Babylon als die erste Stadt, die durch ihre Größe und ihren Reichtum vor allem in den Aufzeichnungen der Israeliten eine Rolle spielt. Verbunden mit der Faszination ist von Beginn an der Ruf von Verderbnis und schlechten Sitten; als „Sünden- babel“ findet sich diese negative Konnotation auch in der Umgangssprache wieder. Auch mit Rom, der ewigen Stadt und dem Inbegriff der großen Stadt in der Antike, verbindet sich dieser Vorwurf der Sittenverderbnis. Zusätzlich taucht zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Leben in Rom die Idealisie- rung seines Gegenteils, des Lebens auf dem Lande, auf. „Das Stadt-Motiv in der Dichtung bedeutet also von Beginn an eine Auseinandersetzung mit der kulturellen und zivilisatorischen Leistung des Menschen.“6 Das Mittelalter kennt den Ausspruch „Stadtluft macht frei“; damit meint man die bürgerlichen Freiheiten, die den Menschen in den ummauerten Städten gewährt werden, gegenüber dem Lehnswesen auf dem Land.7 So greift auch die Romantik in idealisierender Art und Weise das Leben in kleineren Städten auf und setzt es in Beziehung zu ihrer Geschichte. Während in anderen Nationalliteraturen die Großstadt bereits im frühen 19. Jahrhundert eine gewichtige Rolle spielt, ent- wickelt sich eine deutsche Großstadtliteratur erst später. In den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts unternehmen die deutschen Naturalisten erste Versuche, das Elend in den Städten in ihren Gedichten zu schildern. Nicht der sensible Einzelne in der Stadt spielt hier eine Rolle, wie etwa in der Dichtung Zolas, sondern das Milieu, die Unterschicht ist das Subjekt der sozialen Dichtung. Mit der Epoche des Expressionismus, zwischen 1910 und 1920, erlebt auch die Großstadtlyrik einen zweiten Höhepunkt, die dämonisierte Großstadt (etwa bei Georg Heym) steht dem Menschen als unheimlicher Gegenspieler gegenüber. In den sprichwörtlichen goldenen Zwanzigerjahren wird Berlin, neben anderen Großstädten wie München, zum Zentrum des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens in Deutschland. Wie innerhalb dieser Arbeit zu zeigen sein wird, entwickelt sich während dieser Dekade eine affirmative Haltung gegen- über dem beschleunigten, fortschrittlichen Leben in der Großstadt.8

So vielfältig wie die Großstadt an sich, ist auch die Literatur über die aufregen- den Schmelztiegel dieser Welt, daher sind der inhaltlichen Ausrichtung dieser Magisterarbeit Grenzen gesetzt. Wie schon im Titel angezeigt, beschäftigt sich die Untersuchung mit Berlinromanen des 20. Jahrhunderts. Dazu ist zunächst zu definieren, welche Romane als Berlinromane aufgefasst und analysiert wer- den und welche nicht in den Blick genommen werden. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand von zwei Eckpfeilern die Themen und Motive, die Personenkonfigura- tion und Arbeitsweise der Autoren des Berlinromans des 20. Jahrhunderts zu erarbeiten und darzustellen. Besonders die Machart der Texte soll dabei im Vordergrund stehen; dabei spielen nicht nur die vorliegenden Romane ein Rol- le, auch unter den Gesichtspunkten von übergreifenden theoretischen Positio- nen werden die Texte untersucht. Volker Klotz unterscheidet in seiner grundle- genden Untersuchung zur „Erzählten Stadt“9 zwischen Romanen, die den Stoff „Stadt“ verarbeiten, darunter würden also sämtliche Romane fallen, deren Handlung Berlin als Ort wählt; dem gegenüber stehen Romane, die „Stadt“ als Vorwurf darstellen, darunter fällt der erste ausgewertete Roman „Berlin Ale- xanderplatz“. Inwieweit auch der zweite Roman dieser Kategorie zu zuordnen ist, wird die Untersuchung ergeben. Nach Klotz bedingen sich der Vorwurf Stadt und die Romanform. Es wäre allerdings zu fragen, ob nicht der Roman die literarische Äußerung der Moderne schlechthin darstellt. So stellen zum Beispiel Arbeiten zur Literatur der Provinz den Roman als die Form dar, die durch den Stoff „Provinz“ bedingt wird.10 Vielleicht kann man also die Synthe- se aus beiden Polen bilden und den Roman, gerade durch seine Nähe zum Film, als die genuine Äußerungsform des 20. Jahrhunderts annehmen, die der Wahrnehmung der außerliterarischen Realität am nächsten kommt. Das zu dis- kutieren, ist nicht Ziel dieser Arbeit, es sei nur auf die Argumente beider Sei- ten, also der Interpreten der Großstadtliteratur, wie der Interpreten von provin- zieller Literatur, hingewiesen.

„Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin bildet also den Ausgangspunkt der Untersuchung, der Roman ist unzweifelhaft als ein Meisterwerk der deutschen Literatur einzuordnen, jedenfalls atmet der Text in jeder Zeile den Geist des Berlins der Zwanzigerjahre. Bis heute ist dies eine zuweilen verklärte Epoche der Bewegung und des Fortschritts, die sprichwörtlichen „roaring twenties“. Von Literaturkritikern und Interpreten wird der Roman seit seinem Erscheinen 1929 als der Beginn einer deutschen Großstadtliteratur gefeiert. Bis heute be- einflusst der Roman das Erscheinungsbild Berlins, so sind zur Zeit der Nieder- schrift dieser Arbeit zahlreiche Fenster der anliegenden Häuser am Alexander- platz mit Döblin Zitaten gestaltet.

Demgegenüber ist Sven Regeners Debütroman „Herr Lehmann“ bisher noch nicht in den Kanon der großen deutschen Literatur aufgenommen worden, doch auch hier spielt Berlin eine übergeordnete Rolle, diesmal in Form der geteilten Stadt am Ende der Achtzigerjahre auf der Schwelle der Wiedervereinigung. Mehr als ein halbes Jahrhundert liegt also zwischen dem Erscheinen der beiden Romane, eine hinreichende Zeitspanne, um Entwicklungstendenzen auszuma- chen.

Eine umfassende Darstellung oder gar Literaturgeschichte der Großstadt ist wie oben angesprochen, im Umfang dieser Magisterarbeit nicht zu realisieren, sie würde den gesteckten Rahmen sprengen. Um ein oberflächliches Abarbeiten des Stoffes zu vermeiden, werden im Laufe der Arbeit Kriterien für die zu un- tersuchenden Texte aufgestellt. Ein erstes ist die schon angeklungene Be- schränkung auf die Romanform. Das hat historische Gründe; denn seit dem 19. Jahrhundert gewinnt das (städtische) Bürgertum und damit auch der bürgerli- che Roman als Reflexionsmedium an Bedeutung. Bezogen auf die Großstadt kann man sogar soweit gehen, den Roman als genuine Erscheinungsform von Großstadtliteratur zu bezeichnen.11 Wirkungsmächtige Beispiele in Bezug auf diese These sind der französischen Parisroman des 19. Jahrhunderts und „Ulys- ses“ von James Joyce. Aufgrund der unmittelbaren Wirkung dieser Urväter des Großstadtromans und des schon zu Lebzeiten Döblins hergestellten Bezugs, sollen die entsprechenden Werke nicht ausgeklammert werden. Auch wenn sich der restliche Umfang der Arbeit mit dem Berlinroman als eigenständigem Phänomen beschäftigt, so ist es doch erhellend für die Untersuchung, welche Traditionslinien sich zeichnen lassen. Auch wenn es sich bei der angewandten Arbeitsweise nicht um eine streng strukturalistische handelt, so lassen sich Merkmale des Berlinromans genau dadurch erahnen, was er nicht ist, die nega- tiven Relationen zu anderen Phänomenen, werden an einigen Stellen zu zeigen sein.

Eine weitergehende Untersuchung zur Großstadt müsste natürlich international ausgerichtet sein, „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos gilt als der Hö- hepunkt der amerikanischen Stadtromane, für die neueste amerikanische Lite- ratur sollte zumindest die „New-York-Trilogie“ Paul Austers untersucht wer- den (gerade weil Auster, wie Döblin, ein großer Verehrer „seiner“ Stadt ist). Auch die Großstadtliteratur asiatischer und lateinamerikanischer Großstädte wäre zu betrachten, jedenfalls sind dies die am schnellsten wachsenden Groß- städte zum Jahrtausendwechsel. Grundlegende Arbeit zur Untersuchung der international herausragenden Werke zur Großstadt ist aber in Form einer „Kleinen Literaturgeschichte der Großstadt“ bereits durch Angelika Corbineau- Hoffmann geleistet.12 Die Stärke ihrer Literaturgeschichte liegt ganz klar auf der Darstellung von historischen Entwicklungen, dabei verlässt Corbineau- Hoffmann den Blickwinkel der Vogelperspektive zu Gunsten der Arbeit an den konkreten Texten. Der Blick dieser Magisterarbeit beschränkt sich aber wei- testgehend auf Berlin und seine Romane.

„Großstadt ohne Größenwahn“13, so überschreibt der Spiegel dieser Tage seine Titelstory und das zurecht. Denn das Spezifische der Großstadt Berlin liegt gerade in der Diskussion über ihr Großstadtsein, oder auch -nichtsein, die scheinbar ins Unendliche fortsetzbar ist. Der Spiegel-Artikel stellt weiterhin fest, dass gegenüber New York oder London, Berlin die „leiseste und lang- samste der Metropolen“14 sei. Das mag für das heutige Berlin gelten (auch wenn die architektonische Umgestaltung Berlins immer noch atemberaubend ist), allerdings auf das Berlin Döblins bezogen ist dies ein Fehlschluss. Das wird die Untersuchung zeigen, denn es ist gerade die Kontingenz, das Bewegte in Personal, Motivik und vor allem in der Sprache, was den Roman so einzigar- tig und im besten Sinne modern macht. Berlin ist und bleibt aber gerade wegen dieser Bewegtheit die Stadt der Zugereisten. Wo man anderenorts als Pariser geboren wird, da lebt eine Stadt wie Berlin vom Bevölkerungsaustausch.15 Die- se Feststellung allein ersetzt natürlich noch nicht die Untersuchung der Roma- ne, sie scheint aber einen ersten Zugang zu bieten, jedenfalls prägt sie die Stimmung beider Romane.

Natürlich ist „Berlin Alexanderplatz“ nicht als der erste Berlinroman überhaupt zu bezeichnen. Bereits mit der Anerkennung Berlins als Reichshauptstadt 1871 wird die Metropole zum Stoff für die Autoren des ausgehenden Jahrhunderts.

Allerdings ist festzustellen, dass die affirmative Haltung zur Großstadt, wie sie in „Berlin Alexanderplatz“ offensichtlich zu Tage tritt, am Ende des 19. Jahr- hunderts noch nicht so zu sehen ist. Vielfach sind es die oben angesprochenen Elendsschilderungen der Naturalisten, die die Literatur über Berlin bestimmen; die schlechten Seiten des Großstadtlebens werden geschildert, oder die altbe- kannte Land - Stadt Dichotomie wird aufgebaut, das Stadtleben wird bei- spielsweise durch die Landpartie kontrastiert. Im ersten Teil der Untersuchung zu „Berlin Alexanderplatz“ wird die Entwicklung der Berlin-Literatur bis in die Zwanzigerjahre weiter verfolgt.

Literaturwissenschaft bedeutet darüber hinaus auch immer eine Einordnung einzelner Werke in einen größeren Zusammenhang bzw. der Zuordnung von Autoren zu bestimmten gesamtliterarischen Strömungen, die als Epochen be- zeichnet werden. Die Festsetzung von Epochengrenzen soll in dieser Arbeit nicht problematisiert werden; jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass jegliche Grenzziehung willkürlich ist und oft erst im Nachhinein für eine mehr oder weniger klare Zugehörigkeit bestimmter Phänomene zu einer Epoche sorgt. Das zeigt sich exemplarisch an der Diskussion zur Bezeichnung „Ex- pressionismus“ für die Zehnerjahre des 19. Jahrhunderts, denen Alfred Döblin von vielen Literaturwissenschaftlern zugeordnet wird. Doch trotz aller Proble- matik von Epochengrenzen und -bezeichnungen, sie müssen so lange gelten, „bis andere, besser geeignete Konzepte für die periodische Unterteilung der Literaturgeschichte gefunden werden.“16

„Berlin Alexanderplatz“ entstand am Ende der Zwanzigerjahre, der Zeit der Weimarer Republik also, die von der Literaturwissenschaft als „Neue Sach- lichkeit“ bezeichnet wird. Döblin begann seine Autorentätigkeit bereits weitaus früher, einige seiner Werke werden zum „Expressionismus“ gezählt, und so ist „Berlin Alexanderplatz“ auch nicht eindeutig der Literaturströmung seiner Ent- stehungszeit zuzuordnen. Der Berlinroman Döblins trägt Kennzeichen beider Literaturströmungen, so ist ein zentrales Merkmal expressionistischen Schrei- bens essentiell für den Roman, die Belebung der Stadt (also nicht nur der Men- schenmassen, sondern auch der Häuser, des Asphalts und der Transportmittel), wie sie so häufig dem Roman der Moderne immanent ist. Allerdings muss man schon vorab feststellen, dass die übliche Dämonisierung des Urbanen ausbleibt, die Stadt wird zwar von der Sekundärliteratur einhellig zu einem Gegenspieler Biberkopfs aufgebaut, die Vitalität Berlins ist aber alles andere als monströs. Was genau hinter der flottierenden Umwelt Biberkopfs steht, ist im entspre- chenden Kapitel zu analysieren, es sei hier nur kurz die Affinität Döblins zum Großstadtverkehr und dem damit verbundenen stetigen Wandel der urbanen Um- und Unterwelt erwähnt.

Für die „Neue Sachlichkeit“ ist Döblin eine Art Ziehvater, stellte er doch schon 1913 im „Berliner Programm“ fest: „Der Naturalismus ist kein historischer Ismus, sondern das Sturzbad, das immer wieder über die Kunst hereinbricht und hereinbrechen muss“17. Eine Überwindung des Expressionismus also, eine Forderung, die von den Autoren der Weimarer Republik in den Zwanzigerjah- ren fruchtbar umgesetzt wurde. Der Dokumentarismus und die Reportageform sind stilbildend für „Berlin Alexanderplatz“, Döblin übersteigert die Wahr- nehmung dahingehend, dass immer wieder Lieder, Reklametafeln, Fahrpläne, Pamphlete und Zeitungsausschnitte in den Text eingewoben werden. Montage- stil ist das Schlagwort für diese Art, am Text zu arbeiten; im entsprechenden Kapitel dieser Arbeit wird auf die Entwicklung dieses Stils näher einzugehen sein.

Trotz aller Aspekte der Zugehörigkeit: Alfred Döblin war zur Zeit der Arbeit an „Berlin Alexanderplatz“ und natürlich auch danach höchst mobil in seinen politischen, religiösen und poetologischen Grundsätzen, sodass der Befund ähnlich ausfällt wie bei einem anderen Großen der deutschen Literatur: So wie Heinrich von Kleist sich weder der Klassik noch der Romantik zuordnen lässt, so gerät auch Döblin zwischen sämtliche Fronten literarischer, sozialer und politischer Lager.18

Die Sekundärliteratur zu „Berlin Alexanderplatz“ und zu verschiedensten Aspekten Döblins Dichtkunst ist kaum überschaubar. Umso übersichtlicher ist die Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit Sven Regeners „Herr Lehmann“, diese Missachtung ist verständlich, da der Roman, wie beschrieben, diese Missachtung ist verständlich, da der Roman, wie beschrieben, noch nicht im Kanon der „Hohen“ Literatur angekommen ist.19 Die Untersuchung leistet an dieser Stelle also Pionierarbeit; allerdings sind die Kriterien dadurch einge- schränkt, dass der Roman und die Erzähltechnik Regeners immer wieder an der von „Berlin Alexanderplatz“ gespiegelt werden. Dabei ist diese Wahl des jün- geren Berlinromans nicht willkürlich, die Untersuchung wird an einigen Stellen die ähnlichen Themen und Motive erarbeiten. Ein übergreifendes Phänomen ist vorab festzuhalten: Masse wird zu einem Gestaltungsmerkmal, wenn nicht zum Wichtigsten für den Großstadtroman. Massen von Menschen, Verkehrsmassen und das Wohnen in Massen sind nur einige Aspekte des gleichen Problems: Die Großstadt zieht die Menschen, an und damit müssen Lösungen für das täg- liche Leben von Millionen gefunden werden. In den Romanen gibt es unter- schiedliche Bewältigungsformen dieses Phänomens. In der „Moderne“, die zur Zeit von „Berlin Alexanderplatz“ in voller Blüte steht, ist das Angebot vor al- lem durch die großen Erzählungen Religion, Philosophie und Politik gegeben, spätestens mit dem von Jean François Lyotard postulierten Ende der großen Erzählungen in der Postmoderne ist zu klären, wie Kohärenz von Massen ge- schaffen werden kann.20

Zur Vorgehensweise der Untersuchung ist zu sagen, dass die Arbeit, grob ge- sagt, in zwei Teile zerfällt, die allerdings immer wieder aufeinander bezogen werden, schließlich ist es Ziel dieser Arbeit, anhand der beiden Romane die Grundlage für weitere Untersuchungen zum Berlinroman des 20. Jahrhunderts zu legen. Dazu gehören auch die Formulierung und die Verifizierung von The- sen an den Texten, entsprechend viele und lange Textzitate werden also nötig sein. Die Methode der Untersuchung orientiert sich in einem weiteren Sinne an der „kognitiven Hermeneutik“21, die impliziert, dass die aufgestellten Thesen und die dargestellten theoretischen Positionen immer wieder auf den jeweiligen Text bezogen werden, um so den Prägungssinn des Textes zu erfassen. Das Konzept der kognitiven Hermeneutik stellt einen Zugang zur Textanalyse dar, der sich am Autor orientiert. Dieser Zugang ist in der neueren Literaturtheorie häufig dergestalt problematisiert worden, ob es diesen Autor als Instanz im Text überhaupt gibt; dies ist eine der großen Fragen der neueren germanisti- schen Forschung. Spätestens mit dem Strukturalismus gilt der Autor als tot und nicht relevant für die Erklärbarkeit von Texten. Speziell im Bereich der Groß- stadtliteratur ist auch immer wieder die Rede vom „steinernen Text“, also ei- nem Textkonzept, in dem sich die Stadt selbst erzählt. Innerhalb dieser Arbeit werden beide Positionen gebraucht, gerade in der Entwicklung der Großstadtli- teratur sind es auch unterschiedliche ästhetische Konzepte, die dargestellt wer- den müssen. Wenn hier von einem hermeneutischen Zugang im weiteren Sinne gesprochen wird, dann impliziert dies, dass gerade für die ausgewählten Texte durchaus auch Positionen darzustellen sind, die konträr zum Konzept der un- tersuchten Romane stehen. An einigen Stellen, wird der Zugang darüber, was die Texte nicht sind, fruchtbare Ergebnisse zum Verständnis der Romane lie- fern. Letztendlich gehören aber auch konträre Konzepte zum Prägungssinn der Texte, dann nämlich, wenn sich die Autoren von genau diesen Konzepten dis- tanzieren.

Entsprechend den beiden behandelten Romane lassen sich also zwei Großkapi- tel ausmachen, die wiederum in drei Teile gegliedert sind. Der Erste stellt die Orte des Romans dar. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Darstel- lung der Stadt innerhalb des Textes. Es gilt also, die spezifische Topographie der Romane darzustellen. Dabei fließen auch die philosophischen und soziolo- gischen Überlegungen zur Stadt im allgemeinen und zum Leben in der Groß- stadt im speziellen ein. Zusätzlich sollen für „Berlin Alexanderplatz“ die histo- rischen „Vorläufer“ in Frankreich und im englischen Sprachraum skizziert werden.

Im zweiten Teil rücken die Personen in den Blickpunkt, dabei werden sowohl die Personenkonstellation als auch im Besonderen die Protagonisten des jeweiligen Romans ins Blickfeld der Analyse genommen. Der dritte und letzte Teil ist dem Autor vorbehalten. Dabei ist mit dem Begriff „Autor“ auch das Erzählkonzept gemeint, denn Großstadtliteratur erzählt auch immer die Stadt, d.h.: Die Literatur erzeugt eine Realität zweiter Ordnung.22

Wie diese neue Realität dargestellt wird, ist ein zentrales Thema jeder Untersu- chung zur Großstadtliteratur; hierin liegt ein Anreiz für nachfolgende Arbeiten zum Berlinroman, die hier erzielten Ergebnisse auch an weiteren Romanen zu prüfen.

1. Berlin Alexanderplatz - Agon Stadt

1.1 „Das ist die Berliner Luft“

Bevor „Berlin Alexanderplatz“ als herausragendes Werk der Berlinliteratur untersucht wird, sollen hier die Vorläufer des Berlinromans des 20. Jahrhun- derts kurz dargestellt werden. Bereits mit der Anerkennung Berlins als Reichs- hauptstadt 1871 kann man einen Anfangspunkt für die literarische Beschäfti- gung mit Berlin setzen. Natürlich gibt es auch schon vorher Romane über Ber- lin, allerdings wird der Stadtname Berlin konsequent durch Synonyme ersetzt, von „einer großen Stadt im Norden Deutschlands“ ist da die Rede, oder negativ konnotiert vom „Norddeutschen Babel“.23 Anders als Paris oder London ist Berlin nicht als zentrale Großstadt einer Nation gewachsen, und so bleibt auch ein Großstadtepos ungeschrieben, wie es etwa in Frankreich im 19. Jahrhundert von Zola geschieht. Äußere Größe und urbanes Flair fehlen Berlin noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, sodass zum Beispiel Wilhelm Raabe in seiner „Chronik der Sperlingsgasse“ 1856 Berlin nicht als Raum der Erfahrung von Umbrüchen der Moderne schildert, sondern aus der Vogelperspektive Stadt und Natur im theologischen Rahmen analysiert. Diese Provinzialität Berlins soll sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts drastisch verändern, schon ein Blick auf das Bevölkerungswachstum zeigt die enorme Entwicklung: Während die Stadt im Jahre 1849 nur gut 400.000 Einwohner zählt, überschreittet diese Zahl bereits 1877 die Millionengrenze und bis Mitte der Achtzigerjahre des Jahrhunderts hat Berlin bereits anderthalb Millionen Bürger.24 Allein, die Grö- ße ihrer Stadt verändert noch nicht die Schreibweise ihrer Dichter. Der alte Stadt - Land Antagonismus zeigt sich vor allem in der „Heimatkunstbewe- gung“ der Neunzigerjahre des ausgehenden Jahrhunderts, diese mythisiert die Provinz unter dem Motto „Los-von-Berlin“, und auch im Ästhetizismus im Umkreis von George, Rilke und Hofmannsthal findet die stadtfeindliche Zeit- strömung weiterhin ihren Ausdruck.25 Vor allem die Autoren des Expressio- nismus verarbeiten dann bis zum Anfang der Zwanzigerjahre ihre Großstadter- fahrungen, allerdings meist in Gedichtform. Die bekannteste literarische Äuße- rung dieser Zeit ist wohl Georg Heyms „Gott der Stadt“, die auch in Hinsicht auf ihre radikale Großstadtkritik als exemplarisch gilt. Allgemein kann man dann für die Zwanzigerjahre eine positivere Stimmung gegenüber dem Leben in Berlin als der am schnellsten wachsenden Stadt Deutschlands und auch Eu- ropas erkennen. Mit Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wird dann das Berlin-Epos der Neuzeit geschrieben, die Größe des Romans wird dabei vor allem am Stil festgemacht, Döblin vereint sämtliche zeitgenössischen Strö- mungen, die bis heute unter dem Stichwort „Modern“ gefasst werden.

1.1.1 Berlin: das Paris des 20. Jahrhunderts

Das, was Berlin erst im 20. Jahrhundert für die Literatur wird, ist Paris unzwei- felhaft bereits seit dem 19. Jahrhundert für Frankreich: Das zentrale Thema der Großstadtliteratur. In Paris entstehen die ersten Versuche, die neuartige Wahr- nehmung von urbanen Räumen auch auf die Literatur zu übertragen. Dabei ergeben sich für Paris die beiden Rollen, die sich wahrscheinlich anhand jeder Großstadt zeigen lassen. Zum einen wird die Stadt als identitätsstörend wahr- genommen, auf der anderen Seite nehmen die meisten Autoren die Stadt als identitätsfördernd auf. Von Zola über Proust bis Baudelaire greifen die franzö- sischen Literaten das literarische und kognitive Problem Großstadt auf. Die berühmtesten Beispiele sind wohl die Gedichte Charles Baudelaires, speziell die „Fleurs du mal“26, die den Flaneur als Reflexionsfigur in die Literatur ein- führen, dem sich die Stadt ahnungsvoll zuneigt. Der Flaneur ist es auch, der mit Walter Benjamin in den deutschen Kulturraum aufgenommen wird, es ist Franz Hessels, der in seinen Reportagen den Flaneur auch auf die Straßen Berlins schickt. Allerdings ist das Erkenntnisziel bereits ein anderes als bei Baudelaire; während der Pariser Flaneur Erschrecken und Ängste über die Auswirkungen des Spätkapitalismus schildert, ist es fast schon ein touristisches Interesse, wel- ches den Flaneur Hessels antreibt. Der Flaneur-Reporter lernt in „Spazieren in Berlin“27 die Stadt lieben und bewundern und empfiehlt dem Leser das Flanie- ren als „eine Art Lektüre der Straße“28. Deutliche Zeichen der „Verniedlichung und Verharmlosung der Lebensprozesse in der modernen Industriestadt“29 stel- len allerdings einen prägnanten Unterschied zu den Erkenntnismöglichkeiten des Flaneurs bei Baudelaire dar. Schnell stellt der Dichter dazu fest, dass, an- ders als im Paris des 19. Jahrhunderts, die Bewohner seiner Heimatstadt Berlin durchaus skeptisch auf den scheinbar Fremden reagieren. Aufgenommen und weitergedacht wird diese Wahrnehmung auch von Walter Benjamin, der sogar soweit geht, in Berlin eine Bedrohung durch den „Massenmenschen“ zu sehen und zeitlebens Paris als das Vorbild der modernen Stadt zu sehen.

Vorbildhaft für die Schriftsteller in Deutschland sind Baudelaires Schilderun- gen von Paris auch auf poetologischer Ebene geworden, denn in ihnen setzt der Dichter bereits die neuartigen Erfahrungen der Großstadt stilistisch um. So verzichtet Baudelaire in seinen Gedichten auf die gebundene Formsprache der Lyrik und setzt, dem modernen Gegenstand Großstadt angemessen, eine pro- saische Sprache ein. Dabei entstehen „Gedichte, die dem Prosaischen des Ge- genstandes [...], schließlich auch der mangelnden Ausdauer des Dichters wie des Publikums angemessener zu sein scheinen als Verse, Reime und Metren.“30 Dass Franz Biberkopf keinesfalls als Flaneur durch Berlin streift, scheint au- genfällig, es zeigt auch, wie andersartig die Großstadterfahrungen zu unter- schiedlichen Zeiten sein können, und dass die Übertragung einer Reflexionsfi- gur nicht so einfach möglich ist, wie vielleicht von Hessel angenommen. Al- lerdings gilt auch für das Berlin des 20. Jahrhunderts die Definition der Mo- derne, die Baudelaire auf Paris münzte: „Die Modernität ist das Vorübergehen- de (Transitoire), das Entschwindende (Fugitif), das Zufällige (Contingent), die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist“31.

1.1.2 Berlin: das Dublin Deutschlands?

Wegen des unmittelbar hergestellten Vergleichs mit James Joyces „Ulysses“, der bis zum Vorwurf des Plagiats gesteigert wird, soll an dieser Stelle auch noch das Verhältnis von Alfred Döblin zum irischen Autoren dargestellt werden, auch weil „Ulysses“ als solch wirkungsmächtiges Vorbild in die deutsche Literatur aufgenommen wurde.

„Natürlich schrieb ich dieses Buch, besser, schrieb sich dieses Buch nicht in freien Rhythmen, sondern im Berliner Tonfall. Aber blind, wie einmal Kriti- ker unserer Epoche sind, konnten sie bequem mit dem Buch fertig werden: `Nachfolge zu Joyce´. Wenn ich durchaus jemandem hörig sein soll und fol- gen soll [...], warum muß ich zu Joyce gehen, zu dem Irländer, wo ich die Art, die Methode, die er anwendet (famos, von mir bewundert), an der gleichen Stelle kennengelernt habe wie er selbst, bei den Expressionisten, Dadaisten und so fort.“32

Mit diesen Worten bestreitet Döblin den Vorwurf der Kritiker, er habe von Joyce einfach nur abgeschrieben. Natürlich sprechen die Indizien dafür, dass Döblin durchaus von Joyce beeinflusst wurde; doch an entscheidenden Stellen geht Döblin noch darüber hinaus, was Joyce geschaffen hat. Vor allem im Be- reich der Erzähltechnik lassen sich große Unterschiede feststellen. Anhand von „Ulysses“ wurde die Erzähltechnik des „stream of consciousness“ erarbeitet, die auch Döblin in seinem Roman einsetzt. Doch während bei Joyce jegliche Wahrnehmung auf den Protagonisten zurückzuführen ist, sind es gerade die Lokalreportagen und die ausserliterarischen Texte, die Döblin in den Text montiert und die den Erzählrhythmus von „Berlin Alexanderplatz“ ausmachen. Neben diesen Unterschieden gibt es Gemeinsamkeiten, so wird der „Welt- alltägliche“ bloomsday zum „Welt-All-Ort“33, die alltäglichen Schilderungen eines Donnerstages in Dublin also zu den „allörtlichen“ Schilderungen eines Platzes, der sich vor allem durch ein Merkmal auszeichnet: Kontingenz.34

„Ulysses“ ist genauso mit Dublin verbunden, wie „Berlin Alexanderplatz“ mit der Metropole an der Spree, er ist die genaueste literarische Schilderung der jeweiligen Heimatstadt. Und ähnlich wie Döblin nutzt auch Joyce Hilfsmittel wie das Dubliner Adressbuch oder auch Zeitungen des 16. Juni 1904, um die Stadt möglichst genau darzustellen. Wo bei Döblin allerdings die Fremdtexte mit der Biberkopf-Fabel nichts zu tun haben (wozu genau die Montage dient, wird weiter unten untersucht werden), sind es gerade die unscheinbaren De- tails, die im „Ulysses“ an späteren Stellen oft zu überraschenden Schlussfolge- rungen führen.35

In Bezug auf die innerliterarisch angelegte ästhetische Kritik des realistischen Romans, der bis ins 19. Jahrhundert geschrieben wird, gleichen sich die Schlussfolgerungen beider Autoren, das Zitat Döblins legte schon eine Annä- herung beider Positionen nahe. Im „Ulysses“ ist es vor allem die moderne, ge- brochene Darstellung von Zeit und Raum, die vorbildlich geworden ist.36

1.1.3 Die Ankunft der Weltliteratur auf dem Alex

Der Handlungsablauf von „Berlin Alexanderplatz“ sollte angesichts der Bedeu- tung des Werkes als bekannt vorausgesetzt werden, doch wie schon in der Ein- leitung erwähnt ist es wichtig für die Vorgehensweise dieser Arbeit, sich des Inhaltes des Romans immer wieder zu versichern und daran die aufgestellten Thesen zu prüfen.

Den Einstieg in die Handlung bildet eine Geburtsszene: Der ehemalige Trans- portarbeiter Franz Biberkopf wird nach vier Jahren Haft aus der Gefängnisan- stalt Berlin-Tegel entlassen. „Die Strafe beginnt“37, mit diesen Worten wird die bevorstehende Fahrt in das Zentrum Berlins kommentiert. Und als Strafe ent- puppt sich gleich die erste Fahrt mit der Linie 41 ins Stadtzentrum, völlig benommen torkelt Biberkopf durch die Straßen, nachdem er von den neuen Eindrücken nach der Zeit der Abgeschlossenheit in seiner Gefängniszelle völ- lig übermannt ist. Die Menschen auf der Straße treten ihm als unidentifizierba- re Masse entgegen, die Häuser wirken instabil und die Dächer scheinen auf die Straße zu rutschen. In diesem Zustand wird Biberkopf von zwei Juden aufge- funden, die ihn in eine Wohnung bringen und ihn durch die Erzählung einer Parabel wieder aufrichten. Innerlich entschlossen, sich zu bessern und fortan anständig zu leben, steht der Protagonist nun auf dem Alexanderplatz und sucht sich einen Broterwerb.

Zunächst wünscht sich Biberkopf die Bestätigung seiner männlichen Potenz, die er in einer Affäre mit Lina, der Schwester der von ihm ermordeten Ida, fin- det. Beruflich findet er ebenfalls schnell einen Platz in der aufstrebenden Wirt- schaft Berlins, als ambulanter Gewerbetreibender schreit er Schlipshalter auf dem Rosenthaler Platz aus, doch schnell wechselt er die Sparte und verkauft zusammen mit dem kleinen Lüders Schnürsenkel an der Haustüre. Bei dieser Tätigkeit lernt Biberkopf eine junge Witwe kennen, die ihm für Liebesdienste („Kaffee getrunken, sie mit. Und dann noch n bißchen mehr“38 ) Zwanzig Mark überreicht. Auf Biberkopfs Prahlen hin erschleicht sich Lüders Zutritt zu der Wohnung und raubt die Witwe aus, dabei bedroht er sie, damit sie Biberkopf nicht davon berichtet. Beim nächsten Besuch will Biberkopf ein vergessenes Paket mit Schnürsenkeln abholen, allerdings wird er von der Witwe an der Tür abgewiesen. Auf seine schriftliche Bitte um Rückgabe, klärt die Witwe ihn, ebenfalls schriftlich, über den Raub von Lüders auf, der erste Schlag trifft Bi- berkopf.

Durch drei Schläge wird die Handlung unterteilt, dreimal muss der Protagonist im Laufe des Romans Niederschläge erleiden, die ihn in gesteigerter Form tref- fen. Der erste ist kaum wahrnehmbar im Betrug des Freundes Lüders angelegt, woraufhin sich Biberkopf in seine Wohnung zurückzieht und vor sich hin döst. Die Gutmütigkeit Biberkopfs wird zum ersten Mal erschüttert, und er merkt, dass das Leben in der Legalität schamlos von seinen Mitmenschen ausgenutzt wird. Im fünften Buch ist Biberkopf wieder obenauf, er hat sich von dem ersten Schlag erholt und verkauft nun Zeitungen auf dem Alexanderplatz. Doch „er wird in ein Verbrechen hineingerissen, er will nicht, er wehrt sich, aber er muß müssen.“39 Es kommt zu der verhängnisvollen Begegnung mit der Pums-Bande und Reinhold, seinem mächtigen Gegenspieler, den er gnadenlos unterschätz. Zwischen Biberkopf und Reinhold entwickelt sich eine Art Freundschaft, die sich in einer Zweckgemeinschaft ausdrückt. Reinhold reicht seine jeweilige Geliebte nach vier Wochen an Biberkopf weiter, der sich gerne um die Frauen kümmert, bis er auf die Idee kommt, die Mädchen in den Kreislauf einzuwei- hen, in dem sie stecken. Parallel wird er von der Pums-Bande, unter dem Vor- wand, es sei jemand ausgefallen, für einen Raubzug angeworben; er soll zu- nächst nur Schmiere stehen. Während einer wilden Verfolgungsjagd im An- schluss an den Raubzug wird Biberkopf jedoch aus dem fahrenden Auto ge- worfen und verliert einen Arm, als ihn das nachfolgende Auto überrollt. Der zweite Schlag erfolgt, dieses Mal in physisch greifbarer Form. Biberkopf wird in eine Magdeburger Klinik eingeliefert. Nachdem die Gesundheit wiederher- gestellt ist, wagt sich Biberkopf ein drittes Mal zurück ins Zentrum, auf den Alexanderplatz, das Anständigsein hat er aufgegeben. Zum ersten Mal kann Biberkopf eine originäre Liebesbeziehung eingehen. Mit Emilie Parsunke, die Mieze gerufen wird, führt er eine partnerschaftliche Beziehung, gleichzeitig geht sie für ihn anschaffen. Nach einigem Zögern, schließlich liegt der Ver- dacht nahe, Biberkopf wolle sie der Polizei melden, nimmt ihn auch die Pums- bande wieder auf. Doch die Freundschaft mit Reinhold ist einer Rivalität gewi- chen, wobei Biberkopf sich als den Stärkeren sieht. Schließlich rächt sich Reinhold an Biberkopf, indem er Mieze in Freienwalde erwürgt und unter Mit- hilfe eines Dritten verscharrt. Biberkopf nimmt zuerst an, Mieze sei mit einem ihrer „Gönner“ verreist, später denkt er, sie habe ihn verlassen, bis er die ganze Wahrheit aus der Zeitung erfährt. Der dritte Schlag trifft Biberkopf so hart, dass er in die Nervenanstalt Berlin-Buch eingeliefert werden muss; er ist wahnsinnig geworden. Immer tiefer versinkt Biberkopf in seiner Verzweiflung, doch durch die traumhafte Begegnung mit dem Schnitter Tod werden seine Lebensgeister geweckt. Biberkopf erholt sich, er wird freigesprochen (auch er wurde im Mordfall Mieze verdächtigt) und bekommt schlussendlich eine Stelle als Hilfsportier in einer mittleren Fabrik angeboten.

[...]


1 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München 1997. [Nachfolgend als BA mit Angabe der Seitenzahl zitiert]

2 Sven Regener: Herr Lehmann. Frankfurt a. M. 2001. [Nachfolgend als HL mit Angabe der Seitenzahl zitiert]

3 Vgl.: Rolf Grimminger: Aufstand der Dinge und der Schreibweisen. Über Literatur und Kultur der Moderne. In: Rolf Grimminger, u.A. (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbeck bei Hamburg 1985, S. 12-40. Hier: S. 18f.

4 Vgl.: Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933. S. 147f.

5 Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 51999, S. 667-681.

6 Ebd., S. 667.

7 Vgl.: Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik. München 62006, S. 184ff.

8 Vgl.: Fähnders: a.a.O., S. 233f.

9 Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München 1969. In den „Vorsätzen“ wird der Begriff des Vorwurfs „Stadt“ eingeführt, definiert und erläutert.

10 Diese These stellt Norbert Mecklenburg, auch mit Verweis auf die von Klotz hergestellte Beziehung zwischen Stadt und Roman, auf. Vgl.: Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein 1982.

11 Vgl.: Klotz: a.a.O., S. 9-21.

12 Angelika Corbineau-Hoffmann: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt. Darmstadt 2003.

13 Lars-Olav Beier, u.A.: „Großstadt ohne Größenwahn“ In: Der Spiegel 12/2007, 19.03.2007, S. 22ff.

14 Ebd.

15 Siehe dazu: Der Spiegel 12/2007, S. 26: „1,7 Millionen Berliner haben die Stadt seit 1991 verlassen, 1,8 Millionen Leute sind hinzugezogen.“

16 Ralf Georg Bogner: Einführung in die Literatur des Expressionismus. Darmstadt 2005, S. 7. In der Einleitung wird auch die Begriffsgeschichte zum „Expressionismus“ dargestellt, die zeigt, wie problematisch und konstruiert eine Epochenbezeichnung sein kann.

17 Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm (1914). In: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten 1989, S. 119-123. Hier: S. 123.

18 Zur Schwierigkeit der Einordnung Kleists reicht ein Blick in das erste Kapitel der „Kleist“ Monographie: Curt Hohoff: Heinrich von Kleist mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Curt Hohoff. Hamburg 321999.

19 Trotz dieser Tatsache wird der Roman schon im Deutschunterricht eingesetzt, auch universi- täre Seminare nehmen sich „Herr Lehmann“ zum Thema, im Wintersemester 2006/2007 bei- spielsweise, wurde den Studenten der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ein Blockseminar zu dem Roman angeboten. Ein erster Schritt also, zur literaturwissenschaftlichen Auseinander- setzung mit Sven Regener ist getan, diese Arbeit bietet natürlich weiteren Diskussionsanlass.

20 Vgl. dazu das Standardwerk zur Postmoderne: Jean-François Lyotard: Das Postmoderne Wissen. Wien 41999.

21 Vgl. dazu: Peter Tepe: Mythos & Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung. Würzburg 2001.

22 Vgl.: Klotz: a.a.O.

23 Vgl.: Christof Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellung zwischen Naturalismus und Moderne. Wiesbaden 1992. S. 14.

24 Vgl.: Ebd., S. 13.

25 Vgl.: Ebd., S. 17.

26 Charles Baudelaire: Les fleurs du mals. Übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Stuttgart 1984.

27 Franz Hessel: Spazieren in Berlin. Berlin 1929.

28 A.a.O.

29 Gudrun Klatt: Paris - Berlin bei Walter Benjamin. In: Peter Wruck: Literarisches Leben in Berlin. Band II. Berlin 1987. S. 279-321. Hier: S. 294.

30 Dolf Oehler: Flaneur und Bürgerschreck. Die literarische Provokation Baudelaires. In: Rolf Grimminger; Jurij Murasov, Jörn Stückrath (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbeck b. Hamburg 1995, S. 42-63. Hier: S. 59.

31 Charles Baudelaire: „Der Maler des modernen Lebens“ In: Ders.: Der Künstler und das mo- derne Leben. Essays, „Salons“, intime Tagebücher. Hrsg. von Henry Schumann. Leipzig 1990, S. 301.

32 Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Herausgegeben von Walter Muschg. Olten 1963, S. 391.

33 Vgl.: Johannes Roskothen: Verkehr. München 2003. S. 249.

34 Näheres dazu im Kapitel 1.2, an dieser Stelle sollte lediglich der Bezug zu „Ulysses“ hergestellt werden.

35 Vgl.: Eckhard Lobsien: Der 16. Juni 1904. James Joyce und die Odyssee durch die Zeit. In: Rolf Grimminger; Jurij Murasov, Jörn Stückrath (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbeck b. Hamburg 1995, S. 395-424. Hier: S. 395ff.

36 Vgl.: Ebd., S. 397ff.

37 BA, S. 8

38 BA, S. 92f.

39 BA, S. 144.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Berlin-Romane des 20. Jahrhunderts
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
74
Katalognummer
V78525
ISBN (eBook)
9783638785945
ISBN (Buch)
9783640858163
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Berlin-Romane, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Jan Beckers (Autor:in), 2007, Berlin-Romane des 20. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78525

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