"Nos" (1836) - Das Groteske bei N. V. Gogol

Das Stilmittel des Grotesken als Kritik an der Gesellschaft am Beispiel von Gogols "Nase"


Seminararbeit, 2005

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Hauptteil
1. Das Groteske
2. Historischer Kontext
3. Nikolaj Gogol, Die Nase/Nos
4. Das Stilmittel des Grotesken als Kritik an der Gesellschaft am Beispiel von Gogols „Nase“

III. Zusammenfassung

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Auf den folgenden Seiten werde ich mich mit dem Groteske-Begriff und, in Zusammenhang damit, mit Gogols Erzählung Nase beschäftigen.

Neben der Einordnung der Novelle in den historischen Kontext sowie der Analyse der Nase werde ich mich vor allem mit dem Groteske-Begriff auseinandersetzen. Die Frage, die sich mir während meiner Ausführungen stellte, war, an welchen Episoden der Erzählung man das Groteske als Mittel zur Kritik an der Gesellschaft wieder findet.

Gogol veröffentlichte seine Novelle im Jahre 1836. Mehr als andere Werke war die Nase der Zensur unterworfen. Während Puschkin das Werk lobte und vor der Veröffentlichung die Bemerkung vorausschickte, dass „ wir darin soviel Unerwartetes, Phantastisches, Fröhliches und Originelles fanden “,[1] empfanden viele Kritiker das Werk als unangemessen und trivial. Dennoch regte die Nase immer wieder zu den unterschiedlichsten Interpretationen an. Einige werde ich im Folgenden kurz vorstellen.

Um das Stilmittel des Grotesken nun noch auf Gogols Erzählung anwenden zu können, ist es unablässig, sich die Entwicklung des Grotesken-Begriffs anzuschauen. Während zunächst ein kurzer Überblick über die historische Entwicklung des Begriffes gegeben werden soll, folgen dann einige neuzeitliche Erklärungsansätze, die das Groteske als das Phantastische und Ungeheuerliche erklären, welches die Normen der Welt in Frage stellt. Der Leser soll geschockt und verblüfft und dadurch zum Denken angeregt werden, denn „ dem Raster, das der Mensch auf die Welt anlegt, wird Schaden zugefügt.“[2]

Gogol schaffte es mit Hilfe des Grotesken, Kritik an der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhundert zu üben, die vor allem geprägt war durch Ausbeutung, Korruption und polizeiliche Kontrollen. Mit der Vermischung realistischer und phantastischer Momente erzeugte Gogol ein groteskes Moment, das die eigentliche Normalität, die Realität der Welt als überspitzt darstellt und dadurch auf Missstände aufmerksam macht.

II. Hauptteil

1. Das Groteske

Im Gegensatz zum Tragischen oder Satirischen ist das Groteske eine eher junge Kategorie der Ästhetik. Erst im 16. Jahrhundert fand sie Eingang in die Kunstwissenschaft, die Literaturwissenschaft eroberte sie sogar erst Ende des 18. Jahrhunderts. „Grotesk“ – das ist die italienische Bezeichnung für Höhle oder Grotte (´grotta´). Ende des 15. Jahrhunderts wurden bei Ausgrabungen in Italien Fresken zu Tage gebracht, bei denen pflanzliche und tierische Elemente vermischt waren und die einen ausschließlich dekorativen und nicht darstellenden Charakter besaßen. Waren Grotesken zunächst „ phantasievolle Gebilde, die gefallen sollten “,[3] wandelte sich diese Ansicht, sobald klassische Prinzipien wie Realitätstreue Norm bildend wurden.[4]

Im Laufe des 17. Jahrhunderts geriet die eigentliche Bedeutung des Wortes ´grotesk´ immer mehr in Vergessenheit. Vielmehr zeigte sich nun die Konnotation des Lächerlichen, wie man im Wörterbuch von Richlet 1680 nachlesen kann. Während das Adjektiv ´grotesque´ als „ plaisamment ridicule “ erklärt und in Bezug auf Menschen, Aussehen und Handlung angewendet wird, ist das Hauptwort ´Grotesques´ ein Begriff der Malerei, um „ noch nie Dagewesenes, welches lachen mache “ zu erklären.[5]

In ähnlicher Weise war ein Bedeutungswechsel in England zu verfolgen. Das Groteske galt nun nicht mehr als ein Produkt der Künste, sondern wurde benutzt, um beispielsweise Landschaften zu bezeichnen. Die Verschiebung fand statt von der ´Realitätsferne´ hin zur ´Abweichung vom Idealen´.[6]

Ausgehend von der Bedeutung in der bildenden Kunst wurde der Begriff des Grotesken im Laufe der Zeit auf andere Bereiche übertragen. Zeigten sich am Anfang noch Konnotationen mit dem Phantastischen, Unnatürlichen sowie im 17. Jahrhundert mit dem Lächerlichen und Komischen, wurde der Begriff ´Grotesk´ im 18. Jahrhundert hauptsächlich auf das Niedrigkomische wie Karikaturen, Burlesken oder Farcen angewandt. Welche Erscheinungen in der Literatur als ´grotesque´ bezeichnet wurden, zeigt sich bei Frances K. Barasch, der erklärte, „ [that] the grotesque was seen in medieval Romances and Renaissance commedia, in the mixed genre and styles of medieval mysteries and in the low comedy of Renaissance farce. It was found in eighteenth-century character writing and in the naturalistic or ´humoristic´ characters of the eighteenth-century picaresque novel.“[7] Barasch betonte hier die Bedeutungsverlagerung weg von der Phantastik, hin zur Komik mit Realitätsbezug. In scharfem Gegensatz dazu erläuterte Immanuel Kant, dass „ Grotesken entstehen, wenn man der Einbildungskraft freien Lauf lässt, so daß jeglicher durch Regeln auferlegte Zwang umgangen wird.“[8] Kant erklärte somit, dass Groteske nur dann akzeptabel sei, wenn es von Vernunft geleitet wird. Diese Definition des Grotesken in der Bedeutung von Phantasiegebilden kam dem Groteske-Begriff der Romantik sehr nahe: „ In the Romantic period the word grotesque, like the word Gothic, is applied to literature. In the Romantic literature ist chief senses are ´highly fanciful´, ´fantastic´, and ´exceedingly strange´, without a pejorative coloration.“[9]

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es nun drei Definitionen des Grotesken, einmal als die Unterart des Komischen, als besondere Ausprägung der Satire und als Gestaltungsmittel der dämonischen Weltsicht.[10]

Als Unterart des Komischen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die karikaturistisch-komische oder aber die phantastisch-humorvolle Seite des Grotesken betont. In den Ästhetiken des 20. Jahrhunderts war das Wesensmerkmal des Grotesken das Grob-Komische oder die komisch-phantastische Verzerrung. Während diese Einteilungen jedoch keine genauen Definitionen des Begriffs abgaben, da die Groteske entweder in die „ komische Posse “ oder aber in die „ willkürliche phantastische Verzerrung “ gedrängt wurde,[11] zeigte F. Th. Vischer mit der Definition des Grotesken als „ das Komische in der Form des Wunderbaren[12] das größte Verständnis für den Groteske-Begriff. Er stellte den Montage-Charakter in den Vordergrund und erklärte, dass „ Mechanismen, Pflanzen, Tiere zu Menschen werden und umgekehrt, sei es durch deutliche Verbindung von Gliedern und Teilen dieser verschiedenen Reiche, sei es durch unbestimmtes Hinüberspielen.“[13]

Das Groteske als besondere Ausprägung der Satire wurde vor allem von sowjetischen Literaturwissenschaftlern vertreten. Sie bezeichneten das Groteske als identisch mit der Satire und schlugen vor, den Begriff des ´Grotesken´ durch ´Übertreibung´ (preuvelicenie) und ´Verschärfung´ (zaostrenie) zu ersetzen.[14] Während ein Teil der Literaturwissenschaftler das Groteske als die „ höchste Form der komödienhaften Übertreibung und Zuspitzung[15] definierten und ihr damit einen Eigenbereich innerhalb der Satire zugestanden, erklärten andere wiederum das Groteske als „ Ausdrucksmittel sozialer Mängel, die in der Wirklichkeit nicht eine unmittelbare sichtbare sinnliche Gestalt haben.[16]

Als dritte Definition wurde das Groteske als Gestaltungsmittel einer dämonischen Weltsicht angegeben. Es galt als ein Symbol der Zerstörung aller hervorgebrachten Normen und wurde damit zum Gegenpol des Erhabenen. Gerade in der romantischen Erzählkunst galt als entscheidendes Wesensmerkmal des Grotesken die dämonische Weltsicht. Das Groteske wurde zum Ausdruck unheimlicher Bedrohung des Menschen. Die Welt, die dargestellt wurde, war fremd und unheimlich und eine Welt, „ in der dem Leser der Boden unter den Füßen weggezogen wird.“[17] Besonders gekennzeichnet war das Groteske als dämonisches Gestaltungsmittel durch die Nähe zum Hässlichen und durch eine Verbindung disharmonischer Formen, beispielsweise durch das Zusammenbringen unvereinbar scheinender Bereiche wie Hass und Liebe, Edelmut und Gemeinheit, Geburt und Tod oder Anfang und Ende.[18]

Peter Fuß, Autor des Buches „ Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels[19], differenzierte das Groteske in drei Mechanismen: dem Monstrositas-Mechanismus, also Mechanismen der Verzerrung wie Vergrößerung, Verkleinerung und Verschiebung bekannter Relationen, den Morphologien - dies bedeutet die Vermischung von Unvereinbarem wie tierisch-menschliche, technisch-menschliche oder nur technische Gestaltungsformen - sowie der Invertierung, die das Gewohnte und Normale umkehrt, so dass es zum Außergewöhnlichen wird.[20] Neben diesen drei Hauptkriterien für ein groteskes Moment trat ein weiteres wichtiges Element hinzu, der Dualismus zwischen Anziehung und Abstoßung, Faszination und Rückzug.[21] Das Groteske erzeugt folglich ein Spannungsverhältnis zwischen der realen und der erfunden, irrealen Welt. Allerdings wird die Ebene der Realität nie verlassen, sondern der erfundenen Welt gegenüber gestellt. Das Groteske vereinigt also Realität und Fiktion in sich und kann somit als „ das Phantastisch-Übertriebene, das Ungeheuerliche, das Furcht und Lachen erregt “ gelten.[22]

[...]


[1] Günther, Hans: Das Groteske bei N. V. Gogol. Formen und Funktionen, in: Slavistische Beiträge, München 1968,
Band 34, S.131.

[2] Sinic, Barbara: Die sozialkritische Funktion des Grotesken, in: Wiener Beiträge zu Komparatistik und
Romanistik, Band 12, hrsg. Von Kanduth, Erika; Martino, Alberto; Noe, Alfred, Frankfurt/Main 2003, S.67.

[3] Sinic: Sozialkritische Funktion des Grotesken, S.9.

[4] Ebd., S.9.

[5] Richelet, César Pierre: Grotesque, in: Dictionnaire François, contenant les mots et les choses, Mikrofiche-Edition,
Genf 1680.

[6] Sinic: Sozialkritische Funktion des Grotesken, S.11.

[7] Barasch, Frances K.: The grotesque. A study in meanings, The Hague 1971, S.152.

[8] Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, in: ders., Werke in sechs Bänden,
Wiesbaden 1957, Band V, S.326 f.

[9] Sinic: Sozialkritische Funktion des Grotesken, S.17.

[10] Günther: Das Groteske bei Gogol, S.11.

[11] Ebd.: S.12.

[12] Ebd.: S.12.

[13] Ebd.: S.12.

[14] Günther: Das Groteske bei Gogol, S.13.

[15] Ebd.: S.13.

[16] Ebd.: S.14.

[17] Ebd.: S.18 f.

[18] Sinic: Die sozialkritische Funktion des Grotesken, S.57.

[19] Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2002.

[20] Georgi, Oliver: Das Groteske in Literatur und Werbung, Stuttgart 2003, S. 21 f.

[21] Georgi: Das Groteske in Literatur und Werbung, S. 23.

[22] Ebd.: S.26.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
"Nos" (1836) - Das Groteske bei N. V. Gogol
Untertitel
Das Stilmittel des Grotesken als Kritik an der Gesellschaft am Beispiel von Gogols "Nase"
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Veranstaltung
Grundlagen der Analyse epischer Texte (am Beispiel der russischen Literatur der Romantik und des Realismus)
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
19
Katalognummer
V78485
ISBN (eBook)
9783638840033
ISBN (Buch)
9783638840071
Dateigröße
488 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Groteske, Gogol, Grundlagen, Analyse, Texte, Beispiel, Literatur, Romantik, Realismus)
Arbeit zitieren
Anna Lenkewitz (Autor:in), 2005, "Nos" (1836) - Das Groteske bei N. V. Gogol, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78485

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