Mikropolitik und Organizational Misbehaviour

Eine vergleichende Analyse aus identitätstheoretischer Perspektive


Diplomarbeit, 2006

116 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Ziele der Arbeit
1.2 Abgrenzung des Themas
1.3 Aufbau der Arbeit

2 Identität
2.1 Zum Begriff ‚Identität’
2.2 Identität aus der sozialpsychologischen Perspektive Meads
2.2.1 Persönlichkeitsentwicklung als Identitätsausbildung
2.2.2 Die beiden Erfahrungsprozesse der Identitätsbildung
2.3 Identität aus der soziologischen Perspektive Krappmanns

3 Mikropolitik
3.1 Zum Begriff ‚Mikropolitik’
3.1.1 Abgrenzung der Mikropolitik von Makropolitik
3.1.2 Mikropolitische Ansätze
3.1.2.1 Aspektuales Verständnis von Mikropolitik
3.1.2.2 Konzeptuales Verständnis von Mikropolitik
3.1.3 Begriffsdefinition von ‚Mikropolitik’ im relevanten Kontext
3.2 Strategische Organisationsanalyse - Die Konzepte strategischen Verhaltens in Organisationen
3.2.1 Das Konzept der Macht
3.2.1.1 Definition ‚Macht’
3.2.1.2 Machtbeziehungen: die Basis für Verhalten in Organisationen
3.2.1.3 Die vier großen Machtquellen
3.2.2 Das Konzept der Strategie
3.2.3 Das Konzept der Umweltbeziehungen
3.2.4 Das Konzept des Spiels
3.2.4.1 Das Spiel: das Instrument für Verhalten in Organisationen
3.2.4.2 Politische Spiele in Organisationen nach Ortmann et al.
3.3 Betrachtung von Mikropolitik aus einer identitätstheoretischen Perspektive
3.3.1 Der Begriff ‚Bezugsfähigkeiten’ von Crozier und Friedberg
3.3.2 Bildung generalisierter Erwartungen
3.3.3 Bewusste Anpassung
3.3.4 Bewahrung der relativen Autonomie
3.3.5 Extrinsische und intrinsische Interessen

4 Selbstorganisation als Infrastruktur von Organizational Misbehaviour
4.1 Die Selbstorganisation von Arbeitern
4.1.1 Definition ‚Selbstorganisation’
4.1.2 Formale versus informelle Gruppen
4.1.2.1 Funktionen und Vorteile informeller Gruppen
4.1.2.2 Cliquen
4.1.3 Verantwortliche Autonomie
4.1.4 Funktionen der Selbstorganisation
4.2 Organizational Misbehaviour
4.2.1 Definition ‚Organizational Misbehaviour’
4.2.2 Die vier Dimensionen von Organizational Misbehaviour
4.2.2.2 The appropriation of work
4.2.2.2.1 Leistungsregulation und Leistungszurückhaltung
4.2.2.2.2 Sabotage
4.2.2.3 The appropriation of product
4.2.2.3.1 Diebstahl
4.2.2.3.2 Unterschlagung
4.2.2.1 The appropriation of time
4.2.2.1.1 Absentismus
4.2.2.1.2 Fluktuation
4.2.2.4 The appropriation of identity
4.2.2.4.1 Rituale
4.2.2.4.2 Joking Behaviour
4.3 Betrachtung von Organizational Misbehaviour aus einer identitätstheoretischen Perspektive
4.3.1 Identitätsbedrohungen und Identitätschancen – Organizational Misbehaviour als Möglichkeit der Identitätsentwicklung
4.3.2 These bezüglich des Vorgang zur Identitätsentwicklung

5 Vergleich von Mikropolitik und Organizational Misbehaviour unter dem Identitätsaspekt
5.1 Ein schmaler Grad zwischen Mikropolitik und Organizational Misbehaviour
5.2 Existenz informeller Gruppen in der Mikropolitik
5.3 Auslegung der für Organizational Misbehaviour aufgestellten These auf die Mikropolitik
5.4 Balanceakt der Identität im Organizational Misbehaviour
5.5 Fazit

6 Schlussbetrachtung

7 Ausblick
7.1 Laterales Führen
7.2 Commitmentstrategien
7.3 Moderne Rituale
7.4 Fazit

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Perspektiven mikropolitischen Verhaltens.

Abbildung 2: Abgrenzung von formaler und informeller Gruppe.

Abbildung 3: Dimensions of Misbehaviour.

Abbildung 4: Drei Ebenen ritueller Praxis.

Abbildung 5: Wirkungsdimensionen von Ritualen.

Abbildung 6: Informelle Gruppen in der Mikropolitik.

Abbildung 7: Arten aktueller wirtschaftskrimineller Handlungen in Unternehmen.

Abbildung 8: Analysefragen für Kooperationen.

Abbildung 9: Vier Arten moderner Rituale.

1 Einleitung

1.1 Problemstellung und Ziele der Arbeit

Organisationen sehen sich immer wieder vor die Lösung des Problems gestellt, wie die individuellen Interessen und Bedürfnisse der Organisationsmitglieder mit den Fähigkeiten dieser zu verknüpfen sind. Denn auch eine solche Verbindung ist in einem erheblichen Maße für den dauerhaften Bestand und Erfolg einer Organisation verantwortlich und hilft die Funktionsfähigkeit der Organisation zu sichern. Das Entstehen einer erfolgreichen Kooperation der Organisationsmitglieder untereinander bis hin zu synergetischen Beziehungen wird durch Konflikte, die aus der Verfolgung unterschiedlicher Interessen herrühren, gehemmt oder gar ganz unterbunden. Das individuelle Einkommen sowie persönliche Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten der Organisationsmitglieder sind u. a. von der Entwicklung einer Organisation abhängig. Somit erscheint es für einen positiven Werdegang der Organisation notwendig, sämtliches Konfliktpotential, also die individuellen Bedürfnisse einzelner zu kanalisieren und ggf. zu steuern.

Insbesondere werden die Entwicklungspotentiale der individuellen Identitäten der einzelnen Organisationsmitglieder durch Normen, Strukturen und Regelungen stark beschränkt oder zumindest nicht gefördert. Da die zentrale Frage der Identitätsforschung „Was bin ich?“ anscheinend untrennbar mit der Frage „Was tue ich?“ bzw. „Was bewirke ich?“ sowie der existentiellen Frage „Was an meinen Handlungen erfolgt aus mir selber heraus, und was findet seine Ursachen in meiner Umwelt?“ (Müller, 1981, 134) verbunden ist, suchen die Organisationsmitglieder nach anderen individuellen Chancen für ihre Identitätsgewinnung bzw. -behauptung. Diese individuellen Chancen ergeben sich aus Handlungen, die dem Bereich des Organizational Misbehaviour’s[1] zuzuordnen sind oder mikropolitischen Aktionen bzw. Zielsetzungen entspringen.

Problemstellung dieser Arbeit ist die Behandlung der Themen ‚Mikropolitik’ – die Grundlage strategischen Handelns von Akteuren in Unternehmen – und ‚Organizational Misbehaviour’ unter einer identitätstheoretischen Perspektive sowie der Vergleich beider identitätsstiftenden Verhaltensformen. Als zentrale Fragen sind zu beantworten: Wie kann ein Individuum durch den Einsatz mikropolitischer Strategien oder durch Formen von Organizational Misbehaviour individuelle Identität behaupten und / oder gewinnen? Was sind die Voraussetzungen für die Ausbildung der individuellen Identität?

Aus der obigen Problematik kann ein innerhalb der Organisation ausgetragener Wettbewerb um die bestehenden Einkommens-, Karriere- und Entwicklungspotentiale zwischen den Akteuren entstehen, der mehr oder weniger offen oder verdeckt stattfindet. Das mikropolitische Organisationskonzept nimmt auf diesen Bezug und setzt sich zum Ziel, eine positive Zusammenarbeit der Organisationsmitglieder trotz der unabwendbaren Interessengegensätze herbeizuführen. Dabei werden die Spielregeln, Strategien und Handlungsmöglichkeiten sowie die Machtprozesse des Wettbewerbs analysiert. Die mikropolitischen Spiele können die Organisations- aber auch die Persönlichkeitsentwicklung und damit die individuelle Identitätsentfaltung der Organisationsmitglieder fördern. Somit soll in dieser Arbeit die identitätsfördernde Funktion der Mikropolitik dargelegt werden.

Organizational Misbehaviour zielt nicht darauf ab, Kooperation herbeizuführen, sondern darauf, dass sich die Organisationsmitglieder in informellen Gruppen selbstorganisieren, um durch gemeinsames Handeln die persönlichen Interessen erfüllen zu können, womit insbesondere die Ausbildung der individuellen Identität gemeint ist.

Organizational Misbehaviour wurde, so S. Ackroyd und P. Thompson (1999), sowohl von Theoretikern als auch Praktikern häufig vernachlässigt und / oder übersehen. Es wurde unterschätzt und als unwesentlich abgetan (vgl. ebd. 5). Eine weitere Aufgabe dieser Arbeit ist es deshalb, die grundlegenden Formen von Organizational Misbehaviour herauszuarbeiten. Spricht man über Organizational Misbehaviour, so wird dies stets als negativ und unproduktiv abgehandelt. Die positive, nämlich identitätsstiftende, Funktion von Organizational Misbehaviour aufzuzeigen, ist aus diesem Grund eine zusätzliche Obliegenheit dieser Arbeit.

1.2 Abgrenzung des Themas

Aufgrund der Vielschichtigkeit des Themas liegt ein Schwerpunkt der Arbeit auf der Erläuterung des mikropolitischen Verhaltens und der Anwendung von Organizational Misbehaviour durch die Organisationsmitglieder.

Formalstrukturen schränken nicht nur Mitarbeiter ein, sondern gleichsam Vorgesetzte, weshalb auch das Management mikropolitisch tätig werden kann und deshalb Formen von Organizational Misbehaviour für die Erfüllung der individuellen Interessen nicht verwirft. Oftmals zeigt sich ein solches Verhalten, indem Vorgesetzte die Untergebenen sogar zu Organizational Misbehaviour anstiften, deren Fehlverhalten bewusst übersehen oder eigens manipulativ aktiv werden. Das Organizational Misbehaviour des Managements nimmt dann Formen wie z. B. Betrug und Schikane an. In der folgenden Arbeit kann nicht detailliert auf derartiges Managementverhalten eingegangen werden. Wegen der Relevanz für die Organisation wird es allerdings nicht gänzlich vernachlässigt, sondern teilweise darauf hingewiesen.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt, im Zusammenhang mit der Identitätsbehauptung, auf der Verdeutlichung der positiven Auswirkungen der beiden Verhaltensarten. Negative Effekte für die Organisation sind, insbesondere beim Organizational Misbehaviour, offensichtlich: Eine Reduzierung der Arbeitsproduktivität in Verbindung mit einer Erhöhung der Gemeinkosten führt zu einer Abnahme des Unternehmenserfolgs. Trotz der hohen Bedeutung wird in dieser Arbeit hierauf nicht eingegangen.

In Bezug auf die Darlegung der Mikropolitik ist es wegen des hohen Komplexitätsgrades ebenfalls unmöglich, alle Ansätze mikropolitischen Verhaltens in Unternehmen zu berücksichtigen. Hauptgegenstand dieser Arbeit zum Themenbereich Mikropolitik sind die Ansätze von M. Crozier und E. Friedberg (1977)[2], welche den Anstoß für die Mikropolitikforschung gaben, und die hierauf aufbauenden mikropolitischen Forschungen und Erkenntnisse von W. Küpper (1986, 1992, 1993, 2000) und G. Ortmann (1986, 1990, 1992). Auf mikropolitische Verhaltenskonzepte nach H. Bosetzky (1972, 1992) und T. Burns (1961) wird kurz eingegangen, während weitere Analysten von Mikropolitik wie u. a. O. Neuberger (1990, 1995), K. Sandner (1988), H. Mintzberg (1983) hier nur erwähnt werden.

Auch können aufgrund der Vielfalt der Formen von Organizational Misbehaviour nicht alle Ausprägungen vorgestellt werden, welche in traditionell (z. B. Absentismus, Fluktuation, Leistungsregulation und -zurückhaltung, Sabotage, Betrug, Schwindel, Diebstahl und Unterschlagung) und modern (z. B. Humor, Sexual Misconduct, grober Unfug und die Anwendung von Ritualen) unterschieden werden. Mit Blick auf das Ziel dieser Arbeit, nämlich der Untersuchung der Herausbildung der eigenen Identität durch derartige Verhaltensformen, werden jedoch die wesentlichen Formen behandelt.

Die Formen von Organizational Misbehaviour in Verbindung mit der Beantwortung der Frage, wie ein Individuum während der Arbeit seine individuelle Identität behaupten kann, kommen besonders in Arbeitsorganisationen wie Produktionsstätten zum Ausdruck, weshalb diese im Kern der Betrachtung stehen. Deren Ausprägungen genau wie mikropolitisches Verhalten finden jedoch bekanntlich in allen Formen von Organisationen z. B. auch in Dienstleistungsunternehmen oder Verwaltungsbehörden statt.

1.3 Aufbau der Arbeit

Im zweiten Kapitel wird zunächst der Begriff der Identität diskutiert, sowie die zentralen Impulse für die Identitätsforschung dargestellt. Diese sind auf den Sozialpsychologen G. H. Mead (1980) und den Soziologen L. Krappmann (1988) zurückzuführen. Das Kapitel schließt mit der Erläuterung des Balanceaktes zwischen der sozialen und persönlichen Identität als wesentlicher Prozess der individuellen Identitätsentwicklung ab.

Das dritte Kapitel stellt das organisationstheoretische Konzept mikropolitischen Handelns vor, bei dem eine Verknüpfung zwischen der Handlungsperspektive Interessen verfolgender Organisationsmitglieder und der Systemperspektive (vgl. Küpper, 2004, 861 f.) durchgeführt wird. Nach einer Einführung in die Thematik erfolgt eine Definition des Begriffs Mikropolitik, wobei die Schwierigkeit besteht, dass der Ausdruck ‚Mikropolitik’ durch viele unterschiedliche, sich widersprechende Verständnisse geprägt worden ist. Dadurch kam es zu unterschiedlichen wirtschaftlichen Konzepten für die Erklärung der Mikropolitik, wobei die grundsätzlichen Perspektiven hier dargelegt werden: zum einen das aspektuale Verständnis nach H. Bosetzky (1972, 1992) und zum anderen das konzeptuale Verständnis, welches durch Crozier und Friedberg (1993) sowie weiterführend von Küpper und Ortmann (1986) entwickelt wurde. Diese Ausführungen sind gleichsam relevant für die theoretische Einordnung der ebenfalls zu erläuternden Formen von Organizational Misbehaviour. Daran anschließend wird die strategische Organisationsanalyse von Crozier und Friedberg (1993) thematisiert, die auf den zentralen Konzepten Macht, Strategie, Spiel und Umwelt basiert. Anhand der Analyse dieser vier Konzepte und deren Zusammenhänge sollen die wesentlichen Elemente und Gründe mikropolitischen Verhaltens verdeutlicht werden. Abschließend findet eine Analyse des mikropolitischen Konzepts in Bezug auf die Identitätsfindung und -behauptung der Organisationsmitglieder in Organisationen statt.

Das vierte Kapitel befasst sich mit der Selbstorganisation von Arbeitnehmern. Im Zusammenhang dazu erfolgt, abgrenzend zu ihrer formalen Form, eine Erläuterung der informellen Gruppen, ihrer Funktionen und einer Abwandlung. Hierauf folgt die Analyse des Organizational Misbehaviour’s, für deren Formen die Selbstorganisation von Organisationsmitgliedern in informellen Gruppen den organisatorischen Unterbau darstellt. Organizational Misbehaviour, beinhaltet vier Dimensionen, welche es zu untersuchen gilt. Zu jeder Dimension werden je zwei Formen des organisationalen Fehlverhaltens mit ihren Wirkungen dargestellt. Hieran wird ebenfalls eine Betrachtung von Organizational Misbehaviour aus identitätstheoretischer Perspektive angeschlossen, indem eine These aufgestellt und theoretisch begründet wird.

Ein Vergleich der Identitätsaspekte von Mikropolitik und Organizational Misbehaviour und damit eine Gegenüberstellung beider Formen der individuellen Identitätsentfaltung erfolgt in Kapitel fünf.

In der Schlussbetrachtung werden die, in der Arbeit herausgearbeiteten, zentralen Erkenntnisse noch einmal erwähnt und auf die eingangs gestellten Fragen zusammenfassend eingegangen.

Im Ausblick werden Lösungsaspekte vorgeschlagen, die die negativen Folgen mikropolitischen Verhaltens und Organizational Misbehaviour’s reduzieren oder eliminieren sollen, dennoch auch die Identitätsentwicklung der Organisationsmitglieder ermöglichen.

2 Identität

2.1 Zum Begriff ‚Identität’

Der Begriff ‚Identität’ wurde in der Vergangenheit aus den verschiedensten Perspektiven[3] und in den unterschiedlichsten Disziplinen analysiert . So zum Beispiel in der Politologie, Ethnologie[4], Philosophie, Psychologie[5] und Soziologie. Es gibt demnach keine allgemein gültige Definition des Begriffs der Identität. Die bedeutsamsten Impulse für die Identitätsforschung lieferte jedoch der ‚symbolische Interaktionismus’, eine Nebenrichtung der Soziologie und Sozialpsychologie, dessen Begründer G. H. Mead (1980) war.

Die Identitätsdiskussion basiert hier auf dem Problem, wie in Anbetracht umfassender gesellschaftlicher Determinationen eine Person Individualität, Persönlichkeit oder, anders ausgedrückt, individuelle Identität entwickeln kann (vgl. Neuberger, 2002, 372). Es werden Fragen gestellt, wie „Was für ein Mensch ist das?“ und “ Wie ist jemand zu dem Menschen geworden, der er ist?“ (Felsch, 1998, 103).

Müller (1981, 61 f.) sieht die individuelle Identität als Integrationsmechanismus, der eintritt, wenn „der Mensch sich selber als selbstbestimmtes Wesen nicht mehr vorfindet, sondern sich psychologisch in seiner Umwelt auflöst resp. seine Integration nicht mehr zu gewährleisten vermag“. Er beschreibt Identität mit Hilfe der Definition von Döbert et al. (1980, 9): „Identität ist das durch die menschliche Fähigkeit der Reflexivität ermöglichte und durch die soziale Interaktion geprägte individuelle Konzept der eigenen Existenz als Voraussetzung der Lebensgestaltung, eine symbolische Struktur, die es dem Menschen erlaubt, im Wechsel der biographischen Zustände und über die verschiedenen Positionen im sozialen Raum hinweg Kontinuität und Konsistenz zu sichern“.

2.2 Identität aus der sozialpsychologischen Perspektive Meads

In den Sozialwissenschaften ist der Begriff der Identität mit G. H. Mead in Beziehung zu setzen. Meads Werk (1980) „Geist, Identität und Gesellschaft“[6] gilt als Klassiker der Sozialpsychologie. Mead beschäftigt sich mit dem Thema Identität bzw. Selbst[7] basierend auf einer behavioristischen[8] sozialpsychologischen Sichtweise, unter der er versucht, das entscheidende Problem der Identität zu lösen. Dieses ist für ihn die Frage, „wie ein Einzelner (erfahrungsgemäß) so aus sich heraustreten [kann], dass er für sich selbst zum Objekt wird?“ (ebd. 180). Meads Hauptaugenmerk liegt auf der Bildung und Entwicklung von Bewusstsein, Identität und Kompetenz des Individuums in der sozialen Konstitution, d. h. in und durch vernetzte/n Handlungen von Menschen, die auf die Lösung eines gemeinsamen Problems abzielen (vgl. Felsch 1996, 136).

Die durch sein Werk erbrachte Leistung ist diejenige, „dass sich die Genese des menschlichen Selbst durch das Medium symbolisch vermittelter Interaktionen vollzieht“ (Gugutzer, 2002, 33). Aus dem Zusammenwirken zweier Dimensionen – der gesellschaftlichen und der individuellen Dimension – (‚ICH’ und ‚Ich’) ergibt sich die Identität eines Akteurs, welche sich in sozialen, insbesondere sprachlich vermittelten Interaktionen vollzieht.[9]

2.2.1 Persönlichkeitsentwicklung als Identitätsausbildung

Mead (1980) setzt die Entwicklung von Identität mit der Entwicklung der Persönlichkeit gleich. Seine Überlegungen zur Persönlichkeitsentwicklung und zum Verstehen des menschlichen Denkens haben ihren Ursprung in einer Person-Umwelt-Interaktion. Die Entfaltung der Persönlichkeit versteht er als Ergebnis dieser Person-Umwelt-Interaktion (vgl. Felsch, 1996, 136), denn Identität kann nur im sozialen Kontext entstehen: Identität erwächst binnen eines gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, stellt also ein Bindeglied zwischen Akteur und Gesellschaft dar (vgl. Mead, 1980, 177). Der Sprachprozess ist ein maßgeblicher Bestandteil der Identitätsentwicklung (vgl. ebd. 177). Indem der Akteur auf sich selbst reagiert, tritt Identität auf. Nur in der Sprache, so Mead, kann ein Individuum „sich selbst zum Objekt“ werden und er wird erst dann eine Identität erlangen können, wenn er „sich selbst zum Objekt“ (ebd. 184) geworden ist. Damit ist die Kommunikation entscheidend für den Entwicklungsprozess der Identität, denn ihre Anwendung ermöglicht es dem Individuum, auf sich selbst zu reagieren (vgl. ebd.): Der Akteur wird sich selbst zum Objekt, indem er auch (aus der Haltung der anderen) zu sich selbst spricht (vgl. Felsch, 1996, 137). Dies erfolgt durch Reflektieren und Denken. Die Sprache ist zentrales System signifikanter Symbole, welche die Grundlage des menschlichen Bewusstseins und der Fähigkeit zum reflektiv-intelligenten Handeln bildet (vgl. Müller, 1981, 62). Es wird eine Antwort auf die vorangestellte zentrale Frage zur Identitätsentwicklung[10] ermöglicht: Der Akteur tritt erfahrungsgemäß aus sich heraus, indem er „die Haltungen anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt oder eines Erfahrungs- und Verhaltenskontextes einnimmt, in den er ebenso wie die anderen eingeschaltet ist“ (Mead, 1980, 180).

2.2.2 Die beiden Erfahrungsprozesse der Identitätsbildung

Laut Mead (1980) erwächst die Identität bzw. die Persönlichkeit eines Akteurs, das Selbst, aus zwei Phasen der Erfahrung. Diese bezeichnet er kurz mit ‚ICH’ und ‚Ich’[11]. Identität ist ein „gesellschaftlicher Prozess“ (ebd. 221). Sie entfaltet sich aus dem „Zusammenspiel von Sich-selbst-als-Objekt- Erfahren [‚ICH’] und Sich-selbst-als-handelndes-Subjekt-Erleben [‚Ich’]“ (Felsch, 1996, 139; Felsch, 1998, 104). Die beiden Phasen, die es im Folgenden zu unterscheiden gilt, laufen im Prozess der Identitätsbildung getrennt ab, stellen aber Teile eines Ganzen dar (vgl. Mead, 1980, 221). Die Identität eines Akteurs wird durch die Übernahme der Haltungen anderer Akteure, die zu seiner gesellschaftlichen Gruppe gehören, und durch die sich daraus ergebende Beeinflussung des eigenen Verhaltens entwickelt. Während er die Haltungen der anderen übernimmt, läuft der Teilprozess des ‚ICH’ ab. Der Teilprozess ‚Ich’ ist die Reaktion des Individuums auf die übernommenen Einstellungen.

Das ‚ICH’ verkörpert Erwartungen und Reaktionen, die erlernten sozialen Rollen sowie die für das Selbstwertgefühl relevante Anerkennung der Interaktionspartner (vgl. Hillmann, 1994, 350). Hat sich ein Akteur die Haltungen seiner organisierten Gruppe einverleibt, so kennt er die Wünsche der Mitglieder und die Reaktionen auf jede seiner Handlungen. Das ‚ICH’ wird durch das Vorhandensein dieser Anschauungen der Gruppenmitglieder bestimmt, auf welches das ‚Ich’ reagiert (vgl. Mead, 1980, 218). Identität „(hat) der Einzelne… nur im Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe. Die Struktur seiner Identität drückt die allgemeinen Verhaltensmuster seiner gesellschaftlichen Gruppe aus, genauso wie sie die Struktur der Identität jedes anderen Mitglieds dieser gesellschaftlichen Gruppe ausdrückt“ (ebd. 206). Das ‚ICH’ ist daher durch die Haltungen anderer organisiert. Es repräsentiert „die eher bestimmte, festgelegte, erinnernde Seite des Selbst“ (Felsch, 1996, 140; vgl. Mead, 1980, 218 ff.). Im Teilprozess ‚ICH’ wird auf Ansprüche, Forderungen und Pflichten der Gesellschaft eingegangen (vgl. Mead, 1980, 219). Er ist der konventionelle, gewohnheitsmäßige, soziale Teil der Identität (vgl. ebd. 241). In ihm tritt gesellschaftliche Kontrolle zum Vorschein, indem er indirekt auf das impulsive Verhalten des ‚Ich’, auf dessen Richtung und Ausmaß, einwirkt (vgl. ebd. 254).

Im zweiten Teilprozess der Identitätsbildung, dem ‚Ich’, wird auf eine gesellschaftliche Situation, die in der Erfahrung des Individuums liegt, reagiert. „Es ist die Antwort des Einzelnen auf die Haltungen der anderen ihm gegenüber, wenn er seine Haltung ihnen gegenüber einnimmt“ (Mead, 1980, 221). Das ‚Ich’ tritt in die Erfahrung eines Individuums erst ein, nachdem eine Handlung verwirklicht wurde (vgl. ebd. 219). Es entfaltet sich mit der Sozialisation. Es ist eine historische Figur, die in der eigenen Erfahrung direkt auftritt, denn das ‚Ich’ präsentiert sich stets in der Erinnerung (vgl. ebd. 217). Es bezieht sich auf die Einmaligkeit des Individuums (vgl. Hillmann, 1994, 350). Im Gegensatz zum ‚ICH’ ist das ‚Ich’ die individuelle, spontane, kreative, aktive und vor allem unbewusste Seite des Selbst (vgl. Felsch, 1996, 140; Gugutzer, 2002, 33). Es ist nicht möglich, das Verhalten des ‚Ich’ im Voraus zu bestimmen. „Die Reaktion auf eine Situation, so wie sie in seiner unmittelbaren Erfahrung aufscheint, ist unbestimmt – und das macht das ‚Ich’ aus“ (Mead, 1980, 219). Das ‚Ich’ produziert das „Gefühl der Freiheit, der Initiative“ (ebd. 221): Es ist eine Situation gegeben, auf die der Akteur reagieren kann. Er ist sich seiner selbst und der Situation bewusst. Sein Verhalten in einer Situation ist jedoch niemals vollkommen absehbar (vgl. ebd. 220) oder „berechenbar“ (ebd. 221) und auf keinen Fall schon gegeben (vgl. ebd. 219). Der hohe Wert des ‚Ich’ ist der, dass er die Möglichkeit bietet, Ideen und neue Lösungen für Probleme zu gewinnen, die das ‚ICH’ hervorruft (vgl. ebd., 233, 241, 220; vgl. Felsch, 1996,140). Es bringt unvorhersehbar Neues in die Handlung ein.

Ein Teilprozess der Identität kann nicht ohne den anderen existieren. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und das Denken erfordern den Ablauf beider Teilverläufe der Identität (vgl. Mead, 1980, 243; Felsch, 1996, 140). Man muss sich der Gemeinschaft unterordnen, deren Haltungen aufnehmen, bevor man durch eigenes Denken – durch Eigeninitiative – seine individuellen Anschauungen entwickelt.

Ein Resümee der sequentiellen Abfolge der beiden Teilprozesse lässt sich wie folgt skizzieren: Das ‚Ich’ tut zweierlei, es ruft das ‚ICH’ hervor und reagiert darauf. Zusammengenommen konstituieren sie die Persönlichkeit, wie sie in der sozialen Erfahrung erscheint. Das ‚Selbst’ ist ein sozialer Prozess, der in diesen beiden unterscheidbaren Phasen abläuft. Existierten diese beiden Phasen nicht, dann gäbe es keine bewusste Verantwortlichkeit und nichts Neuartiges in der Erfahrung (vgl. Mead, 1980, 221). Zusammen bilden die zwei Erfahrungsprozesse die Persönlichkeit des Menschen (vgl. ebd.) sowie eine „stabile oder voll zum Ausdruck gelangende Identität“[12] (Felsch, 1996, 140). Durch das Handeln eines Individuums wird der ‚volle Ausdruck von Identität’ entwickelt und aufrechterhalten: Die Identität eines Individuums ist das Ergebnis der Kommunikations- und Kooperationsprozesse, an denen es sich beteiligt hat. Es erkennt die soziale Bedeutung seines Verhaltens, indem es die in den Prozessen erfahrenen Reaktionen anderer Individuen verinnerlicht. Durch die Teilnahme an weiteren Kommunikationen gewinnt das Individuum ein wachsendes Programm an Einstellungen und Handlungsformen (Schneider, 2002, 212).

2.3 Identität aus der soziologischen Perspektive Krappmanns

Auf der Grundlage der interaktionstheoretischen Identitätstheorien von G. H. Mead (1980) und E. Goffman (1963) hat L. Krappmann (1988) in seinem Buch ‚Soziologische Dimensionen der Identität’ das Verständnis von Identität um das Konzept der Identitätsbalance erweitert. Er konzentrierte sich mehr auf gegenseitige Rollenerwartungen in Interaktionssituationen. Dabei herrschten die zentralen Fragen vor, welche strukturellen Voraussetzungen für die Behauptung von Identität existieren und welche Interaktionsstrategien entsprechen diesen strukturellen Bedingungen (vgl. ebd. 15)?

Die Voraussetzung für eine „erfolgreiche soziale Interaktion“ (ebd. 10) ist die Wahrung und Präsentation der individuellen Identität. Bei der Wahl seiner Identitäts- und damit Interaktionsstrategien muss das Individuum zwar die strukturellen Bedingungen der Interaktion beachten (ebd. 15), kann sich aber auch und muss sich den strukturellen Zwängen entziehen, weil es sonst seine persönliche Identität (im Sinne von Einzigartigkeit, Individualität) gefährdet. Die Strategie, die das Individuum in sozialen Interaktionen zu wählen habe, um seine Identität zu wahren, nennt Krappmann „Identitätsbalance“.

Krappmann (1988) entwickelte den Begriff der ‚balancierenden Identität’ in Anlehnung an Goffman (1963), der in seiner Betrachtung der Beziehung von Interaktion und Identitätsbestätigung einige wesentliche Definitionen lieferte, welche hier zu Grunde gelegt werden. Dies sind die Begriffsbestimmungen ‚soziale und persönliche Identität’ sowie ‚Ich-Identität’ (vgl. Krappmann, 1988, 73).

In der Bezeichnung ‚soziale Identität’ werden „die Erwartungen der anderen, die sie gegenüber einem Individuum im Interaktionsprozess hegen“ (ebd.), zusammengefasst. ‚Persönliche Identität’ nimmt Bezug auf die Einzigartigkeit des Individuums. Unter dieser Einzigartigkeit versteht Goffman einerseits, dass es nur ein Individuum gibt, das bestimmte Merkmale aufweist und andererseits, dass sich viele Eigenschaften in einer einmaligen Kombination zusammenschließen, wodurch das Individuum als einzigartig erscheint (vgl. ebd.). Unter Ich-Identität erfasst Krappmann (ebd. 79): „Ich-Identität wird dem Individuum zuerkannt, das gerade unter Ausnutzung der Identitätsnormen der anderen und im Medium gemeinsamer Symbolsysteme seine besondere Individualität festhalten kann.“ Soziale und persönliche Identität sind Bestandteile der Definitionen, die die Interaktionspartner im Prozess der Interaktion für das Individuum treffen (vgl. ebd. 73, 75 f.). Sie werden dem Individuum zugeschrieben, während die Ich-Identität subjektiv erfahren wird.

Der Ansatz setzt sich die Beantwortung der Frage zum Ziel, wie ein Individuum ‚Ich-Identität’ erlangt. Dies geschieht auf zwei verschiedenen Ebenen: der horizontalen Ebene, hiermit ist die gleichzeitige Teilnahme des Individuums an verschiedenen Interaktionsprozessen gemeint, und der vertikalen Ebene, welche für die Zeitdimension steht, also für den Lebenslauf des Individuums, in dem es immer wieder neuen, sozial definierten Identitäten gegenübergestellt wird (vgl. ebd. 75). Auf beiden Ebenen treten hinsichtlich der Entwicklung der Ich-Identität Probleme auf.

Hinsichtlich der horizontalen Ebene birgt die Übernahme von Erwartungen anderer Interaktionspartner Schwierigkeiten in sich: „Offenbar muss jede Identität im Hinblick auf die sozialen Erwartungen problematisch sein, weil diese prinzipiell unerfüllbar sind“ (Krappmann, 1988, 74). Es wird schwierig sein, die übernommenen Erwartungen aus verschiedenen Interaktionen zu vereinen. Zudem erschweren Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten in den Interaktionsprozessen die Präsentation eines Akteurs als identisches Individuum.

[...]


[1] Eine eindeutige Übersetzung des englischen Begriffes ‚Organizational Misbehaviour’ gibt es im deutschen Sprachgebrauch nicht, weswegen im Verlauf der Arbeit stets auf die angelsächsische Bezeichnung zurückgegriffen wird.

[2] Die französische Erstausgabe von ‚L´acteure et le systéme’ stammt aus dem Jahr 1977. In den weiteren Ausführungen wird auf die deutsche Übersetzung von 1993 zurückgegriffen.

[3] Mead (1980) betrachtet die Identitätsthematik aus der Innenperspektive, während Goffman (1963) sich mit ihr aus einer Außenperspektive befasst.

[4] Müller (1987).

[5] Erikson (1973).

[6] Amerikanische Originalausgabe: Mead (1934): Mind, Self and Society. Hrsg.: C. W. Morris; erste dt. Übersetzung 1968.

[7] Der Ausdruck ‚Selbst’ ist mit dem Begriff der Identität, wie er hier verwendet wird, gleichzusetzen.

[8] „Behavioristisch bezeichnet Mead seine Sozialpsychologie aus dem Grund, weil er mit einer ‚beobachtbaren Aktivität’, dem sozialen Handeln, seine Analyse beginnt. Im Unterschied zum klassischen Behaviorismus eines James Watson nimmt er in seine Sozialpsychologie auch die inneren Erfahrungen des Individuums auf“ (Gugutzer, 2002, 33).

[9] Eine genauere Erläuterung der beiden Dimensionen erfolgt in Abschnitt 2.2.2.

[10] Siehe Abschnitt 2.2 ( S. 5 f.).

[11] In der amerikanischen Originalausgabe (1934) wird das ‚ICH’ als ‚Me’ das ‚Ich’ als ‚I’ bezeichnet.

[12] Von einer im Prinzip stabilen Identität kann auch dann gesprochen werden, wenn die einzelnen Teilprozesse ‚Ich’ und ‚ICH’ nicht im gleichen Ausmaß zum Ausdruck gelangen.

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Mikropolitik und Organizational Misbehaviour
Untertitel
Eine vergleichende Analyse aus identitätstheoretischer Perspektive
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Personalwirtschaft und öffentliche Wirtschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
116
Katalognummer
V78367
ISBN (eBook)
9783638785419
ISBN (Buch)
9783638818520
Dateigröße
1317 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mikropolitik, Organizational, Misbehaviour
Arbeit zitieren
Diplom-Kauffrau Xenia Vorwerk (Autor:in), 2006, Mikropolitik und Organizational Misbehaviour, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78367

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