Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit spina bifida aus systemisch-konstruktivistischer Sicht


Bachelorarbeit, 2005

53 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


GLIEDERUNG

1. Einleitung

2.Paradigmenwechsel in der Heil- und Sonderpädagogik

3. Grundlagen eines systemisch-konstruktivistischen Ansatzes
3.1 Grundbegriffe
3.2 Systemtheoretische Ansätze
3.2.1 Theorie autopoietischer Systeme (Maturana/Varela)
3.2.2 Theorie sozialer Systeme (Luhmann)
3.2.3 Systemisch-ökologische Pädagogik

4. Förderung aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive
4.1. Anthropologische Voraussetzungen
4.2 Entwicklung und Lernen als lebenslange Prozesse
4.2.1 Entwicklungstheoretische Ansätze
4.2.2 Systemisches Verständnis von Lernen und Bildung
4.3 Förderung im jungen Erwachsenenalter als Unterstützung in besonderen Lebenslagen

5. Wahrnehmung und Bewegung als System

6. Junge Erwachsene mit spina bifida
6.1 Die Rolle des Systems Wahrnehmung und Bewegung bei von spina bifida betroffenen Erwachsenen
6.1.1 Exemplarische Fallgeschichte einer 25-jährigen Frau

7. Pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich bei jungen Erwachsenen mit spina bifida
7.1 Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung unter Berücksichtigung spezieller Erfordernisse
7.1.1 Konzept der Über- und Unterfunktion eines Systems (SIMON)
7.1.2 Handlungsprämissen einer systemorientierten Förderung
7.1.3 Pädagogische Handlungsfelder

8. Grenzen und Möglichkeiten einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Förderung

LITERATURVERZEICHNIS

1. Einleitung

Pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich findet überwiegend im Kindes- und Jugendalter statt. Aus psychologischer oder bewegungswissenschaftlicher Sicht wird auch heute noch im allgemeinen davon ausgegangen, dass es zeitlich begrenzte sensible Lebensphasen für bestimmte inhaltliche Lernprozesse gibt. Die Aufgabe der Pädagogik liegt hierbei darin, diese Phasen für Erziehungs-, Bildungs- und Förderprozesse im Hinblick eines zugrundeliegenden Menschenbildes, auf das hin erzogen werden soll, möglichst effektiv (hinsichtlich Funktions- und Leistungstüchtigkeit eines Menschen in unserer Gesellschaft) zu nutzen. Eine kritische Betrachtung solcher möglicher pädagogischer Leitbilder mündet in die Frage der anthropologischen Bestimmung des Menschen, von wo aus sich dann lebensalterdeterminierte Entwicklungs- und Lernprozesse weder verstehen noch legitimieren lassen. Unter dem Aspekt einer lebenslangen Entwicklung, der hier in dieser Arbeit expliziert werden soll, stellt sich die Frage, inwieweit auch Menschen im (jungen) Erwachsenenalter pädagogischer Unterstützung bedürfen, und ob pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich unabhängig vom Lebensalter möglich und z.T. auch notwendig ist.

Der Bereich der Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung als spezielle Form pädagogischen Handelns, seine Zielsetzungen, methodischen Umsetzungen in der Praxis sowie ausgewählten Handlungsfelder basieren auf bestimmten handlungsleitenden Vorannahmen. Diese gründen zunächst auf einer bestimmten Sicht der Wirklichkeit, d.h. auf einer zugrundeliegenden Perspektive, aus der heraus wir uns selbst und unsere Umwelt wahrnehmen, erleben und erfahren, bestimmte Werte und damit verbundene Zielsetzungen entwickeln, und die innerhalb unseres pädagogischen Aufgabenfeldes handlungsleitend wirksam wird.

Die in der Heil- und Sonderpädagogik traditionelle individuumszentrierte und defizitorientierte Sicht, innerhalb derer sich Förderung als fremdbestimmte Behebung oder Reduktion von Mängeln hinsichtlich gesellschaftlicher Einpassung auf der Basis entsprechender Wertmaßstäbe verstehen lässt, soll in

Kap. 2 im Hinblick auf einen Paradigmenwechsel kurz erörtert werden und darauf aufbauend in Kap. 3 eine systemisch-konstruktivistische Sichtweise für pädagogisches Handeln - und hier im speziellen für Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung - zugrundegelegt werden.

Wenn sich Förderung (auch unter anthropologischem Bezug) im Rahmen dieser Thematik als Entwicklungsbegleitung oder -anregung hinsichtlich einer Veränderung der Handlungsmöglichkeiten von Menschen in benachteiligten oder erschwerten Lebenslagen versteht, so ergibt sich die Frage, welche Implikationen der vorausgesetzte Entwicklungsbegriff in sich trägt. Unter systemisch-konstruktivistischem Aspekt soll hier von der theoretischen Grundannahme einer lebenslangen Entwicklung und damit verknüpft von einem lebenslangen Lernen ausgegangen werden. Auf dieser Basis möchte ich in Kap. 4 den Begriff der Förderung hypothetisch als (z.T notwendiges) unterstützendes pädagogisches Handeln unabhängig vom Lebensalter entwickeln. Diese Hypothese hat insofern themenleitende Funktion, da sie innerhalb dieser Arbeit zu der Frage führt, was Förderung (im Gegensatz zur herkömmlichen Beschränkung auf das Kindes- und Jugendalter) hier speziell im jungen Erwachsenenalter für eine Bedeutung haben könnte, und welche praktischen Umsetzungsmöglichkeiten sich hieraus speziell für eine Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung ergeben.

Der Bedeutung von Entwicklung, Lernen und Förderung innerhalb des systemisch-konstruktivistischen Kontextes, die sich hieraus ergebenden Schlussfolgerungen für eine pädagogische Handlungspraxis einerseits sowie die Wahrnehmung und Erfahrung pädagogischer Förderung von Seiten der Adressaten andererseits gründen also - wie bereits oben angedeutet - auf einer bestimmten Konstruktion von Wirklichkeit mittels subjektiver sowie kollektiver Kognitionsprozesse. Gegenstand dieser Arbeit sind insofern Kognitions- und Erkennensprozesse eines lebendigen Systems, des Menschen innerhalb seiner lebenslangen Entwicklung. In diesem Zusammenhang sind Wahrnehmung und Bewegung nicht auf einer ausschließlich sinnlichen Wahrnehmungsebene zu verstehen, sondern als eines von mehreren Subsystemen zu begreifen, aufgrund derer wir sowohl unsere “interne” als auch “externe” Wirklichkeit konstruieren. Eine Darstellung dieses Zusammenhangs erfolgt in Kap. 5.

Um Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung lösgelöst vom Kindes- und Jugendalter sowie im Hinblick auf Menschen, die unter erschwerten Bedingungen leben, in dieser Arbeit möglichst anschaulich zu erörtern, habe ich als Bezugssystem die Adressatengruppe junger Erwachsener mit spina bifida gewählt. Die exemplarische Fallgeschichte einer jungen Frau soll in Kap. 6 die Möglichkeit bieten, zuvor dargestellte theoretische Grundannahmen und Perspektiven und die Rolle von Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung in dieser Lebenssituation zu verdeutlichen.

Der praxisbezogene Teil dieser Arbeit (der eigentlich ein eigenes Thema beansprucht) wird in Kap. 7 aus Gründen des Umfangs leider nur in Kürze dargestellt, wobei pädagogisch relevante Handlungsorientierungen auf der Basis des Konzepts der Über- und Unterfunktion (SIMON) - statt eines defizitorientierten Konzepts der Behinderung - entwickelt werden sollen.

Es ist zu reflektieren, welchen Stellenwert eine systemisch-konstruktivistisch orientierte Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich hat bzw. haben könnte, und ob möglicherweise relevante pädagogische Aspekte aus dieser Perspektive vernachlässigt oder andererseits ins Blickfeld gerückt werden. Die gewählte Thematik dieser Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Abgeschlossenheit oder Vollständigkeit. Ihre Intention ist eher die Anregung zu möglichen neuen Perspektiven und damit verbunden auch zu sich hieraus entwickelnden neuen Fragestellungen.

2.Paradigmenwechsel in der Heil- und Sonderpädagogik

Wissenschaftliche Forschungsfragen, Lösungsansätze, Begründungsmodelle und Konzepte der Problemlösung basieren auf historisch, gesellschaftlich und kulturell bedingten und sich wandelnden Paradigmen. Diese implizieren spezifische Denkansätze, steuern die wissenschaftliche Realitätsauslegung, Fragestellung und somit auch die entsprechenden Lösungsansätze. Sie kennzeichnen eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit und in diesem Zusammenhang auch ein bestimmtes Menschenbild. Beispielweise werden innerhalb eines naturwissenschaftlichen Paradigmas in der Heil- und Sonderpädagogik medizinische Aspekte von Behinderung, die physische Schädigung und Funktionseinschränkung, ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Pädagogische Interventionen orientieren sich an diesem “Defekt” mit dem Ziel, diesen zu beheben oder zu minimieren, wobei vorausgesetzt wird, dass Schädigung zugleich Behinderung bzw. “behinderter Mensch” bedeutet. Pädagogisches Handeln ist in diesem Kontext defizit- und individuumszentriert, setzt eine Vorstellung von “Krankheit” vs. “Gesundheit” voraus und zugleich von einem für wertvoll gehaltenem und charakteristischem Menschenbild, anhand derer sich Abweichungen klassifizieren bzw. diagnostizieren lassen. Lösungsansätze basieren auf einem linearen Kausalitätsprinzip, d.h. eine Ursache (z.B. neurophysiologische Fehlentwicklung oder eine spezielle Form der Förderung) führt zu einer bestimmten Wirkung (z.B. Behinderung oder verbesserte Funktionstüchtigkeit). Hauptkritikpunkte an diesen auf o.g. Paradigma beruhenden Vorannahmen pädagogischen Handelns sind die Reduktion eines Menschen auf seine Schädigung und somit auf ein Objekt externer Förderung, die Vernachlässigung seiner sozialen Bezüge (d.h. der wechselseitigen Person-Umwelt-Interaktion und deren mögliche Störungs- bzw. Anregungspotentiale) und die Annahme, neue Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten durch Interventionen auf der Basis behavioristischer Lerngesetze zu bewerkstelligen.

Hinsichtlich der Bedeutung und Funktion der Subjektivität des Menschen (seiner Autonomie, seiner Eigenaktivität, seiner Möglichkeit der Bedeutungszuschreibung), der Einbindung des Menschen in soziale und gegenwärtig immer komplexer werdende Netzwerke und seine damit verbundenen sich vervielfältigenden Handlungsmöglichkeiten können pädagogische Ansätze auf der Basis eines ausschließlich naturwissenschaftlichen Paradigmas einer adäquaten Förderung von Menschen in erschwerten Lebenslagen nicht mehr gerecht werden. Um o.g. Aspekte explizit zu berücksichtigen und möglichst deutlich zu beschreiben, wird in dieser Arbeit eine auf einem ganzheitlichen Paradigma beruhende systemisch-konstruktivistische Sichtweise herangezogen, um auf dieser Basis ein entsprechendes Konzept der Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich zu entwerfen.

3. Grundlagen eines systemisch-konstruktivistischen Ansatzes

Aufgrund des thematischen pädagogischen Schwerpunktes und der damit verbundenen Strukturierung des Umfangs dieser Arbeit werden lediglich die von mir als diesbezüglich relevant erachteten Grundbegriffe und systemtheoretischen Basiskonzepte dargestellt, wobei auf eine differenzierte Darstellung leider verzichtet werden muss (kann jedoch anhand des Literaturverzeichnisses nachgelesen werden).

Ein System ist eine Menge von Elementen mit bestimmten Eigenschaften, zwischen denen eine wechselseitige Beziehung besteht (Reich 2002). Im Rahmen dieser Arbeit sind stets lebende Systeme gemeint, die sich (im Gegensatz zu nicht-lebenden Systemen) durch eine Eigendynamik auszeichnen, die aktiv aufrechterhalten wird sowie durch eine gewisse Intransparenz aufgrund ihrer hohen Komplexität und Selektivität, d.h. sie sind nicht genau analysierbar und beeinflussbar. Es definiert sich dadurch, dass es von einer Umwelt unterschieden werden kann, d.h. wenn der (Selbst-oder Fremd-)Beobachter einen Unterschied erkennen kann, und ist insofern auch stets Beobachtungsfeld. Systeme können beispielsweise Mikroorganismen, Personen oder Gesellschaften sein, wobei ich mich entsprechend der Thematik auf psychische und soziale Systeme (Luhmann 2002) - also Personen/Individuen und kommunikative Beziehungswirklichkeiten - beschränken werde. Eine systemische Beschreibung rückt das Verhältnis eines Systems zur Umwelt oder eines Teils (Subsystem) zum Ganzen (System) in den Blickpunkt, und thematisiert sowohl die Binnenbeziehungen eines Systems als auch die Wechselwirkungen mit der Umwelt. Innerhalb des pädagogischen Kontextes bedeutet dies eine Fokussierung sowohl von Interaktions- und Person-Umwelt-Beziehungen als auch von intraindividuellen Beziehungen zwischen verschiedenen Wahrnehmungs- und Erlebnisebenen (z.B. physisches, affektlogisches, soziales und Wahrnehmungs-/Bewegungsystem - eine nähere Darstellung erfolgt in Kap. 5).

3.1 Grundbegriffe

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie überwindet die traditionelle Subjekt-Objekt-Dichotomie, indem er davon ausgeht, dass Erkenntnis kein “wahres” oder “richtiges” Abbild einer objektiven Wirklichkeit ist, sondern von subjektiven Wahrnehmungen, Bedingungen und Erfahrungen gebildet wird. Eine äußere Welt wird nicht verleugnet, sie bleibt jedoch jenseits menschlicher Erfahrung unerkannt. Die reale Welt wird insofern durch unsere Art und Weise der Wahrnehmung, Beobachtung, Erfahrung und Bedeutungszuschreibung zu unserer subjektiven Wirklichkeit. Systemtheoretische Grundbegriffe wie z.B. Autonomie, Selbstorganisation oder Autopoiese sind seit den 80er Jahren in Europa grundlegend für eine konstruktivistische Denkweise, da diese die Eigenaktivität des Subjekts hervorheben und die Bedingungen subjektiver Erkenntnis herausarbeiten. Insofern sind systemische Deskriptionen und konstruktivistische Denkweisen unmittelbar miteinander verknüpft.

Nach REICH (2002) können drei Handlungsebenen innerhalb subjektiver Konstruktionsprozesse differenziert werden: Konstruktion bezieht sich auf die subjektive Bedeutungsgebung von Erfahrungen innerhalb individueller Lebenslagen, d.h. dass z.B. pädagogische Angebote im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich von Menschen mit spina bifida je nach aktueller Interessens- und Gefühlslage unterschiedlich wahrgenommen werden und insofern als anregend, über- oder unterfordernd oder auch bedeutungslos erfahren werden können. Der Handelnde ist auf dieser Ebene der “Erfinder der Wirklichkeit”.

Rekonstruktion heißt, dass historisch-kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten (als Erfindungen anderer Menschen) von uns lernend nachvollzogen und entdeckt werden, d.h. trotz subjektiver Aneignung der sozialen Welt mit ihren Lebensformen erfinden wir nicht alles neu. Dieser Aspekt bezieht sich innerhalb dieser Thematik z. B. auf internalisierte gesellschaftlich-kulturelle Werte und Normen und damit in Verbindung stehenden Selbst- und Fremdbewertungen von Lebenslagen und speziellen Erfordernissen bei Erwachsenen mit spina bifida, die wiederum in Wechselwirkung mit subjektiven Bedeutungskonstruktionen stehen. Auf dieser Ebene ist der handelnde Mensch “Entdecker seiner Wirklichkeit”.

Dekonstruktion bezieht sich auf die Veränderung bisheriger Bedeutungskonstruktionen. Sowohl bei Übereinstimmung als auch bei Inkongruenz intra- sowie interpersoneller Bedeutungsgebungen kommt es durch neue Erfahrungen zu einem ständigen Wandel bestehender Wirklichkeitskonstruktionen. Hier werden Entwicklungs- und Lernprozesse auf der Basis der aktuellen Lebenslage von spina bifida betroffenen Erwachsenen sowie die in diesem Zusammenhang stehende pädagogische Förderung angesprochen. Der Handelnde zieht auf dieser Ebene noch andere potentiell mögliche Wirklichkeitskonstruktionen in Betracht und wird somit zum "Enttarner seiner Wirklichkeit".

Ausgehend von der Autonomie und Eigenaktivität des Menschen wird das, was für uns Wirklichkeit ist, auf der Grundlage der individuellen Lebenssituation sowie des gesellschaftlichen Kontextes, in dem wir leben, konstruiert und durch Erfahrungen verändert. Auf der Basis konstruktivistischer Erkennensprozesse können wir die Welt nur so sehen, wie sie uns durch die Instrumente unseres Beobachtens (Sinnesorgane, techn. Instrumente) erscheint.

Beobachtung

Pädagogische Förderung mit ihren Zielsetzungen und unterstützenden Angeboten setzt die Beobachtung der Adressaten sowie ihres situativen (sozialen und materialen) Kontextes voraus. Der Beobachter beobachtet ein System und das System wird vom Beobachter erkannt. Da der Beobachter hierbei selbst ein System ist, das sich durch die Verkettung eigener Operationen bildet, woraus dann Informationen und Bedeutungen abgeleitet werden, ist das bzw. der Beobachtete stets in Beziehung zu demjenigen zu sehen, der es erkennt. Dies gilt sowohl für den Pädagogen als auch für den Adressaten. Die Operationen eines Systems innerhalb des Beobachtungsaktes sind “unterscheiden” und “bezeichnen”. Nach LUHMANN (2002) wird ein bestimmter Wirklichkeitsausschnitt, z. B. die aktuelle Lebenssituation oder Problematik eines Menschen, vom Rest der Welt abgegrenzt, und die eine Seite dieser Unterscheidung wird bezeichnet. Im Rahmen dieser Arbeit bedeutet dies, dass beobachtete Zustände, Ereignisse oder Prozesse bei von spina bifida betroffenen Erwachsenen von einem Beobachter als Symptome oder Probleme bezeichnet werden, wobei jedoch diese Bezeichnung (und die daraus abgeleiteten pädagogischen Erfordernisse) auf subjektiven Kon-, Re- und Dekonstruktionsprozessen des Beobachters beruhen. Ein beobachtetes Symptom muss für den Beobachteten insofern nicht unbedingt ein Problem sein, umgekehrt kann es sein, dass ein bestehendes Unterstützungsbedürfnis unbeachtet bleibt. In pädagogischen Förderprozessen ist der Adressat bzw. Teilnehmer aufgrund seiner Autonomie und dadurch, dass es sich als System selbst organisiert und erzeugt, stets mit einzubeziehen.

Selbstorganisation und Autopoiese

Durch Operationen des Beobachtens und der Unterscheidung baut ein System seine Strukturen auf und organisiert sich selbst. Die Strukturbildung kann als ein Prozess verstanden werden, in dem eine Situation als eine Wiederholung einer anderen erkannt wird, so dass die Operationen anschlussfähig bleiben und sich auf die neue Situation beziehen können. Strukturen sind nach LUHMANN (2002) Erwartungen in Bezug auf die Anschlussfähigkeit von Operationen, aufgrund derer ein System auf Veränderungen (hinsichtlich der Aufrechterhaltung des eigenen Systems) in seiner Umwelt reagiert. Für pädagogische Förderprozesse bedeutet dies, dass Angebote so gestaltet sein müssen, dass sie vom Adressatensystem angenommen werden können: MATURANA und VARELA (1987) sprechen in diesem Zusammenhang von Perturbationen, d.h. von angebotenen “Störungen“ (Anreizen), die einen Informationsprozess in Gang setzen und vom Adressaten auf der Basis seiner Selbstorganisation operativ gehandhabt werden können.

Systeme sind autopoietisch (Maturana/Varela 1988), d.h. sie erzeugen durch ihr Operieren fortlaufend ihre eigene Organisation und somit sich selbst. Die Operationen können sie wiederum nur durch das Netzwerk ihrer eigenen Operationen erzeugen (z. B. durch die Art und Weise des Beobachtens und Unterscheidens), wodurch die Systemstruktur gebildet wird, andererseits ist diese Struktur wiederum die Basis für weitere anschlussfähige Operationen. Es handelt sich insofern um einen zirkulären Prozess, wobei das System operativ geschlossen und auf dieser Ebene autonom ist. Gleichzeitig besteht eine Offenheit zur Umwelt, mit der es interagiert. Aufgrund der operativen Geschlossenheit ist ein System nicht von außen determinierbar, d.h. Veränderungen innerhalb pädagogischer Förderprozesse können nur vom Adressaten selbst vollzogen werden. Durch die gleichzeitige Interaktion mit der Umwelt ist jedoch auch Spielraum für adäquate Perturbationen, die zu Selbstveränderungen anregen können.

Strukturelle Koppelung

Dieser von MATURANA und VARELA (1987) verwendete Begriff kennzeichnet die Art und Weise einer System-Umwelt-Beziehung, welche sich auf der Basis systemeigener Strukturen vollzieht:

Ein System grenzt sich mittels seiner operativen Geschlossenheit, d.h. seiner strukturbedingten anschlussfähigen Operationen einerseits von der Umwelt ab. Insofern lässt sich die Umwelt eines Systems als das verstehen, was nicht dieses System ist. Hierbei kann es sich um das ökologische oder soziale Umfeld, um eine andere Person oder um intrapersonelle Subsysteme (z.B. Wahrnehmungs- und Bewegungssystem,- wird in Kap. 5 erläutert) handeln. Systeme bilden also wechselseitig füreinander Umwelten.

Andererseits können sich zwei (oder mehrere) autopoietische Systeme austauschen, d.h. in Interaktion miteinander treten. Es findet eine strukturbedingte Koppelung statt, eine reziproke und rekursive Irritation, Perturbation oder Verstörung. Reaktionen oder Veränderungen eines Systems (innerhalb des strukturellen Spielraums) sind stets mit seiner Autonomie kompatibel: Es handelt sich insofern um selektive Koppelungen mit dem Ziel der Komplexitätsredukton, welche wiederum Bedingung dafür ist, dass das System auf Irritationen reagieren kann. Eine Systemveränderung vollzieht sich also gleichzeitig auf der Basis seiner inneren Dynamik und seiner Interaktionen mit der Umwelt. Systeme sind insofern nicht von außen determinierbar, eine “instruktive Interaktion” ist nicht möglich.

Die Annahme der prinzipiellen Perturbierbarkeit sowie Selbstorganisation eines Systems ist im Rahmen dieser Arbeit insofern relevant, da sich hieraus einerseits ein Verständnis für fortwährende, d.h. lebenslange Entwicklungs- und Lernprozesse (ausführliche Darstellung in Kap. 4) sowie andererseits subjektkompatible Zielsetzungen und Handlungsprämissen pädagogischer Förderung (wird in Kap. 7 erläutert) entwickeln lassen. Die wechselseitige Beziehung von sich gegenseitig Umwelt bildenden Systemen rückt den Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich als eines von mehreren kognitiven Subsystemen des Menschen in den Blickpunkt, welches auf seine Relevanz innerhalb pädagogischer Förderung speziell für von spina bifida betroffenen Erwachsenen hin in Kap. 5 und 6 erörtert wird.

Viabilität

Die anfangs erläuterte subjektive Konstruktion von Wirklichkeit ist das Resultat systeminterner Strukturen sowie anschlussfähiger Operationen. Erfolgreiche Operationen zeichnen sich dadurch aus, dass die daraus erfolgenden Konstruktionen viabel (gangbar, lebensdienlich, brauchbar) sind, zu internen Erwartungen (Strukturen) passen und insofern in das System integriert werden können. Operationen im Sinne von Unterscheidungen sind dann nützlich, wenn sie aufgrund struktureller Koppelung zu einer Übereinstimmung zwischen System und Umwelt führen. Für einen pädagogischen Förderungsprozess bedeutet dies, viable Konstruktionen zu ermöglichen, indem hierfür hilfreiche und unterstützende Dialoge und Interaktionen angeboten und angeregt werden.

3.2 Systemtheoretische Ansätze

Die Systemtheorie wird als Teil eines kybernetischen Konzepts verstanden (Reich 2002, v. Schlippe und Schweitzer 1996), mit dessen Hilfe auf der Ebene interdisziplinärer Forschung statische und dynamische Aspekte von biologischen, sozialen, technischen u.a. Systemen erfasst werden (Untersuchung von Ungleichgewichtssituationen, Systemveränderungen sowie Selbstorganisationsprozessen). Die Kybernetik 1. Ordnung, die als Steuerungslehre technischer Systeme nach dem 2. Weltkrieg entwickelt wurde, beruhte auf dem Prinzip der Homöostase und fragte insofern nach der Erhaltung von Gleichgewichtszuständen. Weiterhin ging sie von der Annahme aus, dass komplexe Prozesse plan- und steuerbar sind und im sozialen Bereich - z.B. in der Familientherapie der 60er und 70er Jahre (Menuchin, Haley, Palazzoli, u.a.) - von der Vorstellung, dass Interventionen dem Übergang von einem dysfunktionalen in einen funktionalen Zustand dienen sollten. Hingegen beschäftigte sich die Kybernetik 2. Ordnung seit Beginn der 80er Jahre mit Veränderungsprozessen in Systemen und ging von der Annahme aus, dass komplexe Prozesse unvorhersehbar, nicht planbar und auf der Basis systeminterner Selbstorganisation verlaufen. In diesem Zusammenhang hat der Konstruktivismus eine erkenntnistheoretische Position, die Wirklichkeit als nicht loslösbar vom Beobachter betrachtet und somit dieser Beobachterperspektive eine zentrale Rolle innerhalb von Systemveränderungsprozessen einräumt (v. Glasersfeld 1981, v. Foerster 1987 in v. Schlippe/Schweitzer 1996).

Trotz vieler sehr erwähnenswerter Arbeiten innerhalb systemtheoretischer Ansätze möchte ich mich aus umfangtechnischen Gründen auf diesen knappen Abriss sowie im folgenden auf eine kurze Darstellung der Theorien von MATURANA/VARELA sowie von LUHMANN beschränken.

3.2.1 Theorie autopoietischer Systeme (Maturana/Varela)

Zentrale These der in der Biologie entwickelten Theorie autopoetischer Systeme ist, dass ein System seine eigenen Operationen nur durch das Netzwerk der eigenen Operationen erzeugen kann: In einem zirkulären Prozess können Operationen einerseits durch eigene Strukturen aufgebaut werden und andererseits können Strukturen durch Operationen entwickelt werden. Am Beispiel der Bewegung würde dies bedeuten, dass Bewegung (als Struktur/Erwartung) die Bedingung dafür ist, dass man sich bewegt, und dass umgekehrt Bewegung nur aufgrund der Operation des Bewegens möglich ist (man würde Bewegung nicht lernen, wenn man sich nicht bewegen würde). Ein System erzeugt sich selbst und ist auf der Ebene der eigenen Strukturen und Operationen autonom. Daraus folgt, dass lebende Systeme nicht determinierbar und insofern nicht instruierbar sind, und das ein Austausch mit der Umwelt lediglich auf der Basis gegenseitiger Perturbationen stattfinden kann.

[...]

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit spina bifida aus systemisch-konstruktivistischer Sicht
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Heil- und Sonderpädagogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
53
Katalognummer
V78325
ISBN (eBook)
9783638007788
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrnehmungs-, Bewegungsförderung, Erwachsenen, Sicht
Arbeit zitieren
Sabine Stieglitz (Autor:in), 2005, Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit spina bifida aus systemisch-konstruktivistischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78325

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