Chronik des unterschätzten Menschen. Alexander Kluge im Kontext der Kritischen Theorie


Magisterarbeit, 2003

81 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die kritische Theorie und die Tragödie der Kultur
2.1. Die Kulturtheorie Georg Simmels
2.1.1. Die Kultur und der Subjekt-Objekt-Dualismus
2.1.2. Säulenheilige oder Spezialisten?
2.1.3. Der Nutzen der Kultur –Die Erhöhung der Seele
2.1.4. Die Tragödie der Kultur
2.2. Adorno/Horkheimer – Dialektik der Aufklärung
2.2.1. Aufklärung und Vernunft
2.2.2. Das Problem der Kultur
2.2.3. Der Untergang des Subjekts als Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklung
2.3. Die pessimistische Kulturkritik
2.4. Habermas – Kulturauffassung der Moderne
2.4.1. Die Kultur und die Moderne
2.4.2. Das Projekt der Moderne
2.5. Die optimistische Kulturkritik
2.6. Kluge / Negt
2.6.1. Die Entwicklung der modernen Öffentlichkeit
2.6.2. Kultur als Warenproduktion
2.6.3. Auseinandertreten von Individuum und Gesellschaft
2.6.4. Auswege aus der Misere der Kultur

3. Alexander Kluge – Die "Chronik der Gefühle"
3.1. Der Mensch und seine Gesellschaft
3.1.1. Die Macht der Geschichte
3.1.2. Der Mensch als Träger der Geschichte
3.1.3. Die Instrumentelle Vernunft – Kalkulierendes Denken und Anpassung
3.1.4. Die Justiz als Beispiel für gesellschaftliche Strukturen
3.1.5. Zusammenfassung der Gesellschaftsanalyse in Verbindung zur Theorie
3.2. Die Macht der Gefühle
3.2.1. Das menschliche Gefühl
3.2.2. Perspektiven des Gefühls
3.2.3. Die Macht der Gefühle
3.2.4. Das Urvertrauen – "Wer immer hofft, stirbt singend"
3.2.5. Die Sehnsucht nach Glück
3.3. Aufklärung in der "Chronik der Gefühle"
3.3.1. Gesellschaftsutopie – "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang"
3.3.1.1. Die kapitalistische Zukunft
3.3.1.2. Das sozialistische Gegenmodell
3.3.1.3. Science Fiction und die Stimulans des menschlichen Denkens
3.3.2. Hoffnungsbilder
3.3.3. Ressource Wirklichkeit
3.3.4. Work in Progress
3.3.5. Darstellung und Bedeutung der Geschichte
3.3.6. Gegen die Hochkultur und die Verselbständigung der Wissenschaften
3.3.7. Aufklärung – Hoffnung auf ein gutes Ende

4. Kluge – Der Erzähler der Kritischen Theorie

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Jahre 2000, am Ende des 20. Jahrhunderts, dem Ausgang und dem Beginn eines Jahrtausends, veröffentlichte Alexander Kluge seine "Chronik der Gefühle"[1], ein über 2000seitiges Kompendium von Geschichten der Moderne. Sie enthält einen Rückblick auf die 4,2 Milliarden Jahre der Menschwerdung, auf die Entwicklung der menschlichen Zivilisation und die Organisation des Zusammenlebens der Menschen. Kluge untersucht in seinen Erzählungen die Gegenwart, die Moderne, ihre Ziele und ihre Verfehlungen. Daraus ergeben sich Fragen:

Ist der Mensch dazu verdammt, in einer von Krieg und anderen Katastrophen beherrschten Welt zu leben? Was ist falsch gelaufen? Wer oder was ist schuld daran, daß die Welt so ist, wie sie ist? Der Mensch? Die Gesellschaft? Gibt es Möglichkeiten den Menschen oder die Welt zu verändern?

Diese Fragen sind nicht neu, sondern weisen auf eine lange Tradition zurück, die sich mit der Entwicklung der menschlichen Zivilisation und ihrer Kultur auseinandersetzt. Der Begriff "Kultur" spielt dabei eine entscheidende Rolle, da Kultur eine eigentümlich menschliche Reflexionsebene bietet, eine Möglichkeit des Ausdrucks und der Kommunikation des Menschen, die im Idealfall seiner persönlichen und seiner lebensweltlichen Verbesserung beitragen kann.

An diesem Punkt setzt Georg Simmel in seinem 1911 erschienenen Aufsatz "Der Begriff und die Tragödie der Kultur" an und entwickelt daraus seine Kulturtheorie, die Ausgangspunkt dieser Arbeit sein soll.[2] Er beschreibt darin das tragische Spannungsverhältnis von Subjekt und Objekt, von Mensch und kulturellen Produkten, wodurch sich die moderne Fehlentwicklung ergibt. Simmel bildet mit seiner grundlegenden Analyse des Subjekt-Objekt Verhältnisses eine erste wichtige Bestimmung des Problemhorizontes.

Nur 22 Jahre nach dem Erscheinen von Simmels Aufsatz wird die Welt vom Schrecken des deutschen Nationalsozialismus erschüttert. Durch diese Entwicklung der menschlichen Zivilisation geprägt, entsteht die "Dialektik der Aufklärung" von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die darin ihre fatalistische und radikale Kritik der Moderne äußern und die Tragödie der Kultur in ihrer schrecklichsten Form verwirklicht sehen.

35 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges und fast 70 Jahre nach der Analyse Simmels setzt sich Jürgen Habermas in seiner Rede vom 11. September 1980 "Die Moderne – ein unvollendetes Projekt"[3] mit den neueren kulturellen Entwicklungen, bezogen auf den Konflikt zwischen Moderne und Postmoderne, auseinander. Darin knüpft er teilweise an das Simmelsche Problem des Verhältnisses von Subjekt und Objekt an und erkennt eine ähnliche Kulturentwicklung. Gleichzeitig offeriert Habermas jedoch einen Ausweg aus der Krise, den er in dem unvollendeten Projekt der Moderne sieht.

Im folgenden werden die drei Kulturtheorien von Simmel, Adorno/Horkheimer und Habermas dargestellt. Sie dienen der einführenden theoretischen Grundlegung des Kulturproblems. Daran anschließend ergibt sich die kritische Auseinandersetzung Alexander Kluges mit diesem Thema, welche er zusammen mit Oskar Negt in einer eigenen Theorie ausarbeitet, die an die Tradition der Kritischen Theorie anknüpft.

Ein erstes Ziel dieser Arbeit ist es, neben der Darstellung der vier Kulturtheorien, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Bedeutung der verschiedenen Ansätze für die Auseinandersetzung mit dem Kulturproblem, der den Kontext der weiterführenden Tätigkeit Alexander Kluges liefert.

Über die hier ausgewählten Theorien hinaus, gibt es eine lange Geschichte der Kulturkritik, angefangen bei Rousseau, Hegel, Marx und Nietzsche, die den größeren Rahmen der theoretischen Grundlegung bilden.

Stets existierte eine Kritik der gesellschaftlichen Zustände, die als entfremdet oder sinnlos, verdinglicht oder gar krank empfunden wurden. Sie führte zu der Frage nach der Stellung des Menschen in der Gesellschaft. Der Mensch als soziales Wesen befindet sich in einem Konflikt mit der Gesellschaft, die seine Freiheit in Frage stellt.

Der Subjekt-Objekt Dualismus, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft stellt sich als zentrales Thema heraus. Auch Kluges "Chronik der Gefühle" behandelt dieses Problem, und es wird sich zeigen, wie es in seinen Geschichten verarbeitet wird.

So ergeben sich die leitenden Fragen an die "Chronik der Gefühle":

Welche Ergebnisse der theoretischen Analyse greift Alexander Kluge auf und wie verarbeitet er sie auf literarische Weise? Wie gestaltet er seine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, der Geschichte und dem Menschen? Welche Möglichkeiten und Auswege aus der Krise der Moderne und der Tragödie der Kultur bietet Kluge?

2. Die kritische Theorie und die Tragödie der Kultur

2.1. Die Kulturtheorie Georg Simmels

2.1.2. Die Kultur und der Subjekt-Objekt-Dualismus

Georg Simmel geht von der grundlegenden Unterscheidung von Subjekt und Objekt aus. Der Mensch bringt diesen Dualismus in die Welt und stellt sich ihr somit gegenüber. Indem der Mensch zu sich ICH sagt, konstituiert er für sich seiende Objekte außerhalb dieses Ich. Der menschliche Geist erzeugt Dinge, wie die Kunst, das Recht, die Religion, die Technik, die Wissenschaft oder die Sitte.[4] Dabei kommt dem subjektivem Leben eine zeitliche Endlichkeit und den geschaffenen Objekten eine zeitlose Gültigkeit zu.

Zwischen diesen beiden Komponenten entsteht die Kultur, die nicht als etwas Statisches begriffen werden kann, sondern sich in einem Entwicklungsprozeß entfaltet, der sich am Menschen (und der Welt) manifestiert. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Kultur, da er es ist, der kultiviert und gefördert werden soll. Simmel spricht vom „Weg der Seele zu sich selbst.“[5]

Grundlegend ist im Menschen ein Potential für die Kultivierung angelegt, welches des richtigen Umgangs und der richtigen Pflege bedarf, um seine Möglichkeiten zu entfalten. Kultivierung entsteht nicht durch eine blinde Erwerbung von Wissen und Können, sondern es muß sich eine „Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit“[6] vollziehen.

Um dies zu erreichen, muß der Mensch, wie es seine Art ist, Dinge erschaffen. Er muß produktiv tätig werden und damit sein Inneres veräußern. Es entstehen objektiv geistige Produkte, wie ich sie oben aufgezählt habe. Diese kommen vom Individuum und sind dann losgelöst in der Welt existent. Real existierende Dinge oder geistige Werke, in denen das seelische Leben sich niederschlägt, sind Ausdruck der subjektiven Seele. Die Unbeständigkeit des Geistes manifestiert sich und das so entstandene Erzeugnis besitzt eine gewisse Konstanz und Beständigkeit. Dabei sind sie nicht isoliert, sondern reihen sich in eine Reihe von anderen Objekten ein, wodurch automatisch eine Wechselwirkung und gegenseitige Beeinflussung entsteht. Dem Objekt widerfährt eine Modifikation, insbesondere das Hinzukommen eines Wertes. Der Wert entsteht durch die Objektivierung überhaupt, aber auch durch die Stellung im Ganzen. Die hinzukommende Wertebene ist wohl das wichtigste Attribut, wobei die Ausprägung dieses Wertes ganz unterschiedlich ausfallen kann. Von Bedeutung wird dabei wieder das Subjekt, welches den Dingen ganz unterschiedliche Werte zuweist.

Nach dem Loslösen und der Veränderung der geistigen Gebilde soll sich der Mensch diese Dinge wieder aneignen. Die Kultivierung und Erhöhung besteht nun in der Aufnahme der überpersönlichen Inhalte. Die Aneignung der Inhalte geschieht nicht durch oberflächliches Lernen, sondern von besonderer Wichtigkeit ist eine Art der Verinnerlichung. So wie die Inhalte aus dem Innern des Subjekts, der Seele entstanden sind, müssen sie wieder dorthin gelangen. Die subjektive Seele und das objektive Erzeugnis müssen zusammengefügt werden. In diesem sich wechselseitig beeinflussenden Dualismus besteht für Simmel die Kultur. Kultur ist dann nach Simmel: „der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“.[7]

Simmels Analyse zeigt die Möglichkeit der menschlichen Entwicklung über Werte und Reihen, die nicht subjektiv seelisch sind, was er als Kultivierung bezeichnet. Gleichzeitig negiert er jedoch nicht die Möglichkeit des Menschen, sich ohne den 'Umweg' der Objektivierung zu entfalten. Durch Weglassen der objektiven Dinge ist auch eine Entfaltung der Seele von sich selbst zu sich selbst vorstellbar, wodurch eventuell auch eine viel höhere und bessere Form der Vollendung des Menschen erreicht werden kann. Dabei handelt es dann nicht mehr um Kultur, da für diese die Objektivierung und die damit verbundenen Objekte konstituierend sind. Deutlich wird dadurch die elementare Bedeutung der vom Subjekt erzeugten und objektivierten Gebilde.

Von ähnlich entscheidender Bedeutung ist der Prozeß- und Entwicklungsgedanke. Kultur ist für Simmel Synthese, und im Subjekt-Objekt Dualismus zeigt sich die Abhängigkeit der einen Komponente von der anderen. Das Subjekt bedarf des Objekts und das Objekt benötigt das Subjekt.

2.1.2. Säulenheilige oder Spezialisten?

Wie im vorherigen Kapitel deutlich geworden ist, beinhaltet der Kulturbegriff zwei Bedeutungsebenen. Auf der einen Seite steht die individuelle Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit jedes einzelnen Menschen, und auf der anderen Seite nimmt die Produktion von kulturellen Erzeugnissen eine übergeordnete Stellung ein, die sich in einer überindividuellen Ebene manifestiert. Es kann nicht die Frage sein, welcher Bedeutung der Vorzug zu geben ist. Beide Elemente konstituieren die menschliche Kultur. Sie ist wesentlich mit dem Subjektivem, dem aus der Seele jedes einzelnen Individuums Kommendem verbunden. Gleichzeitig besitzen die Dinge selbst, sei es die Moral, das Recht oder ähnliche Phänomene, eine eigene Legitimation.

Durch die Überbewertung einer Bedeutungsebene entstehen für Simmel zwei Auffassungen extremer Positionen. Da ist auf der einen Seite der nur auf sich konzentrierte und zu seinem eigenen Nutzen handelnde „Säulenheilige“. Der sogenannte „Säulenheilige“ symbolisiert einen Typus, der eine Schwerpunktverlagerung auf die subjektive Seite darstellt. Auf der anderen Seite steht der in einem blinden Fachfanatismus gefangene „Spezialist“, der sich mit der objektiven Seite beschäftigt, ohne Bezug zur eigenen Persönlichkeit.[8] Diese zwei extremen Pole sind abzulehnen. Nach Simmel sollte es sich um eine „ Synthese einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Wertes“[9] handeln.

2.1.3. Der Nutzen der Kultur – Die Erhöhung der Seele

Die Kultivierung soll, wie ich schon angedeutet habe, eine Erhöhung und Verbesserung des Menschen vollbringen. Die Kultur ist für Simmel ein positiver Wert, der grundlegend zum Menschsein gehört. Er spricht von „Vollendung“ und von „Verwirklichung des ihr vorgesetzten, [...], vollen und eigensten Seins.“[10] Gleichzeitig tritt der Mensch in eine Beziehung mit der Welt, die es ihm ermöglicht, ihr näher zu sein und sie besser zu verstehen. Er konstituiert sie mit und ist somit für sie mitverantwortlich und mit ihr verbunden.

Auch besteht ein gewisses Bedürfnis, den Wandel und die stetige Veränderung des Subjekts mit Hilfe der Manifestation durch bestimmte Dinge zu durchbrechen und somit Beständigkeit und Festigkeit zu erzeugen. Simmel spricht von einer „Befriedigtheit“[11], die dadurch hervorgerufen wird. Außerdem entsteht ein besonderer „persönlicher Genuß“[12] beim Kulturschaffenden selber, der seine eigenen Produkte betrachtet.

2.1.4. Die Tragödie der Kultur

Am Ende seiner Kulturtheorie kommt Simmel zum Problem der Kultur – der Tragödie. Diese Tragödie ist schon in der Grundkonzeption, in der Subjekt-Objekt-Synthese angelegt. Mit der Schaffung der Objekte wie Recht, Kunst oder Sitte geht mit ihrer Objektivierung eine Entfremdung einher. Sie existieren losgelöst vom Produzenten und werden sozusagen selbständig. Die Inhalte unterliegen auch einem Entwicklungsprozeß. Sie werden von anderen Menschen verändert und reagieren mit anderen Inhalten. Simmel spricht von einem „Riß“[13], der zwischen dem Subjekt und dem Objekt klafft. Das in der Theorie gut funktionierende Schema: das einfache Subjekt geht über die Objekte zum entfalteten Subjekt, kann und wird in der Realität durchbrochen.

Durch die moderne Entwicklung der Kultur verändert sich die Herstellung der Objekte und somit auch die Subjekt-Objekt-Konstellation. Jegliche Produktion und eben auch die von Kulturobjekten wird vielschichtiger. Dadurch daß viele verschiedene Personen bzw. Individuen daran teilhaben, entfällt im eigentlichen Sinne der Produzent. Nicht mehr nur einer erzeugt etwas und veräußert somit sein Inneres, sondern mehrere sind dafür verantwortlich. Simmel drückt dies folgendermaßen aus: „durch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist.“[14] Es entsteht etwas, was nicht in der Intention eines einzelnen Schöpfers liegt. Hinzu kommt, daß jeder einzelne die Dinge der Welt auf seine je einzelne Art und Weise interpretieren und diesem somit einen ganz eigenen Sinn geben kann. Daraus folgt, selbst wenn eine einzelne Person etwas schafft, kann sie keineswegs die weitere Bedeutung erkennen. Es entgleitet ihr sozusagen, und sie ist nicht länger Herr darüber.

Ein weiteres wichtiges Merkmal für die moderne Kultur ist der stetige Wachstum dieser. Das Reich der Kultur wird immer größer, und ein kulturelles Objekt bringt ein weiteres hervor und beeinflußt andere. Es wird zunehmend schwieriger zu überschauen, wer die Kulturobjekte rezipiert und wie sie rezipiert werden. Diese Masse von Kultur wirkt auf ihre ganz eigene Art und Weise. Zum einen wirkt sie erdrückend auf das Individuum, welches sich der Kultur gegenüber klein und unzureichend fühlt. Durch die unmögliche Bewältigung der Gesamtheit stellt sich die Frage der Bedeutung der Kultur für den Einzelnen. Zum anderen gehört sie aber so essentiell zu seiner Umwelt, so daß er sie auch nicht einfach ablehnen kann. Um in der Welt zu leben, muß er sich mit der Kultur auseinandersetzen und so charakterisiert Simmel den modernen Menschen mit „omnia habentes, nihil possidentes“[15].

Durch die Objektivierung und dem dadurch Selbständigwerden der Erzeugnisse muß es zur Entfremdung kommen. Die Tragödie ist in Simmels Kulturtheorie zum einen immanent in der Grundkonzeption angelegt und zum anderen ist sie aus der modernen Entwicklung heraus erklärbar.

2.2. Adorno/Horkheimer – Dialektik der Aufklärung

2.2.1. Aufklärung und Vernunft

Thematisch knüpfen Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung an die Simmelsche 'Tragödie der Kultur' an und zeichnen ein besonders düsteres und negatives Bild der menschlichen kulturellen Entwicklung. Unter dem Eindruck der Schrecken des zweiten Weltkrieges versuchen sie die Ursachen und Folgen des historischen Scheiterns von Aufklärung, Vernunft und Humanität zu finden: "Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt."[16] Dieser Rückfall kann nicht auf ein besonderes geschichtliches Ereignis zurückgeführt werden, sondern zeigt vielmehr das grundsätzliche Scheitern der Zivilisation und das Versagen der Aufklärung, die in den historischen Fortschritten der Vernunft einen absoluten Garanten für Humanität gesehen hatte. Aus diesem Grunde muß die Kritik der Moderne tiefsitzenden Mängeln der Vernunft nachgehen.

Analog zur historischen Analyse der Begriffe von Aufklärung und Vernunft nehmen Adorno und Horkheimer eine texthermeneutische Entzifferung von Schlüsselszenen aus Homers Ilias und de Sades Geschichte der Juliette vor, da diese frühen Dokumente abendländischen Geistes als Grundtexte der europäischen Zivilisation gewertet werden können, und sie zeigen sollen, daß schon zu Beginn der menschlichen Genese die Ursache für die spätere Fehlentwicklung angelegt ist. Diese Ursache finden Adorno und Horkheimer in dem ersten Akt der instrumentellen Aneignung von Natur, wodurch der Mensch sich über diese erhebt und sich gegen sie behauptet. Durch die Trennung von der Natur folgt die Disziplinierung seines Trieblebens, die Verarmung seines sinnlichen Vermögens und die Ausbildung sozialer Herrschaftsverhältnisse.

Es verbinden sich in der Dialektik der Aufklärung narrative Elemente, die auf eine texthermeneutische Vorgehensweise zurückgehen, mit theoretischen Teilen, die eine instrumentelle Vereinseitigung der Vernunft als bloßes Mittel der Selbsterhaltung rekonstruieren. Zwei auseinandergetretene Elemente werden der Vernunft zugeschrieben: Instrumentalität und Reflexivität. Das Auseinandertreten führt zu einer Schwerpunktverlagerung zugunsten der instrumentellen Rationalität. Deutlich wird dabei, daß es nicht um eine generelle Negation der Vernunft geht, sondern vielmehr wird versucht herauszufinden, unter welchen historisch gesellschaftlichen Bedingungen es zur Verabsolutierung der instrumentellen Seite von Vernunft kam. Durch die Kritik an der Eindimensionalität des mit Vernunft schlechthin gleichgesetzten Nützlichkeitsprinzips entsteht eine theoretische Stärkung der selbstreflexiven Vernunftpotentiale.

Verbunden mit der Analyse der Vernunft ist der Begriff und das Verständnis von Aufklärung, die auch einer radikalen Kritik unterzogen wird. Früher beherrschte die Aufklärung den Mythos, was sich jetzt verkehrt hat, da Aufklärung selbst in Mythologie umgeschlagen ist. Es kommt zu einer Entlarvung der Aufklärung, welche "totalitär wie nur irgendein System"[17] ist. Adorno und Horkheimer entwickeln ein Programm der Aufklärung der Aufklärung, welches eine ständige Kritik der Vernunft fordert. Solange Mißtrauen gegen die Vernunft angebracht ist, ist die Aufklärungskritik unerläßlich.

2.2.2. Das Problem der Kultur

Von der Vernunftskritik ausgehend rücken Adorno und Horkheimer auch die menschliche Kultur selbst in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Zum einen kritisieren sie das Verhältnis von Mensch und Natur und zum anderen das von Individuum und Gesellschaft.

Die Entwicklung der instrumentellen Vernunft gipfelt in der "Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt" und in der "Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen."[18] Die sich vergegenständlichende Subjektivität wird zur Herrscherin der Natur, was nicht zu einer Annäherung, sondern zu einer zunehmenden Entfremdung von Natur und Mensch führt.

Eine besondere Auswirkung dieser Entwicklung ist die wachsende Knechtschaft der Menschen unter der Herrschaft des Warenfetischismus, welcher am Beispiel der amerikanischen Massenkultur im Kapitel Aufklärung als Massenbetrug nachgegangen wird. Dabei kritisieren sie die Kulturindustrie, die sich als Geschäft versteht und Kunst und Kultur aus ökonomischen Gründen produziert. Um die wachsende Anzahl der Konsumenten zu befriedigen, bedarf es bestimmter Produktionsverfahren, die die "Kulturindustrie" zur "Standardisierung und Serienproduktion gebracht" hat und "das geopfert" hat, "wodurch die Logik des Werks von der des gesellschaftlichen Systems sich unterschied."[19] Die Kultur wird verdinglicht, was besonders im Kontext der Werbung deutlich wird, in dem das Produkt der vergegenständlichten Erzeugnisse angepriesen und vermarktet wird. Immer mehr verfestigt sich der Warencharakter der Kunst, die käuflich zu erwerben ist.

Kultur soll nur noch konsumiert werden, und der einzelne Mensch hat nur die Möglichkeit, das für seinen Typ fabrizierte, aus dem Angebot zu wählen. Dieses Angebot ist begrenzt und in bestimmte, zumeist ökonomische Kategorien gegliedert.

Durch die starke Verbindung der Kultur mit der Wirtschaft kommt es zu einer inhaltlichen Beschränkung und Steuerung. Adorno und Horkheimer sprechen von Kulturmonopolen, die von Vertretern der gesellschaftlichen Macht abhängig sind. Damit einher geht eine Verringerung der kulturellen Vielfalt oder radikaler formuliert, kommt es zu einer "Identität aller industriellen Kulturprodukte".[20] Gleichzeitig wird dem Individuum die Aneignung dieser Produkte erleichtert. Die Industrie bereitet ihre Produkte für den Konsumenten paßgerecht auf, so daß dieser der aktiven Aneignung enthoben wird. Dies geschieht zum Beispiel durch die Verwendung von stereotypen Klischees, die nur unterschiedlich angeordnet werden.

2.2.3. Der Untergang des Subjekts als Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklung

Grundlegend setzt sich die Gesellschaft aus Subjekten zusammen und wird durch sie konstituiert. Adorno und Horkheimer beschreiben den Prozeß der Loslösung und Verselbständigung der Subjektivität als Herrscherin der Natur. Diese Herrschaft wird mit einer Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten bezahlt, was zu einem "Bruch von Subjekt und Objekt" führt.[21] Die Macht der gesellschaftlichen Ordnung wirkt auf die Subjektivität ein, so daß diese eingeebnet und angepaßt wird, wodurch sie ihren eigenständigen und kreativen Charakter verliert. Dies verändert die Produktion und Rezeption von Kultur, so daß Adorno und Horkheimer sagen können: "Die Bilder werden schon bei ihrer eigenen Produktion nach den Standards des Verstandes vorzensiert, dem gemäß sie nachher angesehen werden sollen."[22]

Die logische Konsequenz der kulturellen Trivialisierung ist die "Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten"[23], die direkt durch die Beschaffenheit der Produkte hervorgerufen wird. Das denkende Subjekt wird seiner Subjektivität entwöhnt. Es wird zu einem Teil der Maschinerie, die den Konsumenten produziert, steuert und diszipliniert.

Neben der Herrschaft der Medien ist der Mensch auch "in einem System von Kirchen, Klubs, Berufsvereinen und sonstigen Beziehungen eingeschlossen", die ihn unter ständige soziale Kontrolle stellen.[24] Sobald sich jemand nicht diesem Schemata fügt, wird er als 'Outsider' gekennzeichnet und somit aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Das Individuum verliert jeglichen persönlichen Charakter und löst sich in einer Identität mit dem Allgemeinen auf.

2.3. Die pessimistische Kulturkritik

Simmel und Adorno/Horkheimer setzen sich kritisch mit der modernen Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Kultur auseinander. Beide Theorien nehmen den Prozeß der kapitalistischen Modernisierung und den damit verbundenen Wandel der Produktion von Kultur als Ausgangspunkt ihrer Analyse der Veränderung von Kultur. Es kristallisiert sich jeweils eine Entfremdung von Kultur und Mensch heraus, die mit einer Verarmung verbunden ist, was sich auf die persönliche Entfaltung des Individuums auswirkt.

Für Simmel liegt die Priorität in der Kultivierung des Subjekts, die mit Hilfe der kulturellen Objekte erreicht wird. Diese kulturellen Objekte fungieren sozusagen als Hilfsmittel für die Verbesserung des Menschen, wodurch sie ihren Sinn und ihre Funktion erhalten. Der Subjekt-Objekt-Dualismus prägt in besonderem Maße die Theorie G. Simmels. Danach muß das Subjekt über selbstproduzierte Objekte gehen, um ein entfaltetes, kultiviertes Subjekt zu werden. Dieser Prozeß wird als Idealzustand beschrieben und er wird durch die moderne Entwicklung gestört.

Auch Adorno und Horkheimer erkennen Probleme in der Erzeugung und der Konsumierung von Kultur, doch resultiert diese Feststellung grundlegend aus der Untersuchung der Entwicklung von Aufklärung und Vernunft. Die gescheiterte Aufklärung verursachte eine Vereinseitigung der menschlichen Vernunft, wodurch sich das Verhältnis von Mensch und Natur, Individuum und Gesellschaft verschob. Die selbstreflexiven Potentiale der Vernunft wichen einer rein instrumentellen Nutzung von Vernunft. Adorno und Horkheimer zeigen, wie sich diese Entwicklung in der Gesellschaft realisiert und vor allem auf die Erzeugung von Kultur und Öffentlichkeit auswirkt. Dabei entsteht eine Kulturindustrie, die Produkte für Konsumenten produziert, wodurch sich auch die kulturellen Erzeugnisse ändern. Es folgt die Beschränkung der Kultivierungsmöglichkeiten für das Individuum, was zu einem ähnlichen Ergebnis führt wie Simmels Analyse. Nur ist zu beachten, daß Adorno und Horkheimer den Anfang der Fehlentwicklung viel früher ansetzen und so der Zivilisationsprozeß im ganzen kritisiert wird. Dadurch können "auch jene Fortschritte in der Erweiterung rechtlicher Freiheiten, in der Demokratisierung politischer Entscheidungen oder in der Öffnung individueller Handlungsspielräume gar nicht mehr zum Vorschein kommen, vor deren Hintergrund sich soziale Pathologien überhaupt erst als geschichtlich situierte Fehlentwicklungen abzeichnen können."[25]

In diesem Punkt entspricht die Einschätzung Adorno/Horkheimers in etwa der frühen Zivilisationskritik Rousseaus, der auch von Entzweiung und Entfremdung sprach und schon in den ersten Schritten der Vergesellschaftung das Ende des idealen Naturzustandes sah. Auch wenn Adorno und Horkheimer keine absolute Rückorientierung an das gesellschaftsfreie Naturwesen fordern, so ist zumindest die Radikalität der Ablehnung des Zivilisationsprozesses mit der Rousseaus vergleichbar. Simmel dagegen betont die grundsätzlich positive Bedeutung von Kultur, wobei jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. So knüpft Simmel eher an die Marxsche Kritik der veränderten Produktionsverhältnisse an. Auch für Marx stellt die Vergegenständlichung der Arbeit im Produkt eine zentrale Funktion des menschlichen Lebens dar, wodurch das einzelne Subjekt die Chance erhält, sich der eigenen Kräfte zu vergewissern und sich selbst zu entwickeln. Marx und Simmel kritisieren die Begleiterscheinungen der voranschreitenden Industrialisierung.

2.4. Habermas - Kulturauffassung der Moderne

2.4.1. Die Kultur und die Moderne

Habermas versucht in dem Vortrag „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“[26] eine Analyse der Moderne und ihre Entwicklung in Zeiten der Postmoderne durchzuführen. Im Vordergrund steht dabei die Feststellung einer kulturellen Verarmung.

Die Entwicklung der Kultur ist mit einem stetigen Wachstum und einer zugleich immer weiterführenden Ausdifferenzierung verbunden. Moral, Recht und ähnliche Phänomene entwickeln sich in den sogenannten Wissenschaftsdiskursen und entfalten somit eine Eigenlogik. Es kommt zur Entstehung von Institutionen, die sich speziell mit einzelnen Themen bzw. Diskursen beschäftigen, und es findet eine professionelle Bearbeitung der kulturellen Geschichte und deren Weiterverarbeitung statt. Dadurch entsteht, wie Habermas es nennt: „eine interne Geschichte der Wissenschaften“.[27] Die Bearbeitung in einzelnen Diskursen ermöglicht eine höhere Reflexivität, wodurch ein gesteigerter Wissenszuwachs erreicht wird.

Die moderne Gesellschaft wird gekennzeichnet durch eine zunehmende Spaltung von System (Wirtschaft, Recht, Politik) und Lebenswelt. Gesellschaften erhöhen durch Differenzierung und Rationalisierung ihre Komplexität. Durch diese Entwicklung der Kultur bzw. der Kulturobjekte „wächst der Abstand zwischen den Expertenkulturen und dem breitem Publikum“[28]. Die Kultur verliert ihren praktischen Bezug zum ‚normalen’ Menschen. Es bildet sich eine Kluft zwischen der spezialisierten Kultur und den Fachleuten, die sich damit auseinandersetzen können, auf der einen Seite und auf der anderen Seite, dem Rest der Menschen, welche die Fülle der Kultur nicht mehr bewältigen können. Die Kultur verliert ihre Bedeutung für den Nicht-Spezialisten, da er sich einer überdimensionierten Vielfalt gegenüber machtlos fühlt. Die „entwertete Lebenswelt droht zu verarmen“[29], da in der alltäglichen Praxis der (spezialisierten) Kultur keine Rolle mehr zukommt.

2.4.2. Das Projekt der Moderne

Das Projekt der Moderne nimmt seinen Ursprung in den Ideen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Die Aufklärung fordert die Mündigkeit des Individuums, die geistige wie politische Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung durch die menschliche Vernunft.

In aller Deutlichkeit formulierte Kant das Ziel der Aufklärung: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung."[30]

Jeder einzelne soll in der Lage sein, seine eigene Vernunft zu gebrauchen und sich somit ein eigenes Bild von der Welt zu machen. Um dies zu erreichen, muß der Mensch die Möglichkeit erhalten, sich kulturelle Leistungen anzueignen. Habermas selbst bezieht sich auf die Aufklärung des 18. Jhds. und betont ihre Forderung, „die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber gleichzeitig auch die kognitiven Potentiale, die sich so ansammeln, aus ihren esoterischen Hochformen zu entbinden und für die Praxis, d. h. für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen.“[31]

Habermas knüpft also an die Grundideen an und sieht im Erbe der Aufklärung die Forderung, die in der Moderne ausdifferenzierten Bereiche der objektivierenden Wissenschaften, der universalistischen Grundlagen von Moral und Recht sowie der autonom gewordenen Kunst an die Lebenswelt heranzuführen, ohne sie in ihrem Eigenrecht zu beeinträchtigen.

Die Entwicklung der Expertenkulturen wird nicht grundlegend negiert. Die Arbeit in den Wissenschaftsdiskursen zeichnet sich durch große Produktivität und Effizienz aus, was natürlich ein positiver Aspekt der Entwicklung ist. Am Beispiel der Kunstrezeption zeigt Habermas zwei Bedeutungen dieser Arbeit: „[D]ie Kunstkritik beansprucht einmal die Rolle der produktiven Ergänzung zum Kunstwerk, ein anderes Mal die des Anwalts für den Interpretationsbedarf des breiten Publikums.“[32] Die zweite Bedeutung, die der Vermittlung des Kunstwerks zum Publikum, darf bei aller wissenschaftlichen Arbeit nicht in den Hintergrund gedrängt werden.

Entgegen der Bemühungen der Postmoderne, die für Habermas eine falschen Aufhebung der Kultur bewirken, sieht er eine Alternative in der praxisnahen Arbeiterbildung. Er plädiert für die Beachtung des Publikums, für eine Verbindung zum Alltag und damit zur Lebenswelt des Menschen. Durch transparente Verständigungsformen soll eine kommunikative Alltagspraxis entstehen, die einen freien Horizont für den aufgeklärten Menschen bietet. Das Ziel ist die Offenheit einer sich selbst in Frage stellenden Kultur.

2.5. Die hoffnungsvolle Kulturkritik

Besonders durch den "linguistic turn" beeinflußt, wendet sich J. Habermas dem Problem der Entfremdung der Kultur zu, mit dem Ziel die Kritik auf eine universalistische Grundlage zu stellen.

Diese sieht er in einer natürlichen und notwendigen Eigenschaft des Menschen: der Kommunikation. Er stellt zwei Aspekte der Bearbeitung und des Umgangs mit kulturellen Objekten heraus, zum einen die Ausbildung in den Wissenschaftsdiskursen und zum anderen die Bedeutung und der Bezug zur Lebenswelt. Auch für Habermas stellt sich das Simmelsche Problem der Aneignung und Bedeutung von Kultur für den einzelnen Menschen und so kritisiert er in besonderem Maße die zunehmende Spezialisierung der Wissenschaftsdiskurse und die daraus resultierende Entstehung von Expertenkulturen, die losgelöst vom Menschen einer Eigenlogik folgen und die Verbindung zum Subjekt außer acht lassen. Ähnlich wie Adorno und Horkheimer sieht er eine Lösung in einem richtigen Verständnis von Aufklärung, wodurch der Mensch wieder in der Lage sein soll, sich mit der Gesellschaft, seiner Kultur und sich selbst auseinanderzusetzen.

Im Gegensatz zu Simmel und Adorno/Horkheimer betont Habermas jedoch die Möglichkeit einer Annäherung von Subjekt und kulturellen Objekten. Es handelt sich bei der Habermaschen Entfremdung nicht um eine wie bei Simmel der kulturellen Entwicklung immanente Eigenart und genauso wenig lehnt er wie Adorno/Horkheimer die gesamte Gesellschaftsentwicklung ab, sondern vielmehr sucht er nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation, um damit Probleme der Moderne und gegebenenfalls Perspektiven aufzuzeigen.

Durch diesen optimistischen Ansatz hebt sich Habermas deutlich von den bisherigen Kritiken ab. Ähnlich positiv kann die Arbeit Hannah Arendts bewertet werden, die mit ihrem Begriff der "herrschaftsfreien Diskussion" Habermas beeinflußt hat.[33] Auch für sie eröffnen die Kommunikation und der Gebrauch einer politischen Öffentlichkeit Möglichkeiten der Veränderung.

In diese Linie der optimistischen Kulturkritik ist auch Alexander Kluge einzuordnen. Zum einen in seiner theoretischen Ausarbeitung, die im nächsten Kapitel dargestellt wird. Zum anderen in seinem literarischen Werk, welches kritisch die Unmengen von menschlichen Katastrophen betrachtet, und dabei von einem unbezwinglichen Optimismus zeugt.

2.6. Negt/Kluge

2.6.1. Die Entwicklung der modernen Öffentlichkeit

Ähnlich wie Habermas setzt sich Alexander Kluge kritisch mit der modernen Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Kultur auseinander. Dies geschieht in seinen theoretischen Werken "Öffentlichkeit und Erfahrung" (1972) und "Geschichte und Eigensinn" (1981), welche beide zusammen mit Oskar Negt entstanden sind.

Wie auch schon am Titel erkennbar ist der Begriff der Öffentlichkeit für Kluge von zentraler Bedeutung. Er versucht grundlegend sich diesem Begriff zu nähern, da er sehr unterschiedlich und oftmals undifferenziert gebraucht wird, was ganz deutlich an den verschiedenen Definitionen sichtbar wird.[34] Kluge unterscheidet zwischen bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, wobei er die bürgerliche als herrschende ansieht und die proletarische erst rekonstruiert werden muß. Im Laufe des Buches entfaltet er eine ganz eigene Dialektik dieser zwei sich teils entgegengesetzten und teils ergänzenden Organisationsformen. In der vorliegenden modernen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts werden Interessen und Erfahrungen der proletarischen Masse, also der Mehrheit der Bevölkerung nicht berücksichtigt.

Kluge beschreibt den besonderen Einfluß des Kapitalismus, der Industrialisierung, der Warenproduktion auf die Gesellschaft und das je eigene, persönliche Leben. Dabei stellt er eine Trennung zwischen "Bildung, Wissenschaft und Kunst einerseits und Interessen und Erfahrungen der Massen andererseits"[35] fest, welche durch die besondere Form der kapitalistischen Produktionsweise hervorgerufen wird.

Von der Entwicklung der Arbeitsverhältnisse ausgehend, erkennt auch Kluge wie schon Habermas die Verselbständigung der theoretischen Wissenschaften, die durch "Spezialisierung und Instrumentalisierung" begleitet wird und zugespitzt formuliert: "völlig unnatürlich" ist.[36] Die theoretische Arbeit entfernt sich von ihrem Gegenstand, da sie den Bezug zu den anderen Gesellschaftsgliedern verliert, die jedoch auch Teil der sie umgebenen Welt sind. Die Wissenschaft verarbeitet spezialisierte und keine gesamtgesellschaftliche Erfahrung, was zu Ergebnissen führt, die für die nichtwissenschaftliche Bevölkerung fremd und entartet erscheinen. Hinzu kommt die besondere Ausdrucksform, die sprachliche Barrieren aufbaut, welche die Rezipierbarkeit für Teile der Bevölkerung zusätzlich erschwert.[37]

Ein Ausdruck dieser Entfremdung ist zum Beispiel die Darstellung von Wissenschaftlern als Dr. Mabuse, Prof. Frankenstein oder ähnlich erschreckende Figuren, die in der Volksphantasie mit fast menschenfeindlichen Eigenschaften behaftet sind.

2.6.2. Kultur als Warenproduktion

In der modernen Zeit wird Öffentlichkeit in besonderem Maße durch die verschiedenen Formen von Medien, wie den unterschiedlichsten Printmedien, Fernsehen oder Radio, gestaltet. Kluge verwendet dafür den Begriff der "Bewußtseinsindustrie", der die Verbindung von Industrialisierung und Kultur deutlich macht. In "Geschichte und Eigensinn" spricht er dann von "Produktion von Intelligenzarbeit"[38] und von "Theoriearbeit", wodurch sich analog dem Begriff der Bewußtseinsindustrie der Bezug zur Arbeit und zur Produktion einer Ware ausdrückt, was dann in der Produktionsöffentlichkeit mündet. Insgesamt muß betont werden, daß sich Kluges Analysen stark an dem marxschen Begriff der Arbeit orientieren, der als ein die Gesellschaft und den Menschen prägendes Element fungiert.

Im Kontext einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft erhält die Kulturproduktion einen vom ursprünglichen reflexiven Sinn gelösten Wert. Der Warencharakter von Kultur tritt in den Vordergrund. Wenn Kultur einen Warenwert besitzt, beschränken ökonomische Prinzipien die Entfaltungsmöglichkeit kulturellen Reichtums.

Diese Analyse findet sich in ähnlicher Form bei Adorno und Horkheimer, die auch die kulturelle Entwicklung teilweise aus dem Blickwinkel der Arbeitsorganisation und Warenproduktion untersuchten und dabei eine ähnliche Vereinheitlichung und Beschränkung feststellten.

Wie Adorno/Horkheimer sich mit der amerikanischen Massenkultur auseinandersetzen, beschäftigt Kluge sich mit dem deutschen Fernsehen als ein Paradebeispiel für ein die moderne Öffentlichkeit prägendes Medium. Daran kritisiert er besonders die Produktion generalisierter Programme, die bürgerlichen Normen folgen, welche die unmittelbaren Lebensinteressen einer proletarischen Öffentlichkeit außer acht lassen. Die Kritik der Einheitlichkeit des Fernsehprogramms zielt nicht allein auf den Inhalt, sondern setzt bei den Produktionsbedingungen an, die für die mangelnde Vielfalt verantwortlich sind. Der Gebrauchswert der Einzelware bestimmt sich dabei durch die Gesamtheit des Medienangebots.[39]

Noch mehr als Adorno/Horkheimer versucht Kluge die neu entstandene Arbeitsweise zu untersuchen, die er als Ursache für die sich neu entfaltende Öffentlichkeit darstellt. Diese moderne Arbeitsweise ist gekennzeichnet durch: "Arbeitsteilung, Trennung von Produktionsmitteln, Entfremdung von der Herrschaft über das ganze Produkt" und "keine unmittelbare Abarbeitung an wirklichen Gegenständen."[40] Wie in Kapitel 2.1. dargestellt, wird diese Entfremdung der Produktionsverhältnisse auch von G. Simmel erkannt und kritisiert, so daß sich hier klare Parallelen ergeben. Kluge und Simmel verstehen beide die Gefahren einer vom Produkt gelösten Spezialisierung.

Entgegen Simmels rein theoretischer Analyse stellt Kluge mehr Bezüge zur real existierenden Produktionsöffentlichkeit her. Auf der Basis der Untersuchung der Produktionsweise begründet Kluge zum einen seine Medienkritik und zum anderen das Verhältnis von Theorie und Praxis. Die theoretische Arbeitsweise wird vom sogenannten 'Intelligenzarbeiter' durchgeführt, dessen Verhältnis zu seinen Produkten durch "Fernblick und Sachnähe" charakterisiert wird. Der spezialisierten Arbeit der Wissenschaftler kommt zwar eine bestimmte Legitimation zu, jedoch darf deren Tätigkeit nicht losgelöst vom praktischen Nutzen geschehen, sondern viel mehr muß die Theorie einen "Gebrauchswert" besitzen, dem ein deutlicher Bezug zum praktischen Handeln innewohnt.[41]

2.6.3. Auseinandertreten von Individuum und Gesellschaft

Als Resultat der soziologischen Untersuchung der Produktionsverhältnisse von Kultur und Öffentlichkeit konstatiert Kluge ein Auseinandertreten von Theorie und Praxis, von Öffentlichkeit und Privatheit, von Individuum und Gesellschaft. "Intelligenzarbeit ist in dem Maße brauchbar, in welchem sie in allen Teilen der Gesellschaft angeeignet werden kann. Ihr Gebrauchswertcharakter mißt sich an ihrer Fähigkeit, Öffentlichkeit herzustellen. Intelligenzproduktion ist Öffentlichkeitsproduktion."[42] In seinen theoretischen Werken "Öffentlichkeit und Erfahrung" und "Geschichte und Eigensinn", die teilweise deutliche Bezüge zur Theorie Adornos erkennen lassen, versucht Kluge herauszustellen, wie sich die kapitalistische Ökonomie und die bürgerliche Rationalität auf die Menschen auswirken und Vereinzelungen der Sinne hervorrufen, so daß eine ganz bestimmte Art zu fühlen und zu denken entsteht. Der einzelne Mensch ist nicht mehr in der Lage, die wirklichen Verhältnisse zu verstehen, da seine Vernunft von der Herrschaft der Ökonomie bestimmt und geleitet wird. Der Rationalisierungsdruck der kapitalistischen Wirtschaftsweise verursacht soziale Verdinglichung, Gemeinschaftsverlust und letztendlich kulturelle Verarmung, wodurch die menschliche Selbstverwirklichung elementar beeinträchtigt wird. Es handelt sich immer um das zweiseitige Schema von Subjekt und Objekt, was sich schon in den Buchtiteln offenbart: "Geschichte und Eigensinn" und "Öffentlichkeit und Erfahrung". Geschichte und Öffentlichkeit stehen für objektive Zusammenhänge, wogegen Eigensinn und Erfahrung die subjektive Seite zum Ausdruck bringen.

Dagegen setzt Kluge seine Idee einer proletarischen Öffentlichkeit, die als Bindeglied fungieren soll, das Dazwischen, welches dem gemeinen Menschen seine Möglichkeiten eröffnet und den Gegenpol zur losgelösten und verselbständigten bürgerlichen Öffentlichkeit bildet. Grundsätzlich ist dieses Programm gegen die Hochkultur mit der Habermas'schen Analyse der Trennung vergleichbar, der auch eine ähnliche Entfremdung von Individuum und Expertenkultur erkennt. Nur beschränkt sich Habermas fast ausschließlich auf die kommunikationstheoretische Ebene, die Kluge durch seinen Öffentlichkeitsbegriff mit berücksichtigt, aber auch erweitert. So bezieht die Öffentlichkeit einen gesamtgesellschaftlichen Kontext mitein, der neben dem Phänomen der Kultur, auch die Bedeutung von Institutionen und öffentlichen Zusammenhängen betont.

[...]


[1] Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Frankfurt 2000. Im folgenden abgekürzt: ChG.

[2] Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Berlin 1983.

[3] Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980). In: Kleine Politische Schriften. Frankfurt 1981.

[4] Simmel: S.195.

[5] Simmel: S.195.

[6] Simmel: S.197.

[7] Simmel: S.197.

[8] Simmel: S.206.

[9] Simmel: S.206.

[10] Simmel: S.197.

[11] Simmel: S.201.

[12] Simmel: S.201.

[13] Simmel: S.210.

[14] Simmel: S.211.

[15] Simmel: S.217.

[16] Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 2002. S. 1.

[17] Adorno/Horkheimer: S. 31.

[18] Adorno/Horkheimer: S. 6.

[19] Adorno/Horkheimer: S. 129.

[20] Adorno/Horkheimer: S. 132.

[21] Adorno/Horkheimer: S. 32ff und S. 46.

[22] Adorno/Horkheimer: S. 91.

[23] Adorno/Horkheimer: S. 134.

[24] Adorno/Horkheimer: S. 158.

[25] Honneth, Axel: Pathologien des Sozialen. S. 44.

[26] Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980). In: Kleine Politische Schriften. Frankfurt 1981.

[27] Habermas: S.41.

[28] Habermas: S.41.

[29] Habermas: S.41.

[30] Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

[31] Habermas: S.42.

[32] Habermas: S.49.

[33] Siehe Honneth: S. 47.

[34] Kluge/Negt: Öffentlichkeit und Erfahrung. Frankfurt 1972. Im folgenden abgekürzt: ÖE.

S. 18: "Öffentlichkeit ist in diesem Sinne einmal eine Angelegenheit weniger Professionelle (s.B. Politiker, Redakteure, Verbandsfunktionäre), zum anderen etwas, das jedermann angeht und sich in den Köpfen der Menschen erst realisiert, eine Dimension ihres Bewußtseins."

[35] Kluge/Negt: ÖE. S. 14.

[36] Kluge/Negt: ÖE. S. 52.

[37] Kluge/Negt: ÖE. S. 53.

[38] Weitere Ausführungen zum Begriff der "Intelligenzarbeit" siehe Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt 1981. Im folgenden abgekürzt: GE. S. 421ff.

[39] Kluge/Negt: ÖE. S. 227. Übergreifende Vernetzung verschiedener Medien durch Konzerne, die verschiedene Produkte aufeinander abstimmen. Auffällig sind dabei die Begriffe Massenproduktion und Massenorganisation, welche die individuelle, vom Subjekt ausgehende Erzeugung von Kultur negieren. Die bisher extremste Form der Vernetzung und Vereinheitlichung drückt sich in dem aktuellen Phänomen der 'Globalisierung' aus.

[40] Kluge/Negt: ÖE. S. 253.

[41] Kluge/Negt: GE. S. 453. Weitere Ausführungen siehe S. 1112.

[42] Kluge/Negt: GE. S. 430.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Chronik des unterschätzten Menschen. Alexander Kluge im Kontext der Kritischen Theorie
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Philologie)
Note
1,5
Autor
Jahr
2003
Seiten
81
Katalognummer
V77930
ISBN (eBook)
9783638780674
ISBN (Buch)
9783638873116
Dateigröße
707 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Chronik, Menschen, Alexander, Kluge, Kontext, Kritischen, Theorie
Arbeit zitieren
Silvio Wolff (Autor:in), 2003, Chronik des unterschätzten Menschen. Alexander Kluge im Kontext der Kritischen Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77930

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