Utopie und Zeitsemantik - Zur gesellschaftlichen Konstruktion der Zeit


Magisterarbeit, 2007

184 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Ziel und Gegenstand der Arbeit
1.2 Aufschlüsselung der Quellen: Die tabellarische Übersicht
1.3 Vergleichbare Untersuchungen
1.4 Theoretische Ausrichtung

2 Theoretisch-Methodische Grundlegung
2.1 Definitionen
2.2 Hypothesenbildung und Nahtstellen der Analyseebenen 17Theoretische Grundlegung
2.3 Darstellung von Zivilisationstheorie und strukturierender Inhaltsanalyse
2.3.1 Der Zivilisationsbegriff
2.3.2 Norbert Elias: Die Zivilisationstheorie
2.3.3 Mannheim und Elias: Die Konfigurationsanalyse
2.3.4 Grundannahmen
2.3.5 Der Prozess der Zivilisation
2.3.6 Qualitative Inhaltsanalyse

3 Operationalisierung von Zivilisationstheorie und strukturierender Inhaltsanalyse
3.1 Anwendung der Zivilisationstheorie in dieser Untersuchung
3.2 Anwendung der strukturierenden Inhaltsanalyse in dieser Untersuchung
3.2.1 Bestimmung des Ausgangsmaterials
3.2.2 Vorverständnis, Entstehungssituation und formale Struktur
3.2.3 Bestimmung relevanter Textbestandteile; Ankerbeispiele

4 Zeitkonzeptionen im Wandel I: Zur Anthropologie der Zeit
4.1 Der Ursprung der Zeit als menschliche Synthesetätigkeit
4.2 Zeit in der Antike
4.3 Zeit im Mittelalter
4.4 Zeit in der Neuzeit
4.5 Exkurs: Materialisierung der Zeit am Beispiel der Uhr

5 Zeitkonzeptionen im Wandel II: Fortschritt und Utopie
5.1 Materialisierungen von Zeit I: Die Idee des Fortschritts
5.1.1 Zur Begriffsgeschichte
5.1.2 Die „Beste aller Welten“: Fortschritt in der Antike
5.1.3 Transzendentale Meditationen: Der Fortschritt im Mittelalter
5.1.4 Der neuzeitliche Fortschrittsbegriff
5.2 Materialisierungen von Zeit II: Die Entdeckung der Utopie
5.2.1 Zum Begriff der Utopie
5.2.2 Die Utopie in der Antike und im Mittelalter
5.2.3 Die Utopie in der Neuzeit: Entstehungshintergrund
5.2.4 Entstehung und Konsolidierung der neuzeitlichen Utopie

6 Tendenzen im Wandel der Zeitkonzeptionen
6.1 Die Ablösung zyklischer durch lineare Zeitkonzeptionen
6.2 Die veränderte Erfahrung und Reflexion der Geschichte
6.3 Die Entwicklung philosophischer Zeitbegriffe
6.4 Die Durchsetzung des objektiven Zeitbegriffs
6.5 Die Realisierung der Möglichkeit zeitlicher Koordination
6.6 „Zivilisierung“ der Zeitkonzeptionen

7 Strukturierende Inhaltsanalyse: Platon, Mercier und Orwell
7.1 Platon: politeia – Die ewige Gegenwart
7.1.1 Zusammenfassung zeitlich relevanter Textbestandteile
7.1.2 Form und Inhalt der politeia
7.1.3 Biographie Platons
7.1.4 Kontext des Werkes
7.2 Louis-Sébastien Mercier: L’An 2440, Rev.. – Die Macht der Zukunft
7.2.1 Zusammenfassung zeitlich relevanter Textbestandteile
7.2.2 Form und Inhalt von L’An 2440
7.2.3 Biographie Merciers
7.2.4 Kontext des Werkes
7.3 George Orwell: 1984 – Die Destruktion der Zeit
7.3.1 Zusammenfassung zeitlich relevanter Textbestandteile
7.3.2 Form und Inhalt von 1984
7.3.3 Biographie Orwells
7.3.4 Kontext des Werkes

8 Synthetisierung der Ergebnisse und vergleichende Stellungnahme
8.1 Kategoriengeleiteter Vergleich der untersuchten Utopien
8.2 Form, Inhalt und Inspirationsraum der Utopien
8.3 Vergleich zeitkonzeptioneller Tendenzen
8.4 Hypothesenprüfung und Abschließendes
8.5 Ausblick

9 Anhänge
9.1 Tabellarische Übersicht zur Chronologie literarischer Utopien
9.2 Tabellarische Auflistung der Textstellen zur Inhaltsanalyse
9.3 Quellenangaben und Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In einem kompakten Aufsatz über die „Rekonstruktion kultureller Sinnsysteme“ schreibt der Soziologe Heinz Bude: „Unter kulturellen Regeln kann man die Kohärenzregeln verstehen, an denen sich die Mitglieder einer Kulturgemeinschaft bei ihren Versuchen orientieren, einen befriedigenden Konsens darüber herzustellen, inwiefern ihren Aussagen über die Wirklichkeit etwas in der Wirklichkeit entspricht.“[1] Kulturelle Regeln (oder: „Kohärenzregeln“) erzeugen, so Bude, ein Bindegewebe, welches als Gefüge informeller Urteile die alltägliche und automatische Konstruktion der Wirklichkeit bestimmt. In diesem Gewebe manifestiert sich die kulturelle Ordnung einer Gesellschaft, zu der „sowohl die Kultur der großen Zahl als auch die Kultur der herausragenden Figuren“[2] gehört – Einseitigkeiten in dieser Hinsicht werden dem kulturellen System als Entität nicht gerecht. Dieses ist nämlich nicht Ökonomie, nicht Politik oder sonst ein Subsystem, sondern das, was alle diese in einen Zusammenhang bringt. Die vorliegende Arbeit erlangt ihre inhaltliche Struktur insofern unter Berücksichtigung der folgenden Gesichtspunkte: An welchen „Kohärenzregeln“ orientieren sich die Mitglieder einer Kulturgemeinschaft, wenn sie einen befriedigenden Konsens darüber herstellen wollen, ob im Altbewährten oder in der Zukunft die Zukunft liegt ? Welches Gefüge „informeller Urteile“ bestimmt die alltägliche und automatische Konstruktion der Wirklichkeit, wenn es um die Wahrnehmung zeitlicher Dimensionen geht? Außerdem: Wie und inwieweit materialisiert sich ein solches selbst- oder fremd geschaffenes Gefüge auf gesellschaftlicher Ebene und wann verliert es seine Legitimität? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es nicht nur der Festlegung eines konkreten und aussagekräftigen Untersuchungsgegenstandes, sondern auch einer Sichtung der zu diesem Thema bereits vorliegenden Arbeiten samt theoretischer Ansätze.

1.1 Ziel und Gegenstand der Arbeit

Im Sinne der in Vorspann und Einleitung gestellten Fragen formuliere ich das Ziel dieser Arbeit wie folgt:

1) Die zentraleuropäische Kulturentwicklung entlang der Genese und im Hinblick auf den Wandel von Zeitkonzeptionen, d.h. von Gefügen informeller bzw. explizierter Urteile über die Beschaffenheit von Zeit[3], nachzuvollziehen und ihre gesellschaftliche Bedeutung einzuschätzen. („Makro-Ebene“)
2) Die Beeinflussung des genannten Wandels durch einzelne „herausragende Figuren“ des gesellschaftlichen Lebens exemplarisch zu untersuchen, um so Rückschlüsse auf den Ursprung bzw. den Hintergrund der zeitlichen Selbstverortung des Menschen zu ziehen. (individuelle Interpretation, Fortführung und Vermittlung von Zeitkonzeptionen und Einflussnahme auf die Gesellschaft; „Meso-Ebene“)
3) Den gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext der Figuren selbst zu betrachten, um ihre eigene zeitkonzeptionelle Befangenheit zu beurteilen. (gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums; „Mikro-Ebene“)

Die „Kultur“ als regelhaftes Bindegewebe und als ganze „Realität eigener Art“[4] bedingt eine gewisse Maßlosigkeit bei der Bestimmung kultureller Objekte, die prinzipiell Gegenstand einer Untersuchung sein können. Die einzige Voraussetzung ist nämlich, dass sie in Form von Protokollen zugänglich sind; welche der Objekte jedoch tatsächlich „signifikant“ sind, ist schwer zu operationalisieren. Die Konkurrenz von Zeitkonzeptionen kann auf zwei Ebenen betrachtet werden: Explizierte Urteile zur Beschaffenheit von Zeit finden sich seit den frühesten philosophischen Äußerungen zum Thema bis zu aktuellen Diskussionen in einer großen Fülle von Quellen, von denen eine kleine, aber begründete Auswahl zur Bearbeitung der Fragestellung herangezogen wird. Das in einer historischen Periode dominante Gefüge informeller Urteile muss hingegen aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden.[5] Dieses rekonstruiere ich auf Grundlage des folgenden Quellenspektrums: zunächst können bestimmte und bedeutende Ereignisse, besonders wenn sie eine wie immer geartete Veränderung des gesellschaftlichen Status Quo herbeiführen, begleiten oder abschließen, einen faktischen Hintergrund für wahrscheinliche informelle Urteile liefern, die diesen Veränderungen zugrunde liegen. Des Weiteren ist der allgemeine mentalitätsgeschichtliche Entwicklungsstand – der „Zeitgeist“ – der zu untersuchenden Periode zu berücksichtigen, der sich durch die Interpretation der vielgestaltigen Kulturproduktion (Literatur, Schauspiel, Architektur, Art und Gestaltung kommunikativer Ereignisse – im Grunde alle Hervorbringungen des sozialen Lebens) unter verschiedenen Blickwinkeln rekonstruieren lässt. Dies ist bereits von diversen Autoren versucht worden und soll hier, sowohl unter Rückgriff auf einige derselben, als auch mittels eigener Überlegungen im Sinne der Fragestellung der Arbeit, geschehen.

Ein spezielles Phänomen aus der letztgenannten Kulturproduktion, genauer gesagt aus der Literatur, möchte ich als ein zentrales Medium der Vermittlung von Urteilen, informellen wie auch explizierten, über die Beschaffenheit von Zeit besonders ausführlich behandeln: die literarischen Utopien. In ihrer Dramaturgie findet sich nicht nur eine Fülle von Andeutungen, Gedanken und Thesen über die gesellschaftliche Konstruktion von Zeit, darüber hinaus erlaubt auch ihre Erzählstruktur Rückschlüsse auf die tatsächliche Wahrnehmung zeitlicher Horizonte bei der Niederschrift durch den Autor. Zugleich können sie ein im Vergleich zum jeweiligen Status Quo verändertes Set an Kohärenzregeln (in Form eines umfassenden Gesellschaftsentwurfs) enthalten, der – und dass wird noch zu untersuchen sein – die weiteren Einigungsversuche über diese Regeln maßgeblich beeinflusst. Ich gehe davon aus, dass der utopische Roman durch seine populären Elemente auch in der „einfachen“ Gesellschaft viel stärker rezipiert wurde, als dies zum Beispiel für philosophische Reflexionen gilt. Komplexe und umfangreiche Abhandlungen letztgenannter Art verleihen zwar einem gewissen wissenschaftlichen Kenntnisstand Ausdruck (der für die Untersuchung durchaus fruchtbar zu machen ist), findet aber oft nur eingeschränkt Eingang in die „Alltagswelt“.[6]

1.2 Aufschlüsselung der Quellen: Die tabellarische Übersicht

Die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten dreier exemplarisch ausgewählter Vergleichsperioden, die jeweils den Veröffentlichungszeitraum von mindestens einer rezeptionsgeschichtlich bedeutenden[7] literarischen Utopie umschließen, sollen zur Erhellung der unter 1.1 genannten Ziele beitragen. Um das kulturelle Sinnsystem einer Periode unter den oben genannten Gesichtspunkten zu rekonstruieren, muss es zunächst einmal möglichst eindeutig identifiziert werden. Dies kann nicht ohne die Zuhilfenahme jener Grundkoordinaten geschehen, die auch Gegenstand dieser Untersuchung sind, nämlich Zeit und (mittelbar) auch der Raum.[8] Da ich mich dieser Aufgabenstellung mittels der literarischen Utopien nähern möchte, ist ihre Geschichte, insbesondere die Chronologie ihrer Veröffentlichungen, das zeitliche Raster, an dem ich mich orientiere.

Um den Utopien einen weitergehenden, kultur-systematischen Rahmen zu geben, werden jene historischen Ereignisse und Strömungen berücksichtigt, die im Umfeld der räumlichen und zeitlichen Koordinaten von jenen liegen und nach gängiger Lehrmeinung von großer gesellschaftlicher Bedeutung waren. Zur zeitlich-mentalitätsgeschichtlichen Orientierung wird außerdem ein Ansatz aus der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft übernommen, nämlich jener der neueren deutschen Begriffsgeschichte, die über die Herkunft und Wirkung geschichtlicher Grundbegriffe informiert.[9] Aus diesen erscheinen mir „Utopie“ und „Fortschritt“ als einer Rezeption lohnenswert, da es sich in beiden Fällen um Begriffe handelt, die starke zeitliche und räumliche Implikationen besitzen, mithin zur Rekonstruktion dominanter Zeitvorstellungen innerhalb eines kulturellen Sinnsystems beitragen können.[10] Die Begriffsgeschichte kann Hinweise darauf geben, wie und in welchem Ausmaß sich Gefüge informeller Urteile in der Alltagswelt semantisch manifestiert haben und wirkt komplementär zur verkürzten „um Staatsmänner zentrierten politischen Geschichte“.[11]

Um alle diese meines Erachtens relevanten Entwicklungslinien im Blick zu behalten, um außerdem eine schnelle und sichere Auswahl signifikanter Vergleichsperioden zu ermöglichen, habe ich eine tabellarische Übersicht erstellt, die die genannten Kriterien chronologisch nachvollzieht. Sie findet sich (mit ausführlicher Beschreibung und weiteren Reflexionen) im Anhang. Im Text sind Bezugnahmen auf die Übersicht unter Angabe der Seitenzahl in eckigen Klammern angegeben.[12] Die Übersicht ist als erster Anhalt zu verstehen und flankiert stichpunktartig die im Fließtext zu erörternden Mentalitätsbewegungen.

1.3 Vergleichbare Untersuchungen

Mit Sicherheit ist dies nicht der erste Versuch, sich mit dem Thema Utopien und ihrer gesellschaftlichen Relevanz zu beschäftigen. Genau genommen, und dieses Vorverständnis wird im Laufe der Untersuchung noch detailliert zu klären sein, ist die Utopie ihrem Wesen nach und seit ihrer „Entstehung“ immer auch Anlass zur Problematisierung ihrer selbst gewesen. Mehr oder weniger systematische Untersuchungen des ganzen Genres stellen sich allerdings erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, z.B. bei Baumgarten (1735) oder Meier (1748) [132]. Neben dem literaturwissenschaftlichen Bemühen dem vielgestaltigen Werken Herr zu werden, hat sich auch die Philosophie des Themas angenommen, besonders umfangreich etwa Ernst Bloch im „Prinzip Hoffnung“[13] oder in seinen Ausführungen zum „Geist der Utopie“[14]. Hier ist allerdings eher das „utopische Bewusstsein“, d.h. „Utopie“ als abstrakter Allgemeinbegriff nicht realisierbarer Visionen in Gebrauch. Zu erwähnen ist sicherlich auch das Werk „Ideologie und Utopie“ des Wissenssoziologen Karl Mannheim[15], der in seiner „Konfigurationsanalyse“ historischen Ereignissen keine universellen Gesetzmäßigkeiten, ebenso wenig jedoch eine völlige Beliebigkeit zuspricht.[16] Die jüngste Arbeit, die dem hier verfolgten Ziel ähnlich ist, liegt in der Habilitationsschrift von Till R. Kuhnle[17] vor. In seinen Studien zur Pathogenese literarischer Diskurse versucht er in der Rezeption von Utopien und ähnlich ausgerichteter Schriften ein eigentümliches „Fortschrittstrauma“ freizulegen. Dabei bedient er sich eines psychoanalytischen Ansatzes, um die von ihm festgestellten „pathologischen“ Befunde im Zeitgeist zu belegen. Zuletzt sei noch auf den Artikel „Keine Zeit für Utopien“ von Armin Nassehi[18] hingewiesen, der eine entscheidende Inspirationsquelle dieser Arbeit darstellt. Nassehi beschreibt darin, allerdings aus systemtheoretischer Sicht, den Wandel der Zeitbehandlung und die zeitliche Struktur der Gesellschaft im historischen Verlauf. Vereinzelte Befunde daraus können trotz der unterschiedlichen theoretischen Ansätze auch für diese Arbeit nutzbar gemacht werden.

In der einen oder anderen Weise können alle genannten Texte auch einer kulturanalytischen Zielsetzung zugeordnet werden, und ebenso wie eine „Maßlosigkeit“ kultureller Objekte existiert, gibt es auch ein breites theoretisch-methodisches Spektrum zur Bearbeitung derselben.[19] Hier werde ich mich dagegen nur auf die Darstellung der in dieser Arbeit zur Anwendung kommenden Traditionen beschränken.

1.4 Theoretische Ausrichtung

Gemäß der sowohl sozialwissenschaftlich-vergleichenden, als auch genetisch-historischen Orientierung dieser Arbeit, bedarf es eines theoretischen Rahmens, der die Deskription kürzerer Entwicklungsausschnitte (der Veröffentlichungsphasen von Utopien nach Inhalt und gesellschaftlichem Kontext) en détail ebenso ermöglicht, wie er langfristige Entwicklungen (den Wandel von Zeitkonzeptionen und deren Manifestationen seit „Anbeginn“ der menschlichen Synthesetätigkeit) fassbar macht.

Der Wandel der Zeitkonzeptionen, der sich nur analytisch als Abfolge von Stufen, in realiter jedoch als Strom von Entwicklungsbewegungen zeigt, liefert quasi den zeitphilosophischen „roten Faden“ durch die Geschichte. Ob der Wandel dabei einer eindeutigen Tendenz oder regelmäßigen Schwankungen unterliegt, wird noch zu zeigen sein. Historisch bedeutende Gegebenheiten wie politische Umwälzungen, technologische Entdeckungen oder kulturelle Strömungen können aber zu den Bewegungen parallel und/oder als zusammenhängend gelesen werden. Neben diesem allgemeingeschichtlichen Kontext und der bereits genannten Koselleckschen Begriffsgeschichte, die im Wörterbuch des österreichischen Historikers Otto Brunner ausgeführt wurde[20], sollen ergänzend dazu die in Deutschland nur schwach vertretenen mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen berücksichtigt werden, die sich bei der Rekonstruktion kultureller Sinnsysteme auf eher unübliche Quellengattungen wie z.B. Porträts, Kinderspielzeuge oder Kochbücher berufen. Dieser historische Ansatz wurde vor allem von Lucien Febvre und Marc Bloch[21] in der sog. „Annales-Schule“ geprägt und war auch für Peter Dinzelbacher leitend, der mit der „Europäischen Mentalitätsgeschichte“[22] eine deutschsprachige Aufsatzsammlung in dieser Stoßrichtung herausgegeben hat. Die einzelnen Nachweise lexikalischer Entwicklungen werden in der Arbeit so durch die umfassenderen Tendenzen des generellen Mentalitätswandels ergänzt, um einer „Stückelung“ der Geschichte entgegenzuwirken.

Mit den langfristigen Wandlungstendenzen kultureller Systeme setzen sich auch die bekannten Zivilisationsgeschichten auseinander, die an der Nahtstelle zwischen Soziologie und Geschichte angesiedelt sind. Ein besonders renommierter Vertreter dieses Ansatzes ist Norbert Elias, der für die Durchführung meiner Untersuchung zentral sein wird.[23] Seine Aufarbeitung historischer Ereignisse und kultureller Mentalitäten geschieht aus soziologischer Perspektive und hebt auf die gesellschafsstrukturellen Besonderheiten einer jeden Entwicklungsphase ab. Andere, ähnlich gelagerte Ansätze erscheinen mir dagegen weniger geeignet: Aktuelle Versuche wie jene von Fukuyama[24], der von einer Weltgesellschaft ohne Ideologien erzählt, oder Huntington, dessen These vom „Kampf der Kulturen“[25] stark pessimistisch geprägt ist, erscheinen mir als inhaltlich verkürzt. Ähnlich verhält es sich mit dialektischen Theorien wie jene von Karl Marx oder den Untergangsvisionen Oswald Spenglers („Der Untergang des Abendlandes“[26] ), deren oft archetypische Konzeptionen eher historisch zu verorten sind. Um jedoch einer Verkürzung bzw. der Zeitgeistbezogenheit entgegen zu wirken, benötige ich eine möglichst ergebnisoffen formulierte Theorie, die möglichst wenige, die Entwicklungen zu früh interpretierende oder einordnende Vorgaben macht. Der Prozesscharakter der Eliasschen Theorie ermöglicht eine so beschaffende Betrachtung langfristiger Entwicklungsverläufe und unterlässt weitgehend Richtungspostulate, ohne jedoch eine geschichtliche Gerichtetheit prinzipiell zu leugnen. Hinzu kommt, dass derselbe Autor in einem wissenssoziologischen Aufsatz seine Prozesstheorie auch am Thema „Zeit“ ausführt, es also eine gewisse Überschneidung mit der Zielsetzung dieser Arbeit gibt, die eine Anwendung jener nahe legt.

Neben der Kombination der soeben erläuterten langfristig angelegten Ansätze zur Aufklärung der zeitkonzeptionellen „Rahmenhandlung“, ist für die Analyse der Vergleichsperioden noch eine spezielle theoretisch-methodische Fundierung notwendig. Der empirische Kern liegt in der qualitativen Analyse der inhaltlichen Gestalt, sowie der Rezeptionsgeschichte von ausgewählten Utopien. Die Eingrenzung des Geltungsradius eines Werkes erfolgt über den Sprach- und Lebenshintergrund des Autors (Inspirationsraum), wobei von diesem die Rezeptionsgeschichte (Wirkungsraum) zu unterscheiden ist. Letztere kann relativ einfach, nämlich nach Häufigkeit und Art der Verweise und gemäß den Einschätzungen literaturwissenschaftlicher Sekundärtexte, wie sie z.B. in bestimmten Lexika (Kindler, Wilpert, Killy, Geschichte des Buchwesens) oder in Interpretationssammlungen zu finden sind, erfolgen. Die Inhaltsanalyse bedarf jedoch einer eigenen Methodik, die ich – einen Aufsatz von Philipp Mayring[27] aufgreifend – im Abschnitt 2.3.6 darstelle.

Wie erwähnt geht es mir darum, einen zeitkonzeptionellen „Faden“ durch die Geschichte zu spannen, der notwendig selektiv und theoriegeleitet sein muss. Dies impliziert, dass man ihn auch anders legen kann, denn schon alleine in der Soziologie könnten dafür mehrere Klassiker – wie die Arbeiten von Durkheim, Weber oder Simmel – in Betracht kommen. Eine ausführliche Diskussion all dieser möglichen „Wege“ durch die Geschichte kann hier allerdings nicht erfolgen, zumal die soeben dargelegten Theoriestränge meinem Vorverständnis gemäß viel versprechend erscheinen und die Zuhilfenahme von Aspekten weiterer Theorien außerdem nicht ausgeschlossen ist. Eine ausführliche Diskussion der Theoreme und Methoden einer „Historischen Soziologie“, sowie des Verhältnisses von Soziologie und Geschichtswissenschaft, erfolgt bei Walter Bühl, der sich in seiner Monographie unter anderem auch mit den genannten Klassikern auseinandersetzt.[28]

2 Theoretisch-Methodische Grundlegung

In diesem Abschnitt sollen die zur Bearbeitung des Themas notwendigen theoretischen und methodischen Vorbereitungen getroffen werden. Neben der Erarbeitung von Begriffsdefinitionen und der Hypothesenbildung werden dabei auch die zu benutzenden Ansätze von Elias und Mayring dargestellt.

2.1 Definitionen

Einige der zentralen Kategorien dieser Arbeit bieten hinsichtlich ihrer Semantik große Spielräume und damit die Gefahr von Missverständnissen. Zudem werden im Text Modifikationen im Gebrauch sowie Vereinnahmungen dieser begrifflichen Kategorien detailliert geschildert, was die Übersicht erschweren kann. Deshalb gebe ich an dieser Stelle übergreifende Definitionen der Kategorien an.

1) Zeit

Unter Zeit verstehe ich, Norbert Elias folgend, eine menschliche Synthesetätigkeit, eine Beziehungsstiftung zwischen mindestens drei Kontinuen: „zwischen Menschen, die verknüpfen, und zwei oder mehr Wandlungskontinuen, von denen eines […] jeweils die Funktion eines Standardkontinuums, eines Bezugsrahmens für das andere erhält.“[29] Der Mensch setzt demnach gleichzeitig oder nacheinander (gleichmäßig) ablaufende Vorgänge miteinander in Beziehung und gelangt dadurch zur Vorstellung einer Dauer („so lange wie“), dessen Standardisierung (z.B. an regelmäßigen Naturereignissen wie dem Verlauf der Gestirne) sich unter anderem als adäquates Mittel zur Koordination von sozialem Verhalten herausstellt. Die mathematische Abstraktion der Verhältnisse der Wandlungskontinuen ist „die Zeit“.

Zeitgeist

Zeitgeist, das „sind die in einer bestimmten Phase in einer Gesellschaft zur Dominanz gelangten milieuübergreifenden Sinnmuster, die das gesellschaftliche Selbstverständnis weitgehend formen.“[30]

2) Zeitkonzeption

Ich verstehe unter einer „Zeitkonzeption“ einen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte zu gesellschaftlicher Dominanz strebenden oder gelangten gedanklichen Entwurf zur Beschaffenheit von Zeit, der auf ein Gefüge informeller und/oder explizierter Urteile über den Gegenstand zurückgeht und der sich allmählich zu einem nur noch mittelbar wahrnehmbaren Konstitutionsschema der Realitätskonstruktion und –gestaltung verfestigt hat. Eine Zeitkonzeption beinhaltet Annahmen bzw. Modifikationen zu mindestens einer der folgenden Kategorien(komplexe), wobei gleichzeitig weitere derselben implizit oder explizit vorausgesetzt werden:

Philosophische Zeit (Wesenheit), physikalische Zeit (abstrakte Zähleinheit, Variable), psychologische Zeit (inneres Zeiterleben: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), soziale Zeit (gruppenspezifische Zeit, Sozialisation, Synchronisierung/Planung), kulturelle Zeit (Geschichte und Fortschritt von Menschengruppen, Zivilisation), religiöse Zeit (Ursprung und Ende – individuell/universell), biologische Zeit (Lebenszyklus und Evolution) und kosmologisch-astrophysikalische Zeit (raumzeitliche Ordnung des Weltalls).

3) Utopie

Utopie bezeichnet eine „die Realitätsbezüge ihrer Entwürfe bewusst oder unbewusst vernachlässigende Denkweise sowie eine literarische Denkform, in der Aufbau und Funktionieren idealer Gesellschaften und Staatsverfassungen eines räumlich und/oder zeitlich entrückten Ortes, oft in Form fiktiver Reiseberichte, konstruiert werden.“[31]

4) Fortschritt

Fortschritt bezeichnet „die Aufeinanderfolge von Formen oder Zuständen in dem Sinn, dass die zeitlich späteren zugleich die wertmäßig höheren sind.“[32] Fortschritt wird als durch menschliche Aktivität bewirkt verstanden (im Ggs. zur „Entwicklung“) und ist eine Kulturleistung, die auf einem linearen Zeitkonzept beruht.

Fortschrittsglaube

Bezeichnet den Glauben an eine durch die Wirklichkeit verbürgte Gesetzmäßigkeit stetigen Fortschritts, der philosophisch (kosmologisch, metaphysisch, religiös) oder weltanschaulich (als den Dingen inhärente Tendenz) begründet ist.[33]

Fortschrittseuphorie

Unter „Fortschrittseuphorie“ verstehe ich die in einer historischen Phase unhinterfragte bzw. unhinterfragbare Dominanz des Fortschrittsglaubens, die zur unreflektierten Annahme und Legitimation aller mit Fortschrittlichkeit in Verbindung gebrachter Denk- und Handlungsimpulse führt.

2.2 Hypothesenbildung und Nahtstellen der Analyseebenen

„Das Ganze einer Kultur erfasst man nur, wenn man sowohl die manifesten Inhalte als auch die latente Struktur der kulturellen Phänomene in Betracht zieht.“[34] Nach dieser psychoanalytischen Prämisse gelangt man also über die Analyse der Kulturproduktion zu einer derselben zu Grunde liegenden Struktur, die für das Verständnis des Ganzen entscheidend ist. Derartige Analysen müssen angesichts der Masse „kultureller Phänomene“ zwangsläufig exemplarisch sein, zudem einen inhaltlichen Schwerpunkt verfolgen, um sich nicht in der Vielschichtigkeit der genannten Phänomene zu verlieren. In Kenntnis dieser Überlegungen ist also auch die Aussagekraft dieser Arbeit kritisch zu verfolgen. Des Weiteren erscheint das Vordringen zur „latenten Struktur“ als ein für Fehlinterpretationen anfälliges Unterfangen, wenn nicht das „makrologische Verweisungsganze“[35], also die Entstehungsgeschichte sowie der Entstehungskontext, in die Untersuchung mit einfließt.

Die aus der Dramaturgie ausgewählter Utopien herauszuarbeitenden zeitlichen Grundmuster und -annahmen werden in dieser Arbeit als „latente Struktur“ der jeweils als realhistorisch dominant rekonstruierten Zeitkonzeption gegenübergestellt. Meine Hypothese ist, dass sich beide derart unterscheiden, dass der durch einen spezifischen Zeitgeist sozialisierte Autor nicht nur das „alltagsweltliche“ Zeitverständnis seiner Mitmenschen in seiner Utopie aufgreift, sondern dieses auf eine neue Ebene hebt und so einen leicht zugänglichen, erweiterten zeitlichen Horizont schafft.[36] Eine breite Rezeption dieses neuen Horizonts – auch wenn sie nicht explizit in der Reflexion der zeitlichen Dimension, sondern vielmehr in einem durch die Überspannung derselben erst geöffneten erweiterten (Un-)Möglichkeitsraum einer planbaren Zukunftsgestaltung stattfindet – kann ein kulturelles Sinnsystem maßgeblich verändern und letzten Endes gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. Ich vermute also weiterhin, dass die genannte „latente Struktur“, die eine „Weiterentwicklung“ der bereits in der Alltagswelt angelegten Zeitkonzeption ist, selbige mehr oder weniger reflektiert verändert und so neben anderen Einflussgrößen die Konstruktion der zeitlichen „Wirklichkeit“ bestimmt. Die bewusste Vereinnahmung zeitlicher Annahmen über Manifestationen derselben, z.B. in den Ideen von „Geschichte“ oder „Fortschritt“, deren Ausformung Grundlage sozialer Entscheidungen sein kann, deutet auf ihre Wirkungsmacht hin. Eine derart verstandene „zeitlich-latente Struktur“ ist also nicht nur über analytische Verfahren aus einem populären kulturellen Objekt destillierbar, sie findet zusätzlich über eben dieses Objekt „Wiedereingang“ in die Alltagswelt und verändert diese über einen kurzfristigen „Rummel“ um ein solches Werk hinaus – expliziert wie vor allem auch informell. Die Bedeutung einer utopischen Zeitkonzeption ergibt sich aus ihrer insofern historisch nachvollziehbaren Wirkungsintensität und aus ihrer Überlebensdauer als dominante Schablone zur Realitätskonstruktion. Diese kann dann z.B. eher optimistische oder pessimistische, eher rückwärts gewandte oder progressive Kulturauffassungen und Verhaltensweisen von unterschiedlicher zeitlicher Reichweite prägen, die sich in den auf die Utopie folgenden Ereignissen und Strömungen niederschlagen.

Um die Perspektive einer im Rahmen meiner Arbeit hinreichenden Stützung dieser Hypothese zu eröffnen, werde ich sie an drei Beispielen überprüfen, wobei eines dieser Beispiele die Umkehrung derselben an einer sog. „Dystopie“, also einer negativen Zukunftsvision, darstellen wird. Es muss noch einmal unterstrichen werden, dass ich keinesfalls eine monokausale Abhängigkeit zwischen utopischer und realer Zeitkonzeption unterstelle; vielmehr soll in dieser Arbeit der Nachweis geführt werden, dass dennoch ein Zusammenhang beider erkennbar ist, und dass die Utopie neben anderen Einflussgrößen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Zeit spielt. Wenn dies zutrifft, müsste es sich an und in den Verläufen der Vergleichsperioden zeigen lassen. Kurz: An drei Stellen der im ersten Schritt zusammengefassten, die Konstruktion der Alltagswelt leitenden zeitkonzeptionellen Entwicklung, überprüfe ich im zweiten Schritt, ob und inwieweit diese als von literarischen Utopien beeinflusst gelten kann.

2.3 Darstellung von Zivilisationstheorie und strukturierender Inhaltsanalyse

2.3.1 Der Zivilisationsbegriff

Seit „Bacon die Forderung erhoben hatte, die Wissenschaft zur Macht des Menschen über die

Natur auszubauen“ und in den Dienst der Erleichterung des Daseins zu stellen, und seit „ganz allgemein die Renaissance alle Werte im Menschen und seiner unendlichen Metamorphose suchte“, hat „Zivilisation“ den Sinn das Dasein zu vervollkommnen.[37] Man versteht unter Zivilisation die Gesamtheit der durch den Fortschritt der Wissenschaft und der Technik geschaffenen (verbesserten) materiellen und sozialen Lebensbedingungen.[38] Der zivilisierte Zustand wird gegen einen urwüchsig ungeformten Naturzustand menschlichen Zusammenlebens abgegrenzt, der durch die Schaffung von Institutionen, Verträgen und kollektiven Schutzeinrichtungen (zur Erhöhung des Sicherheitsgefühls des Einzelnen) überwunden wird.[39]

Der gängigen Auffassung folgend begann die Entwicklung der zivilisierten Lebensform in den frühesten städtischen Siedlungen, in denen die Enge des Zusammenlebens neue Organisationsformen desselben nötig machte, die sich in Handel, Handwerk und Verwaltung, außerdem in der Ausbildung von Berufen mit höherer Vorbildung zeigten. Es entstanden besonders differenzierte Formen der Arbeitsteilung und der Bürokratie, sowie bestimmte Lebens- und Umgangsformen, die zur Identifikation des eigenen Zustands mit fortschrittlicher Weltbearbeitung führten. In der Kulturphilosophie wird diese selbstbewusste Deutung der menschlichen Entwicklung spätestens seit dem 19. Jahrhundert zusätzlich durch eine kritische und pessimistische Bewertung des Zivilisationsvorganges ergänzt. Die Gefahren bzw. Auswirkungen der mit der Zivilisierung in Verbindung gebrachten Entfernung vom „unschuldigen“ Naturzustand und der dekadenten Selbstbezüglichkeit zivilisierter Gesellschaften werden dabei hervorgehoben. Die Ergebnisse der daraus erwachsenden Diskussion zur Gerichtetheit des Phänomens bzw. seiner Implikationen variieren je nach Perspektive und Zeitgeist erheblich.

2.3.2 Norbert Elias: Die Zivilisationstheorie

Einen gewichtigen Beitrag zu dieser Diskussion hat Norbert Elias mit seiner viel rezipierten Schrift „Über den Prozess der Zivilisation“[40] geleistet. In dem mehr als achthundert Seiten starken Werk rekonstruiert und analysiert Elias mittels vieler Beispiele die von ihm als relevant bewerteten gesellschaftlich-politischen Prozesse vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit, die schließlich zur Ausformung des „zivilisierten Menschen“ führten. Dabei deckt er die zentralen Einflussgrößen auf, die diese Prozesse begleitet und fortgeführt haben, so z.B. die Entwicklung von Scham, Peinlichkeit, Zwang zum Selbstzwang, Affektkontrolle usw.. Die Eliassche Zivilisationstheorie ist ein Klassiker der Soziologie und wurde unter anderen vom Ethnologen Hans Peter Dürr auf bald viertausend Seiten einer mehr als umfassenden Kritik unterzogen[41], der dazugehörige Gelehrtenstreit um mögliche Universalismen in der Menschheitsgeschichte dauert an. Dürr leugnet aber nicht die historische Formung des Menschen, d.h. seine Kritik betrifft die für mich wichtigen Teile der eliasschen Schrift nicht, weil es ihm vorrangig um eine ethnologische Problematisierung der benutzten Beispiele geht. Eine endgültige Theorie der Zivilisation ist ohnehin nicht zu erwarten, da ihre Verfasstheit selbst vom Interpretationszeitpunkt abhängt und insofern dynamischen Prozessen unterworfen ist. Außerdem entwickelt Dürr keine Alternativtheorie, sondern beschränkt sich auf die Kritik des Eliasschen Ansatzes. Lutz Rosemann spricht in seinem Versuch zur Aktualisierung der wissenssoziologischen Implikationen des „Zeitaufsatzes“ von einem „Vulgärverständnis“, welches Elias’ Theorie oft durch einen „vereinfachten Trend zunehmender Zivilisierung“ gleich „mitvereinfacht“ hätte.[42] An dieser Stelle können solche Dispute allerdings nicht weiter erörtert werden. Eine Aufarbeitung der Wirkung und der Diskussion um die Zivilisationstheorie erfolgt z.B. bei Peter Reinhart Gleichmann[43], bei Annette Treibel[44] und anderen.

2.3.3 Mannheim und Elias: Die Konfigurations-Analyse

Bühl stellt in seiner Monographie zur Historischen Soziologie unter anderem auch die „Konfigurations-Analyse“ dar, die auf Mannheim und seinen „Schüler“ – oder besser: Zeitgenossen – Elias zurückgeht. Diese Methode besagt, dass historische Tatsachen zwar nicht nach universellen Gesetzen, genauso wenig aber beliebig verlaufen. Dazwischen angesiedelt sei die Ebene der principia media, die „zeitlich begrenzte Gruppen von generellen Faktoren“ beinhalte[45] und die genannten Pole integriere. Die epochentypische Konstellation, die aus mehreren dieser principia media besteht, fügt sich in einen mehr oder weniger konstanten Rahmen, dessen Wandel an der sozialen Gesamtsituation hängt. In einfachen Worten besagt dies, dass es in einer Gesellschaft viele Entwicklungsschichten oder –bewegungen gibt, die sich in einen Rahmen aus erheblich trägeren, langfristigen Bewegungen einfügen, wobei die Muster dieses trägen Rahmens sich in verschiedenen Sphären finden müssen (d.h. sie müssen „multidimensional“ sein).[46] Um zur gesellschaftlichen Rahmenkonstruktion durchzudringen, ist nach Mannheim die Zusammenschau vieler Beobachtungen, sowie eine stufenförmige Analyse notwendig, die epochentypische Formen eines Begriffsverständnisses zu Tage fördert – so wie er dies in „Ideologie und Utopie“ anhand des „utopischen Bewusstseins“ vorgeführt hat. Mannheim selbst hat aber auch die Problematik seiner Methode erkannt, nämlich dass die Entdeckung der einzelnen, statischen principia media unter Objekten stattfindet, die selbst noch im Werden sind, zudem der eigene Standpunkt der Analyse keineswegs völlig stabil und von praktischen Belangen frei ist. Auch Elias, so Bühl, habe dieses Problem einer „In-actu-Soziologie“ keiner befriedigenden Lösung zugeführt, wenn er von einer „Balance der Macht“ spricht, in der Letztere „hin- und herschwenke“.[47] Deshalb sei die Zivilisationstheorie ein einfaches Zyklenmodell, dessen von Mannheim inspirierter dialektischer Aufbau lediglich zwei Wellen kenne: die Kolonialisierung, Assimilation oder Angleichungsbestrebungen („Wir-Identität“) und (gegenläufig) die Unterscheidung, Kontrastierung oder Distinktion („Ich-Identität“).[48] Dieses in der Tat einfache Modell eignet sich allerdings trotzdem – und das bestreitet auch Bühl nicht – hervorragend zur Beschreibung und Aufdeckung langfristiger Entwicklungstendenzen, die sich in der Frage: „Wie ändern sich die Muster und warum ändern sie sich?“ konzentrieren.

2.3.4 Grundannahmen

Der zentrale Begriff der Zivilisationstheorie ist bereits im Titel enthalten: Prozess. Elias versteht Geschichte als einen von apriorischen Konstanten freien Entwicklungsprozess, der gerichtet, nicht zufällig und nicht intentional abläuft. „Das ist es, was hier versucht wird: Die soziogenetische und psychogenetische Untersuchung geht darauf aus, die Ordnung der geschichtlichen Veränderungen, ihre Mechanik und ihre konkreten Mechanismen aufzudecken.“[49] Die Gerichtetheit der Veränderungen wird dabei jedoch nicht vollständig aufgeklärt. Elias macht selbige zwar an „der Zunahme an Komplexität und Länge von Interdependenzen zwischen den Menschen“ fest, genaue Angaben über eine eventuelle zeitliche Begrenztheit des Phänomens bleibt er aber ebenso schuldig, wie er keine genaue Verortung desselben als „realen Prozess“ bzw. „nur“ als „Erklärungsmodell für ganz unterschiedliche Subprozesse“ angibt.[50] Letztere bezeichnet Elias auch als „(Einzel-) Bewegungen“[51], die allerdings hinsichtlich ihres Prozesscharakters unterbestimmt bleiben. Rosemann konstatiert, dass die genannten Bewegungen (oder „Trends“) lediglich an einer Stelle als „umkehrbar“ beschrieben werden; von ihnen ausgehende „desintegrative, dezivilisatorische und absteigende Schübe und Richtungen“ müssen im Sinne der Stimmigkeit des Gesamtparadigmas aber wohl als möglich angenommen werden.[52] Die Verdichtung von Interdependenzen ist demnach als übergeordnete Gerichtetheit nur dann zu erkennen, wenn der betrachtete Zeitausschnitt bzw. der Abstand zwischen zu vergleichenden Ausschnitten eventuelle „Rückbewegungen“ des Zivilisationsprozesses überspannt.

Die zweite wichtige Annahme betrifft die Zufälligkeit des Prozesses. Theoretisch treibt die Menschheit sukzessive durch aufeinander aufbauende „Entwicklungsfolgen“, deren einzelne Schritte idealerweise mit dem Verweis auf eine direkte frühere Phase, sonst unter zu Hilfenahme anderer geschichtlicher Faktoren, erklärt werden können. Elias denkt die Zivilisation als in Schüben voranschreitend, als stufenförmiges Kontinuum, dessen Gesamtschau die Synthese eines zivilisatorischen Prozesses zulässt. Die dabei auftretenden „Bewegungen“, deren Richtungen nicht klar zu bestimmen sind, können über lange Strecken hin als qualitative Veränderungen mit eindeutiger Tendenz erkannt werden: „Die großen Explosionen, in denen sich Dasein und Haltung der einzelnen Menschen ruckartig und darum besonders spürbar wandeln, sind nichts als Teilerscheinungen innerhalb […] langwieriger und oft fast unmerklicher, gesellschaftlicher Umlagerungen, deren Wirkung nur beim Vergleich verschiedener Generationen fassbar wird.“[53]

Aus dieser Perspektive gibt es keine „unerklärlichen“ Zufälle[54], höchstens Erscheinung, die in Unkenntnis der langwierigen „gesellschaftlichen Umlagerungen“ als solche bezeichnet werden.

Die dritte wichtige Annahme betrifft die intentionale Steuerung des Zivilisationsprozesses. Wenn ein Prozessgefüge als gerichtet und nicht zufällig spezifiziert wird, stellt sich die Frage nach dem treibenden Movens seiner Sukzession. „[Die] fundamentale Verflechtung der einzelnen menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden.“[55] Individuelle Intentionalität kann der Geschichte bestenfalls eine kurzfristige Tendenz geben, den großen, übergeordneten und Ordnung generierenden Prozess können diese Bewegungen jedoch nicht aufhalten. „Die ‚Zivilisation’ ist unter Umständen eine recht zweischneidige Waffe. […] Die Zivilisationsschübe vollziehen sich weitgehend unabhängig davon, ob es den Gruppen und Verbänden, in denen sie sich vollziehen, genehm und nützlich ist oder nicht.“[56]

Kurz gesagt befördert also das soziale Gewebe einer Gesellschaft automatisch und aus seiner Natur heraus den Fortschritt des Zivilisationsprozesses, der dieses Gewebe immer komplexer werden lässt, ohne dabei zufällige (im Sinne von grundlose) Ereignisse zu produzieren. Dies ergibt sich aus der Beobachtung langfristiger Entwicklungen, deren Wesenskern auch durch zeitweilige Erschütterungen unangetastet bleibt.

Der im Prozessbegriff im Hinblick auf die Gerichtetheit des Prozesses angelegte terminologische Unschärfe, d.h. die Frage, wie man einer mäandernden Geschichte eine eindeutige Richtung abtrotzen kann, begegnet Elias durch die Feststellung ambivalenter Sichtweisen des Betrachters: das handelnde Geschichtssubjekt erfährt den Prozess als im Ganzen ungeplant und unkoordiniert, das erforschende Subjekt hingegen als gerichtet.[57] Während Ersteres also im Strom der Geschichte schwimmt, sieht ihn Letzteres aus der Vogelperspektive. Zur gänzlichen Erfassung des Stroms fehlt aber jeder Sichtweise ihr notwendiges Komplement. Die Zivilisationstheorie schlägt eine dialektische Herangehensweise zur Überwindung einseitiger Analysen vor, in der stetig zwischen beiden Perspektiven gewechselt und so eine synthetisierende Beschreibung erreicht werden soll.

2.3.5 Der Prozess der Zivilisation

Im Folgenden gebe ich eine komprimierte Darstellung des Argumentationsverlaufs des Eliasschen Hauptwerkes, um die Operationalisierung der bis hierhin getroffenen Annahmen über den Zivilisationsprozess bei Elias aufzuzeigen. Die Anwendung der Theorie auf meine Fragestellung soll dadurch erleichtert werden.

Die feudalen Strukturen des frühen Mittelalters dienen Elias als Ausgangsbasis für den „Prozess der Zivilisation“. Diese waren aus der seit dem 8.Jahrhundert im Frankenreich vollzogenen Verschmelzung der personenrechtlichen Vasallität (beidseitiges Treudienstverhältnis von Lehnsherrn und Lehnsmann) mit dem sachenrechtlichen Benefizialwesen (Form der dinglichen Landleihe) hervorgegangen.[58] Das durch verschiedene exogene Faktoren (z.B. die technologische Entwicklung) begünstigte Bevölkerungswachstum jener Zeit machte unter dem bestehenden Gesellschaftsaufbau für immer weniger Menschen die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse möglich. Am Beginn des untersuchten Zeitraums stand also jener Handlungsdruck, der durch Ressourcenmangel und verschlossene soziale Chancen in der Heimat zum Auswandern Einzelner und schließlich und mit deren Erfolg zum Nachfolgen Anderer führte.[59] Elias sieht diesen sozialen Druck im Innern auch als einen wesentlichen Beweggrund zur Aufnahme und Fortführung Kreuzzüge, da eine rein religiöse Begründung derselben eine solch beispiellose Mobilisierung nicht hätte leisten können.[60] Die Erschließung unbesiedelter Landstriche durch die „Auswanderer“ führte erwiesenermaßen zu Rodungen und zur Verbesserung der Landtransportmittel, was die bereits stattfindenden Wanderungsbewegungen noch verstärkte. Gleichzeitig führte die unvermindert zunehmende Bevölkerungsdichte zum vermehrten Einsatz von Geld als Tauschmittel und zur Verlängerung der „Abhängigkeitsketten“, d.h. der Verkettung örtlich getrennter, gleichwohl voneinander abhängiger Arbeitstätigkeit, um den Entwicklungen auf organisatorischer Ebene besser begegnen zu können. Die entscheidende Ressource blieb jedoch zunächst der Bodenbesitz, welcher Souveränität, Macht und militärische Stärke bedeutete. Dieser Besitz war nämlich gleichwertig zu dem Besitz an Produktionsmitteln und bot die Möglichkeit der Vergrößerung des herrschaftlichen Machtbereichs, auch den Zugriff auf ein größeres Gefolge für weitere Eroberungen. Die insofern reichen Territorialherren und Ritter, deren Legitimationsbasis in erster Linie physische Gewalt war, standen sich nun schon bald als erbitterte Konkurrenten gegenüber. Alle besaßen sie kleine „Staaten“ in denen sie herrschten und die sie aus Angst vor der Expansion der Kontrahenten schnell selbst vergrößern mussten. Wenn man so will, kann man hier eine frühe Form des Sicherheitsdilemmas[61] erkennen. In diesem anarchischen Raum freier Konkurrenz kam es dann zu Ausscheidungskämpfen, die sich über Jahrhunderte hinzogen. Das „labil ausbalancierte System von Herrschaften hielt in dieser Phase der inneren und äußeren Expansion die reicheren und mächtigeren Ritter nicht weniger als die ärmeren in Bewegung, in ständiger Hut vor Vergrößerung Anderer, ständig auf der Suche nach Vergrößerung des eigenen Besitzes.“[62] Da den Menschen der Unterschicht, den Arbeitenden, dieser Weg der Eroberung neuen Bodens zu guten Teilen verwehrt blieb, wurden sie zur Differenzierung ihrer Arbeit gedrängt. Diese Unfreien bildeten das Material für die werdenden Handwerkersiedlungen, die sich vorzugsweise an günstig gelegene Herrensitze ansiedelten. Sie waren die ersten Bewohner der werdenden Städte.

In der Folge der Ausweitung des eigenen Besitzes trat auch die Hierarchie in der Adelsschicht, die den verschiedenen Größenordnungen eines Landes korrespondierte, immer mehr hervor. Der Nachteil weitläufiger Ländereien war, dass sie für den Territorialherren schwer zu kontrollieren waren, was sie zur Aufteilung ihres Machtbereiches in Untereinheiten nötigte, die von „Abgesandten“, z.B. den Vicomtes, beherrscht wurden. Diese wiederum konnten sich allerdings, durch ihre Entfernung zum direkten Einflussbereich des Territorialherren, schnell zu Konkurrenten entwickeln und fachten damit erneut Auseinandersetzungen um Macht und Landbesitz an: „Es lässt sich immer und immer wieder beobachten, dass in dieser Gesellschaft auf die Dauer kein Treueschwur und kein Vertrag […] den Veränderungen der gesellschaftlichen Stärke standhielt.“[63] Die Streitigkeiten wurden mit zunehmendem Reichtum der Feudalherren auch auf der Prestigeebene geführt, was unter anderem zur Berufung von Minnesängern und Dichtern an die Höfe führte und schließlich über einen langen Zeitraum die tief greifende Modifikation des gesamten menschlichen Verhaltensbildes (Zivilisierung) nach sich zog. Die Nachahmung dieses höfischen Verhaltensbildes galt, wegen dessen Implikationen überlebensnützlicher Privilegien, für die aufstrebenden Schichten als schick.[64]

Das Ergebnis nach langen Ausscheidungskämpfen war die Herausbildung einer Zentralgewalt, die vom Sieger der Kämpfe gestellt wurde. In den späteren Phasen dieser Periode weitete sich zudem der geldwirtschaftliche auf Kosten des naturalwirtschaftlichen Sektors (siehe Differenzierung der Arbeitstätigkeit) aus, was den Kriegeradel (Ritter) und die Territorialherren, die sich nie mit finanziellen Erwägungen und Handel beschäftigt hatten und außerdem unter den Fortschritten in der Kriegstechnik litten, in die Verarmung trieb. Mit von den Bauern abgezogenen Naturalien ließ sich ihr Lebensstil nicht länger bezahlen, was übergangsweise zum Ausverkauf der Besitztümer und zum Raubrittertum führte. Die Zentralgewalt hingegen nutzte ihre fiskalischen Möglichkeiten zum Machterhalt: Die finanziellen Mittel aus eingetriebenen Steuern erhielten ihr Gewaltmonopol aufrecht, während das Gewaltmonopol das Abgabenmonopol bewahrte – so war die Reproduktion des Systems prinzipiell gesichert. Soziale Kämpfe hatten nun nicht mehr die komplette Beseitigung des Monopols zum Ziel, vielmehr ging es darum, wer über die bestehende Apparatur verfügen sollte, woher sich ihr Personal rekrutierte und wie Lasten und Nutzen derselben verteilt wurden. Die Abhängigkeit der Zentralgewalt, der Wenigen, von jenen Vielen, die sie zur Bewahrung und Bewirtschaftung des Herrschaftsgegenstandes benötigten, verstärkte sich gleichzeitig erheblich. Sie verbesserte immer mehr die Chancen der Untergebenen ihre Interessen, auch mit Gewalt, durchzusetzen – das zeigte sich zum Beispiel am steigenden Einfluss der wohlhabenden Händler. Schließlich vergesellschaftete sich das ehemalige Privatmonopol, es wurde öffentlich, zu einem Zentralorgan des Staates, in dem sich die Kämpfe zusehends auf die Ausgestaltung der Verteilungsschlüssel von Chancen und Privilegien beschränkten. Es bildeten sich Institutionen zur Kontrolle im Interesse all jener, die von dieser Monopolapparatur abhingen und die Besetzung der Schlüsselpositionen erfolgte nicht mehr in einmaligen Ausscheidungskämpfen, sondern in immer wiederkehrenden, zyklischen, die ohne Waffengewalt auskamen und vom Monopolapparat geregelt wurden.

Bereits diese stark verkürzte Darstellung zeigt an vielen Stellen die Gerichtetheit (Differenzierung der Arbeitstätigkeit, der Ökonomie, der Verhaltensregeln), die individuelle Absichtslosigkeit („Auswanderung“, Raubrittertum, Abrücken von der Naturalwirtschaft) und Begründetheit (keine der Entwicklungen ist grundlos und unvermittelt eingetreten) des Gesamtprozesses. Bestimmte, aus dem analysierten Zeitraum extrapolierte Tendenzen stellen sich als universale Figuren dar: „Die Tatsache, dass eine Gesellschaft mit vielen relativ gleich großen Macht- und Besitzeinheiten bei starkem Konkurrenzdruck zur Vergrößerung einiger Weniger und schließlich zu einer Monopolbildung tendiert, ist von [geschichtlichen] Zufällen weitgehend unabhängig.“[65] Dies zeige sich in den Ausscheidungskämpfen des Feudalsystems ebenso, wie an vielen anderen Stellen der Geschichte, zum Beispiel am „erdumfassenden Spannungssystem von Staatenbünden“ zu Elias’ Lebzeiten.[66]

Es gibt also Elias zu Folge in der Geschichte sich wiederholende Bewegungskonfigurationen, die auf längere Sicht einer bestimmten Richtung folgen. Die für mich nutzbaren Konfigurationen fasse ich noch einmal stichpunktartig zusammen: Der Zivilisationsprozess im Ganzen

1) ist gerichtet, d.h. die Komplexität und Länge von Interdependenzen zwischen den Menschen nimmt zu (vgl. Finanzwirtschaft, Differenzierung der Arbeitstätigkeit, Staatswesen)[67]
2) ist ungeplant bzw. nicht intentional[68], d.h. die fundamentale Verflechtung der einzelnen, menschlichen Pläne und Handlungen generiert einen unkoordinierten, ungesteuerten Prozess (vgl. Bevölkerungswachstum, technologische Entwicklung als Ganze, Zivilisierung der Verhaltensformen)
3) vollzieht sich in Stufen, d.h. die Subprozesse oder Einzelbewegungen, die auch dezivilisierend wirken können (!), gestalten einen mehrspurigen Prozessverlauf, dessen Schritte im Sinne eines „vorher – nachher“ (nicht zwangsläufig: Ursache-Wirkung) aufeinander aufbauen und in Etappen neue gesellschaftliche Wesenszustände etablieren.[69] Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Einheit des Prozesses in irgendeiner Substanz liegt, die den ganzen Prozess hindurch unverändert bleibt, sondern sie liegt in der Kontinuität der Wandlungen.
4) wird angetrieben von sozialen Fragen[70] , d.h. zum Beispiel der Beantwortung der Frage nach einer gerechten Verteilung von Ressourcen (vgl. Gewaltmonopol), der (zufälligen) Entdeckung technischer Lösungen (vgl. Kriegsgerät, Transportwesen) oder durch die Abgrenzungsbestrebungen gesellschaftlicher Subsysteme
5) schafft in seinem Verlauf eine Gesellschaftsstruktur, die von ganz spezifischer Art ist, zwingender und stärker als der Wille und die Vernunft der Einzelnen, die sie bilden, d.h. die im Prozess nicht intentional geschaffene Ordnung determiniert die Verhaltensoptionen des Individuums, mithin den weiteren Verlauf des Prozesses[71]

Die soeben skizzierten Bewegungskonfigurationen, die „ohne Zuhilfenahme von Axiomen und dogmatischen Vorurteilen als genuine Abfolgeordnung zu denken“ sind, können ohne weiteres auf die geschichtlichen Phasen – einschließlich der zeitgenössischen – angewendet werden.[72] Sie können, trotz der späteren Problematisierung und Relativierung der vermeintlichen axiomatischen Bedürfnislosigkeit des Eliasschen Zeitverständnis’ durch Rosemann, den theoretischen Überbau für den Wandel der Zeitkonzeptionen bilden.[73]

2.3.6 Qualitative Inhaltsanalyse

Laut Mayring zielt die „moderne“ qualitative Inhaltsanalyse nicht mehr nur auf den Inhalt protokollierter Kommunikation ab, sondern sie kann „formale Aspekte ebenso wie latente Sinngehalte“ (oder: informelle Urteile) zu ihrem Gegenstand machen.[74] Zu diesem Zweck ist die Bestimmung des Ausgangsmaterials, die Analyse der Entstehungssituation sowie der formalen Charakteristika zu leisten. Das Ausgangsmaterial wähle ich anhand der tabellarischen Übersicht aus, die auch bei der Beschreibung der Entstehungssituation desselben dienlich sein wird. Für Letztere werden durch weitere Quellen der o.g. Geltungsradius, der zeitkonzeptionelle Entwicklungsstand und die Biographie des Autors hinzugezogen. Die Analyse der formalen Charakteristika erfolgt über ein noch darzulegendes Kategoriensystem (s.u.).

Weiterhin muss das Untersuchungsziel (Text an sich, Textproduzent, Zielperson bzw. –gruppe oder Textgegenstand samt sozio-kulturellen Hintergrund) hinlänglich bestimmt werden. Auch wenn in gewisser Weise alle genannten Zielkategorien behandelt werden, so sind diese mit Ausnahme der Quelltexte der Utopien zuvorderst als Rahmengeschehen derselben zu lesen, sodass nur die Quelltexte mit Hilfe der „strukturierenden Inhaltsanalyse“ auf ihren zeitkonzeptionellen Gehalt hin geprüft werden. Aus den von Mayring dargestellten Grundformen qualitativer Inhaltsanalysen (zusammenfassend, explizierend, strukturierend) ist die genannte Methode für den verfolgten Untersuchungszweck am besten geeignet[75], wenn auch vereinzelt Explikationen, d.h. die Ergänzungen von Textteilen durch zusätzliches, das Verständnis erweiterndes Material, vorgenommen werden. Im Zentrum steht jedoch die zeitkonzeptionelle Struktur aus den Quelltexten zu extrahieren, was in drei vorbereitenden und zwei ausführenden Schritten geschieht: Nach der Definition der Kategorien, also der Bestimmung der relevanten Textbestandteile, werden konkrete Textstellen angeführt, die unter eben diese Kategorie fallen (Mayring bezeichnet diese prototypischen Stellen als „Ankerbeispiele“[76] ). Sofern notwendig werden Kodierregeln aufgestellt, die den Umgang mit Abgrenzungsproblemen zwischen den Kategorien ausführen und die in einem „Kodierleitfaden“ gesammelt werden. Im Materialdurchgang werden dann zunächst die relevanten Textstellen bezeichnet (vgl. Anhang), um sie daraufhin zusammenzufassen und aufzuarbeiten. Gegebenenfalls erfolgt eine Korrektur bzw. Überarbeitung des Kategoriensystems, was einen erneuten Materialdurchlauf unter Berücksichtigung des überarbeiteten Systems zur Folge hat.

3 Operationalisierung von Zivilisationstheorie und strukturierender Inhaltsanalyse

Der folgende Abschnitt stellt dar, wie ich die soeben erarbeiteten theoretisch-methodischen Grundlagen für meine Arbeit nutzbar machen möchte.

3.1 Anwendung der Zivilisationstheorie in dieser Untersuchung

Die Bewegungskonfigurationen der Eliasschen Zivilisationstheorie werden auf den Wandel der Zeitkonzeptionen bezogen. In der historischen Analyse desselben müssten sich dann folgende Entwicklungstendenzen belegen lassen:

1) Die „Verlängerung der Abhängigkeitsketten“ zwischen den Menschen bedingt nicht nur eine Zivilisierung beispielsweise in Gestalt der Ausdifferenzierung von Verhaltensweisen, sondern auch die Ausbildung eines immer komplexer werdenden Systems von Zeitkonzeptionen, welche auf vielfältige Weise Anwendung finden und sich materialisieren können. Dies wird insbesondere an den „Eigenzeitlichkeiten“ gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Subsysteme deutlich, die sich in entwickelten Gesellschaften teilweise konkurrierend gegenüberstehen.
2) Auch der Wandel von Zeitkonzeptionen ist im Ganzen ungeplant und abhängig von unvorhersehbaren, komplexen Entwicklungen. Dies verhindert freilich nicht, dass sich einzelne Gruppen innerhalb begrenzter Zeiträume die Deutungshoheit von Teilen oder allen Bestandteilen einer gesellschaftlich dominanten Zeitkonzeption erhalten und diese im Sinne ihrer Interessen in ein Konstruktionsmodell der Wirklichkeit überführen. Im Zuge von 1) wird die Reproduktion einer universellen Deutungshoheit jedoch zunehmend problematisch, der Inhalt der Deutung muss dementsprechend angepasst und „spezialisiert“ werden, wenn sie nicht vollends marginalisiert werden will.
3) Neben den „fortschrittlichen“ oder zumindest „neuen“ Ansätzen der Zeitinterpretation gibt es immer auch die bewahrenden oder reaktionären Tendenzen, die nicht selten Bestandssichernden Interessen entspringen. Im Sinne Elias’ sind diese als „zivilisierende“ bzw. als „dezivilisierende“ Subprozesse aufzufassen, deren Gesamtrichtung aber zugunsten der in 1) geschilderten Ausdifferenzierung verlaufen wird.
4) Laut Zivilisationstheorie wird der in ihr geschilderte Prozess nicht zuletzt angetrieben von sozialen Fragen. Missstände und soziale Verwerfungen, aber auch Fortschritte und Verbesserungen können bestehende Ordnungen und die sie legitimierenden Faktoren samt zeitlichem Grundaufbau in Bedrängnis bringen. Dies impliziert – so die Ordnung tatsächlich neu gedacht, nicht bloß adaptiert oder reaktiviert wird – auch den Bedarf einer neuen Zeitkonzeption, die der schließlich geänderten Ordnung unterlegt werden kann.
5) Jede soziale Ordnung bzw. jeder soziale Ordnungstyp besitzt eine ihr zu eigene, eigentümliche Zeitkonzeption. Neben anderen Faktoren ist diese Konzeption derart fundamental, dass ihre Änderung notwendig eine qualitative Änderung der Ordnung zur Folge hat. Der Zivilisationsprozess, der den Wandel der Zeitkonzeptionen beinhaltet, generiert seine „Gesellschaftsstrukturen von ganz spezifischer Art“ wesentlich auch durch eben diesen Wandel.

Über diese Bewegungskonfigurationen hinaus findet auch das von Bühl als „vielleicht generellstes“ Beispiel[77] eines historisch über alle Zeiten hinweg anwendbaren Musters, nämlich dass der „Ich-Wir-Balance“, bei der Auseinandersetzung mit den Konkurrenzsituationen der Zeitkonzeptionen Eingang. Vielleicht findet sich die „Ich-Identität“ dann im utopischen Text, in der im Zeitstrom schwimmenden Perspektive des Autors, während die „Wir-Identität“ im langfristigen Wandel der Zeitkonzeptionen repräsentiert wird, die als quasi unhintergehbares sozialisiert und habitualisiert werden und aus der „Vogelperspektive“ zu erkennen sind.

3.2 Anwendung der strukturierenden Inhaltsanalyse in dieser Untersuchung

Im Folgenden führe ich die unter 2.3.6 dargestellten einzelnen Schritte zur Vorbereitung einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse systematisch durch.

3.2.1 Bestimmung des Ausgangsmaterials

Da es das Ziel dieser Arbeit ist, die (zentral-) europäische Kulturentwicklung entlang der Genese und in Hinblick auf die Konkurrenz von Zeitkonzeptionen zu untersuchen, liegt es nahe, mit einer möglichst frühen Utopie zu beginnen, um den Ursprung der genannte Entwicklung ins Blickfeld zu bekommen. Die „erste“ Utopie wird häufig mit ihrem gattungsgeschichtlichen Namensgeber identifiziert, nämlich mit Thomas Morus’ Werk De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia. Diese Identifikation beruht zum einen auf dem großen Erfolg, den der im Schreiben versierte Morus mit seinem Staatsentwurf hatte, zum anderen aber auf die Unschärfe des Gattungsbegriffs, der sich zudem erst sehr viel später herausgebildet hat. Ich werde noch ausführlich darauf zu sprechen kommen, doch an dieser Stelle ist wichtig, dass es unmittelbar und auch lange vor der Insel Utopia eine Vielzahl von Staatsentwürfen gab, von denen der berühmteste sicherlich in Platons politeia vorliegt. Die Kulturleistungen der griechischen Antike haben die intellektuellen Eliten der Renaissance (15. und 16. Jahrhundert), zu denen auch Morus gehörte, in erheblichem Maße inspiriert.[78] Zwischen beiden Entwürfen liegen ungefähr zweitausend Jahre, die ich im Sinne des Untersuchungsziels sicher nicht vernachlässigen kann. Die Entwicklung der Zeitkonzeptionen lässt sich ohne die Einbeziehung der griechischen Antike nicht verstehen, da sie grundsätzliche Fragen wie jene nach der Existenz der Zeit erstmals formuliert hat. Platons Philosophenstaat, so hoffe ich, wird bei der Freilegung der Wurzeln des menschlichen Zeitverständnisses eine große Hilfe sein. Hinzu kommt, dass Platons Welt, die auf den Gedanken der Stadtstaaten, der polis, gründet, massiven Erschütterungen ausgesetzt ist, seine Heimat Athen nach dem Peloponnesischen Krieg gar kapitulieren musste. Somit ist eine weitere Voraussetzung, nämlich dass die zu untersuchenden Perioden in gesellschaftlich-politische Wandlungsphasen fallen sollen, gegeben.

In den folgenden Jahrhunderten stagnierten die Visionen von Idealstaaten spürbar – zumindest wenn man die Dichte derartiger Überlieferungen als Maßstab nimmt. Die griechische Philosophie hatte durch ihre Tradition und ihre diversen Schulen (Platons Akademie, die Stoiker, die Epikureer usw.) begonnen, eine Gemeinschaft des Denkens und Fühlens zu schaffen, die die politischen Grenzen tatsächlich überwindet.[79] Auf die Entwicklungen im Römischen Reich und im Mittelalter werde ich im Abschnitt 5.1.2 eingehen, hier soll aber zumindest das Werk des Aurelius Augustinus (354 – 430) erwähnt werden, der mit seinem Gottesstaat eine Vorgabe für das ganze folgende Jahrtausend versucht hat und sich insbesondere mit der Abwägung zyklischer und linearer Geschichtsauffassungen beschäftigt.[80] Nach den großen utopischen Werken der frühen Neuzeit (Morus, Rabelais, Campanella, Bacon), die allesamt auf entrückte Orte oder zeitgleich existierende Phantasiewelten abstellten, sticht dann eine Utopie ins Auge, die einen großen Entwicklungsschritt des Genres darstellt: Louis-Sébastien Merciers L'An 2440, rêve s'il en fut jamais. Dieser erste Blick in einen zukünftigen Idealstaat, der 1771 ein großer Erfolg gewesen ist, fällt in die Hochphase massiver gesellschaftlicher Umwälzungen, die sich in der Idee der Aufklärung und in der Französischen Revolution niederschlagen. Mercier wollte den Umsturz der korrupten Institutionen vorausgesagt haben, wenn er sich dies auch als gewaltfreien Umsturz gewünscht hätte.

In dieser Zeit gelangt auch ein geschichtsphilosophisches Fortschrittsbewusstsein zur Dominanz, dass den Menschen als „Macher“ der Zukunft begreift. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen wird auch die ungezügelte Fortschrittseuphorie verständlich, die in dieser Zeit einsetzt und im Laufe der Industrialisierung zum Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Die ersten Gegenentwürfe zur anwachsenden Fülle von Visionen zu idealen Staatswesen kündigen sich dann bei Bulwer-Lytton (The Coming Race) seit 1871 an. Die Jahrhundertwende bringt schließlich nicht nur ungeahnte wissenschaftliche und technische Fortschritte, nicht nur eine Fülle von weiteren Utopien in kurzen Abständen, sondern auch ein Gefühl diffusen „Unwohlseins“ in der Gesellschaft über die unüberschaubaren Prozesse, was sich beispielsweise in den Werken der „Dekadenzliteratur“ oder in apokalyptischen Vorstellungen, die bei der „magischen“ Zahl 1900 wach werden. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dann in der Tat von ideologisch ausufernden Weltbildern und beispiellosen Gewaltausbrüchen zur Durchsetzung derselben geprägt, die in den Wirren zweier Weltkriege das aufgeklärte und humanistische Menschenbild obsolet, das Fortschrittsprinzip als absurde Idee erscheinen lassen. An beide Weltkriege schließen sich utopische, oder besser: dystopische, „Meilensteine“ an, nämlich Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells 1984 (1948). Beide wären im Rahmen meiner Themenstellung interessant, wobei ich mich für Orwells Werk entscheide, da in ihm explizit die Zerstörung der Zeit thematisiert wird, zudem beide Weltkriege den historischen Kontext, also den Inspirationsraum, liefern.

Die soeben getroffene Auswahl bietet, neben ihren thematischen Bezügen, auch den Vorteil alle Formen der Gattung „utopische Literatur“ abzudecken (s.u.) und stellt so einen gültigen Querschnitt durch alle Staatsentwürfe dar.

3.2.2 Vorverständnis, Entstehungssituation und formale Struktur

Nach einer ersten „Durchsicht“ des Quelltextes formuliere ich ein Vorverständnis, welches eine „Arbeitshypothese“ und die grobe Tendenz des Textes enthält. Dies dient der Reflexion der eigenen, eventuell einengenden Lesart der Vorlage. Die Analyse der Entstehungssituation unter Berücksichtigung des Geltungsradius (Rezeptionsgeschichte), des zeitkonzeptionelle Entwicklungsstands und der Biographie des Autors[81] erfolgt für die ausgewählten Utopien ebenfalls getrennt im jeweiligen Abschnitt. Die Bestimmung der formalen Charakteristika geschieht nach folgendem Kategoriensystem[82]:

Grundform

Utopien können, trotz der lebhaften Begriffsgeschichte, in klassische, intentionale und totalitäre Formen unterschieden werden.[83] Es handelt sich um analytische Kategorien, die selten in Reinform auftreten, da sie ein nachträglicher, erst relativ spät unternommener Versuch sind, der Diversität utopischer Versuche Herr zu werden. Kategorieausprägungen und gesellschaftlich-historische Wirklichkeit werden als zueinander in Abhängigkeit stehend angenommen.

1) Klassische Utopien bezeichnen politische Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften, die eine präzise Kritik bestehender Institutionen und sozio-politischer Verhältnisse beinhalten. Sie beziehen sich auf die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes, die um die Vision einer für alle (!) besseren, gerechteren und natürlicheren Ordnung ergänzt wird. Sie haben den eher vorsichtigen Charakter eines Vorschlages, dem keine prognostische Geltung zukommt und dem etwas Märchenhaftes anhängen kann. Von populären Ideen wie dem „Schlaraffenland“ unterscheiden sie sich durch ihren technisch-pragmatischen Realitätsbezug. In dieser Untersuchung werden die klassischen Utopien durch Platons politeia vertreten.
2) Die intentionale Form steht der klassischen Form nahe, allerdings stellt sie den Pragmatismus zu Gunsten eines mehr oder weniger klar umrissenen Weltbildes in den Hintergrund. Die Dringlichkeit zur Annahme dieses Weltbildes und dessen Institutionalisierung variiert in der Darstellung von einfacher ideologischer Färbung bis zum ausgeprägten Appellcharakter bzw. direkten Aufrufen. Mit der intentionalen Form erreichen Utopien eine eindeutig politische Dimension, die eine klare Positionierung und die unbedingte Wahrheitsvermutung derselben erfordert. Des Weiteren manifestiert sich in ihr der Glaube an einen tatsächlichen, abzusehenden und garantierten Umschwung bzw. Umsturz bestehender Verhältnisse, aus dem die Legitimation revolutionärer Tendenzen erwachsen kann. Dadurch impliziert sie auch einen „unvernünftigen“ und „uneinsichtigen“ Gegner (materiell oder psychisch), den es zu bekämpfen gilt. Merciers L’An 2440 ist ein gutes Beispiel dieser utopischen Form.
3) Die totalitären Utopien geben einen geschlossenen Systementwurf, der zugleich die Anwendung totalitären staatlichen Handelns als notwendiges Korrelat hat. Ob dies in eine Form ideologischer „Hilfestellung“ (mit durchaus positiver Intention) oder in offenen Staatsterror mündet, bleibt zwar offen; dennoch zeigt sich bei dieser Art utopischer Literatur eine mehrheitliche Tendenz zu Schreckensvisionen, die auch als „Dystopien“ oder „negative Utopien“ bezeichnet werden.[84] Der kritische, „gegenutopische“ Gestus dieser relativ spät in Erscheinung tretenden Form setzte sich parallel zum Scheitern der ideologischen Weltkonzepte zu Anfang des 20. Jahrhunderts durch. Orwells 1984 ist ein hervorragendes Beispiel der totalitären Utopien.

Dramaturgische Gestaltung

Utopische Vorstellungen liegen in sehr unterschiedlicher dramaturgischer Gestaltung vor, so z.B. in Staatsromanen (Politeia, Utopia), phantastischen Reiseberichten (The Man in the Moon), Reiseutopien (La terre australe connue), Gedichten (Eldorado), Reise- und Bildungsromanen (Les aventures de Télémaque) und Robinsonaden (Robinson Crusoe). Auch die in ihnen vermittelte Grundstimmung variiert erheblich, sie deckt ein großes Spektrum von nüchtern-analytisch bis euphorisch-idealisierend, von ironisch-augenzwinkernd bis ernsthaft-dogmatisch, von pessimistisch und düster bis stürmisch-optimistisch ab. In Kombination mit den oben ausgeführten „Grundformen“ ergibt sich also ein äußerst vielfältiges Bild utopischer Ausdrucksmöglichkeiten – andere Kunstformen wie Malerei und Film noch nicht berücksichtigt. Ich widme mich allerdings ausschließlich den Staatsromanen in intensiver Weise, wobei diese Beschränkung nicht auf inhaltliche Vorbehalte gegenüber den anderen Gestaltungsformen, vielmehr auf die Einhaltung des für diese Arbeit vorgegebenen Rahmens zurückgeht.

Dimensionale und inhaltliche Kategorien

Utopien können weiterhin unterschieden werden in „fertige“ (eine perfekte Gesellschaftsordnung) und „werdende“ (durch Demiurgen im Entstehungsprozess befindliche) Entwürfe.[85] Die in literarischer Form beschriebenen Transformationsprozesse vom Ursprungs- zum utopischen System tauchen erst Ende des 18.Jahrhunderts mit der ersten „Zeitutopie“ von Mercier auf, die ihren Horizont auf zukünftige Entwicklungen und Zustände ausweitet. Bis dahin gab es bis auf fragmentarische Ansätze in diese Richtung ausschließlich „Raumutopien“, dass heißt Entwürfe, die eine zeitgleich zu den kritisierten gesellschaftlichen Verhältnissen bestehende Insel oder ähnliche unerreichbare Orte (oder gar keinen bestimmten Ort[86] ) als Bühne hatten.

Zuletzt lassen sich noch die üblichen Themen utopischer Gemeinwesen („Wissenschaft/Technik“, „Arbeit“ und „Bedürfnisse“, auch „konstruktive Triade“ genannt), die in veränderlichen Anteilen fast ausnahmslos in jeder Utopie zu finden sind, analytisch unterscheiden. Richard Saage nennt unter Rückgriff auf Wolfgang Biesterfeld als weitere Differenzierung von Themen die Strukturmermale: „1. Geographische Lage, natürliche Voraussetzungen; 2. Kontakt zur Außenwelt; 3. Politische Organisationen; 4. Familie und Moral; 5. Arbeit und […] Wirtschaft; 6. Erziehung; 7. Wissenschaft; 8. Utopischer Alltag und Kommunikation (Bedürfnisse), 9. Sprache, Kunst und Religion.“[87] Im Hinblick auf mein Thema werde ich auf viele dieser Bereiche kaum oder gar nicht zu sprechen kommen, nämlich nur insofern sie Implikationen für die Vorstellung von Zeit besitzen. Interessant an dieser Herangehensweise ist in jedem Fall die Frage, inwieweit sich die inhaltlichen Schwerpunkte innerhalb der Utopien im Laufe der Zeit verlagert haben. Dies wird an geeigneter Stelle behandelt werden.

Die soeben beschriebenen formalen Charakteristika sind für die späteren Abschnitte der Arbeit, namentlich beim Vergleich der Utopien untereinander, besonders interessant.

3.2.3 Bestimmung relevanter Textbestandteile; Ankerbeispiele

Zur Erfassung zeitkonzeptionell relevanter Urteile werde ich nun eine definitorische Eingrenzung auf Basis der unter „Zeitkonzeption“ gegebenen Kategorien vornehmen, mit dessen Hilfe diese präzisiert und standardisiert werden.[88] Außerdem erfolgt eine Auswahl jener Begriffe und Kontexte, die im Sinne der Themenstellung zur Analyse sowohl der langfristigen Entwicklungen, wie auch der utopischen Quelltexte verwendet werden können. Soweit ich die einschlägige Literatur überblicken kann, ist eine derartige Operationalisierung von „Zeitkonzeption“ nach Wissenschaftsdisziplinen noch an keiner anderen Stelle erfolgt. Eine fundierte Orientierung zu verschiedenen Perspektiven auf das Thema findet sich aber in den Überblicksartikeln bestimmter Enzyklopädien, so z.B. im „Brockhaus“[89], der hier berücksichtigt wurde. Übergeordnete, zeitliche Begriffe, die alle Kategorien mehr oder weniger betreffen, sind z.B. Zeit, Dauer, Vorher – Nachher (bzw. Früher – Später), Prozess, Zustand, Wandel usf. Die Ankerbeispiele sind den einzelnen Kategorien angehängt.

Kategorien

1) Philosophische Zeit (metaphysisch: Wesenheit)

Die frühesten Reflexionen zum Thema Zeit finden sich in der vorsokratischen Philosophie. Seitdem gab es zu allen Zeiten Gedanken zur Natur und Wesenheit derselben, was sich in einer überaus großen Zahl an Überlieferungen niederschlägt. Wichtige Grundfragen, wie jene nach der Existenz der Zeit, nach der Ewigkeit oder der Ordnungsform der Zeit (zyklisch, linear usw.) wurden u.a. in der griechisch-römischen Antike zum ersten Mal gestellt und sind Grundlage oder Inspiration für alle weiteren Interpretationsansätze.

Textbestandteile: Alle, die sich mit der „Wesenheit“ der Zeit und ihren Vertretern, mit der „Zeit an sich“, ihren erkenntnistheoretischen Vorraussetzungen, ihrer „bloßen Natur“ (Beschaffenheit und Richtung) oder der Möglichkeit ihrer Existenz beschäftigen und/oder diese metaphysisch erklären wollen.

Ankerbeispiel (Platon 1940, S. 268):

„[…] die ganze Wissenschaft [wird] einer geistigen Erkenntnis wegen betrieben.

Ja, allerdings, sagte er.

Nicht wahr, nur über folgendes hätten wir uns noch zu verständigen?

Worüber denn?

Daß es Erkenntnis des immer unveränderlichen Seins ist und nicht des in der Zeit etwas Werdenden

und wieder Vergehenden?“

2) Physikalische Zeit (existent: abstrakte Zähleinheit, Variable)

Mit der Entwicklung von immer besseren Zeitzählgeräten gelingt die Synthese von Wandlungskontinuen zunehmend exakt und lässt sich durch Standardisierung in logisch-naturwissenschaftliche Weltbeschreibungen integrieren. Die in der erforschten Natur gegebenen Verhältnisse folgen in ihren wahrnehmbaren oder anders nachvollziehbaren Materiebewegungen gewissen Gesetzmäßigkeiten, deren standardisiertes Substrat die Variable bzw. Einheit „Zeit“ hervorbringt.

Textbestandteile: Alle, die Angaben über das zeitliche Verhältnis konkreter terrestrischer Bewegungen mittels naturwissenschaftlicher Gesetze machen oder diese in Zweifel ziehen. Außerdem jene, welche physikalische Maßeinheiten in ihrer Rechenbarkeit als „über den Dingen liegende“ Bezugsgröße behandeln.

Ankerbeispiel (Mercier 1999, S. 77):

« C'est à l'aide de la physique, cette clef de la nature science vivante et palpable, que parcou­rant le dé­dale de cet ensemble merveilleux, nous leur appre­nons à sentir l'intelligence et la sagesse du Créateur. »

3) Psychologische Zeit (gefühlt: inneres Zeiterleben: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft)

Die individuelle Einschätzung der Länge eines Zeitraums hängt wesentlich von Erwartungen, Aufmerksamkeit und Motivation ab und wird durch weitere Faktoren wie Umwelt- und Situationseinflüsse, Alter, Krankheit, psychische Dispositionen wie Depression oder Psychosen verändert.

Textbestandteile: Alle, die auf Schwankungen der individuellen Zeiterfahrung im Sinne einer Dehnung, Raffung oder Modifizierung, z.B. durch bestimmte Gefühlslagen wie Sorge, Freude oder Trauer, Bezug nehmen bzw. die persönliche Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betreffen.

Ankerbeispiel (Orwell 2000, S. 67–68):

“How could you tell how much of it was lies? It might be true that the average human being was better off now than he had been before the Revolu­tion. The only evidence to the contrary was the mute protest in your own bones, the instinctive feeling that the conditions you lived in were intoler­able and that at some other time they must have been different.”

4) Soziale Zeit (koordiniert: gruppenspezifische Zeit, Sozialisation, Synchronisierung/Planung)

Der Zeitgebrauch einer Gesellschaft ist „multidimensional“, d.h. er findet auf sehr unterschiedlichen Ebenen statt, die innerhalb des hier vorgeschlagenen Kategoriensystems zu finden sind.[90] Als „rein“ soziale Zeit ist aber jene zu verstehen, die auf gruppen- und schichtspezifische Zeitbudgets zurückgeht, die also in Abhängigkeit von ihrer sozialen Verortung verschiedene Qualitäten annimmt. Darüber hinaus entwickeln und reproduzieren sich die Interpretationsformen der Zeiterfahrung auf und durch Interdependenzen der psychischen und der gesellschaftlichen Ebene. Die Verinnerlichung gruppenspezifischer bzw. gesamtgesellschaftlicher Zeitvorstellungen ist für ein Individuum kaum hintergehbar, weil sie als „natürliche“ und unumstößliche Ordnung der Welt sein Denken von Anfang an strukturieren.[91] Zuletzt gehört auch die Synchronisierung von Zeitabläufen, insbesondere bei der gesellschaftlichen Organisation der Güterproduktion (von Stammesgesellschaften bis zur hoch differenzierten Arbeitsteilung moderner Gesellschaften), zur Kategorie der sozialen Zeit. Sie entfaltet hier ihre entscheidende Bedeutung, wenn nicht sie an gesellschaftliche Strukturen angepasst wird, sondern diese selbst zu verändern beginnt.

Textbestandteile: Alle, die sich mit der zeitlichen Segmentierung bzw. den „Eigenzeiten“ von sozialen Gruppen und Subsystemen auseinandersetzen und/oder sie problematisieren. Zudem jene, die Aussagen und Wertungen über die gesellschaftliche Vermittlung von Wissen, insbesondere über die Sozialisation von Zeitkonzeptionen, treffen. Zuletzt Textbestandteile, die die Synchronisierung gesellschaftlicher Abläufe oder deren Folgen (z.B. in der Problematisierung von „Arbeitszeit“ und „Freizeit“) ins Auge fassen.

Ankerbeispiel (Orwell 2000, S. 165):

“The work was overwhelming, all the more so be­cause the processes that it involved could not be called by their true names. Everyone in the Records Department worked eighteen hours in the twenty-four, with two three-hour snatches of sleep. Mattresses were brought up from the cellars and pitched all over the corridors […]”

5) Kulturelle Zeit (geschaffen: Geschichte und Fortschritt von Menschengruppen, Zivilisation); Reflexionen über die Zeit beziehen sich ab einer bestimmten Stufe auch auf die Entwicklung des Menschengeschlechts als Ganzes, dessen Lebensweisen und kulturelle Hervorbringungen eine eigene zeitliche Dimension erhalten. Die Interpretation dieser „Chronologie menschlicher Aktivitäten“ und ihr längerfristiger Wandel beeinflusst die weiteren Schritte und Entscheidungen der Menschen fundamental und bestimmt maßgeblich sein Selbstbild.

Textbestandteile: Alle, die Urteile über die Konzeption, die Gesetzmäßigkeit, Regelmäßigkeit oder Richtung von „Geschichte“, „Fortschritt“ und „Zivilisation“ abgeben, sowie alle, die sich wertend mit dem „Neuen“ und dem „Alten“ oder vergleichbaren Ideen auseinandersetzen. Außerdem jene, die sich zur zeitlichen Beschaffenheit kultureller Objekte oder zur Zeitrechnung äußern.

Ankerbeispiel (Mercier 1999, S. 153):

« Le parti qu’il nous restait à prendre était de réédifier l’édifice des connaissances humaines. Ce projet paraissait infini […] »

6) Religiös-Mythische Zeit (transzendent gegeben: Ursprung und Ende – individuell/universell)

In der Natur des reflektierenden Menschen liegt die Frage nach dem Ursprung und dem Ende seiner Existenz, nach dem Sinn vom „Werden“ und „Vergehen“. Daraus kann sich die Sehnsucht entwickeln, die eigene Vergänglichkeit zu überwinden, was nur in einer die Zeit transzendierenden Sphäre (Ewigkeit) gelingt, die die Möglichkeit bleibender Erfüllung bereithält. Als Sachwalter bzw. Schöpfer dieser Sphäre können verschiedene Wesenheiten bestimmt werden, dessen Beschreibungen und Qualität aus den jeweiligen kulturellen Kontexten erwachsen. Sie können in ihrer Überzeitlichkeit außerdem individuell-persönlich, wie auch universell-kosmisch auf die genannten fundamentalen Fragen bezogen werden. „Religiös“ bedeutet, einen normativ bestimmenden, spezifischen Bezug zwischen dem „Transzendenten“ und dem Menschen herstellend.

Textbestandteile: Alle, die sich mit Ursprung und Ende, mit dem Werden und Vergehen bzw. der Vergänglichkeit von Mensch und Welt aus religiöser oder mythischer Perspektive, z.B. mit dem Ziel der Erklärung oder Letztbegründung dieser Phänomene, beschäftigen. Außerdem jene, die sich auf eben diese Art mit der Vorstellung von Ewigkeit und Heilsgeschichte und dem menschlichen Leben oder dem Menschen „an sich“ auseinandersetzen.

Ankerbeispiel (Platon 1940, S. 398):

„Dieser war einst in einer Kriegsschlacht gefallen, und als nach zehn Tagen die Leichname bereits verwest aufgehoben wurden, ward er noch unver­sehrt gefunden; nach Hause gebracht, lebte er im Augenblicke seiner Bestattung am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen wieder auf, und nach sei­nem Wiederaufleben erzählte er die Dinge, die er im Jenseits gesehen habe.“

7) Biologische Zeit (eingeschrieben: Lebenszyklus und Evolution)

Dem organischen und vegetativen Rhythmus der Natur, d.h. den einzelnen „Komponenten“ und Lebewesen derselben, ist eine eigene Zeitlichkeit zu zurechnen, die sich im Lebenszyklus wiederkehrender Prozesse (z.B. „Geburt“, „Wachstum/Reifung“, „Tod“), sowie in der langfristigen Anpassung dieser Zyklen an die Umweltbedingungen („lineare“ Evolution) zeigt. Die innere „biologische Uhr“ ist ebenso fundamental für den Menschen, wie es der regelmäßige Wandel seiner Umwelt ist. Sein Zeiterleben hängt maßgeblich am „Urvertrauen“ in diese Regelmäßigkeit, die neben den Gestirnen auch erster Ansatzpunkt zeitlicher Vorstellungen überhaupt ist.

Textbestandteile: Alle, die sich auf natürliche Reifungsprozesse, auf den Lebenszyklus von Menschen, Menschengruppen oder der Natur beziehen. Außerdem Vermutungen oder Aussagen über biologisch begründete Eigenschaften bestimmter Phasen innerhalb dieser Zyklen oder der Evolution.

Ankerbeispiel (Platon 1940, S. 177):

„Bist du nun mit mir einverstanden, daß die rechte Zeit des besten Alters bei dem Weibe zwanzig und

bei dem Manne dreißig Jahre sind?

In welcher Beziehung das? fragte er.

Beim Weibe vom zwanzigsten bis zum vierzigs­ten, um für den Staat zu gebären, beim Manne aber von da an, wo er des Laufes schärfste Höhe hinter sich hat, bis zu seinem fünfundfünfzigsten Jahre, zu zeugen für den Staat. Wenigstens, versetzte er, ist das bei beiden der Höhepunkt der körperlichen und geistigen Entwicklung.“

8) Kosmologisch-Astrophysikalische Zeit (zugeordnet: raumzeitliche Ordnung des Weltalls)

Die kosmologische raumzeitliche Ordnung des Weltalls umfasst nicht nur astronomische, physikalische und mathematische Kategorien, sondern auch ästhetische Qualitäten wie Harmonie und Schönheit – im Zentrum der Fragestellung steht die Idee des Universums als Ganzes. Demnach sind die Lösungsansätze und Deutungsversuche hierzu gleichermaßen naturwissenschaftlich wie philosophisch-kulturell bzw. mythisch-theologisch geprägt. Die astrophysikalische Zeit wird hingegen bei gleichem Gegenstand durch die Anwendung rein physikalischer Methoden und Theorien auf astronomische Objekte und Prozesse bestimmt und theoretisch modelliert. Sie muss dabei – wie auch der „Raum“ – als physikalisches Objekt begriffen werden können.

Textbestandteile: Alle Aussagen, die in kosmologischer oder astrophysikalischer Weise auf die zeitliche Ordnung des Weltalls gründen und daraus Schlüsse für die Interpretation der Welt oder der weltlichen Ordnung (politisch, kulturell usw.) ziehen. Außerdem Bezüge zum Wandel der Jahreszeiten bzw. dem Verlauf der Gestirne sowie soziale Reaktionen darauf.

Ankerbeispiel (Mercier 1999, S. 124):

« Nos physiciens, nos astronomes s'empressent dans ces jours d'allégresse à nous révéler leurs plus belles découvertes ; hérauts de la Divinité, ils nous font sentir sa présence dans les objets qui nous parais­sent les plus inanimés : tout est rempli de Dieu, disent-ils, et tout le révèle' ! »

4 Zeitkonzeptionen im Wandel I: Zur Anthropologie der Zeit

Das Nachdenken über die Zeit hat eine lange Tradition. Pythagoras, Aristoteles, die Stoiker, Epikur – bereits die griechische Antike beschäftigt sich eingehend mit dem Phänomen. Die Liste großer Philosophen und Wissenschaftler, die sich an der Erfassung des Wesens der Zeit versucht haben, kann ohne weiteres bis heute fortgeführt werden und ist beinahe unerschöpflich.[92] Mir ist es allerdings nicht daran, die an dieser Stelle unmöglich zu referierende Fülle zeitphilosophischer Schriften darzustellen oder auch nur zu nennen. Ich werde lediglich jene Argumentationsgebäude aufgreifen, die für den Alltag der Menschen als tatsächlich relevant gelten können – und dies ist in Ermangelung entsprechender Quellen eher die Ausnahme: „Wenn auch diese philosophischen Reflexionen nicht unmittelbar die allgemeine Einstellung beeinflussten, so doch mittelbar über viele Instanzen der Divulgarisation.“[93] Auch die Philosophie findet nicht jenseits der Welt statt, erkenntnistheoretische Fortschritte gründen schließlich auf Menschen, die mehr oder weniger in der Wirklichkeit verwurzelt sind. Die Rückwirkungsprozesse dieser Fortschritte sind jedoch nur schwer zu ermitteln. Kurzum, philosophische Schriften zum Thema können für den wissenschaftlichen Diskurs in der Tat, für die Alltagswelt aber als nur begrenzt aussagekräftig angesehen werden. Dies ist bei der durchaus erfolgenden Berücksichtigung solcher Schriften in meiner Arbeit zu bedenken und veranlasst mich zur Rekonstruktion von Zeitkonzeptionen mittels eher „konkreter“ Quellen, wie der Mentalitätsgeschichte, der Begriffsgeschichte oder der historisch verbürgten Anwendung neuer Zeitkonzeptionen (z.B. bei der Gestaltung von Kalendern oder der Organisation des Arbeitslebens).

Ich möchte in diesem Kapitel zunächst den „Ursprung“ der Zeit, oder besser: der menschlichen Vorstellung von Zeit, ermitteln. Es geht mir dabei nicht um die „Zeit an sich“ oder ähnliche metaphysische Konstruktionen, über die an anderer Stelle – wie ausgeführt – umfassend meditiert wurde und wird. Vielmehr soll eine sozialwissenschaftliche Antwort auf diese Frage gefunden werden, was m.E. auf plausible Weise in der zu Unrecht vernachlässigten Schrift „Über die Zeit“ von Norbert Elias geschieht.[94] In Anlehnung an die darin ausgeführten wissenssoziologischen Gedanken zum Thema und unter Einbeziehung der o.g. weiteren Quellen werde ich mich im Folgenden nicht nur mit dem Ursprung der Vorstellung von Zeit, sondern auch mit der Genese derselben bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigen. Dabei ist selbstverständlich eine Reduktion der Entwicklungen auf die wichtigsten Tendenzen vonnöten, die dem gegebenen Untersuchungsziel (siehe zivilisatorische Gesamtbewegungen) jedoch nicht zuwider läuft. Die Schilderungen sind der erste Baustein zur Rekonstruktion des Wandels von Zeitkonzeptionen.

4.1 Der Ursprung der Zeit als „menschliche Synthesetätigkeit“

„Zu den frühesten Zeitmaßstäben gehörten die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Sterne.“[95] Diese, so lernen wir von Elias, konnten von den Menschen allerdings nur schwer in ein einheitliches Bild integriert werden, sodass sie lediglich „eine große Menge von Einzelereignissen, ohne klare Zusammenhänge oder allenfalls mit ziemliche unstabilen Phantasiezusammenhängen“ erlebten.[96] Hier kündigt sich bereits die Eliassche Basisthese an, der zufolge die Zeit, die er in ihrer substantivischen Form als Irreführung betrachtet, ein synthetisierendes Konstrukt des Menschen ist. Und da diese Synthese (Elias vermeidet den Begriff der Abstraktion, da man Zeit nicht weiter abstrahieren könne) anfangs nur auf einem sehr einfachen Niveau möglich ist, fehlen dem Ursprungsmenschen die nötigen Begriffe, das Phänomen über dessen konkrete Erfahrung hinaus zu erfassen – die Nacht versteht er als „Schlaf“, den Monat als „Mond“. Eine zunächst begrifflose Gruppe erlebt ein „Wirrwarr von vagen, unsteten Signalen, ein kaleidoskopartigen Wandel, ein verwirrendes Kommen und Gehen von Lichtern, Formen und anderen Sinneswahrnehmungen.“[97] Aus den regelmäßig wiederkehrenden Lichtsignalen von gestern und heute werden erst nach einer langen Wissenstradition Begriffe wie „Mond“ abstrahiert und so das diffuse Ineinanderfließen von Erfahrungen in eine identitätsstiftende Unterscheidungsfähigkeit überführt. Diese auf dem Gedächtnis basierende Fähigkeit ist auch die Grundlage für die Entstehung des Bewusstseins, ohne dass die darauf folgende Menschheitsentwicklung undenkbar ist. Zeitbestimmung hängt also in der Frühphase von der Beobachtung natürlicher, nicht-menschlicher Ereignisse ab, die durch ihre Regelmäßigkeit einen bleibenden Bezugsrahmen für den in kleinen sozialen Enklaven lebenden Menschen schaffen.

Hier kommt nun die zweite Bedingung für die Ausbildung eines Zeitbewusstseins hinzu, nämlich Probleme in der sozialen Praxis, die „ihren Ausdruck in expliziten und artikulierten Wann-Fragen finden.“[98] Das „natürliche“ passive Zeitbestimmen ist eher „animalisch“ und von Unmittelbarkeit geprägt, d.h. der Mensch geht jagen, wenn er Hunger hat und schläft, wenn er müde ist oder die Nacht hereinbricht. Diese Art eine Wann-Frage zu beantworten ist allerdings nur solange adäquat, wie der Mensch seine Nahrungsmittel nicht aktiv produziert, solange es also reicht, vorhandene Ressourcen abzuernten. Mit der Einführung des Ackerbaus, d.h. der Nutzung domestizierter Pflanzen, „gewinnen Probleme des aktiven Zeitbestimmens“ an Bedeutung.[99] Die Nutzung verlangt nämlich die Antwort auf eine entscheidende Frage: Wann findet die Aussaat statt? Den zyklischen Wechsel der Jahreszeiten kann man nicht kontrollieren, der Rhythmus des Pflanzenwachstums aber läßt sich durchaus bei der Beantwortung dieser Frage berücksichtigen. Deshalb muss irgendjemand das Zeitbestimmungsproblem lösen und den richtigen Moment der Aussaat ermitteln. Dies war in der Regel die Aufgabe eines Priesters oder einer ähnlichen, zu kultischen Handlungen befähigten Person. „Der Priester beobachtet den Lauf von Sonne und Mond nicht deshalb, weil er an Astronomie interessiert ist, sondern weil diese sich verändernden Himmelslichter, und durch sie vielleicht irgendwelche unsichtbaren Mächte, ihm sagen, wann sein Volk mit der Aussaat beginnen und wann es seine kultischen Feste mit Ritualen und Opfern […] begehen soll, um auf diese Weise die Hilfe der Götter bei der Produktion der Nahrung und der Abwehr aller möglichen Gefahren zu gewinnen.“[100] Deshalb war er auch von den profanen Aufgaben der Nahrungsmittelproduktion befreit und deshalb sorgten sich die Menschen wohl nicht sonderlich um die Beweggründe der priesterlichen Zeitbestimmung. Von der Zeitbestimmung auf dem Agrarsektor zur Beantwortung andere Wann-Fragen war es dann nicht mehr weit. Auch Geyer schreibt in der „Europäischen Mentalitätsgeschichte“, dass in den alten Hochkulturen (Assur, Babylon, Ägypten) das „Maß der Zeit den Priestern anvertraut“ war, die in den „zeitsetzenden Mächten“, also den Gestirnen, die gleichen Kräfte am Werk sahen, die auch die „Ordnung des Kosmos“ zu verantworten hatten.[101] Die Zeit, „personifizierter Eingriff des Göttlichen in die Menschenwelt“, wurde in mythischen Vorstellungen von eigener Rationalität nachempfunden, die den „archaischen Schrecken“ überwinden helfen sollten: „undenkbar das Grauen, das in der uns unerreichbaren Frühe der Abend und die Nacht hervorgerufen haben“.[102]

Dass die mit der Zeitsetzung betraute Person eine herausragende Stellung im sozialen Gefüge einnahm, lässt sich nicht nur an mythisch-kultischen Vorstellungen belegen, sondern zeigt sich auch anhand diverser Beispiele späterer, autoritativ gesetzter Kalenderumstellungen, die sich teilweise willkürlich, teilweise aber auch wegen mangelhafter Kalenderkonstruktionen ereigneten.[103] Seit den ersten Olympischen Spielen (vermutlich 776 v. Chr.) zählte man Ereignisse dieser Tragweite mit regelmäßigem Abstand (vier Jahre), doch die Anpassung an den natürlichen Jahreszyklus sollte noch sehr lange dauern. Bestimmte Tage fielen im Zuge dieser Anpassung einfach aus, man verschob Monate zu Ehren bestimmter Führer im Ablauf oder benannte sie um. Insgesamt stellte sich die Schaffung eines perfekt auf den natürlichen Jahreszyklus abgestimmten Kalenders als äußerst schwieriges Unterfangen heraus, dass unter dem Einfluss diverser Kulturen und intellektueller Größen erst 1582 mit dem gregorianischen Kalender sein vorläufiges Ende fand.[104] Dieses abstrakte Zeitgitter, das letztlich ausschließlich auf naturgegebenen Regelmäßigkeiten beruht, ist die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Veränderungen als linearen Prozess. Doch vorläufig orientiert sich der Mensch nur an einschneidenden Einzelereignissen und Zäsuren, um den eigenen zeitlichen Abstand zu denselben zu bestimmen. Als Meilensteine dienen Begebenheiten wie „der Tag der großen Flut“ oder „der Tod des Häuptlings“, die zeitlich z.B. mehr oder weniger „Monde“ entfernt sind. Auf diese Weise erschließen sich dann auch längere Zeiträume, Ahnenreihen etwa, die erfasst und verstanden werden können, wobei das konkret erfahrbare immer der leidlich „abstrakten“ Zeitbestimmung übergeordnet ist. Die vergangenen Ereignisse und ihre Auswirkungen sind in gewisser Hinsicht noch gegenwärtig, deswegen zählt man die „Monde“ seit ihrem Auftreten. Elias entwickelt in diesem Zusammenhang seine Kategorie der „Wandlungskontinuen“: „Verschiedene Geschehensabläufe miteinander als ‚Zeit’ in Beziehung zu setzen, bedeutet also eine Verknüpfung zwischen mindestens drei Kontinuen: zwischen Menschen, die verknüpfen, und zwei oder mehr Wandlungskontinuen, von denen eines in einer bestimmten Menschengruppe jeweils die Funktion eines Standardkontinuums, eines Bezugsrahmens für das andere erhält.“[105] Verdeutlicht wird dies weiterhin anhand von Beispielen aus der griechischen Antike, in der sich Redezeiten in öffentlichen Diskussionen an Sanduhren orientierten, sowie an den Experimenten Galileo Galileis, der ebenfalls nicht „die Zeit gemessen“, sondern zwei Sequenzen kontinuierlicher Veränderung (Wasseruhr, eine Bahn hinabrollende Kugel) verglich.[106] Für diese Zeitkonstruktion gibt es natürlich noch viel mehr Beispiele, die Entwicklung der Uhr etwa bewirkte das Hervortreten des wohl wirkmächtigsten Standardkontinuums. Das Verhältnis der nebeneinander ablaufenden Sequenzen zueinander ergibt ein rechnerisches Verhältnis, ein Symbol reiner Beziehungen, dass als Zeit bezeichnet wird. Die Zeit selbst existiert nicht.[107]

4.2 Zeit in der Antike

„Hinter Dir eine Ewigkeit und vor Dir eine Ewigkeit:

dazwischen - was für ein Unterschied,

ob Du 3 Tage oder 3 Jahrhunderte zu leben hast?“

Mark Aurel (121 – 180)[108]

In der Antike verstanden die Griechen die Zeit als etwas offensichtlich Göttliches, weshalb sie ihr einen eigenen mythischen Titanen andichteten, der der Einfachheit halber gleich so hieß, wie die Zeit selbst, nämlich kronos. In der römischen Mythologie übernahm saturnus diese Rolle, er war außerdem gleichzeitig – sic! – der Gott des Ackerbaus.[109] Daß Priester in kultischen Akten die Zeit bestimmten, erhärtet den Eindruck, dass sie als etwas mystisch-geheimnisvolles der Kontrolle einer höheren Macht zugesprochen wurde. Kronos, der seine Kinder fraß und somit mythologisches Abbild vom „Werden und Vergehen“ ist, wird selbst von einer „höheren Macht“ in Gestalt des Zeus gestürzt, der – wie alle anderen Götter auch – den Gesetzen der Zeit enthoben ist. Im Olymp sitzen die Garanten der ewigen kosmischen Ordnung beisammen, die nicht zuletzt von kronos abhängt, der den Menschen sowie der Natur ihre Lebensdauer zuteilt – und damit auch Recht spricht. „Zeit wird zu einem anderen Wort für die eine erfahrbare, weit über die der Menschen hinausgehende Gerechtigkeit, die wesentlich egalisierend vorgestellt wird.“[110] Neben diesem mythischen Rahmengeschehen deutet vieles darauf hin, dass das Zeitgefühl des antiken Menschen von der Gegenwart dominiert war, Vergangenheit und Zukunft dagegen kaum Bestandteil des Bewusstseins waren. Die Ewigkeit (Aion) war den Göttern vorbehalten, besaß aber gegenüber der Intensität des Augenblicks keinen besonderen Eigenwert. Unbegrenzte Lebenszeit wurde nicht unmittelbar mit größerem Genuss in Verbindung gebracht, was auch darin begründet gewesen sein mag, dass der Mensch der gängigen Auffassung entsprechend „die Ewigkeit und Unendlichkeit der Dinge“ mittels der (physikalischen) Wissenschaften bereits erkannt und somit schon „alles, was je sein wird, gesehen“ hat.[111] Vergangenheit und Zukunft müssen deshalb nicht gedacht werden, weil dies kaum einen Nutzen zeitigen würde: Erstere steht definitiv fest und kann sowieso nicht mehr geändert werden, Letztere dagegen „ist“ noch nicht und könnte ganz anders als gedacht aussehen, weshalb jede Prognose sinnlos und eine Verschwendung von Ressourcen ist. Geyer vermutet jedoch, dass das auf die Gleichgültigkeit von Gegenwart und Ewigkeit abzielende Mantra der Philosophen eher Indiz für eine in Wahrheit gegenteilige Zeitauffassung ist. Demnach soll durch diese Art der Deutung die unablässig dahinfließende Zeit mit Sinn versehen, die reale Angst vor ihr gemindert werden. In jedem Fall kommt diesem Bedürfnis der Angstvermeidung der bei den Griechen wohl vorherrschende Konsens über den ewigen Kreislauf der Dinge entgegen, der laut Platon einmalig vom „Beweger“ angestoßen wurde und die „schöne“ Ordnung des Kosmos aufrecht erhält. In dieser zyklischen Vorstellung liegt auch ein entscheidender Differenzpunkt zur späteren christlichen Weltsicht.

[...]


[1] Bude, Heinz, in: Flick 1991, S. 102

[2] Ebd., 101

[3] außerdem bestehen Bezüge zur Kategorie des Raums, da dieser zur Erklärung der Vorstellung von Zeit notwendig ist.

[4] Bude, Heinz, in: Flick 1991, S. 101; der Ausdruck geht auf Emile Durkheim und Karl Popper zurück

[5] Armin Nassehi schreibt in „Die Zeit der Gesellschaft“ über seinen Gegenstand: „Zeit als positives Faktum, als ein Äußeres von Erfahrung [liegt] kaum vor.“ Dennoch scheint sie als grundlegende Kategorie der sozialen Welt „zum unbefragten Boden gesellschaftlicher Wirklichkeit überhaupt zu gehören.“ Vgl. Nassehi 1993, S. 13

[6] Zur gesellschaftlichen Bedeutung von „Theoretischen Gedanken“ für die „Alltagswelt“ vgl. Berger, Luckmann 2004, S. 16: „Theoretische Gedanken, ‚Ideen’, Weltanschauungen, sind nicht so wichtig in der Gesellschaft. Obwohl auch diese Phänomene in sie hineingehören, sind sie doch nur ein Teil dessen, was ‚Wissen’ ist. [usf.]“

[7] Vgl. dazu die Ausführungen zur „Theoretischen Ausrichtung“

[8] Hinzu kommt, dass der Geltungsradius kultureller Regeln, hier insbesondere der Zeitkonzepte, in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen beachtet werden muss. Zentrale Begriffe bei der Identifikation von kulturellen Sinnsystemen sind z.B. Nation oder Region, Epoche, Klasse u.ä., deren Verwendung im einzelnen jedoch klärungsbedürftig ist. (Vgl. Bude, Heinz, in: Flick 1991, S. 103)

[9] Vgl. die maßgeblich auf Reinhart Koselleck basierenden Ausführungen zur Begriffsgeschichte von „Utopie“ und „Fortschritt“; vgl. Bude, Heinz, in: Flick 1991, S. 104

[10] Die Arbeit kann keine erschöpfende Betrachtung zeitphilosophischer Ideen liefern, ebenso wenig die Flut literarischer Utopien in ihrer Gänze erfassen oder alle historisch eventuell relevanten Ereignisse berücksichtigen. Sie kann hingegen die als große Entwicklungen überlieferten gesellschaftlichen Tendenzen aufgreifen und ihre Wurzeln und Auswirkungen in bestimmten Ereignissen begründet vermuten. Es handelt sich um Tendenzen, über deren Wesen en detail diskutiert werden kann, deren grobe Richtungen aber nicht oder nur noch vereinzelt in Frage gestellt werden. Insofern besitzen sie – selbst wenn ihre Existenz angezweifelt würde – durch ihre breite Rezeption eine erhebliche gesellschaftliche Relevanz.

[11] Bühl 2003, S. 4

[12] Die Quellenangaben zur Übersicht finden sich ebenfalls im Anhang.

[13] Bloch 1983

[14] Bloch 1977

[15] Mannheim 1978

[16] Vergleiche dazu das Kapitel 2.3.3

[17] Kuhnle 2005

[18] Nassehi 1996, S. 242-286

[19] Einen ersten methodischen Überblick gibt Bude in seinem Artikel.

[20] Brunner et al. 1997

[21] Bloch 1977

[22] Dinzelbacher 1993

[23] Elias 1997

[24] Fukuyama 1992

[25] Huntington 2003

[26] Spengler 2003

[27] Mayring 1991, S. 209-213

[28] Bühl 2003

[29] Elias et al. 2004, S. 62-63

[30] Pohlmann 2005, S. 5

[31] Vgl. „Utopie“, in: Brockhaus 2004

[32] Vgl. „Fortschritt“, in: Brockhaus 2004

[33] Ebd.

[34] Bude 1991, S. 107

[35] Ebd.

[36] Mit „erweitert“ ist hier nicht notwendig „weiter“ oder „größer“, sondern die Erweiterung der Deutungsvarianten zeitlicher Horizonte in jeglicher Hinsicht gemeint. Dies kann auch die Annahme einer Reduktion zukünftiger Gestaltungsmöglichkeiten bedeuten, wenn es sie in dieser Form noch nicht gab.

[37] Hirschberger 1991, S. 533–534

[38] Vgl. „Zivilisation“, in: Der Brockhaus in Text und Bild, 2004

[39] Im deutschen Sprachgebrauch wird zudem zwischen „Zivilisation“ (welche sich eher auf das Äußere und Technische bezieht) und „Kultur“ (die mehr auf innere und geistige Werte abzielt) unterschieden. Für diese Arbeit ist „Zivilisation“ aber im umfassenden, d.h. beide Dimensionen integrierenden Sinne, definiert.

[40] Elias, Blomert 1997, S. 1

[41] Vgl. Dürr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozess

[42] Vgl. Rosemann, Elias 2003, S. 18

[43] Gleichmann et al. 1979

[44] Treibel et al. 2000

[45] Bühl 2003, S. 125

[46] Ebd.

[47] Bühl 2003, S. 126

[48] Solche „polaren Oppositionen“ findet sich immer wieder in der Eliasschen Analysemethode, so z.B. auch bei den „Etablierten und Außenseitern“ oder der „höfischen und der bürgerlichen Kultur“.

[49] Elias, Blomert 1997, S. 81

[50] Rosemann, Elias 2003, S. 39

[51] Vgl. Elias, Blomert 1997, S. 236

[52] Rosemann, Elias 2003, S. 40

[53] Elias, Hammer 1997, S. 373

[54] „Zufall“ ist im Hinblick auf die Zivilisationstheorie ein unscharfer Begriff, da beispielsweise nach technologischen Entwicklungen bzw. Erfindungen durchaus absichtsvoll geforscht wird, ob und wann eine Entdeckung jedoch tatsächlich eintritt, lässt sich nicht vorhersagen. Ähnlich verhält es sich auch mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, die absichtsvoll verfolgt werden, sich aber nicht wirklich steuern lassen (vgl. z.B. das legislative „Input-Outcome-Problem“). Für den Verlauf des Zivilisationsprozesses ist dies jedoch nicht fundamental, da die weiter unten ausgeführten Bewegungskonfigurationen auf lange Sicht „zufällige“ Entwicklungen absorbieren.

[55] Elias, Hammer 1997, S. 324–325; Elias bezeichnet diesen Sachverhalt als „Figruation“

[56] Ebd., S. 398

[57] Rosemann, Elias 2003, S. 43

[58] Vgl. „Lehnswesen“, in: Brockhaus 2004

[59] Vgl. dazu auch die aktuelle These von Gunnar Heinsohn, der im Überschuss junger Männer innerhalb einer Population eine wesentliche Quelle der Gefahr von Gewaltsausbrüchen sieht. (Heinsohn 2006)

[60] Vgl. Elias, Hammer 1997, S. 59

[61] Unter „Sicherheitsdilemma“ versteht man jene politische Figur des Kalten Krieges, in der zwei antagonistische Mächte in einer Konkurrenzsituation Vorkehrungen gegen den befürchteten Übergriff der Gegenseite treffen, die wiederum von der anderen Seite als Beweis für die aggressiven Absichten des Gegners gedeutet wurden und weitere Vorkehrungen zur Folge hatten.

[62] Vgl. Elias, Hammer 1997, S. 64

[63] Ebd., S. 95

[64] Zeitgeschmack, also „Mode“, diente in den mittelalterlichen Gesellschaften als Erkennungsmerkmal für die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand. „ Es gibt mannigfache Belege dafür, dass in dieser Zeit ununterbrochen Gebräuche, Verhaltensweisen und Moden vom Hof in die oberen Mittelschichten eindringen, dort nachgeahmt und entsprechend der anderen sozialen Lage mehr oder weniger leicht verändert werden. Eben damit verlieren sie bis zu einem gewissen Grade ihren Charakter als Unterscheidungsmittel der Oberschicht. […] Das drängt oben zu einer weiteren Verfeinerung und Fortbildung des Verhaltens.“ (Elias, Hammer 1997, S. 226)

[65] Vgl. Elias, Hammer 1997, S. 143

[66] Ebd., S. 463

[67] Elias sieht den Prozess in der Richtung „differenzierter“, „allseitiger“, „stabiler“.

[68] Ebd., S. 323

[69] „die Rivalitäten treiben langsamer oder schneller durch eine Reihe von Untergängen und Vergrößerungen, von Aufstiegen und Abstiegen in der Richtung auf eine neue gesellschaftliche Ordnung, auf eine Monopolordnung voran.“ Ebd., S. 218

[70] In den sozialen Fragen drückt sich die Eigendynamik des Beziehungsgeflechts zwischen den Menschen aus, die jene fundamentale Verflechtungsordnung bildet, welche den „blinden“ Prozess in Gang setzt und hält.

[71] Vgl. dazu z.B. die differenziertere und stabilere Regelung der „psychischen Apparatur“, die dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr als ein Automatismus angezüchtet wird, ihm einen unhintergehbaren „Selbstzwang“ aufnötigt

[72] Rosemann, Elias 2003, S. 20

[73] Vgl. zur Relativierung des Eliasschen Synthesebegriffs, der vom apriorischen Axiom eines „Früher - Später“ ausgeht: Rosemann, Elias 2003, S. 140 ff.; die angesprochene Problematisierung ist für meine Zielsetzung nicht relevant, da sie von einer erkenntnistheoretischen Qualität ist, welche die dargestellten Bewegungskonfigurationen inhaltlich nicht berührt. Das Denken in den Kategorien „Früher“ und „Später“ ist den Menschen im hier untersuchten Zeitraum seit jeher zu eigen, ebenso die Vorstellungen von „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“, wie unterschiedlich ausgeprägt sie auch waren. Wo oder wie diese ursprünglich zu verorten sind, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung.

[74] Vgl. Mayring, Philipp, in: Flick 1991, S. 209

[75] Mayring nennt neben der qualitativen Inhaltsanalyse weitere Untersuchungsmethoden, die allerdings in meinem Kontext weniger passend scheinen. So ist die „Objektive Hermeneutik“ beispielsweise wegen ihres aufwendigen Vorgehens eher für kleine Materialausschnitte geeignet, die „Psychoanalytische Textinterpretation“ hingegen auf die Freilegung „verdrängter Gehalte“ angelegt, war nicht den Kern meiner Fragestellung trifft. Zur Anwendung und Problematisierung dieser und weiterer methodischer Ansätze vgl. Mayring 1990

[76] Ebd., S. 88

[77] Bühl 2003, S. 128

[78] Vgl. Hirschberger 1991, S. 58 ff.

[79] Vgl. Grimal 2002, S. 198

[80] Vgl. zu Augustinus Abschnitt 5.2.1

[81] In dieser Arbeit spielt der subjektiv vermeinte Sinn, dessen Träger und einzige zuverlässige Quelle der (verstorbene) Autor der Utopie ist, eine untergeordnete Rolle, nämlich nur insofern sich jener in dessen sozialstruktureller Umgebung begründet findet. Rückschlüsse auf die tatsächliche Motivation des Autors sind nur unter erheblichen Aufwand zu leisten, da sie – um dem Quellenstand angemessen zu berücksichtigen – eine umfassende biographische Aufarbeitung und eine breit angelegte Interpretation seines Werkes erfordern. Dies kann und ist an anderer Stelle geschehen, für die hier gegebene Fragestellung genügt die Annahme der Zeitgeistbezogenheit des Autors bzw. der Opposition gegen diese. Die gänzliche Missachtung biographischer Eckpunkte hätte allerdings eine auf die Strukturen des Textes reduzierte und somit einseitige Betrachtungsweise zur Folge. Aus dieser konstruierte nomologische Erklärungen können ein je einzigartiges und besonderes Handeln eines Menschen nicht vollständig erhellen, da es sich ebenso aus subjektiven Dispositionen wie Vorstellungen, Zielen, Gründen, Emotionen usw. ableiten kann, die ohne direkten Zugriff bleiben. Insofern die konkrete Lebenspraxis des Autors sich begründet im Zeitgeist vermuten lässt, wird sie folglich Beachtung finden.

[82] Die ausführliche Darstellung der utopischen Denk- und Literaturtradition erfolgt im anthropologischen Hauptstück, an dieser Stelle beschränke ich mich auf die strukturellen und kategorialen Merkmale von Utopien.

[83] Vgl. „Utopie“, in: Brockhaus 1994

[84] Zur Problematisierung dieser Begriffe vgl. Berghahn et al. 1983, S. 163

[85] Vgl. „Utopie“, in: Brockhaus-1994

[86] Vgl. die Herleitung des Begriffs „Utopie“ im Abschnitt 5.2.1

[87] Saage 1997, S. 9

[88] Die hier gegebenen Kategorienbeschreibungen sind die Endfassungen nach kleineren Korrekturen. Die einzelnen Anpassungen sind hier nicht aufgeführt, da sie nie den „Kern“ einer Kategorie betrafen und zum Verständnis wenig beitragen würden.

[89] Vgl. „Zeit“, in: Brockhaus 2004

[90] Vgl. Berger, Luckmann 2004, S. 30: „Die Zeitstruktur der Alltagswelt ist deshalb so verwickelt, weil die verschiedenen Ebenen empirisch zuhandener Zeitlichkeit unaufhörlich aufeinander abgestimmt werden müssen.“

[91] Zur „Internalisierung der Wirklichkeit“ durch „primäre“ und „sekundäre“ Sozialisation vgl. ausführlich: Berger, Luckmann 2004, S. 139 ff.

[92] Vgl. z.B. Hegels Einleitung in die Geschichte der Philosophie (Hegel 1993)

[93] Dinzelbacher 1993, S. 652

[94] Elias et al. 2004

[95] Elias et al. 2004, S. 54

[96] Ebd., S. 55

[97] Ebd., S. 87

[98] Ebd., S. 65

[99] Ebd., S. 66

[100] Elias et al. 2004, S. 68; tatsächlich deuten einige der frühesten Funde menschlicher Kultbauten (z.B. Stonhenge) darauf hin, dass eine ihrer wichtigsten Funktionen in der Bestimmung von Zeitpunkten lag

[101] Dinzelbacher 1993, S. 633

[102] Ebd., S. 633 f.

[103] Vgl. Elias et al. 2004, S. 70 ff., 240 ff.

[104] Vgl. dazu ausführlich „Zeitrechnung“, in: Reicke et al. 2004, S. Bd.3, 2211-2228

[105] Elias et al. 2004, S. 62

[106] Ebd., S. 139 ff.

[107] Elias bezeichnet deshalb die philosophische Diskussion der Zeit angesichts des immensen (vergeblichen) Aufwandes und der jahrhundertelangen Dauer als „tragikomisch“, was seiner an vielen Stellen zu Tage tretenden (und nach Rosemann wohl auch biographisch begründeten) grundsätzlichen Ablehnung des philosophisch-metaphysischen Denkens entspricht. (Elias et al. 2004, S. 58; Rosemann, Elias 2003, S. 184)

[108] Aurel 1875, S. 51

[109] Enciclopedia universal ilustrada Europeo-Americana, 1985, S. 878; das iranische Pendant nannte sich „Zurvan“

[110] Dinzelbacher 1993, S. 634

[111] Ebd., S. 636

Ende der Leseprobe aus 184 Seiten

Details

Titel
Utopie und Zeitsemantik - Zur gesellschaftlichen Konstruktion der Zeit
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Institut für Soziologie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
184
Katalognummer
V77764
ISBN (eBook)
9783638780643
ISBN (Buch)
9783656571285
Dateigröße
1385 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Utopie, Zeitsemantik, Konstruktion, Zeit
Arbeit zitieren
Christof Niemann (Autor:in), 2007, Utopie und Zeitsemantik - Zur gesellschaftlichen Konstruktion der Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77764

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