Die Behandlung des Nationalsozialismus in dem Roman 'Auslöschung' von Thomas Bernhard


Hausarbeit, 2006

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Hauptteil
1.1 Das Schloss Wolfsegg als Analogie zum Nationalsozialismus
1.2 Die „Machtmischmethode“
1.3 Die Familie
2.1 Verschriftlichung als Auslöschung?
2.2 Der „Übertreibungskünstler“

III. Fazit

IV. Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Sekundärliteratur:

I. Einleitung

„Österreichkritik“ bei Thomas Bernhard

Thomas Bernhard wendet sich gegen vieles – nicht umsonst unterstellt man ihm nicht selten Misanthropie, denn es scheint, als gäbe es wenig, was vor seinen Augen Gnade findet. Primär jedoch wendet er sich gegen Österreich: die österreichische Gesellschaft und die Geschichte, aus der sie resultiert. Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistische Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die gegenwärtige Situation des Landes sind dabei wohl das zentrale Kriterium „für ein ethisch-moralisches Selbstverständnis Bernhardschen Schreibens“[1] und Folie für andere zentrale Themen, wie zum Beispiel die Kritik am österreichischen Kulturbetrieb – Diskurse, die natürlich, wie alle gesellschaftlichen Phänomene, auf komplexe Art und Weise miteinander verwoben sind. Jene Komplexität spiegelt sich denn auch in den „poetisch konstruierten, bisweilen überaus komplexen geschichtlichen Verweisungszusammenhänge[n]“[2] der Bernhardschen Texte und muß berücksichtigt werden, will man Bernhards ‚Österreich-Schelte’ richtig erfassen. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Verständnis der für Bernhard typischen Poetik der Übertreibung, welche sicherlich die Skandale, die seine Texte in der (österreichischen) Öffentlichkeit immer wieder ausgelöst haben, zu einem guten Teil mitverantwortet. Die in den Dramen und der Prosa vorzufindenden „übertriebenen Quaerulationen, polemischen Zuspitzungen und grotesken Szenerien dienen der schwierigen Thematik insofern, als sie sie mit den dramatischen Emotionen aufladen, die ihr gleichsam a priori eingeschrieben sind […]. Bei [Bernhard] wird nach Auschwitz nicht geschwiegen, sondern geschrieen“[3]. Die gesellschaftlichen Realitäten (und bisweilen konkrete Personen) bleiben dabei zwar trotz der Verformung durch Übertreibung identifizierbar, sind jedoch in ihrer künstlichen Verfremdung spiegelbildlicher Ausdruck für eine als ebenso künstliche eingeschätzte ‚Theatergesellschaft’[4]: „[W]ir haben es mit einem Kunstmenschen zu tun […], ein einziger industrieller Marionettismus dröhnt uns in den Ohren, wenn wir noch hören können, kein einziger natürlicher Mensch“[5]. Hier schwingt natürlich Adorno mit – offensichtlich mündet auch für Bernhard die Aufklärung in der Vernichtung, der Entmenschlichung, welche im Holocaust ihren Höhepunkt gefunden hat, jedoch in der heutigen Gesellschaft weiterwirkt und eine Gleichschaltung der Menschen durch gesellschaftlich-politische Strukturen und Mechanismen zur Folge hat[6]: sich selbst verurteilend „zur lebenslänglichen Unwissenheit, stützt und erhält der einzelne um den Preis einer unglücklichen Existenz Staat und Gesellschaft“[7]. So erscheint die in ihrer überwiegenden Mehrheit in zwei politische Lager gespaltene österreichische Gesellschaft wie dressiert und reagiert bis zur Lächerlichkeit gereizt auf jegliche Art von Kritik[8] – wie sich an den oben erwähnten Skandalen erkennen lässt, in welchen sich eine völlige Unmöglichkeit der Kommunikation über die historische Realität spiegelt. Zu sehr hat sich der öffentliche Diskurs als Konsens etabliert, der die Österreicher fast ausschließlich als Opfer der deutschen Nationalsozialisten darstellt, während ihre eigenen Taten und deren Opfer weitgehend ausgeklammert werden;[9] ein Vorgang, der es zuließ, dass nationalsozialistische Strukturen und Denkweisen völlig unbeschadet weiterexistierten. Die sozusagen künstlich herbeigeführte partielle Amnesie, die als Basis für die Identitätskonstruktion der österreichischen Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg betrachtet werden kann, war und ist natürlich vor allem für die Tätergeneration, jedoch auch für nachgeborene Generationen äußerst bequem – und ist gleichzeitig ihr wundester Punkt. Thomas Bernhard setzt mit seiner Kritik genau an dieser Stelle an, und er tut dies in dem Roman Auslöschung so explizit wie in keinem anderen seiner Prosawerke. In dieser Arbeit soll nun untersucht werden, auf welchen Ebenen Bernhard sich in dem Roman mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt, welche Funktion seine ‚Poetik der Übertreibung’ in diesem Zusammenhang innehat und schließlich, wie sich das Vorhaben der ‚Auslöschung durch Verschriftlichung’ interpretieren lässt.

II. Hauptteil

1.1 Das Schloss Wolfsegg als Analogie zum Nationalsozialismus

Das Schloss Wolfsegg als „architektonisch verräumlichte österreichische Geschichte“[10] – so könnte man eine der wesentlichsten Bedeutungen des Murauschen Elternhauses formulieren. Wolfsegg ist ein Mikrokosmos, in dem sowohl Menschen als auch Räume analog zu historischen Ereignissen bzw. Entwicklungen gesehen werden können. Hierbei nimmt natürlich die Zeit des Nationalsozialismus die zentrale Position ein; das, was zeitlich davor oder danach liegt, wird weitestgehend durch sein Verhältnis zum NS, also in Abhebung von diesem definiert.

Besonders kennzeichnend ist für Murau die Entwicklung Wolfseggs zu einem – um mit Bernhardschen Worten zu sprechen – geistesfeindlichen Ort, welche mit der Verstrickung der Familie in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zum einen ihren Höhepunkt und zum anderen ihren deutlichsten Ausdruck findet: „Was waren das für Zeiten, in welchen der Verstand zum Denken erhoben, das Denken zum obersten Gebot gemacht worden ist, wie wir wissen. Heute ist alles das, das Wolfsegg einmal ausgezeichnet hat, verkümmert, weil es von den Nachgekommenen ganz bewusst heruntergemacht worden ist; sie traten es tatsächlich im letzten Jahrhundert und vor allem in den letzten Jahrzehnten in den Schmutz.“[11] Das architektonische Äquivalent zu dieser Entwicklung sind die fünf umfangreichen Bibliotheken Wolfseggs, die von den Vorfahren Muraus eingerichtet, deren Inhalt von seinen Eltern jedoch abgelehnt, gefürchtet und deshalb unter Verschluß gehalten wurde – mit der Begründung, dass es sich bei einem Großteil der Bücher um „Gift des Geistes“[12] handele. Einzige Ausnahme bilden die so genannten katholischen Bücher, welche aufgrund ihrer perfekten Kompatibilität mit der nationalsozialistischen Ideologie[13] von Muraus Eltern nicht als gefährlich eingeschätzt wurden und aus diesem Grund immer frei zugänglich geblieben sind. Das Verschlossenhalten der Bibliotheken verdeutlicht also auf räumlicher Ebene die Unmöglichkeit der Überwindung nationalsozialistischer Denkstrukturen; eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit kann so nicht einmal in Erwägung gezogen werden. Dies legt eine weitere Analogie nahe, und zwar zwischen Wolfsegg und Österreich: „Der fehlende Diskurs über die Verbrechen in der Nazizeit ist ein Faktum der realen österreichischen (und gleichfalls deutschen) Geschichte, was […] die Theorie unterstützt, dass Wolfsegg mit Österreich gleichgesetzt werden kann.“[14]

Zwei weitere wichtige Orte auf Wolfsegg, in denen sich „Geschichtliches vergegenständlicht“[15], sind das Gärtner- und das Jägerhaus mit den jeweils dort beschäftigten Personengruppen, die von Murau in ein diametrales Verhältnis gesetzt werden: „In Wolfsegg haben sich immer zwei Lager gegenübergestanden, die der Jäger und der Gärtner.“[16] Dieser Antagonismus wird im Verlauf der Erzählung nach ‚Übertreibungskünstlermanier’[17] immer weiter ausdifferenziert.

Die Gärtner und das als Orangerie bezeichnete Gärtnerhaus erscheinen also als Zuflucht des jungen Muraus als Geistesmenschen; ein Ort der „Farbenpracht“[18], an dem man ihn „ohne viel Wörter […] verstand[]“[19] und an dem sich die besondere Art von menschlicher ‚Einfachheit’ und ‚Natürlichkeit’ manifestiert, die Murau gutheißt, ja bewundert: „Von den Gärtnern bin ich immer am meisten angezogen gewesen, ihre Bewegungen waren die unbedingt notwendigen, beruhigenden, immer nützlichen, ihre Sprache die einfachste, klarste.“[20] Diese ausnehmend positive Beurteilung setzt sich über die Architektur des Gewächshauses („Die Orangerie ist nicht nur an die ideale Stelle, sondern auch mit dem größten Geschmack gebaut, […] ein Kunstwerk, das sich mit den herrlichsten derartigen Schöpfungen Norditaliens und der Toscana ohne weiteres messen lassen kann.“[21]) und die „kluge“[22] weil sonnige Lage des Gebäudes auf dem Schlossgelände bis hin zur rein lautlichen Ebene fort: „Schon das Wort Orangerie hat mich immer fasziniert, […], es war das Lieblingswort meiner Lieblingswörter.“[23] Die Berührung mit dem ‚Gärtnerkontext’ hat sogar positive Wirkung auf ansonsten für Murau inakzeptable Personen: die ansonsten sehr negativ und als „hysterische Nationalsozialistin“[24] dargestellte Mutter war „bei den Gärtnern […]wie ausgewechselt, weit entfernt von allem, das an ihr immer so abstoßend gewesen ist.“[25], und auch der verhasste, als ausnehmend stumpfsinnig beschriebene Schwager ist sensibel genug, um das Gärtnerhaus aufgrund seiner angenehmen Atmosphäre als Rückzugsort zu wählen.[26] Man könnte in dem Entwurf des Gärtnerkontextes fast utopische Züge ausmachen, die trotz der misanthropischen Weltsicht Muraus so etwas wie ein richtiges Leben (im falschen) möglich erscheinen lassen – wobei es natürlich zum einen ahistorisch und zum anderen sehr untypisch sowohl für Bernhard als auch für Murau wäre, dieser Möglichkeit eine wirkliche Chance einzuräumen.[27]

Ganz anders verhält es sich nun mit dem Jägerhaus und den dazugehörigen Menschen; die Jäger „sind die Aggressiven und Gewalttätigen, die eine direkte Beziehung Wolfseggs zu den Faschisten herstellen.“[28] Sie stehen im Allgemeinen für alles, was Murau als „brutalisierte Welt“[29] ansieht und im Besonderen für nationalsozialistische Werte und Lebensweisen bzw. Praktiken: „Die Jäger waren schon immer die Radaumacher, die Aufwiegler. Passte ihnen einer nicht, schossen sie ihn einfach bei nächster Gelegenheit ab und verantworteten sich vor Gericht, sie hätten den Erschossenen für ein Stück Wild gehalten.“[30] Besonders signifikant ist hier natürlich das Element der Jagd, innerhalb derer das – zumindest bei dem von Murau gemeinten Typus der Sportjagd – völlig sinnlose Töten zu etwas Alltäglichem, gesellschaftlich Akzeptiertem, ja Bewunderten wird. Die Einschätzung dieses Mechanismus als wesentlicher Bestandteil von Diktaturen bzw. konkret des nationalsozialistischen Systems liegt nahe: „alle Diktatoren sind leidenschaftliche Jäger gewesen, hätten alles bezahlt für die Jagd, selbst ihr eigenes Volk umgebracht für die Jagd, wie wir ja gesehen haben. Die Jäger waren die Faschisten, die Jäger waren die Nationalsozialisten.“[31] Die bei der Jagd sich vollziehende totale Verdinglichung von Lebewesen, aus der – zumindest der Frankfurter Schule zufolge – der Faschismus resultiert, spiegelt sich in Auslöschung in der Verortung der „Rationalität technischer, instrumenteller Naturbeherrschung gemeinsam mit der ‚irrationalen’, pseudoreligiösen Nazi-Ideologie“[32] im Jägerhaus; alles, was mit den Jägern zusammenhängt, wird als von seinem tiefsten Wesen her faschistisch angesehen.

[...]


[1] Fuest, Leonhard: Kunstwahnsinn, irreperabler. Eine Studie zum Werk Thomas Bernhards. Verlag Peter Lang. Frankfurt am Main 2000. Künftig zitiert als: FL. S. 241.

[2] Höller, Hans: Thomas Bernhard. Rowohlt Monographie. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 1993. Künftig zitiert als: HH. S. 16.

[3] FL, S. 241.

[4] HH, S. 160.

[5] Bernhard, Thomas: Der Keller. Eine Entziehung. Residenz Verlag. Salzburg 1976. S. 122/23.

[6] FL, S. 246/47

[7] Ebd.

[8] Vgl. Oberreiter, Suitbert: Lebensinszenierung und kalkulierte Kompromisslosigkeit. Zur Relevanz der Lebenswelt im Werk Thomas Bernhards. Böhlau Verlag. Wien 1999. Künftig zitiert als: OS. S. 323.

[9] Vgl. Schößler, Franziska u.a. (Hrsg.): Politik und Medien bei Thomas Bernhard. Verlag Königshausen und Neumann. Würzburg 2002. Künftig zitiert als: SF. S. 242.

[10] HH, S. 24.

[11] Bernhard, Thomas: Auslöschung. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 1986. Künftig zitiert als: Auslöschung. S. 263/64.

[12] Auslöschung, S. 148.

[13] Auf die Gleichsetzung von Katholizismus und Nationalsozialismus werde ich im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher eingehen.

[14] Grabher, Michael: Der Protagonist im Erzählwerk Thomas Bernhards. Verlag Dr. Kovač. Hamburg 2004. Künftig zitiert als: GH. S. 289.

[15] Hoell, Joachim u.a. (Hrsg.): Thomas Bernhard – eine Einschärfung. Verlag Vorwerk 8. Berlin 1998. Künftig zitiert als: JH. S. 12

[16] Auslöschung, S. 191.

[17] Auch auf diese Besonderheit der Bernhardschen Poetik werde ich später noch näher eingehen.

[18] Ebd., S. 165.

[19] Ebd., S.191.

[20] Ebd., S. 165/66.

[21] Ebd., S. 167

[22] Ebd., S. 166.

[23] Ebd., S. 167.

[24] Ebd., S. 193.

[25] Ebd., S. 334.

[26] Vgl. ebd., S. 536.

[27] Außerdem muss die extrem positive Darstellung mit Sicherheit auch in Hinblick auf die so genannte Überreibungskunst gesehen werden.

[28] BG, S. 223.

[29] Auslöschung, S. 539.

[30] Ebd., S. 192.

[31] Ebd., S. 192.

[32] Helms-Derfert, Herrmann: Die Last der Geschichte. Interpretationen zur Prosa von Thomas Bernhard. Böhlau Verlag. Köln 1997. Künftig zitiert als: HD. S. 225/6

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die Behandlung des Nationalsozialismus in dem Roman 'Auslöschung' von Thomas Bernhard
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Deutsche Philologie II)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
22
Katalognummer
V77346
ISBN (eBook)
9783638818667
ISBN (Buch)
9783638820349
Dateigröße
541 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Behandlung, Nationalsozialismus, Roman, Auslöschung, Thomas, Bernhard, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Tanja Röckemann (Autor:in), 2006, Die Behandlung des Nationalsozialismus in dem Roman 'Auslöschung' von Thomas Bernhard, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77346

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