Politische Rhetorik in Deutschland - Die Paradigmen der antiken Rhetorik im Wandel zur modernen politischen Kommunikation


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Die Anforderungen an die politische Rhetorik heute
I. Ebene der traditionellen Rhetorik und ihre theoretischen Grundlagen
1. Einordnung, Bewertung und Abgrenzung der Rhetorik zu anderen Künsten
2. Die drei aristotelischen genera
II. Ebene der modernen politischen Kommunikation heute
1. Gemeinsamkeiten von Politik und Rhetorik
2. Zur Lage der politischen Rhetorik in Deutschland heute
3. Traditionelle Rhetorik-Paradigmen im Wandel mit Reden von Helmut Kohl und Roman Herzog
4. Große Reden in Deutschland in Entstehung und Wirkung mit Reden von Richard von Weizsäcker und Philipp Jenninger

B. Zusammenfassung der Ergebnisse

C. Literaturverzeichnis

A. Die Anforderungen an die politische Rhetorik heute

Die Anforderungen an die deutsche Politik und ihre Akteure werden immer größer: sie sehen sich in einem Spannungsfeld zwischen der politischen Reaktivierung der Nichtwähler einerseits und andererseits der Aufgabe, dem Volk Entscheidungen plausibel machen zu müssen. Darunter fallen konfliktgeladene Entscheidungen, weshalb beispielsweise die Mehrwertsteuer wider aller Wahlkampfversprechen erhöht werden muss, warum und wie der deutsche Bürger in Zeiten des internationalen Terrorismus und der Rasterfahndung mehr von sich und seinen persönlichen Daten zugänglich machen muss, wieso der Sozialstaat abgespeckt werden muss und was das für jeden einzelnen an Einschnitten bedeutet. Diese Aufzählung würde sich noch weiter fortsetzen lassen. Doch wie auch immer geartete politische Probleme sind nicht neu und existieren nicht erst seit dem 11. September 2001 oder seit der Großen Koalition. Bereits Adenauer musste seine Politik der Westintegration und Willy Brandt seine neue Ostpolitik für die deutschen Bürger nachvollziehbar machen. Doch was sich in den letzten Jahrzehnten besonders gewandelt hat, und was zu dem eigentlichen heutigen Dilemma geführt hat, ist die ansteigende Vernetzung der Handlungsabläufe und der komplexen Interessen. Gleichzeitig kam es zu einer Verringerung der Verständigungstendenzen, obwohl das mediale Angebot und dessen Zugänge dazu für jedermann nutzbar und fast erschlagend sind. Zahllose Fernsehsender senden Bundestagsdebatten, Entscheidungsabläufe, Interviews, Talkrunden, Expertengespräche, Brennpunkte und viele andere Informationssendungen rund um die Uhr in deutsche Wohnzimmer. Aber auch andere Medien, wie das Internet und die Zeitungslandschaft, liefern eine bisher nicht da gewesene Fülle an Informationen. Dennoch gestaltet sich eine politische Konsensfindung immer schwieriger und lähmt das System. Es werden Reden gehalten, doch zu langfristigen und fruchtbaren Entscheidungen kommt es immer seltener. Die Tatsache, dass sich Politik nicht mehr wie in der Antike über richtig oder falsch bewerten lässt, sondern über das Kriterium der öffentlichen Zustimmung definiert wird, verlangt eine Auseinandersetzung mit der Redekunst und ihrer möglichen mangelnden Überzeugungsleistung, ihrem Wandel seit der traditionellen Rhetorik in der Antike und den heutigen Anforderungen, die an sie gestellt werden. Auf den folgenden Seiten soll über die historischen Wurzeln der Rhetorik, etwa die Einteilung der aristotelischen genera, dargestellt werden, welche Paradigmen heute noch vorhanden sind, und wie sie ausgebaut und verändert werden können, damit die schlechte rhetorische Lage sich in der deutschen Politik bessert und es zu einer fruchtbareren Verständigung in der stetig heterogener werdenden Gesellschaft kommen kann. Anhand zweier Reden, von Richard von Weizsäcker und von Philipp Jenninger, soll gezeigt werden, wie die richtige und auch die falsche Anwendung rhetorischer Paradigmen sich auf die Reaktionen aus Politik und Gesellschaft auswirken kann.

I. Ebene der traditionellen Rhetorik und ihre theoretischen Grundlagen

Um den Rahmen dieser Arbeit abzustecken, soll zunächst den Wurzeln der Rhetorik und der Einteilung in verschiedene genera nachgegangen werden, um später die Entwicklung der einzelnen rhetorischen Paradigmen besser verfolgen und verstehen zu können. Einführend soll eine kurze Orientierung gegeben werden, wie die Rhetorik zu Beginn ihrer Existenz in die anderen Künste eingeordnet, bewertet und zu anderen Künsten abgegrenzt wurde. Hierzu wurde das Werk von Heinrich Lausberg[1] herangezogen.

1. Einordnung, Bewertung und Abgrenzung der Rhetorik zu anderen Künsten

Die artes im Allgemeinen lassen sich in einem Kontinuum beschreiben, das über den artifex, den Künstler, die ausführende ars bis hin zum fertigen opus verläuft.[2] Bei der genaueren Betrachtung des fertigen Werkes ist eine dreigliedrige Klassifizierung möglich, die sich, nach Quintilian, nach verschiedenen Graden der Konkretheit des opus richtet. Den höchsten Grad erreichen damit die herstellenden Künste (= poietischen Künste), die eine gewisse Langlebigkeit aufweisen. Lausberg sieht hier das Kontinuum von artifex, ars und opus voll erfüllt. Die hergestellten Güter zeigen ihre Langlebigkeit durch die Möglichkeiten des Ge- und Verbrauch, der Möglichkeit der Aufführung, sowie der Betrachtung und der damit verbundenen Bewertung. Durch die Tatsache, dass eine Rede, bevor sie gehalten wird, oftmals niedergeschrieben wird, sieht sie Lausberg auch in der Tradition der herstellenden Künste.

Einen niedrigeren Grad der Konkretheit weisen die praktischen Künste, nämlich die aufführenden Künste, auf. Sie sind in der Rangfolge unter den herstellenden Künsten anzusiedeln, weil sie etwas bereits Erdachtes benötigen, um existieren zu können. So könnte kein Drama zur Aufführung auf der Bühne gebracht werden, wenn es nicht vorher durch einen Künstler erdacht worden wäre. Üblicherweise besteht eine Trennung zwischen dem Schöpfer der geistigen Leistung und dem Aufführenden. Der artifex der poietischen Künste ist bei den praktischen Künsten der actor und dem opus entspricht die actio. Bis vor wenigen Jahrzehnten war die actio durch Individualität und Vergänglichkeit gekennzeichnet, und erst durch die technische Erfindung von Film und Tonband gewann sie an Langlebigkeit und rückt dem dauerhaften opus der poietischen Künste näher. Da sich die Rhetorik als Anweisung zum guten Reden versteht, ist sie aber auch den praktischen Künsten zuzurechnen.

Den geringsten Konkretheitsgrad weisen die theoretischen Künste auf, die in der Betrachtung (inspectio) und/oder der (kritischen) Bewertung (aestimatio) eines bereits bestehenden Objektes ihre Aufgabe sehen. Die zu betrachtende und/oder zu bewertende Objekte können die Natur, also die Welt, der Mensch, Gott oder auch Kunstwerke sein. Es kann bei dieser Betrachtung zu Berührungspunkten mit der Rhetorik, genauer gesagt mit dem genus demonstrativum (s. Abschnitt I 2), kommen. Das Kontinuum lässt sich hier zwischen spectator, ars und inspectio (cognitio oder/und aestimatio) beschreiben.

Eine genaue Zuordnung der Rhetorik zu einer der Künste ist schwierig. Am treffendsten erscheint der Gedanke, die Rede nach ihren Teilen zuzuordnen[3]. So sind die Teile memoria und actio in der Aufführungskunst, also in der praktischen Kunst, einzureihen. Hingegen weisen die Teile inventio, dispositio und elocutio poietische Kennzeichen auf. Üblicherweise liegt zwischen der Erstellung einer Rede und dem praktischen Halten derselben eine Arbeitsteilung vor, so wie es auch bei einem Dichter und dem jeweiligen Sänger der Fall ist. Diese konzeptionelle Einteilung lässt sich auch in der heutigen Welt der Redenschreiber und der vortragenden Politiker beobachten.

Die bisherige Betrachtung hat sich auf die Wertigkeit des fertigen opus bezogen. Um aber auf die Rhetorik selber zu sprechen zu kommen, soll im Folgenden kurz der Ausübende betrachtet werden. Entscheidend hierbei ist die Frage danach, zu welchem Zweck der Ausübende die Künste betreibt, ob sie dem Gelderwerb, dem Gemeinwohl oder einem höheren geistigen Zweck dienen. Lausberg beschreibt hier eine viergliedrige Ausführung nach Posidonius, der in die artes vulgares et sordidae, die artes ludicrae, die artes pueriles und die artes liberales unterteilt. Mit den artes vulgares et sordidae meint er das Handwerk, also den beruflichen Gelderwerb, der zum täglichen Überleben dient und somit wird es von ihm als weniger vornehm eingestuft. Die artes ludicrae sind Künste der Schauspielerei, die sowohl dem Gelderwerb als auch der Belustigung oder Bildung des Gemeinwohls dienen können. Die artes pueriles sind Spiele, die durch Spielregeln geordnet werden und die artes liberales erhalten in diesem Zusammenhang die höchste Wertigkeit, denn sie dienen nicht dem bürgerlichen Gelderwerb, sondern vor allem der Bildung des Gemeinwohls und der Erkenntnis von höheren Zielen. Rhetorik, Dialektik und Musik werden hierin zusammengefasst. Die artes liberales beziehen sich auf die jeweilige soziale Schicht der Bürger, nämlich der freien Bürger, für die sie Bildungs- und Erziehungsgut darstellen.

Nachdem die Rhetorik in der Gruppe der artes betrachtet wurde, soll sie im nächsten Schritt zu anderen Wissenschaften abgegrenzt werden, etwa der Philosophie und der Poetik. Zu Philosophie ist zu sagen, dass die Gruppe der artes liberales, und damit im Besonderen die Rhetorik, im Gegensatz zur Philosophie stehen. Die Philosophen betrachten die Rhetorik als minderwertiges Handwerk, „nur als eine dem Kindesalter angemessene Propädeutik der Philosophie“[4], und gestehen ihr nicht die Bezeichnung „liberalis“ zu. Im Gegenzug betrachten die Rhetoriker die Philosophie nur als einen Teil der rhetorischen Bildung, die dem Redner dabei hilft, seinen Scharfsinn zu fördern.

Wenn man das Verhältnis von Rhetorik und Poesie hingegen untersucht, kommt man zu dem Ergebnis, dass es sich dabei um eine innige und für beide Seiten fruchtbare Verbindung kommt. Es liegt zwar logischerweise ein Unterschied zwischen Rhetorik und Poetik vor, der zum einen darin besteht, dass die Poetik von Natur aus keine artes liberales ist, denn ein Dichter benötigt eine Ausbildung im Sinne eines Spezialisten, die sonst für die Künste der freien Bürger nicht notwendig ist[5]. Zum anderen liegt der Unterschied darin begründet, dass es sich bei der Arbeit des Redners um eine, meist politische Einflussnahme auf das Publikum handelt, wohingegen es die Aufgabe des Dichters ist, die menschliche und außermenschliche Wirklichkeit nachzubilden. In der Anwendung des vorher beschriebenen Kontinuum zeigt sich jedoch die Nähe zwischen Rhetorik und Poetik, denn der Dichter kann in der Rolle des spectator stehen, der durch die inspectio der Welt und andere Dinge der Wirklichkeit erkennt und bewertet, sie aber mittels seiner Intelligenz und seines eigenen reichen Schatzes an Lebenserfahrung zu einem opus gestaltet. Trägt der Dichter selber oder eine andere Person das Werk vor, so beeinflusst auch er im Sinne eines Redners das Publikum, wenn auch nicht in einer politischen Entscheidung, sondern auf einer anderen Ebene. Hierbei entsteht die innige Bindung zwischen Rhetorik und Poetik, denn die Rhetorik benötigt die abbildenden Funktionen der Poetik und die Poetik die vortragenden Eigenschaften der Rhetorik, damit sie auch eine Wirkung auf das Publikum erzielen kann.

Eine grundlegende Definition der Rhetorik als ars bene dicendi scientia trennt diese Kunst von der Grammatik der scientia recte loquendi. Der Hauptunterschied liegt in der Korrektheit der Grammatik und der Charakterisierung bene der Rhetorik, die eine Vollkommenheit von Redner und Werk impliziert. Die Vollkommenheit des Redners meint die technischen Fähigkeiten der Rhetorik um zu überzeugen, wie auch die moralisch einwandfreie Haltung des Redners und seinen „glänzenden Stil“[6]. Vorausgreifend auf den Abschnitt (II 2) lässt sich sagen, dass es bereits in der Antike Verwandtschaften zwischen der Rhetorik und anderen Künsten gab.

[...]


[1] Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Band 1 – 3. München, Regensburg 1960

[2] Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 29 ff.

[3] ebd. S. 42 (§ 35)

[4] ebd. S. 34 (§ 14)

[5] ebd. S. 33 (§12)

[6] Klein, Josef: Politische Rhetorik. Eine Theorieskizze in Rhetorik-kritischer Absicht mit Analysen zu Reden von Goebbels, Herzog und Kohl. In: Sprache und Literatur 26. Jahrgang 1995, 1./2. Halbjahr, S. 63- 97

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Politische Rhetorik in Deutschland - Die Paradigmen der antiken Rhetorik im Wandel zur modernen politischen Kommunikation
Hochschule
Universität Regensburg  (Germanistik)
Veranstaltung
Hauptseminar - Jüngste deutsche Sprachgeschichte (1945 - 1989)
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
22
Katalognummer
V76651
ISBN (eBook)
9783638805353
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politische, Rhetorik, Deutschland, Paradigmen, Rhetorik, Wandel, Kommunikation, Hauptseminar, Jüngste, Sprachgeschichte
Arbeit zitieren
Denise Tennie (Autor:in), 2006, Politische Rhetorik in Deutschland - Die Paradigmen der antiken Rhetorik im Wandel zur modernen politischen Kommunikation , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76651

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