"A nation under God" - Die fundamentalistische Versuchung des Evangelikalismus in den USA


Hausarbeit, 2006

32 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die religiöse Landschaft der USA
2.1 Stellenwert von Religion
2.2 Konfessionszugehörigkeit
2.3 Differenzierung protestantischer Glaubensgemeinschaften
2.4 Aktivismus und Heilsgeschichte – Feine Unterschiede

3. Die fundamentalistische Versuchung
3.1 Amerika und die Säkularisierung
3.2 Der religiöse Wettbewerb
3.3 Liberale Kirchen und das Problem des free-ridings
3.4 Wahrer Glaube als Lösung des free-rider Problems
3.5 Die ökonomische Wissenstheorie
3.5.1 Wissen als ökonomisches Gut
3.5.2 Glaube als Folge rationaler Entscheidungen
3.5.3 Normativ erzwungener Glaube
3.5.4 Die Autokatalyse von Ausschlussnormen
3.5.5 Stärkung durch Bedrohung

4. Resümee

Literatur

1. Einleitung

„Ja, sie reißen die Grundfesten um;

was kann da der Gerechte ausrichten?“

(Psalm 11, 3)[1]

Am 13. September 2001, 2 Tage nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D.C., kommentierte der in den USA äußerst populäre Fernseh-Prediger (Televangelist) Jerry Falwell in einem Interview der christlichen TV-Show „The 700 Club“ die Ereignisse mit folgenden Worten:

„I really believe that the pagans, and the abortionists, and the feminists, and the gays and the lesbians who are actively trying to make that an alternative lifestyle, the ACLU, People For the American Way, all of them who have tried to secularize America. I point the finger in their face and say ‘you helped this happen’”.[2]

Nach Protesten der Beschuldigten[3] und einer Abmahnung aus dem Weißen Haus[4] entschuldigte sich Falwell öffentlich für seine Äußerungen. Diese seien zu einem ungünstigen Zeitpunkt formuliert und taktlos gewesen und er würde nie jemand anderen als die Terroristen selbst für den Anschlag verantwortlich machen.[5]

Fragwürdig ist, ob Falwells Anklage tatsächlich nur eine missverstandene, gleichwohl unpassende verbale Entgleisung, das Zeugnis einer unüberlegten Spinnerei war; oder ob sie einfach genau so zu verstehen ist, wie sie artikuliert wurde. Letzteres scheint zunächst unwahrscheinlich, Ergänzungen des obigen Zitats lassen jedoch genau dies vermuten:

„And, I know that I'll hear from them for this. But, throwing God out successfully with the help of the federal court system, throwing God out of the public square, out of the schools. The abortionists have got to bear some burden for this because God will not be mocked.”[6]

Nun wird deutlich: Falwell wollte den beschuldigten Gruppen und Organisationen zwar keine unmittelbare Mittäterschaft unterstellen, zieht jedoch aus ihrem (aus seiner Sicht) negativen Einfluss auf die Gesellschaft Amerikas gravierende Schlussfolgerungen: die Terroranschläge waren ein Zeichen Gottes, der nicht länger untätig zusieht, wie die „nation under god“[7] sich immer mehr von ihm abkehrt, nach eigenem säkularen Gutdünken handelt und eine Kultur fördert, die – mit den Worten des Televangelisten Jimmy Swaggarts – „von spirituellem Aids verseucht“[8] ist.

Vielen Amerikanern sind solche Gedankengänge nicht fremd. Dass man Gott erzürnt, wenn man seine Gebote nicht beachtet, steht schließlich schon in der Bibel; und an die buchstäbliche Wahrheit der Bibel glaubt immerhin die Hälfte aller US-Amerikaner.[9]

Diese konsequente Treue zur Bibel und die mit ihr verbundene wertkonservative Haltung eines Großteils der Bevölkerung führten in den USA nicht selten schon zu heftigen Kontroversen. Die wichtigsten Themen, die immer wieder den Anstoß zu Auseinandersetzungen gaben, wurden in Falwells Kommentaren zum 11. September schon genannt. Es sind die Legalisierung der Abtreibung; die Trennung von Kirche und Staat bzw. die Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum (insbesondere aus den Schulen und der damit einhergehenden Verbreitung unchristlicher Lehren wie z.B. der Evolutionstheorie); der Wegfall von christlichen Werten und Normen zugunsten eines religiös ungebundenen Lebensstils sowie die genannten Streitpunkte betreffende, liberale Gerichtsbeschlüsse.

Zum Teil nehmen diese Konflikte auch äußerst drastische, kompromisslose Formen an. So schrecken militante Abtreibungsgegner zuweilen selbst vor Mord nicht zurück[10], andere, wie z.B. die Anhänger der rassistisch-religiösen Formation „Aryan Nations“[11], propagieren gar die Errichtung eines Gottesstaats durch die ‚von Gott geschaffene’ weiße Rasse. Nicht politisch engagiert, in der persönlichen Auslebung ihres Glaubens doch gleichsam radikal sind dagegen separatistische Gruppierungen wie beispielsweise die Amish-People, die eine Art vorindustrielles, landwirtschaftlich geprägtes Leben führen, das strikten, aus ihrem Glauben abgeleiteten Regeln unterliegt, wodurch sie von der Welt außerhalb ihrer Kommune sowohl wirtschaftlich als auch politisch und kulturell weitestgehend abgeschottet sind.

Das gesamte Spektrum kompromissloser Religionsausübung in den USA reicht also von quietistischen, sich von der restlichen Gesellschaft absondernden Gemeinschaften, über (vor allem) evangelikale Freikirchen und ihnen nahe stehenden, politischen Einfluss nehmenden Organisationen (wie z.B. der von Jerry Falwell gegründeten ‚Moral Majority’[12]) bis hin zu extremistischen und rassistischen Gruppierungen. Gemeinsam ist allen jedoch eine fundamentalistische Auffassung von Religion[13], d.h. „ein spezifisches, religiöses Geschichtsbewusstsein [...], das auf besonderen metaphysischen und anthropologischen Annahmen fußt“[14], die sich einer Hinterfragung kategorisch verweigern und den ausschließlichen Bezugspunkt allen spirituellen und weltlichen Denkens und Handelns des Gläubigen bilden.

Doch wie ist es nun zu erklären, dass in einem modernen, aufgeklärten, wissenschaftlich und politisch weltweit eine gewisse Vorreiter-Rolle einnehmenden Land wie den USA, das zudem gemeinhin mit Freiheit und Unabhängigkeit der dort lebenden Menschen assoziiert wird, ein beachtlicher Teil der Bevölkerung gerade diese Freiheit aufgibt, sich freiwillig[15] persönlicher und sozialer Reglementierungen religiöser Art unterstellt und bereit ist, gegebenenfalls verbitterten Widerstand zu leisten gegen jene, die einen liberalen Lebensentwurf bevorzugen? Sind sie alle Fanatiker, berauscht von ihrem Glauben und blind vor Gotteseifer oder haben sie unter Umständen rationale Gründe, so zu handeln? Was sind die (inneren und äußeren) Bedingungen, die sie dazu bringen, nichts außer den eigenen Vorstellungen vom richtigen Weg zuzulassen und diesem unbeirrbar zu folgen?

Diesen Fragen soll im Folgenden, nach einem Blick über das religiös-kulturelle Terrain der USA (insbesondere das protestantische), nachgegangen werden.

2. Die religiöse Landschaft der USA

2.1 Stellenwert von Religion

Laut einer Umfrage des Pew Research Centers vom Dezember 2002 betrachten 59% aller US-Amerikaner Religion als sehr wichtigen Bestandteil ihres Lebens.[16] Verglichen mit anderen Staaten der G8 (Großbritannien: 33%; Kanada: 30%; Italien: 27%; Russland: 14%; Deutschland: 12%; Japan 12%; Frankreich: 11%)[17] belegen die USA in dieser Frage mit Abstand die Spitzenposition. Auch die Frequenz der Kirchenbesuche (mindestens einmal wöchentlich: 46%) und die Häufigkeit des Nachdenkens über den Sinn des Lebens (oft: 58%) heben sich deutlich von den Zahlen anderer postindustrieller Länder ab.[18]

2.2 Konfessionszugehörigkeit

Bezüglich der Konfessionszugehörigkeit ergibt sich in den USA ein äußerst heterogenes Bild.[19] Zwar bezeichnen sich acht von zehn Amerikanern als Christen, wobei der römisch-katholische Glaube mit etwa 24% überwiegt. Dem gegenüber stehen jedoch eine Unmenge von protestantischen Konfessionsgemeinschaften (Denominationen)[20], so dass – all diese Denominationen zusammengerechnet – mehr als die Hälfte aller amerikanischen Christen und somit rund 40% der Gesamtbevölkerung protestantischen Glaubens sind.

Weitere, dem Christentum quantitativ aber deutlich unterlegene Konfessionen sind das Judentum (1,3%) und der Islam (0,6%) sowie andere nicht-christliche Bekenntnisse wie Hinduismus, Buddhismus etc. (zusammen 1,2%). Bekennende Atheisten fallen mit einem Anteil von 1,2% ebenfalls kaum ins Gewicht.

2.3 Differenzierung protestantischer Glaubensgemeinschaften

Um die zahlreichen protestantischen Denominationen etwas näher betrachten und miteinander vergleichen zu können, bieten sich mehrere Möglichkeiten der Klassifizierung an. Zum Beispiel lässt sich durch Zuordnung aller Einzelbekenntnisse in religiöse Familien nach J. Gordon Melton[21] eine grobe Übersicht erstellen. Hierbei werden alle Religionsgemeinschaften Nordamerikas nach ihren gemeinsamen Wurzeln, ihren Glaubensvorstellungen und ihrem Lebensstil in zwanzig Familien eingeteilt (z.B. Western Liturgical; Eastern Liturgical; Baptist; Lutheran; Spiritualist, Psychic, New Age usw.). Eine solche Genealogie vernachlässigt jedoch wichtige Feinheiten, wie Martin Riesebrodt erläutert:

„Für ein angemessenes Verständnis der gegenwärtigen Strukturierung des amerikanischen Protestantismus wäre es geradezu irreführend, etwa die Anhänger der einzelnen Bekenntnisse, wie Baptisten, Lutheraner, Methodisten oder Presbyterianer, zusammenzuzählen. Denn diese sind zumeist in Gemeinden zersplittert, die untereinander in vielen Punkten kontroverse Positionen vertreten. So steht beispielsweise ein konservativer Baptist einem konservativen Lutheraner in vielerlei Hinsicht näher als etwa einem liberalen Baptisten.“[22]

Riesebrodts Einwand berücksichtigend ließe sich nun z.B. eine sozialmoralisch orientierte Strukturierung in drei große Lager vornehmen: Liberale, Gemäßigte und Konservative. Dies müsste aber weiterhin in Bezug auf die jeweilige Denomination erfolgen, also z.B. die United Church of Christ, die Episkopalisten und die Presbyterianer auf der liberalen Seite; die Methodisten, die nördlichen Baptisten, die vereinigten Lutheraner, die Disciples of Christ sowie die Reformierten auf der gemäßigten Seite und die südlichen Baptisten, die Churches of Christ, die Assemblies of God, die Churches of God, die Pentecostals (Pfingstler) und die Adventisten auf der konservativen Seite.[23]

Anhand dieser Klassifizierung ist es jedoch nicht möglich, Aussagen über die tatsächlichen Moralvorstellungen einzelner Mitglieder eines Bekenntnisses zu machen, da sich diese nicht zwangsläufig in allen Belangen mit der Mehrheit seiner Denomination decken müssen.

[...]


[1] Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984

[2] http://archives.cnn.com/2001/US/09/14/Falwell.apology/

[3] Vgl. z.B.: http://www.christianlesbians.com/articles/openletters.php?id=000009

[4] Vgl.: http://www.christianexaminer.com/Articles/Articles%20Oct01/Art_Oct01_11.html

[5] Vgl.: http://archives.cnn.com/2001/US/09/14/Falwell.apology/

[6] http://www.christianlesbians.com/articles/openletters.php?id=000009#interview

[7] Selbstbezeichnung der USA im amerikanischen Fahneneid.

[8] Jimmy Swaggart, zitiert in: GEO Nr.6 / Juni 1987. S. 76.

[9] Die Umfrageergebnisse der letzten Jahre zum Buchstabenglauben der Bibel in den USA schwanken zwischen knapp unter 50% und bis zu 63%. Vgl. z.B.:

http://www.rasmussenreports.com/2005/bible.htm http://www.washtimes.com/national/20040216-113955-2061r.htm http://www.barna.org/FlexPage.aspx?Page=Topic&TopicID=7

[10] Auf die Ermordung des Gynäkologen Dr. David Gunn 1993 folgten bis heute noch sechs weitere Tötungsdelikte. Vgl. z.B.: http://www.plannedparenthood.org/pp2/portal/files/portal/webzine/eyeonextremism/eoe-050315-gunn.xml

http://www.cnn.com/US/9810/24/doctor.killed.02/

[11] Vgl.: http://bethuneinstitute.org/documents/cift.html

http://www.aryan-nations.org/

[12] Die ‚Moral Majority’ wurde 1979 gegründet, unterstützte 1980 und 1984 die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten und löste sich 1989 offiziell auf. Zur Wiederwahl George W. Bushs 2004 formierte sie sich unter dem Namen ‚Moral Majority Coalition’ neu und will auch 2008 auf die Präsidentschaftswahlen Einfluss nehmen. Falwell: „The thought of a Hillary Clinton or John Edwards presidency is simply unacceptable (and quite frightening) “.

Vgl.: http://www.moralmajority.us

http://www.foxnews.com/story/0,2933,141218,00.html

[13] Der Begriff ‚Fundamentalismus’ ist abgeleitet von der zwischen 1910 und 1915 erschienenen Schriftenreihe „The Fundamentals. A Testimony To The Truth“, in deren theologischen Pamphleten die moderne (historisch-kritische) Bibelauslegung angeprangert und die Bedeutung der Bewahrung bestimmter Grundfesten des christlichen Glaubens betont wurde. Diese Schriften sind zum Großteil einzusehen unter:

http://www.geocities.com/Athens/Parthenon/6528/fundcont.htm

[14] Riesebrodt (2005). S. 18.

[15] Inwieweit in diesem Zusammenhang von „freiem Willen“ zu reden ist, bleibt zunächst noch dahingestellt.

[16] http://pewglobal.org/reports/display.php?ReportID=167

[17] Ebd.

[18] Quelle: World Values Survey (1981-2001) Vgl.: http://www.umich.edu/news/index.html?Releases/2003/Nov03/r111703

[19] Quelle folgender Statistiken: Religion and Public Life Survey, 2001 (Fragen 88 bis 90) http://www.thearda.com/Archive/Files/Codebooks/RELPUB_CB.asp

[20] Für eine Übersicht der im Yearbook of American and Canadian Churches 2005 geführten (nicht nur protestantischen) Denominationen vgl.: http://www.electronicchurch.org/YBlisting.html#YB_Churches

[21] Vgl.: http://religiousmovements.lib.virginia.edu/profiles/listmelton.htm

[22] Riesebrodt (1990), S. 474-475.

[23] Vgl.: ebd. S. 475.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
"A nation under God" - Die fundamentalistische Versuchung des Evangelikalismus in den USA
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Veranstaltung
Fundamentalismus
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
32
Katalognummer
V76516
ISBN (eBook)
9783638801171
ISBN (Buch)
9783638807579
Dateigröße
504 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Versuchung, Evangelikalismus, Fundamentalismus
Arbeit zitieren
Timo Klemm (Autor:in), 2006, "A nation under God" - Die fundamentalistische Versuchung des Evangelikalismus in den USA, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76516

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