Wahrnehmungsförderung nach Félicié Affolter aus heilpädagogischer Sicht


Magisterarbeit, 2006

129 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitungsgedanken

1. Grundlegendes zur Wahrnehmung
1.1 Was ist Wahrnehmung?
1.1.1 Allgemeine Überlegungen zur Wahrnehmung
1.1.2 AFFOLTERs Verständnis von Wahrnehmung
1.1.3 Reflexion von AFFOLTERs Wahrnehmungsbegriff
1.2 Neurophysiologische Grundlagen der Wahrnehmung
1.2.1 Aufbau des Zentralnervensystems
1.2.2 Reizübertragung und Reizverarbeitung
1.2.3 Das Sinnessystem
1.3 Entwicklung beim Kind
1.4 AFFOLTERs Theorie der Wahrnehmungsentwicklung
1.4.1 J. PIAGETs Theorie der geistigen Entwicklung als Basis – Ein Überblick
1.4.2 Das Stufenmodell der Wahrnehmungsentwicklung
1.4.3 AFFOLTERs „Wurzelmodell“ der Entwicklung

2. Wahrnehmungsstörungen und geistige Behinderung
2.1 Geistige Behinderung im (heil-)pädagogischen Kontext
2.2 Wahrnehmung bei Menschen mit geistiger Behinderung
2.3 Wahrnehmungsstörungen und geistige Behinderung
2.3.1 Ursachen von Wahrnehmungsstörungen
2.3.2 Formen von Wahrnehmungsstörungen
2.4 Wahrnehmungsstörungen aus der Sicht von F. AFFOLTER
2.4.1 Mangel an gespürter Information
2.4.2 Die Andersartigkeit der Entwicklung wahrnehmungsgestörter Kinder nach AFFOLTER
2.4.3 Formen von Wahrnehmungsstörungen nach AFFOLTER

3. Wahrnehmen und Spüren – das AFFOLTER-Konzept
3.1 Zur Person F. AFFOLTER
3.2 Entstehung des AFFOLTER-Konzepts
3.3 Zielgruppe des Konzepts
3.4 Grundprinzipien des Konzepts
3.5 Lernprozess im Rahmen des AFFOLTER-Konzepts
3.6 Regeln beim Führen
3.7 Geführt durch den Alltag

4. AFFOLTERs Konzept in der heilpädagogischen Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung
4.1 Anwendung des AFFOLTER-Konzepts in der heilpädagogischen Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung
4.2 Richtziele heilpädagogischer Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung
4.3 Heilpädagogische Richtziele und das AFFOLTER-Konzept

5. Reflexion
5.1 Kritische Überlegungen zu AFFOLTERs Entwicklungstheorie
5.2 Kritische Betrachtung der Sichtweise AFFOLTERs zu Wahr-nehmungsstörungen
5.3 Kritische Bilanz des Konzepts des Führens
5.4 Reflexion des Konzepts in Bezug auf die Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

Einleitungsgedanken

Alltag ist Wirklichkeit

Voll mit Problemen-

Ich, als Kind, stöbere sie auf,

versuche sie zu lösen.

Probleme des Alltags!

Sie zu lösen bereitet Schwierigkeiten,

die ich überwinde,

indem ich die Umwelt erspüre.

So lerne ich die Beschaffenheit

und die Nachbarschaft der Dinge

und dazwischen mich selbst

zu erkennen.

Ich lerne, auf die Umwelt einzuwirken,

meinen Körper einzusetzen,

Veränderungen zu erzielen

und dies alles wieder zu erspüren.

(AFFOLTER 1987, 180)

Dieses Jahr feiern das von Félicie AFFOLTER gegründete Zentrum für Wahrnehmungsstörungen und die Sonderschule für Kinder mit Wahrnehmungsstörungen in St. Gallen ihr 30-jähriges Jubiläum. Beide Einrichtungen arbeiten nach AFFOLTERs Konzept der Wahrnehmungsförderung.

Nach jahrelangen Beobachtungen von Kindern mit Auffälligkeiten im Bereich der Wahrnehmung gelangte AFFOLTER zu der Erkenntnis, dass „gespürte Interaktionserfahrung“ im Rahmen von Alltagsgeschehnissen die Wurzel der Entwicklung darstellt. Darauf aufbauend entwickelte sie ihr Konzept der Wahrnehmungsförderung, welches als eine „Pioniertat“ gesehen werden kann, für welche St. Gallen in der Welt der Heilpädagogik beneidet wird (vgl. ST GALLER TAGBLATT 2001 und 2006).

In meiner Arbeit werde ich das Konzept der Wahrnehmungsförderung nach Félicie AFFOLTER vorstellen und dessen Bedeutung in der heilpädagogischen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung erörtern.

Zur Einführung gehe ich zunächst auf den komplexen Begriff der Wahrnehmung im Allgemeinen ein, indem ich verschiedene Sichtweisen von mir ausgewählter Autoren beschreibe. Danach stelle ich AFFOLTERs spezifische Sichtweise von Wahrnehmung vor, um diese dann anhand der vorgestellten Sichtweisen von Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen.

Im Anschluss daran folgt die Darstellung neurophysiologischer Grundlagen, um die komplexen physiologischen Vorgänge bei der menschlichen Wahrnehmung aufzuzeigen. Hierbei beschreibe ich zunächst den Aufbau des Zentralnervensystems, die Vorgänge bei der Reizübertragung und Reizverarbeitung und stelle dann die einzelnen Sinnessysteme vor. Weiter erläutere ich in Anlehnung an HÜLSHOFF (2005) und ZIMMER (2005) die Entwicklung des kindlichen Gehirns und der Wahrnehmungsfunktionen.

Nach dieser Einführung gehe ich dann auf AFFOLTERs Theorie der Wahrnehmungsentwicklung ein. Diese hat ihre Grundlage in der Theorie der geistigen Entwicklung nach Jean PIAGET. Darauf aufbauend entwickelte sie das Stufenmodell der Wahrnehmungsentwicklung und ihr „Wurzel-Modell“, welche die Basis ihres Förderkonzepts bilden. Beide Modelle werde ich im Anschluss an einen kurzen Überblick über PIAGETs Entwicklungstheorie erläutern.

Im zweiten Kapitel wende ich mich der Beschreibung von Wahrnehmungsstörungen, insbesondere bei Menschen mit geistiger Behinderung, zu.

Zunächst gehe ich auf geistige Behinderung im heilpädagogischen Kontext ein, um einen Behinderungsbegriff vorzustellen, welcher für die Ausführungen zu AFFOLTERs Konzept in der heilpädagogischen Arbeit geeignet ist. Dabei werde ich PFEFFERs Verständnis von geistiger Behinderung (1984) ansprechen, da es den Aspekt des Erlebens in der Alltagswirklichkeit beinhaltet, der auch bei AFFOLTER von großer Bedeutung ist.

Anschließend erläutere ich die Besonderheiten der Wahrnehmung bei Menschen mit geistiger Behinderung und gehe auf mögliche Wahrnehmungsstörungen bei diesem Personenkreis, im Einzelnen auf die Ursachen und Erscheinungsformen solcher Störungen, ein.

Nach diesem allgemeinen Überblick über geistige Behinderung und Wahrnehmungsstörungen folgt die Darstellung von Wahrnehmungsstörungen aus AFFOLTERs Sicht – im Einzelnen der Mangel an „gespürter Information“ und daraus entstehende Auffälligkeiten im Verhalten, die „Andersartigkeit“ der Entwicklung betroffener Kinder und die Beschreibung von Formen von Wahrnehmungsstörungen, wie AFFOLTER dies in ihren Forschungsarbeiten bei der Beobachtung auffälliger Kinder herausgearbeitet hat.

Nach der Erläuterung grundlegender Zusammenhänge im Bereich von Wahrnehmung und Wahrnehmungsstörungen komme ich im dritten Kapitel letztendlich zu AFFOLTERs Konzept der Wahrnehmungsförderung.

Einführend stelle ich kurz die Person Félicie AFFOLTER vor und zeige die Entstehung ihres Förderkonzepts im Laufe ihrer Forschungsarbeiten auf. Daneben gehe ich auf die Zielgruppe von Personen ein, für deren Förderung das Konzept von AFFOLTER besonders geeignet ist.

Anschließend gehe ich auf die allgemeinen Grundprinzipien des Konzepts ein, zeige die einzelnen Stufen des Lernprozesses beim Führen auf, sowie wichtige, beim Führen zu beachtende Grundregeln.

Zum Abschluss dieses Kapitels komme ich dann auf die Umsetzung der „gespürten Interaktion“ im Alltag zu sprechen und erläutere AFFOLTERs Ausführungen zur Anwendung ihres Konzepts im Rahmen von Therapiesituationen.

Das vierte Kapitel meiner Arbeit wird sich dann mit der Anwendung des AFFOLTER-Konzepts in der heilpädagogischen Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung beschäftigen.

Zunächst erläutere ich, in welchen Bereichen der Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung das Konzept von F. AFFOLTER angewendet wird, so zum Beispiel im Rahmen der Einzelförderung, aber auch im Alltag.

Zur Beurteilung der Anwendung von AFFOLTERs Konzept in der Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung stelle ich SPECKs (1999) Richtziele der heilpädagogischen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung vor. Danach werde ich aufzeigen, inwiefern diese Ziele durch Anwendung des AFFOLTER-Konzepts bei Menschen mit geistiger Behinderung zu erreichen sind.

Zum Abschluss meiner Arbeit folgt dann eine Reflexion des Konzepts der Wahrnehmungsförderung nach AFFOLTER, welche im Einzelnen Überlegungen zu AFFOLTERs Entwicklungstheorie, die genauere Betrachtung ihrer Sichtweise von Wahrnehmungsstörungen, eine kritische Bilanz des „Führens“ sowie letztendlich die Reflexion des Konzepts in Bezug auf die Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltet.

1. Grundlegendes zur Wahrnehmung

1.1 Was ist Wahrnehmung?

1.1.1 Allgemeine Überlegungen zur Wahrnehmung

Um sich mit Konzepten zur Wahrnehmungsförderung zu beschäftigen – in dieser Arbeit im Speziellen mit der Methode des Führens nach AFFOLTER – ist es zunächst notwendig, sich mit dem Begriff der Wahrnehmung im Allgemeinen zu auseinanderzusetzen.

Eine einheitliche Definition für den Begriff „Wahrnehmung“ zu finden, ist nicht einfach, da Wahrnehmung an sich ein äußerst komplexes Geschehen ist. Je nach den theoretischen Grundannahmen der jeweiligen Autoren bekommt dieser Begriff eine dementsprechend andere spezifische Bedeutung und inhaltliche Gewichtung, so ACKERMANN (vgl. 2001, 27).

Die unterschiedlichen Definitionen des Wahrnehmungsbegriffs haben noch weitere Gründe. So stellt ROHDE-KÖTTELWESCH, in Anlehnung an HOLZKAMP, fest, dass Wahrnehmung für den, der sich damit beschäftigen will, immer in doppelter, widersprüchlicher Weise zeigt; zum einen ist das Wahrnehmen ein selbstverständlicher Bestandteil des täglichen Lebens und zum anderen ist die Wahrnehmung durch die ständige Reflexion darüber für den Menschen höchst problematisch geworden (vgl. 1996, 11f.).

Aufgrund der Vielfalt von Definitionen zur Wahrnehmung stelle ich im Folgenden einzelne von mir ausgewählte Sichtweisen vor, die im Zusammenhang mit der späteren Reflexion von AFFOLTERs Wahrnehmungsbegriff sinnvoll sind.

Ein knappes und sehr vereinfachtes Verständnis von Wahrnehmung beschreiben TOBLER / FISCHER / MOHR: Aufnahme und Verarbeitung von Reizen, die über das Sinnessystem aufgenommen werden (vgl. 2000, 125). Diese Sichtweise ist jedoch nicht ausreichend, da der Prozess der Wahrnehmung viel umfangreicher ist. Im Allgemeinen denkt man beim Begriff „Wahrnehmung“ zunächst an die „fünf Sinne“ (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken), so MALL. Dies sei aber nur ein Teilaspekt des komplexen Wahrnehmungsvorgangs und dieser wäre so noch nicht vollständig, da es neben den fünf genannten Sinnessystemen noch weitere gäbe, wie z. B. den Gleichgewichts- oder den kinästhetischen Sinn. (vgl. 1997, 15f.)

Des Weiteren beschreibt diese Vorstellung lediglich diejenigen Sinnesorgane, welche bestimmte Reize aufnehmen und an das Nervensystem weiterleiten. Wahrnehmung ist jedoch weitaus mehr, nämlich ein „Prozeß, bei dem eine Vielzahl von Reizen von außen oder aus dem Körper entsprechend den eigenen Bedürfnissen verarbeitet, d.h. mit Sinn versehen werden.“ (Hervorhebung im Original; MALL 1997, 16)

Ähnlich sieht es FRÖHLICH: „Wahrnehmung ist die sinngebende Verarbeitung innerer und äußerer Reize unter Zuhilfenahme von Erfahrung und Lernen.“ (Hervorhebung im Original; 2005, 52)

Der Mediziner Andreas WARNKE sieht Wahrnehmung aus (neuro-) physiologischer Sicht als die „Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Sinnesreize (Empfindungen) in Informationen zu verwandeln und ins Bewusstsein zu führen, die über Zustände und Veränderungen des eigenen Organismus oder der Außenwelt Auskunft geben.“ (2000, 193) Weiter versteht er Wahrnehmung als eine „Teilleistung“, als ein Ergebnis einer spezifischen Hirnfunktion, die der Informationsverarbeitung dient (vgl. WARNKE 2000, 194).

Trotz seiner neurophysiologischen Sichtweise macht jedoch auch WARNKE klar, dass Wahrnehmen nicht nur das bloße Aufnehmen von Reizen und deren Verarbeitung im Gehirn ist. Das Vergleichen von Sinneseindrücken mit früheren Erfahrungen und das In-Beziehung-Setzen mit diesen Erfahrungen als psychische Leistung beim Wahrnehmungsvorgang muss ebenfalls berücksichtigt werden (vgl. 2000, 193).

Durch die Verknüpfung von Sinneseindrücken mit individuellen Erinnerungsbildern wird ein Gegenstand oder Zustand in der Außenwelt oder im eigenen Organismus im Bewusstsein erkannt, wird also wahrgenommen. (Hervorhebung von mir; vgl. WARNKE 2000, 194)

Die Unterscheidung zwischen Empfindung und Wahrnehmung als Prozess der Informationsverarbeitung wird zwar im Alltag nicht bewusst; bei Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung durch Wahrnehmungsstörungen rückt diese Unterscheidung jedoch sofort ins Blickfeld (vgl. WARNKE 2000, 193).

Ferner betont WARNKE, dass Wahrnehmung an sich keine abgeschlossene Fertigkeit ist, sondern immer Reifungs- und Lernvorgängen unterliegt. Erfahrungen und auch Lernprozesse beeinflussen die Wahrnehmung, da diese immer im Rückgriff auf bereits gemachte Erfahrungen stattfindet (vgl. 2000, 196).

FISCHER sieht Wahrnehmung, über die neurophysiologische Sichtweise hinausgehend, nicht nur als die Unterscheidung äußerer, formaler Reizmerkmale und Aktivierung sensomotorischer Funktionen. Denn menschliche Wahrnehmung lasse sich nicht auf eine nur reizmäßige Grundlage reduzieren, sondern sei gegenständlich und sinnerfüllt (vgl. 2002, 230). Wahrnehmung ist demnach zum einen sinngebende Verarbeitung von Reizen und Beziehungstiftung zwischen gegenständlicher und sozialer Wirklichkeit im Rahmen subjektiver Handlungs- und Erlebnisprozesse (ebenda). Zum anderen beinhaltet Wahrnehmung aber auch Prozesse des Aneignens und des Verstehens der in der Umwelt gegenständlich verkörperten Bedeutungen, sowie die Veränderung bereits erworbener Bedeutungszusammenhänge (vgl. FISCHER 2002, 230). Letztendlich ist Wahrnehmung ein „Prozeß, der ‚Neues’ und Unbekanntes in ‚Vertrautes’ umwandelt, um eine Orientierung in der Alltagswirklichkeit zu ermöglichen.“ (Hervorhebung von mir; FISCHER 2002, 230)

Nach FISCHER ist Wahrnehmung außerdem ein „notwendiger und integraler Bestandteil menschlichen Handelns“ als ein sinnhaftes, mit Bedeutungen durchsetztes Tun. (vgl. 2002, 130)

Da der Mensch, im Gegensatz zum Tier, ohne vorgegebene instinktive Verhaltensmuster geboren wird, muss er sich eigentätig mit der Welt auseinandersetzen und sich die soziale Wirklichkeit erschließen. In einem interpretativen Prozess werden den Informationen aus der Umwelt gewisse Bedeutungen zugewiesen, die immer in einer konkreten Situation subjektiv konstruiert werden. Diese Bedeutungszuweisung reicht von einfachen, einheitlichen Strukturen mit immer gleichen Handlungsabläufen (wie z. B. Verhaltensmuster beim Essen mit Besteck anzuwenden) bis hin zu sozialen Bezügen, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation und aktuellen Stimmungen, Bedürfnissen etc. immer wieder neu gestaltet und angepasst werden. (vgl. FISCHER 2002, 130)

Der Mensch erlernt im Laufe seiner Entwicklung immer mehr dieser Bedeutungsstrukturen und ist so in der Lage sich gegenüber Personen, sozialen Sachstrukturen etc. angemessen zu verhalten (vgl. FISCHER 2002, 134).

Bei dieser Aneignung von Bedeutungsstrukturen im Rahmen des Wahrnehmungsprozesses nimmt das Individuum jedoch nur das wahr, was es selbst handelnd erlebt und erfährt. Nur subjektiv sinnbringende Reize werden verarbeitet (ebenda).

Demnach beruht die Wahrnehmung bestimmter Objekte aus der Alltagswirklichkeit immer auf vielschichtigen individuellen Erfahrungen und Erlebnissen, die das Individuum im Laufe seines Lebens erfährt. Wahrnehmung ist in der Regel nicht das Ergebnis der Informationsvermittlung über die einzelnen Sinnesmodalitäten, sondern entsteht in einem konstruktiven Prozess auf Grundlage individueller abgespeicherter Vorerfahrungen (vgl. FISCHER 2002, 52). Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist bei jedem Menschen unterschiedlich; jeder konstruiert seine subjektive Wirklichkeit durch den handelnden Umgang mit der Umwelt und die Qualität an Begegnungen in dieser Umwelt. Wahrnehmung in diesem Sinne ist ein aktiver Aneignungsprozess, der von Individuum zu Individuum variiert (vgl. FISCHER 2002, 64f.).

Nach FISCHER ist die Fähigkeit, sich selbst und seine Umwelt wahrnehmen zu können, die „Grundlage für die Fortbewegung, für Handlungs- und Denkprozesse, für zwischenmenschliche Kontakte und Verständigung, für den Aufbau von Selbstbewußtsein und -vertrauen“. Gelungene Wahrnehmung ist somit eine notwendige Voraussetzung für die Lebensbewältigung in der sozialen und dinglichen Umwelt (vgl. 2002, 9).

Ebenfalls aus heilpädagogischer Perspektive sieht KOBI den Begriff der Wahrnehmung folgendermaßen: Wahrnehmung als ein „hochintegriertes Beziehungs gefüge“, welches die Basis für jede Art der Kooperation mit der Sachwelt und der Personwelt darstellt, darüber hinaus mit sich selbst und mit dem, was man jenseits der empfindungsgestützten Wahrnehmungswelt lediglich vermutet, aber dennoch als „wahr“ nimmt (Hervorhebung im Original; vgl. 2000, 23).

Wahrnehmung umfasst zum einen die physiologische und periphere Sinnestätigkeit sowie die zentrale Verarbeitung von Sinneseindrücken, zum anderen wird jedoch neben diesen Akten des Aufnehmens auch die psychische Verarbeitung – die Selektion, die Einordnung und Speicherung, Deutung und situative Wertung – miteinbezogen, so KOBI (vgl. 2000, 22).

Er bezeichnet das Wahrnehmungsgeschehen als „bipolare Einheit“ aus dem „Wahrnehmen der ‚Außen’welt“ und dem „Wahrnehmbarmachen der ‚Innen’welt“; es geht eben nicht nur um die Wahrnehmung der Umwelt, sondern in jedem Moment auch um die begleitende Selbstwahrnehmung – die „Eigenwahrnehmung des Wahrnehmenden im Akt der Wahrnehmung“ (vgl. KOBI 2000, 23). Nach KOBI vollzieht also weder das Sinnesorgan, das den Reiz aufnimmt, noch das Gehirn, welches diesen verarbeitet, den Wahrnehmungsakt, sondern die Person, welche diesen bewusst intendiert, sowie sich gleichzeitig in diesen von den jeweiligen inneren und äußeren Konstellationen mitbestimmten Akten realisiert (Hervorhebung im Original; vgl. 2000, 23f.).

„Reize werden aufgenommen – Bedeutungen gestiftet!“, so KOBI (2000, 25). Aus Chaos, der Fülle an Sinneseindrücken aus der Umgebung, konstruiert der Mensch durch personale und soziale Aktivität seine Welt (ebenda).

Dabei sind die modalitätsspezifischen Leistungen (Sehen, Hören, Tasten etc.) aus pädagogischer Sicht lediglich am Rande von Bedeutung im Sinne eines „pouvoir“, also der Fähigkeit durch reguläre instrumentelle Ausstattung wahrnehmen zu können. Zentrales pädagogisches Interesse ruht nach KOBI (vgl. 2000, 25) auf dem Wahrnehmen im Sinne eines „savoir“, der subjektiven Verfügbarkeit über das perzeptive Instrumentarium und auf dessen optimalem, situativen Einsatz.

Wahrnehmen aus der Sicht KOBIs ist also kein bloßes Abbilden der Umwelt, sondern eine aktive Tätigkeit: „Leben ist, bis in den Schlafzustand hinein, Aktivität.“ (2000, 24) Jedes äußerlich noch so „passiv“ erscheinende Aufnehmen von Sinneseindrücken ist aktives Geschehen (Hervorhebung von mir; ebenda).

1.1.2 AFFOLTERs Verständnis von Wahrnehmung

„Wir kommen in diese Welt. Wir erfahren, dass sie da ist – uns umgibt – eine Um-Welt ist! Diese Erfahrung beruht auf Wahrnehmung. Um wahrzunehmen, besitzen wir verschiedene Sinnesbereiche. Der wichtigste und zugleich komplexeste ist der taktil-kinästhetische oder das Spüren. Spüren bildet die Grundlage, um mit der Umwelt vertraut zu werden; dazu hören, riechen, sehen und schmecken wir.“

(Hervorhebungen von mir; AFFOLTER 1987, 17)

AFFOLTER versteht unter Wahrnehmung im weiteren Sinne das Aufnehmen von Reizen über die verschiedenen Sinnesbereiche, die den Menschen mit der Umwelt verbinden (vgl. 1987, 17).

Diese wahrgenommene Umwelt an sich ist jedoch noch nicht Wirklichkeit; erst das Wissen über Ursache-Wirkungszusammenhänge zwischen Umwelt und der Person lässt diese Umwelt zur Wirklichkeit werden. Damit dies möglich wird, benötigt man „Wahr-Nehmung im engeren Sinne“, so AFFOLTER (Hervorhebungen im Original; vgl. 1987, 17f.).

Betrachtet man das Wort „Wahr-Nehmung“ genauer, so findet sich darin der Begriff des „Nehmens“. Aus AFFOLTERs Sicht ist dieses „Nehmen“ notwendig, um etwas als „wahr“ zu erkennen. Da man nur etwas Wirkliches, etwas Dreidimensionales und Körperhaftes nehmen kann, etwas, das einem Widerstand entgegensetzt, gehören Wirklichkeit und Widerstand als wesentliche Bestandteile zur Wahrnehmung. (vgl. AFFOLTER / BISCHOFBERGER 1996, 77; AFFOLTER 1983, 298) „Nehmen“ bedeutet stets “Interaktion“, so AFFOLTER. Man könne nicht nehmen ohne zu berühren. Berühren kann man nur durch Veränderung der Beziehung zwischen sich und der Umwelt (vgl. AFFOLTER / BISCHOFBERGER 1996, 77). „Indem ich die Umwelt nehme und damit etwas bewirke, kann ich mich auf sie richten, ihrer gewahr werden. So erfahre ich, dass die Umwelt besteht – ich nehme sie wahr.“ (AFFOLTER 1987, 18)

Ein weiterer wichtiger Begriff AFFOLTERs in diesem Zusammenhang ist der Begriff des Widerstands. Versucht man einen Gegenstand zu nehmen, spürt man bis zur Berührung des Gegenstands keinen Widerstand. Im Augenblick der Berührung ändert sich „kein Widerstand“ jedoch zu „totalem Widerstand“. AFFOLTER spricht hier von „Ursache-Wirkungsbeziehungen“ oder kurz gesagt „Kausalitätsbezug“ (vgl. 1983, 298)

Als Ursache werden die Bewegungen bzw. Handlungen der Person bezeichnet, Wirkung ist dann der Widerstand. Durch den wahrgenommenen Widerstand zeigt sich, dass das „Nehmen“ erfolgreich war (ebenda). Die bei Handlungen und Widerstandsveränderungen entstehende Information ist taktil-kinästhetischer Art; über das taktil-kinästhetische System werden die für den Kausalitätsbezug wesentlichsten Informationen vermittelt. Im Hinblick auf die Wahrnehmung stellt dieses Sinnessystem demnach „die Grundlage affektiver und kognitiver Erfahrung“ dar (vgl. AFFOLTER 1983, 298).

Nach AFFOLTER ist die wichtigste Information beim Nehmen also das „Spüren“, welches eng mit dem Wirken des Menschen in seiner Umwelt und in der Wirklichkeit verbunden ist. Das Spüren müsse bei Überlegungen zum Berühren – Nehmen – Wirken, zu Welt – Umwelt – Wirklichkeit immer mit eingeschlossen werden (vgl. 1987, 18).

Da Wahrnehmung und Spüren so eng zusammen hängen, findet sich in AFFOLTERs Arbeiten seltener das Wort „Wahrnehmung“, sondern sie kommt in ihren Ausführungen immer wieder auf den Begriff des Spürens zurück (vgl. AFFOLTER / BISCHOFBERGER 1996, 77).

Nach AFFOLTER ist Wahrnehmung nicht direkt erfassbar, sondern nur indirekt z. B. durch Verhaltensbeobachtungen, wobei Veränderungen der Verhaltensweisen von Personen mit gleichzeitigen Veränderungen in der Umwelt in Zusammenhang gebracht werden. Wahrnehmung an sich lässt sich also nicht beobachten, sondern wird erst aus der Interaktion einer Person mit ihrer Umwelt ersichtlich (vgl. AFFOLTER / BISCHOFBERGER 1996, 77).

In AFFOLTERs Werk „Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache“ finden sich daher zahlreiche fotografische Darstellungen ihrer Beobachtungen. Auch in weiteren Veröffentlichungen sind Beispiele ihrer Verhaltensbeobachtungen enthalten, dort allerdings meist ersetzt durch detaillierte schriftlich erläuterte Beispiele. (vgl. u. a. AFFOLTER / BISCHOFBERGER 1993; AFFOLTER / BISCHOFBERGER 1996)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass AFFOLTER Wahrnehmung als einen „aktiven und konstruktiven Prozeß ansieht, welcher in die Interaktion und in die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt eingebunden und für den das In-Kontakt-Treten mit der Umgebung über das Spüren, über den taktil-kinästhetischen Sinn unabdingbar ist.“ (vgl. ACKERMANN 2001, 28)

1.1.3 Reflexion von AFFOLTERs Wahrnehmungsbegriff

Bringt man nun die im ersten Teil dieses Kapitels beschriebenen Sichtweisen von Wahrnehmung mit AFFOLTERs Wahrnehmungsbegriff in Verbindung, so finden sich viele Übereinstimmungen, allerdings auch einige Kritikpunkte. Daher werde ich im Folgenden AFFOLTERs Verständnis von Wahrnehmung auf Grundlage der vorgestellten Wahrnehmungsbegriffe kritisch hinterfragen.

Zunächst zu AFFOLTERs Verständnis von „Wahrnehmung im weiteren Sinne“. Hier findet sich eine deutliche Reduzierung des Wahrnehmungsprozesses auf die bloße Aufnahme und Verarbeitung von Reizen aus der Umwelt. Dies entspricht WARNKEs medizinischem Verständnis von Wahrnehmung und geht auf die grundlegende Funktion der Wahrnehmung zur Orientierung des Menschen in der Umwelt zurück. Beide – AFFOLTER und WARNKE – betonen jedoch, dass es keinesfalls genügt, Wahrnehmung nur auf diesen Prozess der Reizaufnahme und -verarbeitung zu reduzieren. (vgl. AFFOLTER 1987; WARNKE 2000)

Für gelungene Wahrnehmungsleistungen ist AFFOLTERs „Wahrnehmung im engeren Sinne“ von Bedeutung, also das erworbene Verständnis über Ursache-Wirkungszusammenhänge zwischen Person und Umwelt. Auch dieser Aspekt der Wahrnehmung findet sich bei WARNKEs medizinischem Wahrnehmungsbegriff in Gestalt der „Verknüpfung von Sinneseindrücken mit individuellen Erinnerungsbildern“ sowie Erfahrungs- und Lernprozessen, welche die individuelle Wahrnehmung entscheidend beeinflussen (vgl. 2000, 193ff.).

Noch deutlicher macht FISCHER diesen wichtigen Aspekt der Wahrnehmung. Er weist ausdrücklich auf die bereits erworbenen Bedeutungsstrukturen hin, welche dem Menschen dazu dienen sollen, sich in der Alltagswirklichkeit zu orientieren (vgl. 2002, 230).

Der Aspekt der erworbenen und abgespeicherten Erfahrungen wird in AFFOLTERs Wahrnehmungsverständnis allerdings größtenteils auf Erfahrungen des taktil-kinästhetischen Sinnesbereichs reduziert, da für sie das Spüren die wichtigste Sinnestätigkeit zur Interaktion mit der Umwelt ist. Die Bedeutung weiterer Sinne vernachlässigt sie in den meisten ihrer Ausführungen. ACKERMANN weist explizit auf die Vernachlässigung des vestibulären Sinnes hin, welches als das erste sensorische System gilt und somit eine koordinative Funktion für sämtliche über andere Sinne aufgenommenen Reize hat (vgl. 2001, 68).

Eine deutliche Vernachlässigung des Einflusses der sozialen Umgebung ist als besonders kritisch anzusehen. Denn dieser Punkt ist bei AFFOLTERs individuumszentrierter Sichtweise von Wahrnehmung und ebenso in ihren Vorstellungen zu Wahrnehmungsstörungen sowie der diesbezüglichen Förderung völlig unbeachtet geblieben, so ACKERMANN (vgl. 2001, 29). Wahrnehmung wird zwar als Interaktion zwischen Individuum und Umwelt gesehen, AFFOLTER unterscheidet jedoch bei ihrem Verständnis von „Interaktion mit der Umwelt“ nicht zwischen Interaktionen mit Gegenständen und Interaktionen mit Menschen. (vgl. ACKERMANN 2001, 72)

Vergleicht man KOBIs heilpädagogisches Verständnis von Wahrnehmung als aktive Tätigkeit der Aufnahme von Sinneseindrücken, so wird deutlich, dass AFFOLTERs Wahrnehmungsbegriff dieser Sichtweise sehr nahe kommt. Ihr besonderes Verständnis von Wahrnehmung als aktiver und konstruktiver Prozess, eingebunden in die Interaktion und Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt, wird allerdings durch die besondere Hervorhebung des taktil-kinästhetischen Sinnessystems ergänzt.

Somit kann AFFOLTERs Verständnis von Wahrnehmung im heilpädagogischen Zusammenhang als durchaus sinnvoll angesehen werden, wobei die Erkenntnis über die besondere Bedeutung des taktil-kinästhetischen Sinnessystems besonders positiv hervorzuheben ist. Lediglich die fehlende Differenzierung bei der Interaktion mit Gegenständen bzw. Personen, sowie mangelnder Bezug auf die Einflüsse der sozialen Umwelt sind kritisch zu sehen.

1.2 Neurophysiologische Grundlagen der Wahrnehmung

Ebenso wie Erkennen, Verhalten und emotionales Erleben ist Wahrnehmen eine Leistung des hochkomplexen menschlichen Zentralnervensystems. Das Gehirn als ein wichtiger Bestandteil des Zentralnervensystems (ZNS) nimmt hier eine gewisse Sonderstellung ein, da es sich hierbei im Grunde nicht um ein einzelnes Organ handelt, sondern um ein vernetztes Geflecht verschiedenster Module und Steuerungseinheiten, die auf unterschiedlichste Weise zusammen agieren können (vgl. HÜLSHOFF 2005, 13).

Im folgenden Kapitel werde ich sowohl den Aufbau des Zentralnervensystems – insbesondere auch des Gehirns mit seinen Teilkomponenten – als auch dessen Funktion bei der Aufnahme und Verarbeitung von Sinneseindrücken darstellen. Anschließend gehe ich auf die einzelnen Komponenten des Sinnessystems ein, wobei ich kurz auf den besonderen Zusammenhang zwischen taktiler und kinästhetischer Wahrnehmung hinweisen werde, da diese beiden Sinnessysteme in AFFOLTERs Konzept eine zentrale Rolle spielen.

Vorab ist es allerdings wichtig zu sagen, dass der Versuch, Wahrnehmung aus neurophysiologischer Sicht zu beschreiben keineswegs eine Reduktion menschlichen Verhaltens auf die bloße Funktion eines speziellen Organs darstellen soll (vgl. BÜKER 2005, 17). Wahrnehmung als komplexes Ereignis und Teil eines ganzheitlichen Geschehens ist u. a. abhängig von Gefühlen, augenblicklicher Befindlichkeit, sowie Erinnerungen und Vorwissen einer Person. Daher ist bereits die Reizaufnahme kein passiver Prozess, sondern die Ausfilterung eines Spektrums an in der jeweiligen Situation bedeutsamen Reizen durch die Sinnesorgane, welches dann auf sehr komplexe Weise weiterverarbeitet wird. (ebenda) „Reizaufnahme ist also schon in ihren ersten Schritten Deutung und keineswegs vorurteilsfrei aufgenommene Realität. (…) Was sich von der Umwelt letztendlich im Hirn repräsentiert, ist hochgradig vorverarbeitet, “ so BÜKER (2005, 17). Wahrnehmung stellt aus physiologischer Sicht einen komplexen Vorgang der elektrischen und chemischen Energieübertragung und -umwandlung dar, bei dem die Codierung der Informationen erst im Gehirn erfolgt: als psychischer Prozess der Sinnstiftung bzw. der Bedeutungszuweisung (vgl. FISCHER 2002, 18).

Um die Verarbeitung der Reizinformationen im Gehirn sowie dessen Anpassung des menschlichen Verhaltens an die Umwelt verstehen zu können, ist ein Grundwissen über Aufbau und Funktion des Nervensystems nötig (vgl. BÜKER 2005, 17). Außerdem soll diese Darstellung der falschen Vorstellung entgegen wirken, dass die Sinnesorgane im Kopf ein verkleinertes, aber objektives Abbild der Umwelt liefern, indem jede Rezeptorzelle über eine Nervenzelle mit bestimmten Zellen im ZNS verbunden ist (vgl. FISCHER 2002, 18).

1.2.1 Aufbau des Zentralnervensystems

Wie bereits erwähnt, werde ich nun den Aufbau des (Zentral-)Nervensystems vorstellen – zunächst ein Überblick über die Struktur (vgl. FISCHER 2002, 25):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das menschliche Nervensystem setzt sich zusammen aus dem Zentralnervensystem, welches aus Gehirn und Rückenmark besteht, sowie aus dem peripheren Nervensystem, welches das somatische und das vegetative Nervensystem beinhaltet. Das somatische Nervensystem ist für die Versorgung von Skelettmuskeln und Sinnesorganen zuständig, während das vegetative Nervensystem die Verbindungen zu den inneren Organen herstellt (Hervorhebungen von mir; vgl. FISCHER 2002, 24f.). Afferente (aufsteigende) Nervenbahnen, welche sich innerhalb der Wirbelsäule befinden, leiten Informationen von den inneren Organen zum ZNS; efferente (absteigende) Nervenbahnen, außerhalb des ZNS in den vegetativen Ganglien gelegen, erhalten ihre Befehle vom ZNS. Der efferente Teil des vegetativen Nervensystems besteht aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus, welche gemeinsam für die Zusammenarbeit der inneren Organe sorgen und sich den wechselnden Belastungen des Organismus anpassen (vgl. FISCHER 2002, 25).

Das Rückenmark als ein Teil des ZNS stellt die Verbindung zwischen Gehirn und Körperperipherie her, indem es alle sensorischen Informationen über Haut und Muskeln durch die afferenten Nervenbahnen zum Gehirn weiterleitet und die „Antworten des Gehirns“ in Form motorischer Reaktionen über die efferenten Nervenfasern wieder an die Peripherie zurücksendet (Hervorhebung von mir; vgl. BÜKER 2005, 18).

Das Gehirn als das komplexeste menschliche Organ setzt sich aus unterschiedlichen Hirnarealen zusammen, welche netzartig miteinander verbunden sind und deren Wirkungen sich wechselseitig beeinflussen (Hervorhebung von mir; vgl. HÜLSHOFF 2005, 26). Es wird von mehreren schützenden Hüllen umgeben und verfügt beim Menschen über ca. 13 Milliarden Nervenzellen (vgl. FISCHER 2002, 26).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Leicht verändert; vgl. GEGENFURTNER 2003, 129)

Wie aus der Grafik ersichtlich wird, sind die unterschiedlichen Bestandteile des menschlichen Gehirns im Einzelnen das Großhirn (bestehend aus den beiden Großhirnhemisphären), das Zwischenhirn mit Thalamus und Hypothalamus, der Hirnstamm, welcher sich aus der Medulla (verlängertes Rückenmark), der Pons (Brücke) und dem Mittelhirn zusammensetzt, sowie das Kleinhirn. Zwischen Großhirn und Zwischenhirn befindet sich das so genannte limbische System, welches als komplexes Netzwerk von Hirnstrukturen Informationen aus nahezu allen Sinnessystemen enthält. (Hervorhebungen von mir; vgl. BÜKER 2005; GEGENFURTNER 2003, 11ff.)

Aus Sicht der Gehirnevolution ist das Großhirn das jüngste System; die Großhirnrinde, eine stark gefaltete dünne Schicht aus Nervengewebe, besteht aus zwei Hirnlappen – der linken und der rechten Hemisphäre, welche über den Balken miteinander verbunden sind. Die Bindung bestimmter Verhaltensweisen an jeweils eine der beiden Hemisphären nennt sich Lateralisierung (Hervorhebung von mir; vgl. BÜKER 2005, 24). Neuesten Untersuchungen zufolge ist die funktionelle Spezialisierung bestimmter Großhirnareale jedoch keinesfalls ein fixer Zustand, sondern – gebunden an einen gewissen Grundbauplan – auch abhängig von der speziellen Entwicklungsgeschichte des Individuums, so BÜKER (vgl. 2005, 25). So hängt die endgültige Größe der einzelnen Areale stark von der Intensität der Nutzung ihrer Funktionen ab (ebenda).

Das Zwischenhirn ist eine wichtige Verbindung zwischen Großhirn und Hirnstamm. Seine beiden Teilkomponenten – Thalamus und Hypothalamus – haben völlig unterschiedliche Funktionen.

Der Thalamus ist eine wichtige Zwischenstation für fast alle Sinnesreize (mit Ausnahme des Geruchssinns) und dient als „Organ der Vororientierung“, welches noch unverarbeitete Sinneseindrücke zwischen den sensorischen Nervenbahnen und der Großhirnrinde vermittelt. (Hervorhebungen von mir; vgl. BÜKER 2005, 21; GEGENFURTNER 2003, 12f.)

Der Hypothalamus hingegen steuert über Nervenimpulse und Hormone das vegetative Nervensystem. Er ist dem limbischen System untergeordnet und überwacht u. a. Körpertemperatur, Hunger- und Durstgefühl, löst dazugehörige Verhaltensweisen aus und beeinflusst besonders emotionale Zustände. Ferner ist der Hypothalamus für die Verarbeitung von Geruchswahrnehmungen zuständig; der Geruchsinn beeinflusst sowohl emotionale als auch vegetative Prozesse. (Hervorhebung von mir; vgl. BÜKER 2005, 21; FISCHER 2002, 29)

Das limbische System, die Grenzregion zwischen Großhirn und Zwischenhirn, steuert sowohl die vegetative Komponente der Sinneswahrnehmungen (z. B. Atmung, Kreislauf oder auch die Sexualität), sowie auch die emotionale Komponente wie z. B. emotional-affektive Stimmungen (Zorn, Ärger, etc.) und die sie begleitenden Verhaltensweisen (Hervorhebung von mir; vgl. BÜKER 2005, 22).

Im Hirnstamm, dem stammesgeschichtlich ältesten Teil des menschlichen Gehirns, kommen alle eingehenden Reizinformationen zusammen und werden dort größtenteils bereits vorverarbeitet (Hervorhebung vom mir; vgl. BÜKER 2005, 18). Die Medulla stellt die Verbindung zwischen Gehirn und Rückenmark dar, hier gehen sämtliche Nervenfasern überkreuzt ins Rückenmark über. Dies ist der Grund dafür, dass jede Hemisphäre die jeweils gegenüberliegende Körperhälfte kontrolliert. In der Medulla findet die erstmalige Auswertung der Impulse des Gleichgewichtsorgans statt, sowie zentralnervöse Verschaltungen des Vestibularnervs zur Muskulatur. Die so genannte Pons stellt die Verbindung zum Mittelhirn her und dient als Nervenverbindung zwischen Großhirnrinde und Kleinhirn (Hervorhebungen von mir; vgl. BÜKER 2005, 18f.). Das Mittelhirn als eine wichtige Schaltstelle für sensomotorische und vegetative Funktionen übermittelt u. a. von den Sinnesorganen ausgehende Reflexe wie Hörimpulse oder kinästhetische Reize und koordiniert in den Mittelhirnkernen die Aktivität höherer Zentren mit den nachgeordneten Schaltstationen (Hervorhebung von mir; vgl. BÜKER 2005, 19).

Das Kleinhirn ist das zentrale Steuerorgan für die harmonische und flüssige Koordination von Bewegungen, so BÜKER. Es funktioniert wie eine Art Filter, welcher Muskelaktivitäten glättet und koordiniert (Hervorhebung von mir; vgl. 2005, 22). Einmal gelernte Bewegungsabläufe wie z. B. beim Tanzen oder Autofahren werden im Kleinhirn abgespeichert und stehen bei Bedarf automatisch zur Verfügung. HÜLSHOFF bezeichnet das Kleinhirn daher auch als „Autopilot“ des motorischen Systems (vgl. 2005, 23). Alle Meldungen von und zu den motorischen Regionen der Großhirnrinde werden an das Kleinhirn gesendet, zusätzlich empfängt es Informationen aus den Sinnesorganen über die derzeitige Stellung des Körpers im Raum, die Lage der Körperteile zueinander und aktuelle Bewegungsabläufe (vgl. FISCHER 2002, 29).

Nach der Vorstellung der einzelnen Bestandteile des menschlichen Nervensystems vorgestellt habe, komme ich im Folgenden zur Darstellung der Prozesse der Reizaufnahme und -verarbeitung bei der Wahrnehmung.

1.2.2 Reizübertragung und Reizverarbeitung

Bevor ich auf die Vorgänge der Reizübertragung und der Reizverarbeitung eingehe, zunächst zum Aufbau der Nervenzellen. Nervenzellen, so genannte Neurone, sind für die eigentliche Informationsübertragung zwischen den verschiedenen Teilen des Gehirns und auch innerhalb deren einzelnen Regionen zuständig (vgl. GEGENFURTNER 2003, 15).

Sie sind in ihrem Äußeren sehr unterschiedlich, besitzen jedoch meist eine gewisse Grundstruktur, wie aus der folgenden Abbildung ersichtlich wird (leicht verändert; vgl. GEGENFURTNER 2003, 17):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein Neuron besteht demnach wie jede Zelle aus Zellkörper und Zellkern, aus den Dendriten (= kurzen sich zum Zellkörper hin verdickenden „Kabeln“ mit einer Vielzahl von Verästelungen) sowie aus dem Axon, welches am Axonhügel an der Zelle ansetzt und diese mit anderen Neuronen, den Muskeln etc. verbindet. Das Axon ist von Gliazellen (markhaltigen Stützzellen) umwickelt, welche es zum einen mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen, zum anderen vor giftigen Substanzen schützen sowie die Erregungsweiterleitung verbessern. Das Ende eines Axons, die prä-synaptische Endigung ist durch den synaptischen Spalt vom dendritischen Ende der nächsten Nervenzelle, dem post-synaptischen Dendrit getrennt. Diese drei Strukturen bilden die Synapse, die Verbindungsstelle zwischen zwei Nervenzellen (Hervorhebungen von mir; vgl. GEGENFURTNER 2003, 15f.; HÜLSHOFF 2005, 16).

Das menschliche Nervensystem besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen, von welchen jede bis zu 10.000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen eingehen kann. Diese Nervenzellen sind auf unterschiedlichste Weise miteinander verschaltet; zum einen gibt es monosynaptische Verschaltungen zwischen zwei Neuronen, aber auch Zusammenschaltung unzähliger Neuronen sowie so genannte „Interneuronen“, die zur Differenzierung der Reizanalyse und für zielgerichtete, feinmotorische Aktionen des Individuums „dazwischen geschaltet“ sind (vgl. HÜLSHOFF 2005, 18f.). Zwischen den Neuronen gibt es enorme Unterschiede, vor allem in den Verästelungen ihrer Dendriten oder bei der Länge der Axone; die Axone von Motoneuronen, welche Signale an die Muskeln senden, sind z. B. sehr lang, im Gegensatz zu den sehr kurzen Axonen von Interneuronen, welche benachbarte Neuronen im Gehirn verbinden (vgl. GEGENFURTNER 2003, 16).

Hauptaufgabe eines Neurons ist der Empfang, die Verarbeitung und die Weiterleitung von bioelektrischen Informationen. Dies sei vergleichbar mit einem Mikroprozessor, so HÜLSHOFF. Allerdings spielen im Gehirn auch chemische Vorgänge eine wesentliche Rolle bei der Informationsverarbeitung (2005, 15).

Wie funktioniert nun diese Informationsverarbeitung?

Voraussetzung für die bioelektrische Aktivität sind sowohl positiv als auch negativ geladene Ionen. Nervenzelle und Axon enthalten im Ruhezustand negativ geladene Ionen im Überschuss, sind negativ geladen – im Gegensatz zu ihrer Umgebung, dem positiv geladenen exzellulären Raum. Die Membran des Axons teilt Axon-Innenraum und Exzellularraum voneinander ab, positiv und negativ geladene Ionen bleiben getrennt (vgl. HÜLSHOFF 2005, 15). Kommt es jedoch zu einer bioelektrischen Erregung am Axonhügel, so wird die Membran kurzfristig durchlässig, indem sich ihre „Ionenkanäle“ für positiv geladene Ionen öffnen. Diese strömen ins Axon, die Spannungsverhältnisse ändern sich und es wird ein Erregungspotential von bis zu 30 Millivolt aufgebaut. Diese veränderten Spannungsverhältnisse führen gleichzeitig dazu, dass die offenen Ionenkanäle geschlossen werden und sich andere Kanäle für negativ geladene Ionen öffnen, um das Ruhepotential oder sogar einen noch negativeren Wert zu erreichen. (vgl. GEGENFURTNER 2003, 17f.; HÜLSHOFF 2005, 15f.)

Durch diesen Prozess, dem so genannten Aktionspotential, kommt es an benachbarten Stellen ebenfalls zur Öffnung der Ionenkanäle und zur Änderung der Spannungsverhältnisse. Das Aktionspotential wird auf diese Weise über das ganze Axon bis hin zur Synapse weitergeleitet (Hervorhebung von mir; ebenda). An der Synapse erfolgt die Weiterleitung des elektrischen Signals auf biochemische Weise: die am Axonende eintreffende Erregung führt dazu, dass kleine Bläschen (Vesikel) kurzfristig mit der Membran verschmelzen; die in den Bläschen enthaltenen Botenstoffe – so genannte Neurotransmitter – diffundieren dann in den synaptischen Spalt und gelangen so an Empfängerstrukturen in der dendritischen Membran des anderen Neurons (vgl. HÜLSHOFF 2005, 16). Die Neurotransmitter docken nun an den für sie vorgesehenen Rezeptoren an und verändern so die Membranstruktur des weiteren Neurons, wodurch sich hier wiederum ein bioelektrisches Signal aufbaut, das zum Axonhügel weitergeleitet wird (ebenda). Die Wiederholung dieses Prozesses stellt die Weiterleitung der Reize an das Gehirn dar.

[...]

Ende der Leseprobe aus 129 Seiten

Details

Titel
Wahrnehmungsförderung nach Félicié Affolter aus heilpädagogischer Sicht
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Sonderpädagogik)
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
129
Katalognummer
V75816
ISBN (eBook)
9783638722476
ISBN (Buch)
9783638729239
Dateigröße
2970 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrnehmungsförderung, Félicié, Affolter, Sicht
Arbeit zitieren
Nina Friedlein (Autor:in), 2006, Wahrnehmungsförderung nach Félicié Affolter aus heilpädagogischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75816

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