Die Große Pest von London im Jahre 1665


Magisterarbeit, 2003

119 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

TEIL I: Das Wachstum Londons im 16. und 17. Jahrhundert
1. Das Wachstum Londons im 16./17. Jahrhundert
1.1. Die Einwohnerzahlen gesamt Londons
1.2. Die Einwohnerzahlen der einzelnen Stadtgebiete Londons
1.3. Das topografische Wachstum Londons
1.4. Die Besiedlungsgeschichte Londons im 16./17. Jahrhundert
1.5. Immigration
2. Die soziale Topografie Londons im 16./17. Jahrhundert
2.1. Die soziale Heterogenität Londons
2.2. Ursachen
2.3. Soziale Unterschiede innerhalb der Gemeinden
3. Probleme der wachsenden Metropole
3.1. Wilder Hausbau
3.2. Überbevölkerung
3.3. Armut
3.4. Mangelhafte hygienische Verhältnisse
3.5. Schlechte medizinische Versorgung
3.6. Zustand in den Vororten
4. Die Häuser Londons im 16./17. Jahrhundert
4.1. Größe und Aufbau der Häuser
4.2. Verwendete Materialien und Bauweise der Häuser
5. Zusammenfassung

TEIL II: Die Große Pest von London im Jahr 1665
1. Die Pest im Allgemeinen
1.1. Das Krankheitsbild der Pest
1.2. Übertragungswege der Pest
1.3. Die Ratte als Überträger der Pest
2. Die Große Pest von London 1665
2.1. Große Pest?
2.2. Der chronologische Verlauf der Großen Pest
2.3. Der topografische Verlauf der Großen Pest
2.4. Die Bills of Mortality und die Zahl der Todesopfer
2.4.1. Probleme bei der Datensammlung mit Hilfe der Bills of Mortality
2.4.2. Die Zahl der Todesopfer im Vergleich
2.5. Vermutete Ursachen der Großen Pest
2.5.1. Gottes Strafe, astrologische Erscheinungen und das Wetter
2.5.2. "The Poore's Plague"

TEIL III: Der Zusammenhang zwischen Wohnverhältnissen und der Peststerblichkeit während der Großen Pest in London 1665
1. Quantitative Analyse
1.1. Vorüberlegungen
1.2. Vorgehensweise
1.2.1. Analyseverfahren
1.2.2. Variablenbildung
1.3. Quellen
1.4. Analyse und Interpretation
1.5. Quantitative vs. qualitative Verfahren
2. Qualitative Analyse: Einzelfallstudien
2.1. Die Stichprobenziehung
2.2. Quellen
2.3. Analyse und Interpretation
2.3.1. City -Gemeinden (Innenstadtkern)
2.3.2. City -Gemeinden (Stadtmauer/Themse-Ufer)
2.3.3. Liberties
2.3.4. Vororte in Middlesex
2.3.5. Westminster

Schlusswort

ANHANG

Bibliografie

Einleitung

After all my Inquiries & Observations, I can learne little, But that it seises upon people strangely, & handles them variously. Some are affected in one manner, & and some another, & some are smitten that stir not half so much abroad as I.

(Simon Patrick, zitiert nach Champion 1995: 4)

Simon Patrick, Londoner Bürger des 17. Jahrhunderts, war nur einer von zahlreichen Zeitgenossen, die die Ursache der Großen Pest zu ergründen versuchten. Für viele galt die Epidemie, der im Jahre 1665 fast ein Fünftel der Londoner Bevölkerung zum Opfer fiel, als Mysterium, da sie die Menschen unvorhergesehen und ohne bestimmte Gesetzmäßigkeit zu treffen schien. Thomas Vincent, Prediger und Autor des Buches God's terrible voice in the City (1667) hatte festgestellt, dass "it infecteth not only those of which are weak, and infirm in body, and full of ill humors, but also those which are young, strong, healthful, and of the best temperature. [...] It kills suddenly; as it gives no warning before it comes, suddenly the arrow is shot which woundeth unto the heart" (zitiert nach Backscheider 1992: 212).

Dass die Pest die Menschen nicht in gleichem Maße traf, sahen die meisten Menschen jener Zeit in den unterschiedlichen Lebens- und Wohnverhältnissen der Londoner Bewohner begründet. Als sich die Justices of the Peace von Middlesex im Jahre 1666 trafen, um den Erfolg der von der Stadtverwaltung eingesetzten Mittel zur Bekämpfung der Großen Pest im Vorjahr zu diskutieren, gaben sie bekannt, dass hauptsächlich the receaving harbouring and placeing of inmates & understitters in houses and cellars, and [...] erecting of new-buildings, and [...] divideing & parcelling out the said buildings & other houses into severall petty tenements & habitacions, and pestering & filling the same with inmates & idle & loose persons (zitiert nach Champion 1995: 1) für den Ausbruch der Epidemie verantwortlich waren.

Auch im Zuge der zunehmenden wissenschaftlichen Erforschung der Pest seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Annahme geäußert. So nannte Prus in seinem "Rapport à l'Académie Royale de Médecine sur la peste et les quarantaines" (1846) vor allem das Wohnen in überschwemmungsgefährdeten Gebieten oder auf angeschwemmtem oder morastigem Boden, Ansammlungen von tierischen und pflanzlichen Überresten, unzureichende Ernährung und mangelnde persönliche Hygiene als Ursachen der Krankheit (Hirst 1953: 289). Jedoch wurde diese Theorie 33 Jahre später von Payne und Radcliffe verworfen, da sie feststellten, dass "[p]overty, filth, over­crowding and marsh soil [...] occur in many parts of the world where the disease has never been heard of or has ceased to exist" (Hirst 1953: 290).

Auch hinsichtlich der Großen Pest ist bis heute nicht wirklich bekannt, ob tatsächlich ein Zusammenhang zwischen bestimmten Wohnverhältnissen und einer erhöhten Infektionsgefahr durch die Pest besteht. Zwar sieht es ein Großteil der Autoren als Tatsache an, dass unterschiedliche Lebensbedingungen einen Einfluss auf die Peststerblichkeit hatten. Allerdings liegen diese Aussagen hauptsächlich auf Vermutungen und vagen Überlieferungen begründet.

Bis heute wurden kaum Untersuchungen angestrengt, die den möglichen Zusammenhang zwischen bestimmten Wohnverhältnissen und einer erhöhten Infektionsgefahr durch die Pest wissenschaftlich zu analysieren versuchten. Soweit bekannt, nahm sich bis heute nur Justin Champion dieser Thematik an. Sowowhl in seinem Aufsatz "Epidemics and the built environment in 1665" (1993) wie auch in dem Buch London's dreaded visitation: The social geography of the Great Plague in 1665 (1995) versuchte er vor allem, einen möglichen Zusammenhang zwischen den Wohnverhältnissen armer Menschen und dem Auftreten der Krankheit herzustellen. Da Champion im ersten Fall jedoch nur eine Beispielgemeinde (St. Dunstan in the West) zur Analyse heranzog, können diese Ergebnisse nicht als repräsentativ gewertet werden. Die Kritik hinsichtlich des Buches ist, dass Champion darin nur quantitative Analysen durchgeführt hat, die Zusammenhänge also zahlenmäßig zu belegen versuchte. Jedoch erscheint es ratsam, vor allem bei Untersuchungen soziologischer Zusammenhänge, d.h. Zusammenhängen, in denen das Wirken des Menschen eine Rolle spielt, auch qualitative Analysen durchzuführen.

Aus diesem Grund soll diese Arbeit versuchen, den möglichen Zusammenhang zwischen den Wohnverhältnissen der Londoner Bewohner im 17. Jahrhundert und der Peststerblichkeit während der Großen Pest 1665 nicht nur mit Hilfe einer quantitativen Analyse, sondern vor allem auch mit Hilfe qualitativer Fallstudien einzelner Beispielgemeinden herzustellen. Dabei soll auch hier besonders auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen in Abhängigkeit vom Wohlstandsniveau der Menschen eingegangen werden. Es soll demnach die Frage beantwortet werden, ob das Wohlstandsniveau einer Gemeinde Einfluss auf die Peststerblichkeit der in diesem Viertel lebenden Menschen hatte und ob dies in deren unterschiedlichen Wohnverhältnissen begründet lag.

Dieser Zusammenhang ist vor allem unter dem Aspekt interessant, dass sich Unterschiede im sozialen Status der Londoner Gemeinden und den unterschiedlichen Lebensbedingungen erst im Verlauf des 16./17. Jahrhunderts herauszubilden begannen. Denn in dieser Zeit erfuhr Englands Hauptstadt einen vorher nicht gekannten Bevölkerungszuwachs, der nicht nur den Übergang der Stadt von einer ländlichen Kleinstadt zu einer vorindustriellen Metropole, sondern auch die Herausbildung einer distinkten sozialen Topografie bewirkte. Denn im Gegensatz zum Mittelalter lebten nun nicht mehr Menschen der gleichen Profession in einem Stadtviertel zusammen, sondern Menschen des gleichen Wohlstands.

Aus diesem Grund soll im ersten Teil dieser Arbeit das Wachstum Londons im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts und die daraus resultierende soziale Heterogenität der verschiedenen Stadtgebiete erläutert werden. Zudem sollen aus der Expansion Londons erwachsende Probleme wie wilder Hausbau, Überbevölkerung oder mangelhafte hygienische Verhältnisse analysiert werden. Diese dienen vor allem dazu, die unterschiedlichen Wohnverhältnisse der Menschen in den verschiedenen Stadtgebieten widerzuspiegeln.

Im Anschluss daran soll im zweiten Teil der Arbeit näher auf die Große Pest von 1665 eingegangen werden, um ein besseres Grundverständnis über die Epidemie zu erlangen. Besonderes Augenmerk soll dabei auf den chronologischen und topografischen Verlauf, die Zahl der Todesopfer und die vermuteten Ursachen der Großen Pest gelegt werden.

Im dritten Teil soll schließlich mit Hilfe dieser Vorkenntnisse analysiert werden, ob tatsächlich ein Zusammenhang zwischen den Wohnverhältnissen der Menschen, ausgedrückt in deren sozialem Status, und der Peststerblichkeit besteht. Dazu sollen sowohl eine quantitative Analyse aller Londoner Gemeinden des Jahres 1665 als auch eine qualitative Analyse anhand von elf Beispielgemeinden durchgeführt werden. Die Gemeinden südlich der Themse, also St. Saviour Southwark, St. Olave Southwark, St. Thomas Southwark, St. George Southwark, St. Magdalen Bermondsey, St. Mary Newington, Lambeth und Rotherhithe werden bei der Untersuchung jedoch ausgelassen. Da diese Stadtteile durch die Themse örtlich vom Rest Londons getrennt waren, kann nicht ausgeschlossen werden, dass hier andere Einflüsse auf die Peststerblichkeit wirkten als in den Stadtgebieten nördlich der Themse. In den Teilen I und II der Arbeit sind die Gemeinden Süd-Londons der Vollständigkeit halber jedoch mit aufgeführt.

Teil I. Das Wachstum Londons im 16. und 17. Jahrhundert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Londoner City mit der London Bridge zu Beginn des 17. Jahrhunderts

Visscher: Map of London 1620. Abgedruckt in Hart, Roger 1970.

1. Das Wachstum Londons im 16./17. Jahrhundert

1.1. Die Einwohnerzahlen gesamt Londons

That London, the metropolis of England, is perhaps a head too big for the body, and possibly too strong. That this head grows three times as fast as the body unto which it belongs; that it doubles its people in a third part of time. That our parishes are now grown madly disproportionable. [...] That the trade, and very City of London, removes westwards. That the walled city is but a fifth of the whole pyle. That the old streets are unfit for the present frequency of coaches.

(Graunt 1676: Epistle)

Der Zustand, den John Graunt hier schildert, bezieht sich auf eine Zeit, in der sich nicht nur das Bild Londons, sondern auch seine soziale Beschaffenheit stark zu ändern begann. Im Jahre 1665, als Graunt seine statistischen Ergebnisse auf einem Treffen des Council of the Royal Society vortrug, war Englands Hauptstadt längst ihren Stadtmauern entwachsen und glich kaum noch der mittelalterlichen und provinziellen Stadt der früheren Jahrhunderte. "Where once there had been sheds or shops, in one of which an old woman used to sell 'seeds, roots and herbs' [Stow 1603], there were now houses 'largely built on both side outward, and also upward, some three, four or five stories high' [Stow 1603]" (Ackroyd 2000: 99).

London wuchs in Dimensionen, die zur damaligen Zeit besorgniserregend waren, auch wenn die Stadt im 17. Jahrhundert nur einen kleinen Teil der heutigen Fläche ausmachte. Innerhalb eines Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerung in etwa verdreifacht, was London im Jahre 1700 zur viertgrößten Stadt der Welt machte (nur Konstantinopel, Neapel und Paris waren größer). 100 Jahre vorher hatte es noch Platz 16 belegt. Im Jahre 1750 war es bereits die größte Stadt Europas und lag weltweit auf dem zweiten Rang hinter Peking (Chandler/Fox 1974: 18, 319-321). Keine andere europäische Stadt hatte damals solch ein starkes Wachstum zu verzeichnen (Finlay/Shearer 1986: 36).

Auch innerhalb von England war Londons Wachstum beispielhaft, denn Londons Bevölkerung wuchs um ein Vielfaches stärker als die des restlichen Landes. So kann man in Tabelle 1 erkennen, dass die Einwohnerzahl Londons zwischen 1600 und 1650 einen 88 prozentigen Anstieg zu verzeichnen hatte, während die Bevölkerung Englands (ohne London) in dieser Zeit im Schnitt nur um 29,5 Prozent wuchs. Zwar hatte London nach 1650 ein geringeres Bevölkerungswachstum als in den Jahrzehnten zuvor zu verzeichnen, die Einwohnerzahl nahm trotzdem weiter zu. Im Gegensatz dazu ging die Bevölkerung Englands seit Mitte des 17. Jahrhunderts wieder zurück.

Tabelle 1. Die Bevölkerung Londons und Englands, 1550-1700 (in Tausend)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Finlay/Shearer 1986: 39

Aus Tabelle 1 wird zudem ersichtlich, dass der Anteil der Londoner Einwohner an der Gesamtbevölkerung Englands im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer weiter zunahm. Um 1600 lebte noch jeder zwanzigste Engländer in London, 1700 war es bereits fast jeder zehnte[1].

1.2. Die Einwohnerzahlen der einzelnen Stadtgebiete Londons

Bereits in der Literatur finden sich Hinweise darauf, dass die Besiedlung Londons im 16./17. Jahrhundert nicht gleichmäßig vonstatten ging, sondern dass vor allem die Gebiete außerhalb der Stadtmauern hohe Bevölkerungszuwächse zu verzeichnen hatten. Finlay und Shearer (1986: 45) zufolge, hatte die Einwohnerzahl der Randgebiete die der Gemeinden innerhalb und unmittelbar hinter der Stadtmauer innerhalb von 120 Jahren um ein Vielfaches überstiegen: Während in den Gemeinden in und um die Stadtmauer im Jahre 1560 noch drei Viertel der Gesamtbevölkerung Londons lebten und nur ein Viertel in den Vororten, zeigte sich die Situation um 1680 gegensätzlich: ein Viertel der Einwohner lebte nun in den Gemeinden in und nahe der Stadtmauer und drei Viertel in den Vororten (Finlay/Shearer 1986: 45). Diese Entwicklungen sind auch detailliert in Tabelle 2 und in Bild 1 erkennbar.

Tabelle 2. Bevölkerungswachstum der einzelnen Londoner Stadtgebieten, 1560-1680

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Die Angaben zu den absoluten Einwohnerzahlen Londons stammen von Finlay/Shearer 1986: 45

Bild 1. Bevölkerungswachstum in den einzelnen Londoner Stadtgebieten, 1560-1680

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Man erkennt darin, dass die Bevölkerung der City und Liberties zwischen 1560 und 1680 etwa um das 1,3 fache gewachsen ist, wobei das Große Feuer von 1666 sicher einen Teil zu der verhältnismäßig kleinen Wachstumsrate beigetragen hat. Im Vergleich dazu nahm die Bevölkerung in den Vororten jedoch um ein Vielfaches mehr zu: im Osten, Norden und Westen sogar um durchschnittlich das 13 fache. Mit einer 6,5 fachen Bevölkerungszunahme ging das Wachstum südlich der Themse zwar langsamer als in den anderen Randgebieten vonstatten, sie überstieg die Wachstumsrate der City und Liberties jedoch um ein Vielfaches. Insgesamt gesehen nahmen die östlichen Gebiete zwischen 1560 und 1680 die meisten Menschen auf (130.000), die geringste Bevölkerungszunahme hatte der Norden zu verzeichnen (60.000).

Die Vororte waren zwar alle von einem starken Bevölkerungswachstum gekennzeichnet, bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch chronologische Unterschiede. Es wird vor allem ersichtlich, dass zu Beginn der Einwanderungswelle vor allem die nördlichen Gemeinden eine starke Bevölkerungszunahme zu verzeichnen hatten. Seit 1600 wurden hingegen zunehmend die östlichen und westlichen Gebiete besiedelt. Seit 1640 ging die Wachstumsrate zwar in allen Londoner Gebieten zurück, in den westlichen Gemeinden war sie in dieser Zeit jedoch am höchsten.

Warum vor allem die Vororte so stark besiedelt wurden, begründet sich größtenteils im Platzmangel der Londoner City. Denn diese bot aufgrund einer bereits sehr engen Bebaungen kaum noch Platz für Neuankömmlinge (Finlay/Shearer 1986: 52). Man versuchte zunächst, bereits existierende Herrenhäuser in mehrere Wohneinheiten aufzuteilen, dazugehörige Gärten zu bebauen oder große Wirtshäuser und Gasthöfe, aber auch Back- und Brauhäuser in Unterkünfte umzubauen (Graunt 1676: 73; Boulton 1987: 173-174; Schofield 1984: 144) oder mitunter sogar Keller oder Dachböden als Quartier zu nutzen (Leasor 1962: 28; Ackroyd 2000: 102; Boulton1987: 194; Bell 1951: 32). Doch trotz der vielseitigen Nutzung freier Flächen und vorhandener Gebäude konnte die City die große Zahl an Einwanderern nicht aufnehmen, wodurch diese dazu gezwungen waren, in die bereits bewohnten Liberties oder die größtenteils noch unbebauten Randgebiete zu ziehen (Leasor 1962: 27; Bell 1951: 32). Andere zog es jedoch auch aufgrund der niedrigeren Miet- und Lebensmittelpreise und aufgrund einer nachlässigeren Administration in die Gemeinden außerhalb der Stadtmauern (Brett-James 1935: 474).

1.3. Das topografische Wachstum Londons

Wie die Stadt aufgrund der Bevölkerungszunahmen in den Vororten seit Beginn des 17. Jahrhunderts topografisch wuchs, zeigt Bild 2. Darauf wird erkennbar, dass die nördlichen, westlichen und südlichen Gebiete bereits im Jahr 1603 zu einem großen Teil bebaut waren. Im Osten der Stadt waren im Vergleich dazu nur die Gebiete unmittelbar hinter der Stadtmauer und entlang der Ausfallstraßen und der Themse bewohnt. Zwischen London und Westminster befanden sich die meisten Häuser entlang des Strand und in Westminster selbst im unmittelbaren Umkreis der Westminster Abbey und des königlichen Palastes.

Seit Beginn des 17. Jahrhunderts begannen sich die östlichen Gebiete weiter entlang der Hauptstraßen und entlang des Themse-Ufers auszudehnen. Sowohl im Norden als auch in Westminster fanden in dieser Zeit nur vereinzelt bauliche Aktivitäten statt. Das größte topografische Wachstum hatten nach 1640 die westlichen Gebiete zu verzeichnen. Vor allem die Lincoln Inn Fields und der Covent Garden wurden zunehmend bebaut.

Nach 1640 waren vor allem in den östlichen und westlichen Stadtgebieten bauliche Aktivitäten zu beobachten. Im Osten wurde vor allem das Gebiet zwischen dem Ratcliff Highway und der Themse, die Goodman's Fields und die Gebiete nördlich des Ortes Spitalfield bebaut. Im Westen wurde hauptsächlich das Areal zwischen Tyburn Road und der Pall Mall zunehmend ausgefüllt. Westminster dehnte sich vor allem in südliche Richtung in die Tothill Fields aus.

Bild 2. Das topografische Wachstum Londons, 1603-1680

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Clout 1991: 64-65

1.4. Die Besiedlungsgeschichte Londons im 16./17. Jahrhundert

Wie die letzten Abschnitte zeigten, gestaltete sich die Besiedlung der Londoner Stadtgebiete im 16. und 17. Jahrhundert in sehr unterschiedlichem Maße. Vor allem die Einwohnerzahlen und die Zeit der Besiedlung variierten von Gegend zu Gegend. Um diese Entwicklungen verstehen zu können, müssen wir einen näheren Blick auf die Besiedlungsgeschichte Londons im 16./17. Jahrhundert werfen.

Wie Brett-James (1935: 27) bemerkt, war London um das Jahr 1600 weniger die Metropole, die wir heute kennen, als eher "a pleasant country town with many gardens and green fields". Auch Clark und Slack (1972: 6) konstatieren, dass "although the area within the city walls was densely populated, the newly colonized suburbs were still more country than town". Die am weiträumigsten bebauten Gebiete waren die Gemeinden im Norden und im Westen der Stadt. Im Norden hatten sich bereits während des 16. Jahrhunderts wohlhabende Menschen angesiedelt, die diese Gegend vor allem aufgrund der zahlreichen Freiflächen schätzten (Brett-James 1935: 59). Die westlichen Gebiete wurden hingegen aufgrund der Verlagerung der politischen Macht nach Westminster (Graunt 1676: 75) zunehmend von wohlhabenden Bürgern, die am Hof oder im Parlament tätig waren, besiedelt (Clark/Slack 1972: 38-39; Graunt 1676: 75; Beier/Finlay 1986: 11-13; Dyer 1991: 52; Finlay 1981: 11). Darauf folgten zahlreiche Kaufleute und Dienstleister, die auf die steigende Nachfrage nach exquisiten Waren und Servicekräften in diesem Gebiet antworteten (Finlay/Shearer 1986: 53; Clout 1991: 67). Da sich der Westen zudem immer mehr zum Prestige-Viertel der Stadt entwickelt hatte, das darüber hinaus über große bebaubare Freiflächen verfügte, zog es immer mehr wohlhabende Bürger aus der überfüllten City in diese Gegend (Brett-James 1935: 36, 381; Graunt 1676: 76; Earle 1994: 12).

Neben dem Norden und dem Westen ließen sich seit Ende des 16. Jahrhunderts auch in der City of Westminster selbst zahlreiche wohlhabende Menschen nieder (Earle 1994:12). Der Charakter Westminsters war bestimmt durch die Präsenz des königlichen Hofes, der im Verlauf des 16. Jahrhunderts unzählige Personen, die am Hof beschäftigt waren, in das Gebiet zog. Daneben siedelten sich hier zunehmend Beschäftigte der Courts of Law oder des Parlaments an (Clark/Slack 1972: 39; Beier/Finlay 1986: 13).

Die wachsende Stellung Englands als Handels- und Seemacht und die damit verbundene zunehmende Bedeutung der Royal Navy zum Ende des 16. Jahrhunderts hin legten den Grundstein für das Wachstum der östlichen Gemeinden. Es wurden neue Häfen, Docks und Kais entlang der Themse errichtet und zahlreiche Handelsorganisationen wie etwa die East India Company ließen sich an den Ufern nieder. Die dadurch neu entstandenen Arbeitsplätze zogen eine Vielzahl an Immigranten in das Gebiet, die ihre Häuser vor allem entlang der Themse in unmittelbarer Nähe zu ihrer Arbeitsstelle bauten. Ein Großteil des Ufergebietes bestand durch die häufige Überflutung der Themse jedoch noch aus Sumpfland und musste im Zuge der Besiedlung erst trockengelegt werden (Brett-James 1935: 196-199).

Die nördlichen Gebiete, die Ende des 16. Jahrhunderts noch von zahlreichen wohlhabenden Bürgern bewohnt waren, wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts in zunehmendem Maße von armen Menschen besiedelt (Brett-James 1935: 109). Viele der betuchteren Bürger verließen den Norden (Brett-James 1935: 109), wobei anzunehmen ist, dass eines ihre Umzugsziele die wohlhabenderen Vororte im Westen waren. Da trotz der neu hinzugekommenen Bevölkerung nur wenig bauliche Tätigkeiten in diesem Gebiet zu beobachten waren, ist anzunehmen, dass die Neuankömmlinge einen Großteil der herrschaftlichen Häuser einfach "übernahmen" und sie in kleinere Wohneinheiten aufteilten. Laut Brett-James (1935: 109) verwandelte sich durch die Ansiedlung ärmerer Menschen vor allem die nördliche Gemeinden St. James Clerkenwell "from once a district of palaces into a purlieu of slums".

Seit 1640 hatte der Westen die größte Wachstumsrate aller Londoner Stadtgebiete aufzuweisen, was sicher zu einem großen Teil dem starken Zuzug an Menschen aus der City, die nach der Großen Pest 1665 und dem Großen Feuer 1666 nach mehr Sicherheit in dieser Gegend suchten, zuzuschreiben war (Brett-James 1935: 366). Der Westen wurde mehr und mehr bebaut und es entstanden bekannte Stadtgebiete wie St. James, Picadilly oder Soho. Daduch wurde die Lücke zwischen der City und Westminster bis auf die Freifläche des St. James's Park bis zum Ende des 17. Jahrhunderts größtenteils geschlossen (Brett-James 1935: 367-394).

Der Osten der Stadt wuchs ebenfalls in starkem Maße, was letztendlich darin resultierte, dass die zehn ehemals zur Großgemeinde Stepney gehörenden Siedlungen Ratcliff, Limehouse, Poplar, Mile End, Shadwell, Wapping, Bethnal Green, Blackwall, Spitalfields und Bow (East London History Group 1968: 3; Brett-James 1935: 187-188) im Verlauf des 17. Jahrhunderts alle selbst zu Gemeinden wurden (East London History Group 1968: 5).

1.5. Immigration

Die zunehmende Besiedlung der Londoner Randgebiete während des 16. und 17. Jahrhunderts führte dazu, dass sich Vororte wie etwa Shadwell, Ratcliff und Limehouse im Osten der Stadt oder Westminster im Westen, die sich im 16. Jahrhundert noch in weiter Entfernung zur Londoner City befunden hatten, der Stadt in zunehmendem Maße näherten, vormals unbewohnbares Land urbar gemacht wurde und ehemalige ländliche Gebiete mehr und mehr urbanisiert wurden.

Der Grund für den starken Bevölkerungszuwachs lag hauptsächlich in einer wachsenden Migrationsbewegung nach London. Da die Geburtenrate in London zu jener Zeit stets über der Sterberate lag (Clark/Slack 1972: 18; Earle 1994: 38; Wrigley/Schofield 1981: 166), war ein natürliches Wachstum der Einwohnerzahlen Londons nicht möglich. Aus diesem Grund geht die Mehrheit der Autoren davon aus, dass Immigration, vor allem aus den ländlichen Gebieten, der Hauptgrund für das Bevölkerungswachstum Londons im Verlauf des 16./17. Jahrhunderts war (Clark/Slack 1972: 17-18, 35; Beier/Finlay 1986: 9-17; Schofield 1984: 142).

Aufgrund steigender Geburtenzahlen in den Provinzen und daraus resultierender Nahrungsmittelknappheit, die mit einem zunehmenden Mangel an Land und steigender Armut einherging, sahen sich immer mehr Menschen dazu gezwungen, eine neue Existenz in London aufzubauen (Earle 1994: 49). Dabei versprach vor allem die gute Arbeitslage in der Metropole eine Verbesserung der eigenen Situation. Denn Englands Hauptstadt hatte seit Beginn des 16. Jahrhunderts aufgrund einer zunehmenden Zentralisation der Wirtschaft nach London einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erfahren, der sich auch im Arbeitsmarkt niederschlug (Beier/Finlay 1986: 14; Finlay 1981: 11). Die Zahl der Manufakturen in London wuchs um ein Vielfaches, wodurch auch die Nachfrage nach Arbeitsplätzen stark zunahm. Dieser Zuwachs an Handwerksbetrieben bewirkte jedoch auch eine Ausweitung der Londoner Industrie auf die umliegenden Stadtteile, da in der City zunehmend Platzmangel herrschte (Finlay 1981: 12).

Das Ergebnis der ökonomischen Expansion Londons war, dass Tausende von Einwanderern in die Hauptstadt kamen – ob auf der Suche nach Arbeit oder nach einem Ausbildungsplatz. Finlay (1981: 67) zufolge suchten um 1600 etwa 32.000 bis 40.000 Lehrlinge ihr Glück in London, was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung Londons von 13,6 bis 17 Prozent entsprach. Die Menschen, die auf der Suche nach Arbeit waren, erhofften sich vor allem eine größere Vielfalt an Arbeitsplätzen als auch höhere Löhne als auf dem Land (Earle 1994: 50). Im 17. Jahrhundert war der Verdienst in London mitunter um 50 Prozent höher als in den Provinzen (Beier/Finlay 1986: 17). Viele der Einwanderer fanden jedoch nur Arbeit auf niedrigstem Niveau, wie etwa als Arbeiter, Pförtner, Diener, Kohlenträger oder Straßenkehrer (Earle 1994: 42). Da viele von ihnen vorher nur in der Landwirtschaft tätig gewesen waren, fehlten ihnen wichtige Qualifizierungen.

Neben der Aussicht auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zog es die Menschen zudem verstärkt nach London, da sie hier mit einer besseren Versorgungslage, finanzieller Fürsorge, geringerer Kontrolle über Migrationen und einem reichen Angebot an neuem Boden, das die Dissolution of the Monasteries freigegeben hatte, rechnen konnten (Finlay 1981: 10-11; Earle 1994: 49-50).

Die zunehmende Bedeutung Londons als politisches und administratives Zentrum Englands führte außerdem zu einer verstärkten Zuwanderung von Politikern und am Hof tätigen Personen (Beier/Finlay 1986: 11; Dyer 1991: 52). Jedoch war deren Anteil an der Gesamtbevölkerung Londons mit weniger als 10 Prozent bedeutend geringer als der der Menschen aus den Provinzen, die auf der Suche nach einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz in die Metropole kamen (Beier und Finlay 1986: 11-13).

Eine andere Migrantengruppe, die im 16./17. Jahrhundert auf ein neues Leben in Englands Hauptstadt hoffte, waren Einwanderer aus dem Ausland (Finlay 1981: 67; Finlay/Shearer 1986: 51; Schofield 1984: 142). Aufgrund der zunehmenden Verfolgung von Protestanten auf dem Kontinent im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts immigrierten vor allem unzählige Hugenotten aus den Niederlanden und aus Frankreich in nach London. Die Welle an Zuwanderern aus Frankreich wurde nach dem Massaker der Bartholomäusnacht 1572 in Paris, in der Tausende von Hugenotten ermordet wurden, verstärkt. Der Strom riss zwar ab, als Heinrich IV. 1598 das Edikt von Nantes erließ, welches religiöse Freiheit in ganz Frankreich garantierte (Finlay 1981: 67), lebte jedoch zum Ende der 1670er wieder auf (Brett-James 1935: 489), als Ludwig XIV. das Edikt wieder aufhob (Meyers Großes Taschenlexikon 1999, "Hugenotten"). Die Gruppe der verfolgten Protestanten war sicherlich die größte der ausländischen Zuwanderer, allerdings trugen auch eine Vielzahl an Schotten, Iren und Bewohnern anderer europäischer Länder zu Londons Wachstum bei (Earle 1994: 47).

2. Die soziale Topografie Londons im 16./17. Jahrhundert

2.1. Die soziale Heterogenität Londons

Eine der auffälligsten Folgen der Expansion Londons im 16. und 17. Jahrhundert war die Herausbildung einer Stadt mit extremen Gegensätzen. Armut und Reichtum, Eleganz und Verfall, große Herrenhäuser und schäbige Armenbehausungen standen sich in starkem Kontrast gegenüber. Vor allem im Verlauf des 17. Jahrhunderts begannen sich die noch heute vorherrschenden Charaktere des wohlhabenden Londoner West End und des armen East End abzuzeichnen (Power 1986: 199). Die Stadtteile unterschieden sich einerseits hinsichtlich der ansässigen sozialen und beruflichen Gruppen, andererseits hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes. So spricht Stow (1908)[3], der zum Ende des 16. Jahrhunderts in London lebte und als erster seiner Zeit eine detaillierte Beschreibung der Stadt verfasste, von "diuerse faire houses [...] for marchants or men of Worship" (Bd. 1: 292) in der Gemeinde St. Mary Aldermanbury im Nordwesten der City und von "filthy Cottages, and [...] other purprestures, inclosures and Laystalles" (Bd. 2: 72) in St. Botolph Aldgate östlich der Innenstadt.

In welchem Maße sich die sozialen Gruppen im Londoner Stadtgebiet verteilten, zeigen die folgenden Karten. Bild 3 stellt in diesem Zusammenhang die Wohlstandsniveaus einzelner Gemeinden, basierend auf der Anzahl wohlhabender Haushalte in diesen Stadtvierteln, dar. Als wohlhabend sind dabei solche Behausungen definiert, die einen Mietwert von 20 Pfund oder mehr besaßen.

Bild 3. Verteilung von Haushalten mit einem Mietwert von 20 Pfund und mehr p.a., 1638

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Finlay 1981: 76

Hier erkennt man klar, dass die höchsten Mieten im Innenstadtkern gezahlt werden mussten. In den unmittelbar angrenzenden City -Gemeinden hatte immer noch jedes dritte bis vierte Haus einen Wert von 20 Pfund und mehr. Die Gegenden mit den geringeren Mieten fanden sich vor allem in den innerstädtischen Gemeinden entlang des Themse-Ufers und der Stadtmauer und in den Vororten nordöstlich und nordwestlich der City.

Da in Bild 3 jedoch für zahlreiche Gemeinden keine Daten vorliegen, soll zur Verdeutlichung der sozialen Heterogenität Londons im 17. Jahrhundert eine weitere Übersicht angeführt werden. In Bild 4 wurde zur Unterscheidung der unterschiedlichen Wohlstandniveaus der Gemeinden die durchschnittliche Anzahl der in den Haushalten befindlichen Feuerstellen zugrunde gelegt. Diese gelten als Indiz für den Wohlstand der Hausbewohner, da die Anzahl der Feuerstellen Aufschluss darüber gibt, wie groß die einzelnen Häuser waren (je mehr Feuerstellen, um so größer das Haus) und damit, wie wohlhabend seine Bewohner waren (je größer das Haus, um so wohlhabender).

Bild 4. Durchschnittliche Zahl an Feuerstellen, 1662-1666

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Die Werte der durchschnittlichen Zahl an Feuerstellen in den einzelnen Gemeinden stammen von Champion 1995: 104-107.

In dieser Karte ist erkennbar, dass die Haushalte mit mindestens 4,6 Feuerstellen pro Haushalt hauptsächlich in der Innenstadt und in den westlichen Gebieten zu finden waren. Die Mehrheit der Haushalte mit 3,0 bis 4,5 Feuerstellen pro Haus befand sich in der City in den Gebieten entlang der Stadtmauer und der Themse. Arme Gemeinden mit durchschnittlich weniger als 3,0 Feuerstellen fand man in der Innenstadt nur wenige. Im Gegensatz dazu wiesen fast alle Gemeinden östlich und nordöstlich der Innenstadt ein sehr geringeres Wohlstandsniveau auf. Auch die Gemeinden im Norden der Stadt verzeichneten einen eher geringen sozialen Status mit höchstens 4,5 Feuerstellen pro Haushalt.

Zwar konnten auch in Bild 4 aufgrund fehlender Daten nicht für alle Gemeinden Angaben gemacht werden, ein allgemeiner Trend ist in den beiden Karten jedoch erkennbar. Generell gesehen lebten die wohlhabenderen Londoner in der City und westlich der Stadt, während die ärmere Bevölkerung eher in den Liberties und den Vororten im Osten, Norden und Süden, als auch in den innerstädtischen Gemeinden entlang des Themse-Ufers und der Stadtmauer anzutreffen war.

Dieser Trend wird auch in der letzten Übersicht erkennbar, in der der Anteil adliger und armer Bewohner in verschiedenen Teilen der Stadt aufgelistet ist. Als "Adlige" wurden von Power (1986: 205) dabei die Personen definiert, die in einer Aufzählung von Steuerzahlern in den 1660er Jahren als Sir, Esquire, Gentleman, Stadtrat oder Bischof bezeichnet wurden, während die, die als Arme, Rentner oder von der Steuer Befreite betitelt wurden, als "Arme" aufgeführt sind.

Tabelle 3. Anteil der adligen und armen Bevölkerung in verschiedenen Teilen Londons in den 1660er Jahren

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Power 1986: 205

Wie die Tabelle zeigt, war der Anteil an adligen Gemeindemitgliedern im westlichen Teil Londons mit 3,7 Prozent am höchsten. Auch im Zentrum der City war deren Anteil mit durchschnittlich 1,2 Prozent verhältnismäßig hoch. Im Vergleich dazu lebten in den innerstädtischen Ufergebieten und in den Gemeinden entlang der Stadtmauer nur wenige Adlige, wobei jedoch ein Mehranteil in den Ufergebieten erkennbar ist. Im Osten war der Anteil adliger Bewohner verschwindend gering. Dafür hatte dieses Gebiet den höchsten Prozentsatz an armen Menschen zu verzeichnen. Die Zahl der Armen überstieg die der Reichen hier um mehr als das 500 fache. Daneben wiesen auch die Gemeinden im Norden der Stadt und in der City entlang der Stadtmauer eine große Zahl an armen Einwohnern auf. In den nördlichen Stadtgebieten kamen auf einen Adligen etwa 80 arme Bewohner, in den Gebieten an der Stadtmauer etwa 225.

Eine soziale Ungleichverteilung innerhalb Londons ist also auch in dieser Übersicht zweifellos feststellbar. Die Frage ist jedoch, wie es zur Ausbildung einer solch starken sozialen Heterogenität kam. Dies soll im nächsten Abschnitt beantwortet werden.

2.2. Ursachen

Als Hauptgrund für die ausgeprägte soziale Heterogenität im London der frühen Neuzeit wird in der Literatur meist die Zonierung nach Arbeits- oder Einkommensgruppen genannt, die sich im Verlauf des 16./17. Jahrhunderts zunehmend herausgebildet hatte. Wie Power (1986: 215) erklärt, fand die Viertelsbildung im Europa des Mittelalters noch nach Berufsgruppen statt. Tischler lebten mit Tischlern zusammen, Buchhändler mit Buchhändlern und Kaufleute mit Kaufleuten. Eine Verteilung hinsichtlich sozialer Zugehörigkeit gab es nicht, wodurch Menschen unterschiedlicher sozialer Klassen meist in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander lebten (Boulton 1987: 166). Diese "social cohesion" (Boulton 1987: 166) wurde in den darauf folgenden Jahrhunderten jedoch mehr und mehr aufgebrochen und durch eine Verteilung basierend auf Einkommen und Wohlstand ersetzt (Power 1986: 215; Boulton 1987: 166). Die Menschen suchten sich ihre Wohngegend nicht mehr nach gleichgesinnten Händlern oder Handwerkern aus, sondern wollten nun unter denen sein, die das gleiche Einkommenslevel hatten (Power 1986: 215).

Eine reine Zonierung nach Berufsgruppen war im London des 17. Jahrhunderts jedoch nicht zu beobachten. Zwar schlossen sich Händler mit Händlern und Handwerker mit Handwerkern zusammen, jedoch siedelten sich diese Gruppen in den Gegenden an, die ihrem Grad des Wohlstands und Verdiensts entsprachen. Demnach konzentrierten sich die Händlergruppen vor allem in den Gemeinden mit hohem bis mittlerem Wohlstand und die Handwerker- und angelernten Gruppen in den Gemeinden mit mittlerem bis niedrigem Wohlstand (Power 1986: 216-218). Daraus resultierte wiederum eine klare soziale Topografie Londons, in der sich die wohlhabenderen Händler und Handwerker vorwiegend im Zentrum der City niederließen, die ärmeren Handwerker, Arbeiter und an- oder ungelernten Arbeitskräfte jedoch eher in den Randgebieten der Innenstadt und in den Vororten (Clout 1991: 67). In den Westminster-Gebieten fand man neben reichen Kaufmännern vor allem wohlhabende Bürger, die am königlichen Hof oder bei der Justiz tätig waren (Earle 1994: 12). Der Grund für diese Mischform zwischen beruflicher und sozialer Zonierung liegt hauptsächlich darin begründet, dass der ausgeführte Beruf meist mit einem gewissen Wohlstandsniveau im Zusammenhang steht; eine Zonierung nach Berufsgruppen folglich eine gleichzeitige Zonierung nach sozialen Klassen nach sich zieht.

2.3. Soziale Unterschiede innerhalb der Gemeinden

Wie man den vorhergehenden Ausführungen entnehmen konnte, gab es im London des 16./17. Jahrhunderts soziale Unterschiede zwischen einzelnen Gemeinden. Power (1986: 218) bemerkt dahingehend jedoch, dass es nicht der Fall war, dass eine spezielle Berufs- oder Einkommensgruppe einzig und allein den Charakter eines Stadtviertels bestimmte. Und auch Slack (1985: 164) führt an, dass "the 'poor' and 'rich' parishes to which we have so often referred were never homogeneous in their social make-up". In den Gemeinden bestand eher ein Mix aus verschiedenen sozialen Gruppen, nur mit der Einschränkung, dass bestimmte Gruppen in bestimmten Gegenden oftmals überrepräsentiert waren. Daher ist es interessant, auch einen Blick auf die innere Beschaffenheit einzelner Gemeinden zu werfen. Die Frage dabei ist vor allem, ob sich die Reichen bzw. Armen innerhalb der Gemeinden in speziellen Straßen angesiedelt haben.

Wie man in Bild 5 sieht, waren die Behausungen wohlhabender Londoner, gemessen an der Anzahl der Feuerstellen, meist an Hauptdurchfahrtsstraßen zu finden.

Bild 5. Durchschnittliche Anzahl an Feuerstellen in innerstädtischen Straßen, 1666

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Power 1986: 207

So befanden sich beispielsweise entlang der West-Ost-Verbindung zwischen Newgate und Aldgate (Newgate Market, Cheapside, Lombard Street und Fenchurch Street) hauptsächlich große Häuser mit durchschnittlich 5,8 bis 6,5 Feuerstellen.

Der Umstand, dass die wohlhabenden Bürger Londons große Straßen bewohnten, zeigt sich auch in Tabelle 4a, in der Power (1986: 210) für 20 City -Gemeinden die durchschnittliche Anzahl an Feuerstellen in Hauptverkehrsstraßen, Wegen, Hinterhöfen und Gassen ermittelt hat.

Tabelle 4. Behausungen in Straßen, Wegen, Hinterhöfen und Gassen

(a) Behausungen in Straßen, Wegen, Hinterhöfen und Gassen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(b) Andere Charakteristika der Behausungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Power 1986: 210

Demnach nimmt die Zahl der Feuerstellen und damit die Größe der Häuser von den Straßen zu den Gassen kontinuierlich ab. Außerdem erkennt man in Tabelle 4b, dass in Straßen mehr Adlige lebten als auf Wegen oder in Gassen, Straßengebäude eher von Institutionen genutzt wurden, die geringste Leerstandsrate zu verzeichnen hatten und am seltensten von Witwen[4] oder Armen bewohnt waren. Straßen waren laut Power (1986: 210) "the place to be", da die Bewohner hier mehr Luft, Licht und Platz zum Leben hatten als in den Gassen, die oftmals sehr eng bebaut waren und dadurch nur wenig Licht und Luft hineinließen (Power 1986: 209; Brett-James 1935: 41, Earle 1994: 10). Da sich diese mangelhaften Wohnverhältnisse sicher auch in den Mietpreisen niederschlugen, ist es nicht verwunderlich, dass Gassen und Hinterhöfe den größten Anteil an armer Bevölkerung und Witwen zu verzeichnen hatten. Allerdings war eine Vielzahl der Hinterhöfe auch von Adligen bewohnt. Wahrscheinlich war dies jedoch von der Art des Hofes abhängig – wenn er sich von herrschaftlichen Häusern umgeben in einer wohlhabenden Wohngegend befand, war er sicher Anreiz für die, die ruhig und zurückgezogen leben wollten. Im Gegensatz dazu waren heruntergekommenere Hinterhöfe vermutlich eher von ärmeren Londonern bewohnt. Auf Wegen siedelten sich wahrscheinlich vor allem Arbeits- und Handwerkstätten an, da diese einen vergleichsweise hohen Anteil an industriellen Feuerstellen zu verzeichnen hatten.

3. Probleme der wachsenden Metropole

Die zunehmende Bevölkerungs- und Industriedichte Londons im 16./17. Jahrhundert brachte eine Vielzahl an Problemen mit sich, die sich auch in den hinsichtlich ihres sozialen Status verschiedenen Stadtgebieten unterschiedlich gestalteten. Vor allem wilder Hausbau, Überbevölkerung, steigende Armut, mangelhafte hygienische Verhältnisse und eine schlechte medizinische Versorgung stellten die Stadtväter vor Aufgaben, denen sie mitunter nicht gewachsen waren.

3.1. Wilder Hausbau

Obwohl London selbst Mitte des 17. Jahrhunderts noch recht spärlich bebaut war und zu einem großen Teil noch aus Freiflächen bestand, befürchteten der Lord Mayor und die Aldermen bereits Ende des 16. Jahrhunderts ein unüberschaubares und chaotisches Wachstum der Stadt. Im Jahre 1580 schrieben sie daher einen Brief an den Court of Common Council in dem sie auf "the vast increase of new buildings and number of inhabitants within the City and suburbs of London, chief­ly occasioned by the great resort of people from all parts of the Kingdom to settle here..." (zitiert nach Brett-James 1935: 68) aufmerksam machten.

Um dem Problem des wilden Hausbaus Herr zu werden, veröffentlichten die Stadtväter Londons in den folgenden Jahren unzählige Proklamationen. Diese stellten vor allem den Neubau von Häusern in bestimmten Gebieten unter Strafe, gestatteten die Errichtung neuer Gebäude nur unter Erwerb einer Baulizenz oder befahlen gar, bereits erbaute Häuser wieder einzureißen (Brett-James 1935: 69, 81, 85, 105, 108).

Allerdings wurden diese Anordnungen in zahlreichen Fällen nicht befolgt, wie eine Auflistung aus dem Jahre 1637 zeigt, die alle entgegen der Proklamationen errichteten Häuser aufführt. Demnach waren in den Vororten insgesamt 1.360 Häuser illegal errichtet und infolgedessen fast 450 Schuldige einer Strafe unterzogen worden. In der Londoner City war hingegen nur ein Haus illegal erbaut worden (Brett-James 1935: 116).

Aufgrund der zunehmenden Nichtbefolgung der Proklamationen erließ Oliver Cromwell im Jahre 1657 den "Act for preventing the Multiplicity of Buildings in and about the suburbs of London and within 10 miles thereof", da man glaubte, dem Problem nur noch mit Hilfe einer Parlamentsakte gerecht zu werden. Dieser Beschluss sah beispielsweise die Strafzahlung einer Jahresmiete bei illegalem Hausbau und die Schaffung eines Komitees zur Durchsetzung des Gesetzes vor (Brett-James 1935: 117-122). Zwar waren Cromwells Anordnungen weitreichender und rigoroser als die seiner Vorgänger (Brett-James 1935: 124), jedoch ist anzunehmen, dass selbst dadurch der wilde Hausbau nicht eingedämmt werden konnte.

3.2. Überbevölkerung

Neben dem Problem des wilden Hausbaus hatte man zum Ende des 16. Jahrhunderts auch auf die wachsende Überbevölkerung in Englands Hauptstadt aufmerksam gemacht. Im Jahre 1580 äußerte sich Queen Elizabeth I. zu dem Problem und bezeichnete London als eine Stadt,

where there are such great multitudes of people brought to inhabit in small rooms, whereof a great part are seen very poor, yea, such as must live begging, or by worse means, and they heaped up together, and in a sort smothered with many families of children and servants in one house or small tenement.

(zitiert nach Ackroyd 2000: 103).

Das Problem der Überbevölkerung bestand zwar in ganz London, jedoch gestaltete sich die zunehmende Bevölkerungsdichte in der Londoner Innenstadt und den Vororten unterschiedlich. Da die City bereits sehr eng bebaut worden war, waren Neuerrichtungen nur selten möglich und die wachsende Bevölkerung musste vor allem auf die Behausungen zurückgreifen, die bereits vorhanden waren. Zwar versuchte man, auch diesen Trend mit Hilfe zahlreicher Proklamationen zu stoppen, der Erfolg dieser war jedoch gering . Vor allem in den Gebieten entlang der Stadtmauer und der Themse machte man von der Häuserteilung Gebrauch, da deren ärmere Bevölkerung sich die hohen Mieten im Innenstadtkern nicht leisten konnte (Boulton 1987: 192). Stow (1908, Bd. 1: 163) erwähnte beispielsweise, wie der ehemals herrschaftliche Oxford Place in der Gemeinde All Hallows on the Wall allmählich "into a number of small tenements, letten out to strangers, and other meane people" umgebaut wurde. Doch auch in den Gebieten nördlich der Stadtmauer, die zu einem großen Teil schon vor der Einwanderungswelle des 16./17. Jahrhunderts bestanden hatten, wurde die Aufteilung der Häuser betrieben (Brett-James 1935: 183). Dazu boten vor allem die Herrenhäuser der ehemals in dieser Gegend ansässigen wohlhabenden Bürger Gelegenheit. Als Grund für die weiträumig praktizierte Häuserteilung sieht Brett-James (1935: 80) die zahlreichen Proklamationen, die Neuerrichtungen verboten, denn "[n]o one seems fully to have realized that to forbid building would lead to cumulative crowding".

In den östlichen Gemeinden war die hohe Bevölkerungsdichte hingegen durch eine sehr enge Bebauung gekennzeichnet, da ein großer Teil des Gebietes noch aus Sumpfland bestand und nicht vollständig bebaut werden konnte (Power 1986: 208). Diese enge Bebauung war jedoch auch für andere Vororte symptomatisch, da man auch hier versuchte, nicht nur Platz, sondern auch Kosten zu sparen (Bell 1951: 33):

Especially [...] in the out-parishes[5] and liberties which so closely hugged the old city wall, [...] houses were built almost back to back, being separated only by the labyrinthine alleys which debouched in mysteriously devious ways into the widely separated country roads.

(Owen 1926: 250).

Aufgrund des Platzmangels baute man in den Gemeinden außerhalb der Stadtmauern mitunter so eng, dass Straßen und Wege zwischen den Häusern unter Umständen nur viereinhalb Meter breit und dadurch, genau wie die schmalen Gassen in der Innenstadt, als "dark, airless, smelly" berüchtigt waren (Earle 1994: 166). Typisch für die Topografie der Vororte, vor allem der östlichen, waren dicht besiedelte Gebiete in unmittelbarer Nachbarschaft zu offenen Flächen (Boulton 1987: 24).

3.3. Armut

Ein weiteres Problem, das vor allem aus der zunehmenden Bevölkerungszahl resultierte, war die wachsende Armut der Londoner Bewohner, wobei genaue Zahlen jedoch fehlen. Slack (1988: 71) schätzt, dass im Jahr 1552 etwa 4.000 Bedürftige in der Stadt lebten, was seinen Berechnungen nach ca. 5 Prozent der Gesamtbevölkerung Londons ausmachte. In den 1650er Jahren waren es laut seiner Schätzungen zwischen 3 und 4 Prozent der Gesamtbevölkerung, was in etwa 14.000 Bedürftigen[6] und einem absoluten Zuwachs um das 3,5 fache entspricht. Beier und Finlay geben indes an, dass die Zahl der Mittellosen zwischen 1560 und 1625 um das 12 fache wuchs (1986: 18)[7].

Wie groß die Zahl armer Menschen aber auch gewesen sein mag, sie muss zumindest so groß gewesen sein, dass das mittelalterliche Prinzip der finanziellen Nachbarschafts- und Gemeindenhilfe (Clark/Slack 1972: 19) nicht mehr ausreichend war und um eine gesetzlich festgeschriebene Armenfürsorge ergänzt werden musste. Das English Poor Law, das 1531 eingeführt worden war, schrieb die Erhebung einer Armutssteuer in den Gemeinden vor, um die Armenfürsorge finanzieren zu können. Mit den Einnahmen wurden den Armen in manchen Fällen Kleidung, Unterkünfte, Brot, medizinische Hilfe oder Lehrstellen bereitgestellt, meist kam es jedoch zur Auszahlung einer monetären Stütze (Slack 1990: 27). Slack (1990: 53) zweifelt deren Wirksamkeit jedoch an, da seiner Meinung nach die Beträge insgesamt zu klein, die Zahl der Armen aber zu groß war. Zwar gab es Fälle, in denen reichere Gemeinden die Armenfürsorge für andere, ärmere Gemeinden zahlten (z.B. St. Bartholomew Exchange für St. Botolph Aldgate oder Bishopsgate) (Wear 1991: 43), jedoch ist anzunehmen, dass auch deren Einfluss auf die Armut gering war. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die Verteilung der Gelder über das gesamte Stadtgebiet

Lon­dons sehr unterschiedlich war. Dort, wo die Gemeinden einer konkreten Jurisdiktion unterstellt waren, konnte die Implementierung des Poor Laws bedeutend besser kontrolliert und durchgesetzt werden. Dies war vor allem in der City und den Liberties, die vom Court of Common Council verwaltet wurden, der Fall, und in Westminster, das seit 1585 vom Court of Burgesses kontrolliert wurde (Weinstein 1991: 29). Die Randgebiete, die besonders unter der Armut litten, waren zwar der Administration durch die Justices of the Peace unterstellt, deren Verwaltungsleistung wird jedoch von mehreren Autoren als mangelhaft bezeichnet (Brett-James 1935: 204; Weinstein 1991: 29; Clark/Slack 1972: 36; Inwood 1998: 191). Der Grund dafür liegt vor allem im Zuständigkeitsbereich, der Arbeitszeit und der Bezahlung der Justices of the Peace, denn die Aufgabe der JPs bestand weniger in einer Verwaltungsarbeit als vielmehr in der Verhinderung krimineller Handlungen. Zudem waren die JPs unbezahlt und übten diese Tätigkeit in Teilzeit aus (Inwood 1998: 376). Es ist demnach anzunehmen, dass aufgrund der mangelhaften Befehlsgewalt in den Vororten auch die Eintreibung der Armensteuer nur unzureichend durchgeführt wurde.

3.4. Mangelhafte hygienische Verhältnisse

Neben der zunehmenden Armut war es auch die Unsauberkeit Londons, die die Stadtväter einzudämmen versuchten. Vor allem mangelnde Sauberkeit der Straßen und Häuser und der schlechte Zustand der Luft und des Wassers waren sichtbare Zeichen dieses Problems. So erzählte ein Venezianischer Kaplan, der die Stadt Ende des 16. Jahrhunderts besucht hatte, nach seiner Rückkehr von einem "soft and stinking mud" in den Straßen Londons und schlug daraufhin vor, die Metropole lieber "Lorda" (Dreck) als "Londra" (London) zu nennen (zitiert nach Ackroyd 2000: 109). Der von ihm beschriebene Schlamm rührte daher, dass im London des 16. und 17. Jahrhunderts zahlreiche Straßen noch ungepflastert waren und sich nach einem Regenguss in schlammige und rutschige Wege verwandelten (Bell 1951: 11). Davon waren selbst Straßen in wohlhabenderen Gemeinden betroffen, wie etwa der Long Acre in St. Martin in the Fields, der erst im Jahre 1631 gepflastert worden war. Jedoch war dies weniger eine generelle Maßnahme, als eher eine persönliche Bitte des Königs, der diese Straße oft passierte (Brett-James 1935: 162).

Im Gegensatz zu dem Venezianischen Kaplan beschwerte sich John Evelyn, ein anderer Zeitgenosse, hingegen über die verschmutzte Luft Londons:

This horrid smoke obscures our churches and makes our palaces look old. It fouls our clothes and corrupts the waters, so that the very rain and refreshing dews [...] precipitate this impure vapour, which with its black and tenacious quality, spots and contaminates whatever is exposed to it.

(zitiert nach Leasor 1962: 23)

Though a chamber be never so closely locked up, men find at their return all things that are in it evenly covered with a black thin soot.

(zitiert nach Ackroyd 2000: 109).

Ein französischer Botschafter summierte seine Eindrücke gar in der Bezeichnung Londons als "the filthiest [city] of the world" (zitiert nach Slack 1985: 144).

Der Schmutz in der Luft rührte vor allem von der zunehmenden Benutzung von Kohle als Heizmittel in den Häusern und als Feuerungsmittel in den in ganz London ansässigen Handwerksbetrieben (Weinstein 1991: 32; Brett-James 1935: 475). Ob Eisenschmelzer, Seifenhersteller, Brauer oder andere – sie alle verbrauchten große Mengen an Kohle, die zur Bildung eines "never-lifting fog" führten (Leasor 1962: 23).

Neben verschmutzter Luft litten die Menschen jedoch auch unter verschmutzten Straßen. Obwohl neben zahlreichen Häusern Abfall- oder Jauchegruben zur Müllbeseitigung vorhanden waren, wurden in weiten Teilen Londons immer noch offene Abwasserkanäle, die meist mitten durch die Straßen liefen, genutzt, um Abfälle und Fäkalien zu entsorgen (Leasor 1962: 16; Earle 1994: 165). Zwar fand man in zahlreichen Häusern bereits Aborte, allerdings wurden diese nicht nur dafür genutzt, wofür sie vorgesehen waren, sondern oftmals auch als Abfallgrube für Küchen- und Hausabfälle genutzt (Ackroyd 2000: 339). Zudem war es oft der Fall, dass die Hausbewohner ihre Toiletten direkt über die Abflusskanäle bauten (Brett-James 1935: 356) und ihre Fäkalien somit direkt in die Rinnen leiteten.

Dieser starken Verschmutzung der Straßen versuchte man noch bis Mitte des 17. Jahrhunderts auf individueller Ebene Herr zu werden, indem man jeden Londoner dazu anhielt, die Straße vor seinem Haus selbst zu reinigen. Wenn jemand dabei aufgegriffen wurde, wie er Abfälle in die Straßen entsorgte, musste er zudem eine Strafe zahlen (Ackroyd 2000: 337). Die einzige von der Stadt veranlasste Maßnahme war, die sich neben den Wohnhäusern befindlichen Abfall- und Jauchegruben nachts von night-carts leeren und deren Inhalt auf Halden in den Randgebieten kippen zu lassen (Weinstein 1991: 33).

Diese Maßnahmen konnten jedoch nicht helfen, der Verunreinigung der Stadt entgegenzuwirken. Im Jahre 1662 wurde daher im Parlament die Schaffung einer Kommission beschlossen, die dafür zuständig war, auf den einwandfreien Zustand der Abflusskanäle und Straßen zu achten und die für die Abfallbeseitigung zuständigen Personen zu beaufsichtigen (Weinstein 1991: 31). Außerdem sollte sie durchsetzen, dass jeder Londoner Bürger seiner Pflicht, die Straße vor seinem Haus sauber zu halten und zu pflastern, nachkam (Weinstein 1991: 34). Da dies offenbar nicht den gewünschten Erfolg brachte, wurde 1671 eine permanente Commission of Sewers für London (Weinstein 1991: 31) geschaffen, die sich nun mit Hilfe eines zentralisierten Systems um die Reinigung und Pflasterung der Straßen kümmerte (Weinstein 1991: 39-40).

Auch in Westminster hatte man im 16. Jahrhundert versucht, durch die Schaffung einer eigenständigen Verwaltungseinheit das Problem der Straßenverschmutzung zu lösen. Der Court of Burgesses, der 1585 geschaffen worden war, musste beispielsweise darauf achten, dass nichts Übelriechendes oder Schädliches in die Abwasserkanäle oder Straßen entsorgt wurde und dass die Straßen regelmäßig gereinigt wurden[8] (Brett-James 1935: 131; Weinstein 1991: 33).

Bei der Instandhaltung der Straßen bemühten sich die Stadtväter jedoch vor allem um die großen, nach vorn sichtbaren Hauptstraßen. In den kleinen Gassen und Höfen hinter den Häusern wurde die Straßenreinigung und –pflasterung bedeutend weniger umfassend vorgenommen. Wie Earle (1994: 10) sagt: "It was a handsome city, as long as one did not stray too far from the main streets and squares into the alleys behind them", denn diese waren "mean, unpaved, pestilent enclosures surrounded by the tenements of the poor".

Abgesehen vom Zustand der Straßen, war es auch die Wasserqualität, die im London des 16. und 17. Jahrhunderts kaum besser war als in mittelalterlichen Zeiten. Neben der Themse als Hauptwasserquelle existierten mehrere Brunnen in der Stadt, wie etwa der Holywell, Clerkenwell oder Goswell. Die Bewohner der Westcheap und der East Fleet Street hatten hingegen seit 1593 den Vorteil, dass sie mit Wasser aus einem Pumpenhaus an der Themse versorgt wurden (Weinstein 1991: 34-36). Da diese lokal begrenzten Maßnahmen jedoch nicht den Wasserbedarf ganz Londons decken konnten (Weinstein 1991: 36), errichtete man 1609 nördlich der Stadt ein Aquädukt, das über den eigens dafür gebauten New River seit 1613 größere Teile Londons mit fließendem Wasser versorgte[9]. Auch in Westminster hatte man im Verlauf des 17. Jahrhunderts festgestellt, dass die ursprünglichen Wasserquellen für die Versorgung des gesamten Gebiets nicht ausreichend waren, so dass im Jahre 1638 Pläne für ein neues Aquädukt geschaffen wurden (Brett-James 1935: 144-145). Allerdings erfährt man in der Literatur nicht, ob diese Pläne tatsächlich umgesetzt wurden

[...]


[1] Bei den genannten Bevölkerungszahlen Londons muss jedoch beachtet werden, dass diese als auch andere Angaben in der Literatur nur auf Schätzungen beruhen. Da es vor 1695 keine Volkszählung gab, die dem Zensus ähnlich gewesen wäre, ist es nicht möglich, vollkommen verlässliche Werte zu finden (Finlay 1981: 51). Die Angaben in der Literatur variieren demnach stark – im Jahr 1650 beispielsweise zwischen 375.000 (Finlay/Shearer 1986: 39), 400.000 (Finlay 1981: 51) und 410.000 Einwohnern (Chandler/Fox 1974: 16-18). Abgesehen von solchen Diskrepanzen kommt es zwischen den Angaben verschiedener Autoren zudem zu Abweichungen, da sie sich einerseits auf unterschiedliche geografische Gebiete innerhalb Londons beziehen und andererseits die verfügbaren Quellen oftmals mangelhaft sind. Wie Finlay und Shearer (1986: 41) erklären, wurde bei den Schätzungen der Bevölkerungszahlen Londons des 16./17. Jahrhunderts nie klar zwischen dem gesamten bebauten Gebiet (d.h. der Londoner Innenstadt, allen Vororten und Westminster) und dem alleinigen Zuständigkeitsbereich der Stadt London (und somit nur der Innenstadt) unterschieden. Dazu kam die mangelnde Zuverlässigkeit der zur Verfügung stehenden Kirchenregister, die die Hauptinformationsquelle für Demografen darstellen. Denn diese leiden nicht nur unter fehlenden Registrierungen aufgrund der großen Zahl an Nonkonformisten, die ihre Taufen, Hochzeiten und Bestattungen nicht in den Registern der anglikanischen Kirche führen ließen (Finlay 1981: 22; Wrigley/Schofield 1981: 89). Auch Zeiten hoher Sterblichkeit, z.B. während einer Pestepidemie (Clark/Slack 1972: 16; Slack 1985: 61), politische Veränderungen, verlorengegangene Register, herausgerissene Seiten und unleserliche Einträge (Wrigley/Schofield 1981: 15, 19, 23) führten zu Lücken in der Registrierung. Laut Slack (1985: 61) ist es sehr wahrscheinlich, dass selbst die gut geführten Kirchenregister Lücken aufweisen. Clark und Slack (1972: 16) kommen daher zu der Erkenntnis, dass "[a]ll that we can say definitely about urban demography in the 16th and 17th centuries is that our figures founder in uncertainty".

[2] Als City wird die Londoner Altstadt innerhalb der Stadtmauern bezeichnet, als Liberties die Gemeinden, die sich unmittelbar hinter der Stadtmauer befanden.

[3] Im Folgenden wird Stow aus dem Nachdruck des Originaltextes von 1603 bei Kingsford 1908 als Stow 1908 zitiert.

[4] In dieser Tabelle sind Witwen als Charakteristikum aufgeführt, da diese zu den ärmeren Bevölkerungsgruppen gehörten (Boulton 1987: 181) und somit als Vergleichskriterium für den Wohlstand der einzelnen Wohngegenden genutzt werden können.

[5] Als out-parishes werden die Vororte in den Counties Middlesex und Surrey bezeichnet.

[6] Zur Berechnung wurde einerseits der Mittelwert aus den in Tabelle 2 angegeben Bevölkerungszahlen für das Jahr 1650 (395.000) und der Mittelwert aus den bei Slack (1988: 71) angegebenen Prozentzahlen (3,5 Prozent) herangezogen.

[7] Die genaue Zahl der Bedürftigen Londons im 16./17. Jahrhundert festzulegen, ist nach Slacks (1988: 71) Ansicht generell schwierig, vor allem da die nutzbaren Quellen Mängel aufweisen. Als Informationsgrundlage werden hauptsächlich Kirchenregister genutzt, die die Empfänger von Armengeldern auflisten. Allerdings finden sich in diesen Dokumenten zahlreiche Lücken, einerseits in der chronologischen Fortführung der Registrierung, andererseits in der Erfassung der Bedürftigen (Slack 1988: 71). Außerdem kann die starke Diskrepanz zwischen Slacks (1988: 71) und Beier und Finlays (1986: 18) Angaben auf eine Bezugnahme auf unterschiedliche Stadtgebiete (City vs. gesamte bebaute Fläche) zurückzuführen sein.

[8] Es ist jedoch nicht ganz klar, inwiefern dieses Vorhaben von Erfolg bzw. Engagement gezeichnet war, da sich der Court of Burgesses einerseits nur selten traf, um über die Probleme der Stadt zu diskutieren (Brett-James 1935: 133), andererseits aber des öfteren Berichte veröffentlichte, die das Vorgehen gegen illegale Aktivitäten wie etwa die Errichtung von Gebäuden entgegen der Proklamationen oder das unerlaubte Entsorgen von Müll schilderten (Brett-James 1935: 143). Auch ist nicht klar, wie lang dieser Court fortbestand. In den Jahren 1664/5 wurde jedenfalls basierend auf einer Parlamentsakte erneut eine Kommission gegründet, die beaufsichtigen sollte, dass jeder Bewohner die Straße vor seinem Haus sauber hält und pflastert. Wenn er dies nicht tat, musste er eine Strafe von 20 Schilling zahlen (Brett-James 1935: 354).

[9] Die Wasserversorgung Londons war jedoch trotz der Schaffung des New River nicht im ganzen Stadtgebiet gewährleistet. In manchen Gemeinden war es beispielsweise eine Frage des Prestige, ob man an den Wasserlauf angeschlossen wurde oder nicht. So wurden bereits vor 1630 Rohre entlang des Strand bis zum Charing Cross verlegt. Das Gebiet um den Covent Garden und die südliche City wurden jedoch erst seit den 1660ern mit Wasser aus dem New River versorgt. Dies könnte allerdings auch darin begründet liegen, dass diese Gebiete bis dahin Wasser aus der Themse bezogen hatten. Die westlichen Vororte wurden auch Mitte des 17. Jahrhunderts noch von örtlichen Quellen versorgt und erst in den 1690ern an den New River angeschlossen. Behausungen in Hinterhöfen oder Gassen mussten ihr Wasser weiterhin aus Pumpen holen. Eine konstante Wasserversorgung war in London erst Ende des 19. Jahrhunderts gewährleistet (Weinstein 1991: 36-39).

Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Die Große Pest von London im Jahre 1665
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
119
Katalognummer
V75710
ISBN (eBook)
9783638722377
ISBN (Buch)
9783638725798
Dateigröße
3362 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pest, London, Plague, 1665, Peststerblichkeit, Mortality, Living Conditions, 17th century, 17. Jahrhundert, Schwarzer Tod, Black Death, Wohnverhaeltnisse, Große Pest, Great Plague, England, Bills of Mortality, Housing, Leben, Parishes
Arbeit zitieren
Alena Friedrich (Autor:in), 2003, Die Große Pest von London im Jahre 1665, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75710

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Große Pest von London im Jahre 1665



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden