Zola / Les Rougon-Macquart: Nanas destruktive Natur


Seminararbeit, 2007

23 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Hauptteil
2.1 Frau und Natur im naturalistischen Roman
2.2. Zola und Naturwissenschaft
2.3. Animalisierung Nanas
2.4. Nanas Hauptwaffen: Geschlecht und Odeur
2.5. Nanas destruktive Wirkung
2.6. Nanas Opfer

Schlussbemerkung

I. Einleitung:

Die vorliegende Arbeit untersucht die zerstörerische Natur der Protagonistin Nana im gleichnamigen Roman von Émile Zola. Der neunte Roman des Roman-Zyklus Les Rougon Macquart erschien im Jahre 1880 und handelt vom Aufstieg einer aus sozial schwachen Verhältnissen kommenden Straßendirne bis in höchste gesellschaftliche Kreise. Zum ersten Mal erwähnt wird Nana jedoch schon im Roman L’Assomoir, in dem es um ihre Eltern und vor allem ihre alkoholkranke Mutter Gervaise Macquart geht. Die von ihrem Liebhaber Lantier verlassene Wäscherin Gervaise schlägt sich mit ihrem unehelichen Kind durchs Leben. Sie heiratet den anständigen Arbeiter Coupeau und verlebt einige glückliche Jahre. Als Coupeau durch einen von der kleinen Nana miterlebten und teils mitverschuldeten Unfall arbeitsunfähig wird, verfällt er dem Alkohol und stürzt die Familie ins Unglück und den finanziellen Ruin. In dieser Situation taucht erneut Lantier auf und eröffnet eine ménage à trois. Gervaises kleinbürgerliche Moral verfällt zusehends. Nach Coupeaus alkoholbedingtem Tod wird sie zur Prostituierten. Nach einiger Zeit wird sie gleichfalls tot unter einer Treppe gefunden. Zola erlaubt in diesem Kontext einen Einblick in das Milieu, das Nana geprägt hat und ihr weiteres Leben bestimmen wird. Im Roman Nana erlebt sie den großen Durchbruch durch ihre nackt interpretierte Rolle im Theaterstück La Blonde Vénus im Théâtre des Variétés. Männer aus allen Schichten werfen sich ihr ab diesem Zeitpunkt zu Füßen. Durch geschickte Manipulation ihrer Verehrer steigt sie die gesellschaftliche Leiter hinauf. Im Verlaufe des Romans verdreht Nana den Männern reihenweise den Kopf, ruiniert sie finanziell und moralisch und korrumpiert so die Gesellschaft des Second Empire. Sie geht dabei ohne Skrupel vor, prostituiert sich und führt durch ihre wechselnden Liebhaber ein aufwendig-luxuriöses Leben. Nana steht sinnbildlich für die Dekadenz der Moral und die Genusssüchtigkeit im Second Empire. Anhand der vorliegenden Hausarbeit sollen die wesentlichen Attribute und Waffen der Protagonistin herausgestellt werden. Es geht dabei vor allem um ihre Odeur und ihr Geschlecht. Die für die Naturalisten typische Einarbeitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in den Roman, wie die Milieutheorie und deterministische Prinzipien, werden bei der Analyse des Romans berücksichtigt.

Es werden zudem die hauptsächlichen Opfer Nanas unter die Lupe genommen und herausgestellt, wie Nana auf ihre Opfer jeweils auf andere Art eingeht und diese bis zu deren Ruin manipuliert. Zunächst wird im Hauptteil auf die Darstellung der Frau und der Natur im naturalistischen Roman anhand zweier Texte von Bagueley und Becker, sowie die damit verbundene Animalisierung der Protagonistin eingegangen. Es folgt ein Überblick über naturwissenschaftliche Theorien und deren Verwendung in den Romanen von Zola. Den Bogen schließen wird eine Darstellung der besonderen Waffen Nanas und ihrer wichtigsten Opfer.

II. Hauptteil

2.1. Die Frau und die Natur im naturalistischen Roman

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts findet sich im naturalistischen und realistischen Roman ein neues Frauenbild. Die ausschließlich männlichen Romanschreiber wie Balzac oder Zola wendeten sich von Aristokratinnen ab und Bürgerlichen, Prostituierten und einfachen Arbeiterinnen aus sozial schwächeren Milieus zu. Mit diesem Wechsel der beschriebenen Figuren geht ein Wechsel der Kulissen einher. Das Romangeschehen spielt sich nicht mehr in Palästen oder Schlössern, sondern im Theater, in Bordellen, Küchen und Krankenhäusern ab.1

Das naturalistische Frauenbild steht im deutlichen Gegensatz zur romantischen Sicht der Frau. Während in der Romantik die tiefe und geheimnisvolle Seele der Frau im Vordergrund steht, rückt im Naturalismus deren materielle Körperlichkeit ins Zentrum. Die Sexualität wird so zu einer zentralen Thematik in der Literatur. Themen wie Ehebruch, Inzest und Prostitution stehen im Fokus der Romane. Die Heldinnen wollten sich nicht mehr mit dem simplen Status einer verheirateten Frau abgeben, da eine gute Ehefrau, Hausfrau und Mutter zu sein, das Verlangen nach Körperlichkeit auszuschließen schien. Das Thema des Ehebruchs wird dabei nicht heroisiert oder romantisch gesehen, sondern banalisiert und führt – meist für die Frau wie für Renée in La Curée – zur Katastrophe. Der Ehebruch ist die Überschreitung von Grenzen, welche eine Auflösung der sozialen Ordnung hervorruft.2 Er gilt zugleich als natürlich und instinktiv. Der naturalistische Text gibt den Übergang von Ordnung zu Unordnung, von mentaler Stabilität zu Hysterie und Verrücktheit, wieder. Nach Meinung Baguleys mythologisiert Zola seinerseits den Prozess des Ehebruchs. Die Natur der Sexualität erweist sich als eine unwiderstehliche Fatalität, der man sich nicht entziehen kann (Ibid.,209.). Becker hebt hervor, dass eine Entpoetisierung, Desakralisierung und Animalisierung in der Symbolik den Wandel des Frauenbildes noch weiter verstärkte (Ibid., 266.). Die Frauen werden fortan nicht mehr mit Blumen ( „lys dans la valée“ ) verglichen, sondern mit (bösen) Tieren („mouche d’or“, „chienne en chaleur“) gleichgesetzt. Becker spricht in diesem Zusammenhang von der Frau als launische und gefährliche „machine fragile” (Ibid., 266.). Gefährlich deshalb, weil sie mit ihrem nackten Körper („chair“) die Männer in den Bann zieht und sie manipuliert, so wie es im Roman Nana der Fall ist. Die Protagonistin wird sich ihrer Naturmacht bewusst und setzt diese mithilfe ihres Sexus gegen die Männer ein:

Nana était si blanche et si grasse, si nature dans ce personnage fort des hanches et de la gueule, que tout de suite elle gagna la salle entière. (41)3

Nach Becker gibt es zwei Faktoren für den Wandel des traditionellen Frauenbildes. Einerseits den physiologischen, medizinischen und technischen Fortschritt, andererseits eine übertriebene Ästhetik, die sich diese Methodik der Wissenschaften zunutze macht und in den Roman aufnimmt (Ibid., 266.).

Zolas Romane handeln im Wesentlichen von der Übereinstimmung von Männern und Frauen mit Maschinen, Pflanzen und Tieren. Sie sind gekennzeichnet durch Bewegung und einer Freizügigkeit an Formen und Zuständen. Bei Nana beispielsweise schlafen Bettler (Satin) und Adlige (Muffat) in einem Bett. Geld und Sex wüten über soziale Schranken hinaus und gehen in der Gesellschaft herum wie eine rasende Unruhe und sind ein Spiegelbild der Gesellschaft des Second Empire. Baguley spricht von Nana als „human beast“ (Ibid., 213.). Die Natur ist aus der naturalistischen Sichtweise „ästhetisch gut“, aber „ontologisch böse“. Es erweist sich als beunruhigend von einer Natur umgeben zu sein, welche die menschliche Ordnung bedroht und die Menschen zur Befolgung ihrer Gesetze zwingt. Zola zeigt die tödlichen und störenden Absichten der Natur, die im menschlichem Leben bestehen, auf (Ibid., 215.). Die Quintessenz ist, dass der menschliche Geist von seinen Instinkten und den Gesetzen der Natur besiegt und geleitet wird.

2.2. Zola und Naturwissenschaft

Wanning spricht von 3 Säulen der Zola’schen Ästhetik, basierend auf naturwissenschaftlichen Theorien.4 Es handelt sich zum einen um die Milieutheorie, die er von Hippolyte Taine (1828-1893) übernahm, zum anderen um die darwinistische Vererbungslehre, die er über den Mediziner Prosper Lucas kennen lernte und schließlich die experimentelle Methode, die er von Claude Bernard kopierte.5 Entsprechend den Theorien von Hippolyte Taine versteht Zola jeden Charakter seines Romans als Produkt eines sozial-biologischen Determinismus, der zugleich historischem Wandel unterworfen ist. Wanning meint, dass sich die sozialen Einflüsse als wesentlich stärker darstellen, da sich die biologischen Determinanten nur über die Generationenfolge, das heißt die Lektüre von mehreren Romanen rekonstruieren lassen. Auf Nana übertragen bedeutet dies, dass sie, aus einem sozial schwachen Milieu kommend, vorab determiniert ist und die Zerstörung, die sie anrichtet, eine logische Konsequenz ihrer sozialen Prägung darstellt. Sie lebt die von ihrer Mutter vorgelebte Prostitution weiter und hebt sie gleichzeitig auf ein höheres Level, indem sie bis in höchste gesellschaftliche Kreise vorstößt und sich materiell in hohem Maße bereichert. Der grand monde wird durch die Prostitution und vor allem deren Vertreterin Nana moralisch pervertiert. Baguley hebt zudem in seinem Artikel hervor, dass die Prostituierte ein weibliches Pendant zum männlichen Kriminellen darstellt und Frauen generell eine natürliche und latente Perversität in sich tragen (Ibid., 209.). Hinzu kommt Nanas genetisches Erbe. Zola war Anhänger der darwinistischen Vererbungslehre und konstruierte seinen Roman nach einem vorab festgelegten Stammbaum. Ursprung ist die Großmutter Adélaide Fouque, die Kinder mit dem Alkoholiker Antoine Marquart und dem ambitionierten Rougon hat. Die beiden Zweige der Familie entwickeln sich gemäß ihrer vererbten Anlagen. Nana steht in der 4.Generation der Rougon-Marquart.

In enger Anlehnung an die theoretischen Ausführungen des Mediziners Claude Bernard bestimmt Zola die Tätigkeit des Schriftstellers mit den Begriffen observateur und expérimentateur. Als observateur beobachtet ein Autor soziale Milieus und sammelt Fakten, als expérimentateur kombiniert er beobachtete Details zu einer neuen fiktiven Konstellation. Nana ist also vor allem durch Vererbung, die Gesellschaft und auch die konkrete historische Situation (race, milieu und moment) geprägt. Ihr Tod am Ende des Romans steht sinnbildlich für den Untergang des Second Empire, dessen scheinhafter Glanz in der Katastrophe des Deutsch-Französischen Kriegs endet.

2.3. Animalisierung Nanas

An mehreren Stellen im Roman wird Nana mit Begriffen aus der Tierwelt verglichen. Die Animalisierung der Protagonistin und deren Betrachter findet sich schon in frühen Kapiteln des Romans. Bei ihrem ersten nackten Auftritt im 1. Kapitel geht von ihr eine Läufigkeit, einer Hündin gleich, aus, die sie vom männlichen Publikum Macht ergreifen lässt und sich im Saal verbreitet. Sie zieht alle Beobachter in ihren Bann:

Nana avait pris possession du public, et maintenant chaque homme la subissait. Le rut qui montait d’elle, ainsi qu’une bête en folie, s’était épandu toujours davantage, emplissant la salle. (48)

Im 6. Kapitel findet sich ein ähnlicher Vergleich, als Nana als eine „chienne en chaleur” (81) beschrieben wird, die am Laub schnuppert und von einer Hundemeute, gemeint sind die ihr zu Füßen liegenden Liebhaber, verfolgt wird. Der Journalist Fauchery betitelt Nana zudem in einem Zeitungsartikel, der dem Grafen Muffat die Augen über Nanas wahre Natur öffnet, als eine „mouche d’or”:

[…]une mouche couleur du soleil, envolée de l’ordure, une mouche qui prenait la mort sur les charognes tolérées le long des chemins, et qui, bourdonnante, dansante, jetant un éclat de pierreries, empoisonnait les hommes rien qu’à se poser sur eux, dans les palais où elle entrait par la fenêtre. (224)

[...]


1 Siehe Colette Becker: „Dire la femme en régime réaliste/naturaliste: Du lys à la chienne en chaleur“, in Uwe Dethloff (Hrsg.), Europäische Realismen: Facetten-Konvergenzen-Differenzen, St. Ingbert 2001, S. 263-275.

2 Siehe David Baguley: Naturalist Fiction: The Entropic Vision, Cambridge 1990, S. 204-223.

3 Siehe Émile Zola: Nana. Édition d’Henri Mitterand. Paris 2002.

4 Siehe Frank Wanning,: Französische Literatur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1998, S.70-100.

5 In Anlehnung an Claude Bernards Schrift Introduction à la méthode de la médicine expérimentale (1865) versucht Zola in Le roman expérimental (1880) Prinzipien naturalistischer Ästhetik darzulegen. Ziel der experimentellen Methode ist, die Bedingungen festzustellen, unter denen die Naturphänomene stattfinden.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Zola / Les Rougon-Macquart: Nanas destruktive Natur
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V75189
ISBN (eBook)
9783638737173
ISBN (Buch)
9783638737463
Dateigröße
465 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zola, Rougon-Macquart, Nanas, Natur
Arbeit zitieren
Sebastian Braun (Autor:in), 2007, Zola / Les Rougon-Macquart: Nanas destruktive Natur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75189

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