Die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote


Hausarbeit, 2007

47 Seiten, Note: Vollbefriedigend, 11 Punkte


Leseprobe


Inhalt

A Einleitung: Die Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaft (EG)

B Die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote
I Die Grundfreiheiten im Überblick
1. Die fehlende Dogmatik der Grundfreiheiten
2. Anwendung und Funktion der Grundfreiheiten
2.1 Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit
2.2 Der Vorrang der Grundfreiheiten
2.3 Das grenzüberschreitende Element und die Inländerdiskriminierung
2.4 Drittwirkung der Grundfreiheiten
2.6 Die Grundfreiheiten und das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG
3. Die Grundfreiheiten
3.1 Die Freiheit des Warenverkehrs (Art. 23-31 EG)
3.2.2 Die Niederlassungsfreiheit (Art. 43-48 EG)
3.3 Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49-55 EG)
3.4 Der freie Kapital- und Zahlungsverkehr (Art. 56-60 EG)
4. Zusammenfassung: Die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote
II Veränderungen in der Auslegung der Grundfreiheiten in den 90er Jahren
1. Die analoge Anwendung der Keck-Rechtsprechung auf sämtliche Grundfreiheiten
2. Die Rechtfertigung von sonstigen Beschränkungen der Grundfreiheiten im Sinne der Cassis-Formel
III Auswirkungen auf die Dogmatik der Grundfreiheiten
A. Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich
B. Eingriffsverbote (Schutzumfang)

C. Eingriffsmöglichkeiten (Schranken)

D. Schlussbetrachtung und Ausblick: Die Grundfreiheiten im System der Gemeinschaftsgrundrechte

Literaturverzeichnis

A Einleitung: Die Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaft (EG)

Die Grundfreiheiten der EG, namentlich die grundsätzliche Freiheit des Warenverkehrs (Art. 23-31 EG), die Freiheit des Personenverkehrs, die sich in die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39-42 EG) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 43-48 EG) aufspalten lässt, die Freiheit der Dienstleistungen (Art. 49-55 EG) sowie die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 56-60 EG), bilden einen essentiellen Teil der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), die im EG-Vertrag[1] geregelt sind[2]. Die Europäische Gemeinschaft sollte ursprünglich vorrangig eine Wirtschaftseinheit sichern, deren Ziel es war, innerhalb der Europäischen Gemeinschaft „Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen“[3]. Grundlegend war dabei das „Prinzip eines Gemeinsamen Marktes“, das die wirtschaftliche Integration aller EU-Staaten fördern sollte[4]. Ein „Gemeinsamer Markt“ setzt im Sinne des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die „Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel“ voraus, mit dem Ziel einer „Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines Binnenmarktes sehr nahe kommen“[5]. Bei der Verwirklichung eines Binnenmarktes sollte der einzelne EU-Bürger nicht an Rechtsordnungen und Grenzen seines Herkunftslandes gebunden sein, sondern sich auch grenzüberschreitend individuell wirtschaftlich betätigen können[6]. Die Grundfreiheiten gewinnen vor allem durch den Hintergrund des angestrebten Binnenmarktes i.S.v. Art. 14 Abs. 2 EG, der sowohl Marktfreiheit als auch Marktgleichheit fordert[7], an Bedeutung[8] und stellen zudem ein „Grundgerüst“[9] für die Verwirklichung dieser Idee dar.

Damit fungieren die Grundfreiheiten als subjektive Rechte eines jeden Bürgers der Europäischen Union und sind vor allem auf das Ziel gerichtet, Beschränkungen im innergemeinschaftlichen Handel zu beseitigen[10]. Das Gewicht der Grundfreiheiten wird infolgedessen in der herrschenden Meinung der juristischen Literatur als sehr hoch eingeschätzt. So bezeichnet Dirk Ehlers die Grundfreiheiten als „Stützpfeiler der gemeinschaftsrechtlichen Wirtschaftsverfassung“[11], Axel Mühl betitelt die EG-Grundfreiheiten als „tragende Bausteine des Gemeinsamen Marktes“[12].

Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Schlüsselrolle der Grundfreiheiten in der EG, und soll zeigen, dass die EG-Grundfreiheiten einen wesentlichen Bestandteil in der europäischen Integration einnehmen[13]. Dabei wird auch auf die Problematik einer fehlenden Dogmatik der Grundfreiheiten eingegangen. Nach einer allgemeinen Vorstellung der Auslegung der Grundfreiheiten, wie sie aus der Rechtsprechung des EuGH hervorgeht, wobei insbesondere gezeigt werden soll, in wie weit sich die Grundfreiheiten in der EG als Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbote beschreiben lassen, soll die Veränderung ihrer Bedeutung betrachtet werden, die sich aufgrund einer abweichenden Rechtsprechung des EuGH ab Mitte der 90er Jahre ergab[14]. Die erheblichen Veränderungen, die in dem Bereich der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH stattgefunden haben, lösten Prozesse aus, die bis dato keineswegs abgeschlossen sind. So kam es zu einer Ausweitung der Grundfreiheiten als Verbote von offenen, unmittelbaren Diskriminierungen auf Verbote, welche ebenfalls versteckte, mittelbare Diskriminierungen untersagen und mittlerweile darüber hinaus als allgemeine oder spezifische Beschränkungsverbote ausgelegt werden[15]. Im Weiteren soll im Rahmen dieser Arbeit diskutiert werden, in wie weit ein einheitliches System der Grundfreiheiten verwirklicht werden konnte und in diesem Zusammenhang von einer zunehmenden „Konvergenz der Grundfreiheiten“[16] gesprochen werden kann. In der Schlussbetrachtung wird abschließend die Bedeutung der Grundfreiheiten im 21. Jahrhundert erläutert sowie ihr Verhältnis zu den EU-Grundrechten beschrieben.

B Die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote

I Die Grundfreiheiten im Überblick

1. Die fehlende Dogmatik der Grundfreiheiten

Trotz ihrer erheblichen Bedeutung im europäischen Rechtssystem, fällt es schwer, eine dogmatische Grundstruktur der Grundfreiheiten auszumachen. Bis Anfang der 90er Jahre lassen sich zwar „übergreifende Aspekte“[17] feststellen, doch eine Konvergenz ist nicht zu erkennen. Diese Tatsache ist vor allem auf den Entwicklungsprozess im Bereich des Europarechts zurück zu führen, der aufgrund der hohen Diversität der Mitgliedstaaten von „Kompromisslösungen“[18] geprägt ist. Pragmatische Lösungen waren in diesem Bereich nicht selten dogmatischen Anforderungen vorzuziehen. Demzufolge gab es lange Zeit kaum Ansätze einer übergreifenden Dogmatik der Grundfreiheiten[19]. Im Folgenden sollen konvergierende Aspekte der Grundfreiheiten vorgestellt werden, um zumindest eine grobe Dogmatik entwerfen zu können. Infolgedessen soll gezeigt werden, in wie weit die Grundfreiheiten aufgrund einer veränderten Rechtsprechung des EuGH ab Mitte der 90er Jahre im Zusammenhang mit ihrer Bedeutung als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote zunehmend dogmatisiert wurden.

2. Anwendung und Funktion der Grundfreiheiten

Es ist das Ziel des EG-Vertrages, den Europäischen Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen[20], die EG stellt folglich vor allem eine „Wirtschafts- und Währungsunion mit einem gemeinsamen Markt“[21] dar. Im Rahmen dessen fungieren die Grundfreiheiten grundsätzlich als Vorschriften, die die einzelnen Mitgliedstaaten zu einem Abbau der bestehenden wirtschaftlichen Schranken verpflichten sowie das Verbot aussprechen, neue Beschränkungen zu erheben, welche die Freiheit des Waren- oder Personenverkehrs, der Dienstleistungen sowie des Kapital- und Zahlungsverkehrs betreffen.

Somit sind die Grundfreiheiten als „fester Kern“[22] des EG-Vertrages zu betrachten, der die Integration aller Mitgliedstaaten in die EG fördern soll. An dieser Stelle sollen die Beschaffenheit und Anwendung der Grundfreiheiten erläutert sowie ihre Funktion beschrieben werden.

2.1 Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit

Die Grundfreiheiten sind Teil des primären Gemeinschaftsrechts und somit von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängiges Recht, dem eine unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten zukommt[23]. Jeder EU-Bürger kann sich folglich auf die Grundfreiheiten berufen und sie als subjektive Rechte geltend machen. Gleichsam muss auch die nationale Verwaltung und Rechtsprechung diese beachten. Diese Grundsätze zur Anwendung der Grundfreiheiten legte der EuGH in den Entscheidungen Van Gend&Loos[24] aus dem Jahre 1963 und Costa/ENEL[25] aus dem Jahre 1964 fest[26]. Demnach besitzen die Grundfreiheiten sowohl einen objektiv- als auch einen subjektiv-rechtlichen Charakter. Sie können von den Unionsbürgern vor den Gemeinschaftsgerichten und vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden[27]. Zudem muss das Sekundärrecht stets im Lichte der Grundfreiheiten ausgelegt werden, d.h. einschlägiges primärrechtskonformes Sekundärrecht geht der Anwendung der Grundfreiheiten zwar vor, sofern es dem zu entscheidenden Fall gerechter wird[28], die Grundfreiheiten müssen jedoch bei jeder Entscheidung berücksichtigt werden.

2.2 Der Vorrang der Grundfreiheiten

Die Grundfreiheiten sind erstrangig an die EG-Mitgliedstaaten gerichtet. In ihrer Funktion als allgemeine Rechtsgrundsätze haben sie die Aufgabe, alle mitgliedstaatlichen Regelungen zu beseitigen, die mit ihren Prinzipien unvereinbar sind. Geschieht dies nicht in ausreichendem Maße, hat jeder Gemeinschaftsbürger das Recht, sich auf die Grundfreiheiten zu berufen[29].

Die EG-Grundfreiheiten genießen folglich einen Vorrang vor dem nationalen Recht, d.h. wenn es zu einer Kollidierung von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht kommt, so ist stets nach dem Gemeinschaftsrecht zu entscheiden. Man spricht hier jedoch lediglich von einem „Anwendungsvorrang“[30], d.h. das nationale, dem Gemeinschaftsrecht widersprechende Recht bleibt zwar gültig, gilt aber fortan als unanwendbar in der zu klärenden Rechtssache. Somit werden sämtliche Instanzen, die an der jeweiligen Rechtsangelegenheit teilhaben, zu einer Nichtanwendung des nationalen Rechts verpflichtet[31].

2.3 Das grenzüberschreitende Element und die Inländerdiskriminierung

Die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten setzt ein „grenzüberschreitendes Element“[32] voraus, so die ständige Rechtsprechung des EuGH[33]. Folglich finden die Grundfreiheiten bei innerstaatlichen Konflikten keine Anwendung, da diese das Gemeinschaftsrecht nicht tangieren. Das besagte grenzüberschreitende Element muss dabei tatsächlich vorhanden sein, d.h. es muss im Rahmen der zu entscheidenden Rechtssache ein relevanter Grenzübertritt stattgefunden haben. Waren oder Personen, die an der jeweiligen Rechtsangelegenheit beteiligt sind, müssen demnach zu einem beliebigen Zeitpunkt in irgendeiner Weise eine mitgliedstaatliche Grenze passiert haben. Somit können die Grundfreiheiten auch auf Inländer bzw. inländische Waren Anwendung finden, sofern ein relevanter Grenzübertritt stattgefunden hat[34]. Diese Regelung schafft allerdings die Problematik einer möglichen „Inländerdis­kriminierung“, da eine Schlechterstellung der Inländer gegenüber anderen Gemeinschafts­mitgliedern durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen nicht untersagt wird[35]. Auch das deutsche Verfassungsrecht würde eine Regelung, die nur für deutsche Staatsbürger gilt, wie z.B. eine Meisterprüfung nach der Handwerksordnung nur für deutsche Handwerker[36], nicht zwingend als Diskriminierung anerkennen. Die Zulassung einer solchen Inländerdiskriminierung gerät jedoch offensichtlich in Konflikt mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG. Die Frage der Vereinbarkeit der Inländerdiskriminierung und dem deutschen Verfassungsrecht ist umstritten und vom BVerfG nicht abschließend geklärt[37]. Doch haben auch Inländer einen Nutzen der Grundfreiheiten, möchten sie beispielsweise Waren in einen anderen Mitgliedstaat ausführen oder sich im Rahmen einer Dienstleistungserbringung in das EG-Ausland begeben bzw. dort niederlassen[38].

2.4 Drittwirkung der Grundfreiheiten

Die Frage, in wie weit eine Drittwirkung der Grundfreiheiten vorliegt, d.h. in wie weit auch Privatpersonen an die Grundfreiheiten gebunden sind, ist umstritten. Bis dato ist in diesem Bereich keine einheitliche Rechtsprechung entwickelt worden, doch hat der EuGH im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine Drittwirkung, also eine Bindung von Privaten anerkannt[39]. Diese ist jedoch auf ein Diskriminierungsverbot für private Arbeitgeber zu begrenzen, so Frenz[40]. Eine derartige Drittwirkung steht allerdings einer konvergierenden Rechtsprechung aller Grundfreiheiten entgegen[41], da der EuGH bezüglich der anderen Grundfreiheiten, insbesondere im Bereich des freien Warenverkehrs[42], eine Drittwirkung klar verneint hat. Bezüglich des freien Warenverkehrs wurde lediglich eine Schutzpflicht des Staates anerkannt, welche die einzelnen Mitgliedstaaten daran bindet, bei Beschränkungen der Freiheit des Warenverkehrs durch Private einzugreifen[43]. Thiele schlägt vor, dass sich die gesamte Diskussion der Drittwirkungsproblematik an der eben genannten „Schutzpflichtenkonstruktion“ orientieren solle und somit eine mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten bestehen könne[44].

2.5 Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Gemeinschaftsrechts

Die Grundfreiheiten sind von anderen, geschriebenen und ungeschriebenen, Rechtssätzen klar abzugrenzen. So beispielsweise von dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG, das subsidiär zu den Grundfreiheiten ist und zudem lediglich eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet. Darüber hinaus müssen die Grundfreiheiten von anderen besonderen Gleichheitsrechten unterschieden und abgegrenzt werden, so z.B. von Art. 25, 31, 72, 90 und 294 EG, die aufgrund ihrer Stellung als leges speciales den Grundfreiheiten vorgehen. Andere Vorschriften, die Ungleichbehandlungen verbieten, wie z.B. Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EG, der eine Diskriminierung zwischen Erzeugern und Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft zum Zwecke einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte verbietet sowie zahlreiche Vorschriften zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, beispielsweise Art. 141 EG, sind als Vorschriften mit einem unterschiedlichen Regelungsgehalt zu sehen und stehen somit an gleicher Stelle wie die Grundfreiheiten. Zu den ungeschriebenen Rechten, die von den Grundfreiheiten abzugrenzen sind, gehören vor allem die Gemeinschaftsgrundrechte, die im Rahmen einer „wertenden Rechtsvergleichung“ mit anderen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, vor allem mit Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), vom EuGH, auf Art. 220 EG gestützt, abgeleitet wurden. Die Anwendungsbereiche der Gemeinschaftsgrundrechte und der Grundfreiheiten können sich überschneiden. Kingreen stellt bezüglich dieser Problematik jedoch die Annahme an, dass die Grundfreiheiten als besondere Formen der Grundrechte den allgemeinen Grundrechten vorgehen, soweit ihre Anwendung möglich sei[45]. Somit ist eine Konkurrenz von Grundrechte und Grundfreiheiten auszuschließen[46]. An späterer Stelle dieser Arbeit soll jedoch gezeigt und belegt werden, in wie weit die Grundfreiheiten mittlerweile durch ihre Ausweitung zu Beschränkungsverboten in der Rechtsprechung des EuGH als „wirtschaftliche Grundrechte“[47] bezeichnet werden können.

2.6 Die Grundfreiheiten und das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG

Die Grundfreiheiten stellen in erster Linie ein Diskriminierungsverbot dar, doch sind sie, wie bereits erwähnt von dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG klar abzugrenzen. Art. 12 EG verbietet, den Grundfreiheiten gleich, eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit innerhalb der Gemeinschaft.

Das allgemeine Diskriminierungsverbot ist dabei jedoch nicht auf einen bestimmten Bereich, wie z.B. den Warenverkehr beschränkt, sondern erfasst den Anwendungsbereich des gesamten EG-Vertrages[48], d.h. er fordert die völlige Gleichbehandlung von Inländern und EG-Ausländern innerhalb der EU. Art. 12 EG ist den Grundfreiheiten, wie bereits erwähnt[49], subsidiär, da er nur „unbeschadet besonderer Bestimmungen“ angewendet werden darf. Zudem wird das allgemeine Diskriminierungsverbot durch die Grundfreiheiten konkretisiert, somit gehen die Grundfreiheiten Art. 12 EG als leges speciales vor[50]. Wie den Grundfreiheiten, kommt auch Art. 12 EG eine unmittelbare Wirkung zu, d.h. jeder EU-Bürger kann sich unmittelbar darauf berufen. Das allgemeine Diskriminierungsverbot kann jedoch darüber hinaus als eine Ausprägung des ausdrücklichen Diskriminierungsverbotes angesehen werden, das den EG-Grundfreiheiten zu Grunde liegt[51]. Somit ist Art. 12 EG als „Auslegungsgrundsatz“ der Grundfreiheiten zu betrachten, der, ähnlich den Grundrechten im deutschen Recht, bei sämtlichen Rechtsentscheidungen berücksichtigt werden muss. Zudem stellt das Verbot von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit als besondere Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes ein „Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts“ dar, so die ständige Rechtsprechung des EuGH[52]. Zusammenfassend ist das allgemeine Diskriminierungsverbot als „relatives Diskriminierungsverbot“ zu verstehen, das zur Anwendung kommt, sobald die Grundfreiheiten weder in ihrem Kern- noch in ihrem Randbereich betroffen sind. Bei Eingriffen in den Schutzbereich des Art. 12 EG ist eine Rechtfertigung durch immanente Schranken, unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, möglich[53].

3. Die Grundfreiheiten

3.1 Die Freiheit des Warenverkehrs (Art. 23-31 EG)

Die Freiheit des Warenverkehrs umfasst drei Bereiche. Sie fordert eine Zollunion (Art. 25 EG) und das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen sowie aller Maßnahmen gleicher Wirkung, kurz eine grundsätzliche Warenfreiheit, Art. 28 EG. Zudem werden die Mitgliedstaaten zur Umformung staatlicher Handlungsmonopole verpflichtet, Art. 31 EG. Anzumerken ist, dass in der Praxis lediglich der Warenfreiheit eine relevante Bedeutung zukommt, während die anderen Bereiche untergeordnete Positionen einnehmen. Da mittlerweile fast sämtliche Waren einen gemeinschaftsrechtlichen Bezug aufweisen, wurden im Bereich der Warenverkehrsfreiheit bereits zahlreiche „klassische“ Fälle vor dem EuGH entschieden[54]. An dieser Stelle sollen lediglich die Zollunion sowie die Warenfreiheit näher erläutert werden, da sie bezüglich der Thematik der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote eine wichtige Rolle spielen.

Der Begriff der „Ware“

In allen drei Bereichen des freien Warenverkehrs ist der Begriff der Ware grundlegend. In der Vergangenheit hat es dazu verschiedene Definitionen gegeben, da es diesbezüglich keine eindeutige Definition im EG-Vertrag gibt. Der EuGH definiert den Begriff der Ware sehr weit und fasst darunter „grundsätzlich alle körperlichen Gegenstände einschließlich des elektrischen Stroms“[55]. Entscheidend ist lediglich, dass diese Gegenstände einen Geldwert haben sowie Gegenstand von Handelsgeschäften sind[56]. Dabei ist zu beachten, dass es sich dabei nicht um einen Gegenstand handeln darf, der lediglich eine Dienstleistung erfüllt, hier greift die Dienstleistungsfreiheit[57]. In der neueren Rechtsprechung durch den EuGH wird zudem betont, dass Waren sämtliche Gegenstände sind, die hergestellt wurden und folglich Gegenstände des wirtschaftlichen Verkehrs sind[58].

[...]


[1] Ursprüngliche Fassung vom 1.1.1958, durch den Amsterdamer Vertrag geändert: 1.5.1999, durch den Vertrag von Nizza geändert: 1.2.2003, durch die EU-Beitrittsakte geändert: 1.5.2004.

[2] Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, Einführung.

[3] Vgl. Präambel EGV, 8. Erwägungsgrund.

[4] Thiele, Grundriss Europarecht, S.167; ebenso Borchardt, Grundlagen der EU, § 7 Rn 543.

[5] EuGH 1982, 1409 (1431).

[6] Thiele, Grundriss Europarecht, S.167.

[7] Borchardt, Grundlagen der EU, § 7 Rn 554.

[8] Ohler, Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten, S.839ff.

[9] Thiele, Grundriss Europarecht, S.167.

[10] Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, S.182.

[11] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten. § 7 Rn 1.

[12] Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, Einleitung.

[13] Diese zentrale Bedeutung der Grundfreiheiten für die europäische Integration betont Matthias Ruffert in seiner Anmerkung Internet-Apothe und Dogmatik der Grundfreiheiten zum EuGH-Urteil vom 11.12.2003/C-322/01 (DocMorris); ebenso Ohler in seinem Aufsatz Das Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten.

[14] Brigola, System der EG-Grundfreiheiten, Einführung.

[15] Lecheler, Europarecht, S.222.

[16] Lecheler, Europarecht, S.222.

[17] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 16.

[18] Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S.30.

[19] Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S.30f.

[20] Vgl. dazu Art. 14 EG.

[21] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 1.

[22] Lecheler, Europarecht, S.222.

[23] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 7.

[24] EuGH 1963, 1 (zur unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheiten).

[25] EuGH 1964, 1253 (zum Vorrang der Grundfreiheiten vor nationalem Recht).

[26] Thiele, Grundriss Europarecht, S.171.

[27] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 8.

[28] So auch im nationalen Recht, wo ebenfalls die Rechtsquelle zur Anwendung kommt, die dem entscheidenden Fall am nächsten steht.

[29] Lecheler, Europarecht, S.220.

[30] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 9.

[31] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 9.

[32] Thiele, Grundriss Europarecht, S.174.

[33] EuGH 1994, I-2715; 1982, 3723; 1992, I-341; 1993, I-429.

[34] Thiele, Grundriss Europarecht, S.174f.

[35] Thiele, Grundriss Europarecht, S.175.

[36] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 20.

[37] Thiele, Grundriss Europarecht, S.175.

[38] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 21.

[39] EuGH 2000, I-4139; vgl. dazu Thiele, Grundriss Europarecht, S.169.

[40] Frenz, Handbuch Europarecht, § 1 Rn 1157ff.

[41] Steinberg, Konvergenz der Grundfreiheiten, S.13ff.

[42] EuGH 1987, 3801.

[43] EuGH 1997, I-6959.

[44] Thiele, Grundriss Europarecht, S.170.

[45] Kingreen in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn 81.

[46] Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten, S.111.

[47] Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S.19 (Einführung).

[48] Brigola, System der EG-Grundfreiheiten, S.179.

[49] Vgl. Kap. I 2.5.

[50] Frenz, Handbuch Europarecht, § 1 Rn 2902.

[51] Frenz, Handbuch Europarecht, § 1 Rn 2899ff.

[52] Vgl. EuGH 1980, 3005.

[53] Brigola, System der EG-Grundfreiheiten, S.192.

[54] Thiele, Grundriss Europarecht, S.180f.

[55] EuGH 1994, I-1477 (Almelo).

[56] EuGH 1968, 633/642 (Kunstschätze I).

[57] Vgl. Entscheidung im Lotteriewesen, EuGH 1994, I-1039.

[58] EuGH 1992, I-4431 (Kommission/Königreich Belgien); Brigola, System der EG-Grundfreiheiten, S.1f.

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote
Hochschule
Universität zu Köln  (Seminar im Europa-, Völker- und Öffentlichen Recht)
Note
Vollbefriedigend, 11 Punkte
Autor
Jahr
2007
Seiten
47
Katalognummer
V75010
ISBN (eBook)
9783638743280
ISBN (Buch)
9783638770194
Dateigröße
805 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grundfreiheiten, Diskriminierungs-, Beschränkungsverbote
Arbeit zitieren
Lisa-Marie Rohrdantz (Autor:in), 2007, Die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75010

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