Mande-Literatur im Zeitalter der Négritude

Die Rolle der frankographen Mande-Literatur in der modernen Négritude-Bewegung am Beispiel von Masse Makan Diabaté


Hausarbeit, 2007

64 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

A Einleitung: Die Mande-Literatur und Massa Makan Diabaté

B Die Konzeption der Mande-Literatur und Diabatés Umsetzung in seinen Romanen
I Die Eigenart der Mande-Konzepte
1. Ursprung und Bedeutung der Mande-Literatur
2. Der jamu – die soziale Struktur der Mande
3. Das Sunjata-Fasa
4. „Kasten“ in der Mande-Gesellschaft
4.1 Das soziale System des antiken Mande-Reiches in der modernen Mande-Gesellschaft
4.2 Das Verhältnis von nyamakalaw und h É r É nw
5. Konkrete Mande-Konzepte im Überblick
5.1 fasa und fasiya – Die Determination des Seins im Mande
5.2 fadenya und badenya als grundlegende Mande-Sozialkonzepte
5.3 ngana und nganaya – Helden und Heldenideal im Mande
5.5 ngara – Der Künstler als Mediator des Heldentums
6. Sprichwörter in der Mande-Gesellschaft
7. Kulturelle und sprachliche Identität im Mande – Diglossie und Transposition von Mande-Metaphorik in die französische Sprache
II. Massa Makan Diabaté
1. Massa Makan Diabaté und seine Rolle als moderner Griot
2. Die Roman-Trilogie Massa Makan Diabatés und die Struktur der Mande-Prosa
3. „Le Boucher de Kouta“
Fazit
III. Der Bezug der Mande-Literatur zur modernen Négritude-Bewegung
1. Ursprünge und Grundzüge der Négritude-Bewegung
2. Definitionen von Négritude
3. Die Mande-Literatur als Ausdrucksform der Négritude

C Ausblick und Schlussbetrachtung: Möglichkeiten und Grenzen der Mande-Literatur im heutigen postkolonialen Afrika

Literaturverzeichnis

A Einleitung: Die Mande-Literatur und Massa Makan Diabaté

Le monde est une maison qui n’a ni portes ni fenêtres. Et seuls se voient coincés dans cette immense demeure ceux qui essaient d’en sortir en emportant la part des autres. La part des autres? C’est leur défauts.“[1]

Die Mande-Literatur ist eine Form des Ausbrechens aus dieser Welt „ohne Fenster und Türen“, ein Versuch, die kolonialen Strukturen in einer postkolonialen Welt zu überwinden und durch ein Berufen auf die eigene Kultur und Geschichte zurückzugewinnen, was zahlreichen afrikanischen Menschen durch die unfreiwillige Kolonialisierung genommen wurde. Mande-Autoren fordern die Rückbesinnung und Selbstfindung ihrer verratenen Völker und streben durch eine „nostalgische Rückbesinnung in die eigene Vergangenheit“[2] ein neues Gefühl der Solidarität und der gesellschaftlichen Dynamik an. Sie sehen sich als Lehrer und „Anwälte“ ihrer Mitmenschen, die durch „kritische Bilanz“ an ihre traditionellen moralischen und sozialen Werte erinnern möchten und moderne Konflikte mit traditionellen Mitteln zu lösen versuchen.[3] Die Mande-Literatur lässt sich in ihrer Eigenart somit nicht in westliche Muster und Literaturkonzepte einordnen, sondern hebt sich durch ganz eigene Konzepte von eben dieser „westlichen“ Literaturkonzeption ab und ist dieser sogar fast kämpferisch gegenüber zu stellen, da sie sich gegen eine weitere Assimilation an die westliche Kultur und das westliches Werteverständnis auflehnt und für die Selbstbehauptung der ehemals kolonisierten Völker eintritt.

Diese Arbeit nimmt sich die besagte besondere Beschaffenheit der Mande-Literatur zum Gegenstand, mit dem Ziel, ihre Eigenart zu beschreiben sowie ihre Bedeutung und Funktion in der modernen postkolonialen Gesellschaft Afrikas zu verdeutlichen.

Nach einer allgemeinen und historischen Begriffsbestimmung wird ausführlich auf die konkreten Mande-Konzepte eingegangen, die sich in traditionellen Bambara [4] -Begriffen ausdrücken lassen. Zudem wird die Bedeutung des Sunjata[5] -Epos in der Mande-Literatur erläutert und insbesondere die sprachsoziologischen Aspekte sowie die sprachliche und kulturelle Identität beschrieben, die im Mittelpunkt der Mande-Literatur stehen. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf die zunächst sehr problematisch erscheinende Tatsache gelegt, dass die Mande-Autoren die französische Sprache nutzten, um sich literarisch auszudrücken.

In einem zweiten Teil wird exemplarisch der malische Griot und Autor Massa Makan Diabaté[6] vorgestellt, der als einer der populärsten Autoren Malis gilt und als Hauptvertreter der Mande-Literatur angesehen werden kann. Es soll im Weiteren an Diabatés Roman-Trilogie gezeigt werden, in wie weit die zuvor erläuterten Mande-Konzepte in seinem literarischen Werk zu finden sind.

In einem dritten und abschließenden Teil wird der Bezug von Massa Makans Diabatés Tätigkeit als Mande-Autor zur Négritude-Bewegung hergestellt, die ihren Ursprung in der intellektuellen Revolte gegen den französischen Kolonialismus im Paris der 1930er Jahren findet. Dabei wird die Bedeutung und Rolle der Mande-Literatur in dieser revolutionären Bewegung herausgearbeitet sowie in ihren Grundsätzen und Forderungen der Négritude-Bewegung gegenüber gestellt. Im Rahmen der Schlussbetrachtung sollen schließlich ausblickend die Möglichkeiten und Grenzen der Mande-Literatur im heutigen modernen, aber immer noch stark von kolonialen Strukturen und deren Auswirkungen geprägten, Afrika aufgezeigt werden.

B Die Konzeption der Mande-Literatur und Diabatés Umsetzung in seinen Romanen

I Die Eigenart der Mande-Konzepte

1. Ursprung und Bedeutung der Mande-Literatur

Die Mande[7] -Literatur wurzelt im antiken Mande-Reich[8] und in diesem Rahmen in den antiken Mande-Gesellschaften. Diese Gesellschaften und Völker sind vor allem die Malinke, die Bambara, die Dyula und die Soninka,[9] die auch heute noch Dialekte des Mande[10] sprechen und in einem großen Teil von Westafrika, in der westafrikanischen Savanne, von der Gambischen Küste bis Zentral-Burkina-Faso sowie vom südlichen Mauretanien bis Abidjan in der Elfenbeinküste leben. Als „Mande heartland“ oder Kernland des Mande-Reiches[11] kann jedoch das östliche Guinea sowie das westliche Mali bezeichnet werden.[12] Über sämtliche dieser Regionen erstreckte sich das antike Mande-Reich, das im 13. und 14. Jahrhundert bestand und in der modernen postkolonialen Gesellschaft Westafrikas den kulturellen Hintergrund für eine nationale Literatur bildet.[13] Die dort lebenden Menschen, die Mande, besitzen einen gemeinsamen soziokulturellen Hintergrund, d.h. eine ähnliche politische Organisation und wirtschaftliche Aktivität sowie eine gemeinsame Geschichte und ebenso spezifische Mythen, an die sie glauben und nach denen sie leben. Die Mande-Kultur ist somit „a fluid federation of culture and genealogy, held together by history, myth and structure, it is a sphere, a space, an aire culturelle […] all those groups who trace their ancestry to the medieval empire of Mali […] all those whose history is related in the Mande epic […].”[14] Die Gemeinschaft der Mande-Völker impliziert das Bewusstsein einer Einheit, einer „national unity“, die trotz der Landesgrenzen, die einst die Kolonialherren zogen, besteht und über diese hinweg eine einheitliche Mande-Gesellschaft bildet. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass einer der stärksten Widerstandsbewegungen gegen die französischen Kolonialherren von der sogenannten “Dyula-Revolution” ausging, einer Bewegung, die unter der Führung von Samory Touré im späten 19. Jahrhundert das Mande-Reich wieder zum Leben erwecken wollte.[15]

Lange bevor das Mande-Imperium von europäischen Machthabern beherrscht wurde, bildeten im früheren Mande-Reich die Malinke das größte westafrikanische Volk der Geschichte und auch heute gilt der erste König und Gründer des Mali-Reiches Sunjata Keita unter den Mande-Völkern als Held und als Mansa, als „König der Könige“. Seine Geschichte wurde ausschließlich mündlich von Griots[16] überliefert und gilt auch heute noch als „unifying force“ der Mande.[17] Aufgrund dieser erheblichen Bedeutung ist auch die Konzeption vieler Mande-Epen an das Sunjata-Fasa angelehnt. Zudem finden sich in der Mande-Literatur die soeben beschriebenen gemeinsamen soziokulturellen Werte, Mythen und Heldenfiguren der antiken Mande-Gesellschaften wieder, die auch heute noch im Zentrum des Lebens vieler Mande-Völker stehen. Bis heute ist das Mande zudem eine bedeutende Sprache in der sozialen Gemeinschaft sowie im Rahmen von Handelsbeziehungen.[18]

2. Der jamu – die soziale Struktur der Mande

Zunächst soll an dieser Stelle die gesellschaftliche Struktur der Mande-Völker betrachtet werden. In westlichen ethnologischen Konzepten werden Gesellschaften meist durch Analyse der verschiedenen „clans“ und „classes“ untersucht, die innerhalb einer Gesellschaft bestehen.[19] Der Ethnologe Charles Delafosse stellte im Jahre 1920 jedoch fest, dass es im Mande keinen Ausdruck für „clan“ gebe, obgleich die Mande-Gesellschaften in ihrer Struktur als Gemeinschaft verschiedener „clans“ erscheinen, die auf bestimmten Namen und einer gemeinsamen Herkunft basieren. Delafosse schlug infolgedessen vor, sich nicht an den westlichen Kategorien zu orientieren, die lediglich Klassifikationen wie „clans“ und „classes“ kennen, sondern sich nach dem zu richten, „what the natives say“, d.h. danach, wie die Mande-Gesellschaften tatsächlich zu ihrer gesellschaftlichen Struktur gelangten und wie sie diese selbst beschreiben.[20]

Grundlegend in der hierarchischen Gesellschaftsstruktur der Mande ist der jamu eines jeden Menschen, der Nachname oder Familienname eines individuellen Mande. Ein „clan“ besteht aus Individuen, die allesamt von einem Vorfahren abstammen und folglich dessen Namen tragen.[21]

In genau dieser Weise ist die Gesellschaftsklassifikation der Mande in Form der verschiedenen jamuw[22] zu verstehen. In den Mande-Gesellschaften gibt es, vergleicht man diese mit der Anzahl von Nach- und Familiennamen in anderen Kulturen, sehr wenige jamuw, die aber von zahlreichen, wenn auch nicht unbedingt verwandten, Menschen getragen werden.[23]

Jamu bedeutet „das, was ehrt“, „that what honours“, und ist somit als „patronymic and praise name“ zu verstehen. Damit nimmt der jamu eine überragend wichtige Position bezüglich der Identität des Einzelnen in der Mande-Gesellschaft ein, denn wird jemand mit seinem Namen angesprochen, so werden zugleich seine Vorfahren gelobt und anerkannt. Der jamu impliziert in diesem Sinne eine enorme Aufwertung und infolgedessen können im Mande-Konzept Name und Sein kaum voneinander getrennt werden. Der jamu wirkt „endlessly valorized“ und ist somit Hauptidentitätskriterium eines Individuums der Mande-Gesellschaft.[24]

3. Das Sunjata-Fasa

Zurückzuführen sind die genannten verschiedenen jamuw auf unterschiedliche Heldenfiguren[25], die zu Zeiten Sunjata Keitas,[26] im ungefähren Zeitraum der Jahre von 1245 bis 1260, im antiken Mande-Reich lebten. Wie bereits erwähnt, wird Sunjata Keita als erster König und Gründer des Mande-Reiches bis heute als Held der Mande-Völker verehrt und gefeiert und somit kommt seiner Heldengeschichte eine grundlegende Rolle in der Konzeption der Mande-Gesellschaften zu. Sunjata gründete, der Legende nach, das Mande-Reich und führte zudem den Islam in den Mande-Gesellschaften ein. Gelähmt geboren wird er durch mysteriöse Umstande zu einem großen Krieger, der die Mande schließlich von der Tyrannenherrschaft des Susu-Königs Sumanguru Kante befreit.[27]

Sunjatas Reich als Vorbild der modernen Gesellschaft

Infolge der grundlegenden Bedeutung des Sunjata-Fasa in der Mande-Gesellschaft sind auch die Beziehungen zwischen den verschiedenen jamu -Trägern an das Verhältnis der Namensgeber untereinander im antiken Mande-Reich angelehnt. Durch die orale Überlieferung der Begebenheiten zu Zeiten der Vorfahren wird somit festgelegt, in welcher Beziehung die jamuw -Träger auch heute noch zueinander stehen, d.h. in welcher Weise Feindschaften existieren, zwischen welchen jamuw sogenannte „Spaßverwandtschaften“[28] bestehen und wer in der Mande-Gesellschaft dazu bestimmt ist, das Land zu regieren. Somit stellt das Sunjata-Fasa ein Vorbild und die grundlegenden Rechtfertigungsgründe für die modernen Gesellschaftsstrukturen der Mande dar.[29] Das Sunjata-Fasa birgt ein komplexes Ideengut, religiöse Vorstellungen und Kulte sowie ein fiktives Verwandtschaftssystem;[30] „Sundiata pronounced all the prohibitions which still obtain in relations between the tribes. To each he assigned its land, he established the rights of each people and ratified their friendships.”[31]

Das afrikanische Epos

Neben der Frage nach “clans“ und “classes” innerhalb der Mande-Gesellschaft, die bereits erläutert wurde, erscheint es in diesem Zusammenhang ebenso fraglich, inwiefern die Geschichte von Sunjata Keita als “Epos” bezeichnet und damit in ein “westliches” Muster eingeordnet werden kann. Bereits Leo Frobenius beschäftigte sich mit dieser Thematik und erkannte im Jahre 1910 in den Mande-Epen einen „höfischen“ Charakter, da sie, so Frobenius, von ritterlichen Helden berichteten, die gegen Riesen und andere Märchenwesen kämpften. Frobenius sah in diesem Kontext keine Verbindung zur afrikanischen Kultur und Mentalität und sprach den Mande somit eine eigene Epen-Gattung ab. Für Frobenius mussten die traditionellen Geschichten aus der oralen Überlieferung einer fremdem Quelle entsprungen sein, die er am ehesten dem europäischen Kontext zuordnete.[32] Dieser stark eurozentristisch geprägten These wurde jedoch bald widersprochen. So proklamierte Ruth Finnegan in diesem Kontext, Epen seien, sehe man darin nach „westlichem“ Verständnis „a relatively long narrative poem“, im Sub-Sahara-Afrika kaum zu finden,[33] was bereits darauf schließen lässt, dass das afrikanische Epos lediglich nicht an europäischen Maßstäben zu messen ist. Vielmehr sind afrikanische Epen zu vestehen als „a tale about the fantastic deeds of a man or men endowed with something more that human might and operating in something larger than the normal human context […] portraying some stage of the cultural or political development of people”, so Isidore Okpewho.[34] Epen erlangen im afrikanischen Kontext folglich einen Heldengeschichten-Charakter, der weit darüber hinaus geht, was nach „westlicher“ Ansicht als Epos bezeichnet wird. Als einen Text solcher Art ist auch die Legende Sunjatas anzusehen.

Der Griot als Vermittler

Somit sind afrikanische Epen klar abzugrenzen von solchen, die aus dem „westlichen“ Kontext bekannt sind. In afrikanischen Epen wird beispielsweise zumeist Umgangssprache verwendet, da sie normalerweise von Griots erzählt und vorgetragen werden. Da die Grundstrukturen des Epos jedem Mande geläufig sind, besitzen die Griots zudem die Freiheit, jeweils eine eigene Version des Sunjata-Fasa zu entwerfen[35] und somit entstehen stets neue Abwandlungen der Legende.[36] In diesem Zusammenhang bezeichnete Massa Makan Diabaté die Sunjata-Geschichte als ein „living epic“, das von dem jeweiligen Griot der momentanen Situation angepasst werden kann, so z.B. zum Zwecke einer Verherrlichung des aktuellen Machthabers. So wurde beispielsweise in den 1960er Jahren das Sunjata-Fasa benutzt, um den damaligen Präsidenten Modibo Keita aufzuwerten, und ihn zu einen Nachfolger von Sunjata zu stilisieren.[37] Ein anderes Beispiel ist die Stilisierung Sunjatas als „the first true Muslim sovereign of Mali“ von und für Menschen muslimischen Glaubens auf der einen Seite und der Darstellung als „great magician king faithful to the heritage of his ancestors“ von und für die Anhänger von traditionellen Religionen auf der anderen Seite.[38] Auslegung und Bedeutung des Epos liegen infolgedessen stets in der Macht des erzählenden Griots, wobei der Kern des Epos durch die Abwandlungen stets unberührt bleibt.[39] Das Sunjata-Fasa ist somit fester Bestandteil der Mande-Gesellschaft, der sich den immer wieder neu ergebenden Umständen und Meinungen anzupassen weiß. Sunjata gilt als große Persönlichkeit afrikanischer Geschichte und als idealer Herrscher, dessen Geschichte durch Abwandlungen der oralen Quellen und subjektiven Interpretationen der Griots Teil der afrikanischen Selbstbehauptung ist.[40]

Die herausragende Stellung Sunjatas

Sunjata ist als Prototyp des afrikanischen Epos-Helden zu verstehen, er ist der „supernatural hero“, der mit übernatürlicher Kraft und Stärke ausgestattet ist. Sunjata repräsentiert zudem nicht nur einen übernatürlichen Held, sondern steht darüber hinaus für positive ethische und moralische Prinzipen, ganz im Gegenteil zu seinem Epos-Feind Sumanguru, den Sunjata, wie bereits erwähnt, besiegen und damit das Mande-Volk von der Sklaverei befreien kann. Während Sumanguru das Böse und Teuflische repräsentiert, steht Sunjata für Gerechtigkeit, als weiser und tapferer Krieger befreit er sein Volk und ist damit legitimierter Herrscher des Mande-Reiches. Sunjata steht für das allgemein Gute, angetrieben von dem Willen und den Belangen seines Volkes.[41] Denn erst mit Sunjatas Herrschaft etablierte sich das Mande-Reich als politisch mächtiger Staat, so die Legende.[42]

Aufgrund der zahlreichen Verschriftlichungen und Übersetzungen in die französische und die englische Sprache ist das Sunjata-Fasa mittlerweile auch außerhalb Afrikas bekannt geworden und kann somit als „einer der berühmtesten Texte der Manding“ bezeichnet werden.[43] Nach Gordon Innes erlangt die Legende Sunjatas eine solch hohe Bedeutung, dass sämtliche Mande-Völker das Reich Sunjatas als „their ancestral homeland“ betrachten, so sehen sich viele der bedeutenden Mande-Familien als Nachkommen Sunjatas oder Nachkommen anderer bedeutender Persönlichkeiten aus dem Sunjata-Fasa.[44] Die Mande-Gesellschaft betrachtet das Sunjata-Fasa als “their history”, als ihre wahre Geschichte und ihren Ursprung. In einer Gesellschaft, in der ein Großteil der Geschichte nicht verschriftlicht wurde und zudem der Analphabetismus vorherrscht, nehmen durch den Griot als „living library“[45] vermittelte Heldensagen und orale Literatur einen Stellenwert ein, der als nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die Griots übernehmen in der Mande-Gesellschaft somit eine wichtige edukative Funktion.[46]

4. „Kasten“ in der Mande-Gesellschaft

4.1 Das soziale System des antiken Mande-Reiches in der modernen Mande-Gesellschaft

In der modernen westafrikanischen Mande-Gesellschaft bestehen immernoch soziale Klassifizierungen, welche sich an den jeweiligen jamuw orientieren. Auch wenn diese „kastenartige“ Differenzierung offiziell per Gesetz abgeschafft wurde,[47] sind die gesellschaftlichen Unterschiede, die im antiken, vorkolonialen Mande-Reich, besonders unter der Herrschaft Sunjata Keitas, wurzeln, noch immer stark ausgeprägt. Zu Zeiten Sunjata Keitas spaltete sich die Gesellschaft in die verschiedenen siyaw[48] der j É nw, nyamakalaw und h É r É nw auf. In die jeweilige gesellschaftliche „Schicht“ wurde man hineingeboren. Dabei bildeten die j É nw die „Sklaven“ und die h É r É nw die „edle Gesellschaftsschicht“, die Aristokraten, denen auch die Regierungsmacht oblag.[49] Die nyamakalaw wurden in die drei Untergruppen der numuw, der Schmiede, der garankew, der Schuster, und der jeliw, der Lobsänger, unterteilt. Im antiken Mande-Reich galten die nyamakalaw stets als „spokepersons“, als Sprecher und Vertreter der Herrscher und Könige des Mande-Reiches. Sie arbeiteten sowohl als politische Berater wie auch als spirituelle Betreuer – als Mediatoren wichtiger Mande-Persönlichkeiten.[50]

Die besondere Bedeutung der nyamakalaw

Die nyamakalaw gelten als „les gens de caste“,[51] die „Kastenmenschen“, ihnen wird nach Mande-Glauben nachgesagt, sie hätten die Fähigkeit, auf böse, teuflische Kräfte, das nyama, einzuwirken. Sie gelten als kala, d.h. als „handler“ und Beeinflusser des nyama.[52] Das nyama ist etwas Aktives, die Energie zu einer Aktion oder auch „all powerful spirit“.[53] McNaughton setzt das nyama sogar mit „the world’s most basic energy“ gleich, welche das Universum belebt und animiert.[54] Doch wurde nyama in der Vergangenheit gleichfalls auch als „garbage“,[55] als Abfall oder gar Schmutz übersetzt, was völlig andere Assoziationen weckt als die sehr positive Übersetzung des nyama als energische Kraft. Der malische Griot Massa Makan Diabaté übersetzte nyama mit „maléfice“,[56] die Verhexung. Die korrekte Übersetzung und die damit verbundene gesellschaftliche Stellung der nyamakalaw ist höchst umstritten. So werden die nyamakalaw zu Recht bereits als „most misunderstood social group“[57] bezeichnet, was die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Auslegungen des gesellschaftlichen Standes der nyamakalaw einmal mehr veranschaulicht.

Unabhängig von der konkreten Übersetzung ist man sich jedoch einig, dass den nyamakalaw als einzige „Gesellschaftsschicht“ die Fähigkeit zugesprochen wird, die Kräfte des nyama zu beherrschen; „their responsibility is to deal with the forces of nyama.“[58] So obliegt ihnen als Schmiede und Schuster ebenso die Macht, heilige, gefährliche oder unreine Materialen zu bearbeiten, so beispielsweise Holz, Leder, Eisen, Gold und, in der Rolle des Griots, Musik und Sprache. Die Aufgabe der nyamakalaw ist es, mit den Kräften des nyama umzugehen und diese zu bändigen. Sie haben die Fähigkeit, gefährliche, aber notwendige Veränderungen dieser Materialien vorzunehmen.[59]

Die moderne Mande-Gesellschaft

Die h É r É nw tragen auch in der modernen Mande-Gesellschaft oft den jamu Keita, was erneut auf eine enge Verflechtung der modernen Mande-Gesellschaften und dem antiken Mande-Reich schließen lässt. Offiziell ist die „Kaste“ der j É nw nach der Kolonialisierung abgeschafft worden und man führte lediglich die Differenzierung zwischen h É r É nw und nyamakalaw fort.[60] Diese Tatsache ist sehr umstritten, doch ist zu betonen, dass den h É r É nw und den nyamakalaw eine so grundlegende Bedeutung im antiken Mande-Reich zukam, dass sie sicherlich in der modernen Mande-Gesellschaft eine bedeutendere Rolle spielen als die j É nw, deren Stellung heute wohl schlichtweg die Ärmsten der Gesellschaft einnehmen. Auch in der modernen Mande-Gesellschaft wird zwischen den verschiedenen „Schichten“ der Gesellschaft, die in den unterschiedlichen wertgeladenen jamuw ihren Ausdruck finden, selten geheiratet, somit kann einer fortbestehenden „Ständegesellschaft“ nur schwerlich widersprochen werden. Wohlhabende Leute in bedeutsamen Positionen tragen auch heute ausschließlich Namen früherer h É r É nw, ihre Angestellten zumeist die der ursprünglichen j É nw. Zudem sind die Berufsstände immernoch sehr abhängig von der jeweiligen „Gesellschaftsschicht“, der das Individuum aufgrund seines jamu angehört. So haben die h É r É nw auch in der modernen Mande-Gesellschaft die führenden Position in der Politik inne, während die nyamakalaw entweder als Griots, Schuster oder Schmiede tätig sind.[61]

Das Missverständnis einer hierarchischen Mande-Gesellschaft

An dieser Stelle muss betont werden, dass die Mande-Gesellschaft keinesfalls eine Kastengesellschaft nach „westlicher Vorstellung“ darstellt. Denn im Mande erlangt der Aspekt der Hierarchie nicht die Wichtigkeit, die in westlichen Systemen vorherrscht. Vielmehr macht ein hierarchisch orientierter Erklärungsversuch es schier unmöglich, das Mande-Gesellschaftssystem zu durchschauen; „the emphasis on hierarchy inhibits our understandig of West African Societies“,[62] so auch McNaughton. Um die Mande-Gesellschaft zu verstehen, ist es vielmehr notwendig, durch eine detaillierte Analyse zu erkennen, dass Unterschiede innerhalb der Mande-Gesellschaft auf konkret definierten Eigenschaften des Individuums beruhen, ausschlaggebend ist weniger der gesellschaftliche Rang, als der konkrete Bereich, in dem der Einzelne besondere Kräfte und Kompetenzen besitzt oder entwicklen kann; „Inequalities are more a matter of realms of power than of rank“.[63] Die Unterschiede basieren folglich auf spezifischen „sources“, die den verschiedenen “Gesellschaftsschichten” nach traditionellem Mande-Glauben zugeordnet werden.

[...]


[1] Traditionelle Weisheit aus Mali, zitiert von Diabaté, Massa Makan. – In: Le Boucher de Kouta, S.3.

[2] Ischinger, Anne-Barbara. Kulturidentität und Frankographie, S.132.

[3] Ebenda, S.9.

[4] Bambara wird hauptsächlich in Mali gesprochen, als zentrale Variante des Mande kann man sich damit jedoch zudem in den meisten Regionen von Burkina Faso, der Elfenbeinküste, in der östlichen Landeshälfte Guineas sowie im Ostsenegal verständigen; Kastenholz, Raimund. Bambara/Dyula, in: Mabe, Jacob E. (Hrsg.), Das Afrika-Lexikon, S.69f.

[5] Sunjata Keita (~1190-1260), auch „Löwenkönig“ genannt, war der erste legendäre König des Mali-Reiches, er trägt in Mali den Titel des Mansa, d.h. er gilt als „König der Könige“.

[6] Massa Makan Diabaté lebte von 1938 bis 1988 in Bamako und Paris.

[7] Unter dem Begriff des „Mande“ werden in der Afrikalinguistik ca. 40 Sprachen zusammen gefasst, Kastenholz, Raimund. Sprachgeschichte im West-Mande, S.14.

[8] Das Mande-Reich (auch: Mali-Reich) bestand ca. von 1240 bis 1400, u.a. unter der Herrschaft von Sunjata Keita und Mansa Musa; Falola, Tayin. Mali (Königreich), in: Mabe, Jacob E. (Hrsg.), Das Afrika-Lexikon, S.373.

[9] McGuire, James. Narrating Mande Heroism, S.37.

[10] Der Begriff des Mande wurde erstmals von Sigismund W. Koelle in seiner „Polyglotta Africana“ von 1854 geprägt, dort hieß es aber noch „Mandenga“, dieser Begriff wurde von Diedrich Westermann im Jahre 1943 aufgegriffen und, unter Auslassung des „-ga“, für die gesamte Sprachfamilie festgeschrieben; Kastenholz, Raimund. Mande, in: Mabe, Jacob E. (Hrsg.), Das Afrika-Lexikon, S.376.

[11] Kastenholz, Raimund. Sprachgeschichte im West-Mande, S.14f; Bird/Shopen. Maninka. – In: Language and their speakers, S.59.

[12] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.74.

[13] McGuire, James. Narrating Mande Heroism, S.37.

[14] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.74.

[15] Ebenda, S.73f.

[16] Griots, auch jeliw im Mande, sind Bewahrer und Überbringer der Geschichte, oralen Literatur und Musik einer Gesellschaft. Sie singen Balladen, tragen Geschichten vor und unterhalten die Menschen bei vielen traditionellen Zeremonien der Mande-Gesellschaften.

[17] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.74.

[18] Bird/Shopen. Maninka. – In: Language and their speakers, S.59.

[19] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.75.

[20] Ebenda.

[21] Ebenda.

[22] Im Mande wird der Plural durch ein –w-Suffix markiert.

[23] So gibt es in Bamako beispielsweise auffallend viele Menschen, die sich Touré, Konaté, Kané, Coulibaly oder Sissé nennen.

[24] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.76.

[25] Sunjata Fasa lässt sich als Loblied auf Sunjata Keita, als „praise song“ für den ehemaligen Gründer und Herrscher des Mande-Reiches, übersetzen.

[26] In der Literatur oft auch „Sundiata“ oder auch „Soundjata“.

[27] Touré, Mohamed. Livre de Lecture Bambara, S.61.

[28] Spaßverwandtschaften, im Mande „sinankunya“, stellen ein weiteres wichtiges soziales Konzept der Mande-Gesellschaft dar. Um ernsthafte Streits oder gar Kriege zu vermeiden, bestehen zwischen den verschiedenen jamuw -Trägern besondere Beziehungen, einige fühlen sich verbunden, fast als seien sie verwandt, andere sind wiederum verfeindet, sodass sie sich stets necken und den Gegenüber beleidigen, so z.B.: „i be n jon ye“, was soviel heißt, wie „Du bist mein Sklave“. Dieses Konzept lockert die Atmosphäre auf und erleichtert vor allem bei einem ersten Treffen den Umgang miteinander. Das komplexe jamuw -System lernen die Mande von klein auf, während es einem Fremden sehr kompliziert und schwer durchschaubar erscheint.

[29] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.76, ebenso Diawara, Manthia. Towards a Sociology of Narrative Elements, S.156.

[30] Beuchelt, Eno. Kulturwandel bei den Bambara von Segou, S.160.

[31] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.76.

[32] Biernaczky, Szilárd. The african herioc epic exists! – In: Artes Populaires 10/11, S.221f.

[33] Finnegan, Ruth. Oral literature, S.108ff.

[34] Okpewho, Isidore. Epic in Africa, S.34.

[35] Ischinger, Anne-Barbara. Kulturidentität und Frankographie, S.131.

[36] Ebenda, S.88.

[37] Diabaté, Massa Makan. Le Lion à l’arc, S.22f.; Dieterlen, Germaine. The Mande Creation Myth, S.137.

[38] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.99.

[39] Kotljar, E. Sz. Some aspects of the development of the epic genre: „Sundjata-Fassa“ (Manding), „Nsong’a Lianja“ (Mongo-Nkundo). – In: Artes Populaires 10/11, S.235; Counsel, Graeme. Mande Popular Music and cultural policies in Westafrica, S.38.

[40] Ischinger, Anne-Barbara. Kulturidentität und Frankographie, S.134.

[41] Kotljar, E. Sz. Some aspects of the development of the epic genre: „Sundjata-Fassa“ (Manding), „Nsong’a Lianja“ (Mongo-Nkundo). – In: Artes Populaires 10/11, S.236.

[42] Beuchelt, Eno. Kulturwandel bei den Bambara von Segou, S.69.

[43] Ischinger, Anne-Barbara. Kulturidentität und Frankographie, S.131.

[44] Innes, Gordon. Sunjata, S.106.

[45] Counsel, Graeme. Mande Popular Music and cultural policies in Westafrica, S.36.

[46] Ebenda, S.42.

[47] Touré, Mohamed. Livre de Lecture Bambara, S.66f.

[48] siyaw oder siyako sind kastenartig Unterscheidungen innerhalb der Mande-Gesellschaft.

[49] McGuire, James. Narrating Mande Heroism, S.38.

[50] Conrad/Frank. Status and Identity in Westafrica, S.1.

[51] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.78.

[52] Bastian, Misty L. History, Art and Ritual in the Mande culuture, unter: http://server1.fandm.edu/departments/ anthropology/Bastian/ ANT269/magic.htm.

[53] Camara, Sory. Paroles très anciennes, S.211.

[54] McNaughton. The Mande Blacksmith, S.15.

[55] N’Diaye, Bokar. Les Castes au Mali, S.14.

[56] Diabaté, Massa Makan. Le lion á l’arc, S.25.

[57] Conrad/Frank. Status and Identity in Westafrica, S.2.

[58] Miller, Christopher. Theories of Africans, S.79.

[59] Ebenda.

[60] Bastian, Misty L. Caste Systems in Mande, unter: http://server1.fandm.edu/departments/anthropology/Bastian/ ANT269/caste.htm.

[61] Bastian, Misty L. Caste and occupation among Mande speakers, unter: http://server1.fandm.edu/departments/ anthropology/Bastian/ ANT269/caste.htm.

[62] McNaughton, Patrick R. The Mande Blacksmith, S.158.

[63] Ebenda.

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Mande-Literatur im Zeitalter der Négritude
Untertitel
Die Rolle der frankographen Mande-Literatur in der modernen Négritude-Bewegung am Beispiel von Masse Makan Diabaté
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Afrikanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
64
Katalognummer
V75005
ISBN (eBook)
9783638743259
ISBN (Buch)
9783638770170
Dateigröße
1002 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mande-Literatur, Zeitalter, Négritude
Arbeit zitieren
Lisa-Marie Rohrdantz (Autor:in), 2007, Mande-Literatur im Zeitalter der Négritude, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75005

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