Authentizität versus literarisches Spiel in den Eberbriefen (I,6 und IX,10) Plinius des Jüngeren


Seminararbeit, 2005

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

II. Übersetzung
II. 1 Übersetzung: Epist. I,6
II. 2 Zur Übersetzung

III. Analyseteil
III. 1 Vorbemerkung zur Analyse von I,6
III. 2 Prooemium: Provozierte Skepsis
III. 3 Narratio: Jagd ohne Waffen
III. 4 Argumentatio: Das Jagdumfeld als Inspiration
III. 5 Peroratio: Empfehlung zur Nachahmung
III. 6 Zweigliedrigkeit als konstituierendes Stilmerkmal
III. 7 Die Frage der Eber: tatsächliches Jagdglück oder literarische Fiktion?

IV. Der zweite Eberbrief Epist. IX,10: Die Fortsetzung von Epist. 1,6
IV. 1 Übersetzung: Epist. IX,10
IV. 2 Die Frage nach den taciteischen praecepta
IV. 3 Die Entschuldigung des Plinius

V. Fazit

Literaturverzeichnis

Textausgaben:

Kommentare:

Forschungsliteratur:

I. Einleitung

Die Epistel I,6 gilt als eines der Paradebeispiele der plinianischen Kunstbriefe. Aber auch wenn er ob seiner stilistischen Feinheiten und sorgsam gegliederten Struktur in fast jedem lateinischen Schulbuch zu finden ist, wurde ihm in der Forschung die größte Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem Brief IX,10 zuteil.[1]

Beide Episteln richten sich an den Historiker Tacitus, der mit elf Briefen der häufigste Adressat im gesamten Briefcorpus Plinius des Jüngeren ist.[2] Im Zuge dieser litera-rischen Brieffreundschaft sandten sie sich gegenseitig Entwürfe ihrer Schriftstellerei zur Beurteilung und eventuellen Verbesserung zu.[3] Darüber hinaus berichtet Plinius besonders in I,2, III,18 und VII,17 von dem Brauch, Reden und andere Schriften von rhetorischem Inhalt, die zur Publikation vorgesehen waren, Freunden zur Lektüre zukommen zu lassen.[4] Dieser Hintergrund und die bestechende Ähnlichkeit der Stellen Plin. Epist. IX,10,2 Itaque poemata quiescunt, quae tu inter nemora et lucos commodissime perfici putas und Tac. Dial. 9,6 Adice, quod poetis, si modo dignum aliquid elaborare et efficere velint [...] in nemora et lucos, id est in solitudinem, secedendum est haben dazu geführt, dass sich das Hauptinteresse der Forschungs-diskussion auf den Zusammenhang mit dem taciteischen Dialogus de oratoribus, auf die Chronologie und die Frage nach der Autorschaft der beiden Jagdbillete konzentriert hat.

Die vorliegende Arbeit will sich jedoch detailliert mit einem Teilaspekt der Forschung zu I,6 und IX,10 auseinandersetzen und Untersuchungen zur Authentizität der von Plinius beschriebenen Eberjagd anstellen. Der Schwerpunkt wird folglich auf der Analyse des Briefes I,6 liegen, um mittels einer philologischen Analyse Erkenntnisse über die Einstellung des Plinius zur Jagd zu erlangen, sowie Vermutungen über den Jagdverlauf anstellen zu können.

Dabei wird die grundsätzliche Frage, ob literarisches Spiel auch literarische Fiktion mit sich bringt, einen wichtigen Leitfaden bilden.

Im zweiten Teil wird sich das Augenmerk abschließend auf den Konnex mit dem zweiten Eberbrief IX,10 richten, um die inhaltlichen Tendenzen mit den Ergebnissen der Analyse von I,6 zu vergleichen.

Die Übersetzung der Episteln basieren auf der von R.A.B. Mynors besorgten Edition. Da diese Arbeit nicht auf zwei oder mehr Sekundärtexte von einem Autor oder einer Autorenkonstellation zurückgreift, ist darauf verzichtet worden, in den Fußnoten die Titel der Aufsätze bzw. Monographien zu nennen; stellvertretend steht einzig der Name des entsprechenden Verfassers.

II. Übersetzung

II. 1 Übersetzung: Epist. I,6

Gaius Plinius grüßt seinen Cornelius Tacitus.

[1] Du wirst lachen und du darfst auch lachen. Ich, ja, jener, den du kennst, habe drei Eber und zwar besonders schöne gefangen. „Selbst?“ fragst du. Ja, selbst; nicht jedoch so, dass ich gänzlich meine Trägheit und Ruhe aufgab. Ich saß bei den Netzen; in nächster Nähe befanden sich weder ein Jagdspieß noch eine Lanze, sondern ein Schreibgriffel und Wachstäfelchen; ich dachte über irgendetwas nach und notierte mir etwas, um, wenn schon leere Hände, doch zumindest volle Wachstafeln mit nach Hause zu bringen. [2]

Es gibt gar keinen Grund dafür, dass du diese Art des Studierens verachtest; es ist erstaunlich, dass der Geist durch Bewegung und körperliche Betätigung aufgescheucht wird; ferner sind die Wälder ringsherum, sowie die Einsamkeit und besonders jene Stille, die einem die Jagd bietet, starke Anregungen zum Nachdenken. [3] Daher wird es dir, wenn du zur Jagd gehst, auf mein Anraten hin erlaubt sein, sowohl Brotkorb und Feldflasche als auch Wachstäfelchen mitzunehmen: Du wirst die Erfahrung machen, dass Diana nicht mehr in den Bergen umherschweift als Minerva. Lebe wohl.

II. 2 Zur Übersetzung

Bei der Übersetzung des vorliegenden Briefes wurde Wert darauf gelegt, den Pointen und ironischen Elementen nach Vermögen gerecht zu werden. Zu diesem Zweck wurden bei der Übertragung ins Deutsche einerseits Interjektionen verwendet und andererseits die Ausdrücke inertia, excitetur und incitamenta so übersetzt, dass sie dem Lateinischen in Aussage und Stil weitgehend entsprechen.

III. Analyseteil

III. 1 Vorbemerkung zur Analyse von I,6

Bei der Betrachtung des Briefaufbaus lässt sich eine Strukturierung nach rhetorischem Muster in die vier Teile Prooemium (Ridebis [...] discederem), Narratio (Ad retia sedebam [...] reportarem), Argumentatio (Non est quod [...] sunt) und Peroratio (Proinde [...] inerrare) erkennen, wobei jeder Abschnitt mit einer Pointe abgeschlossen wird.[5] Die von Plinius augenscheinlich beabsichtigte Struktur des Briefes soll daher auch der folgenden Analyse als Einteilung der zu interpretierenden Abschnitte dienen.

III. 2 Prooemium: Provozierte Skepsis

Der Brief beginnt durch das Polyptoton ridebis - rideas mit einem heiteren Einstieg und bietet zugleich trotz seiner Kürze bedeutende Informationen über Autor und Adressaten. Das einleitende ridebis stellt von Beginn an eine persönlich-vertraute Atmosphäre her und setzt durch seine Form im Indikativ Futur die Reaktion des Tacitus auf die folgende Anekdote schon voraus.[6] Tacitus und Plinius müssen sich folglich gut kennen, da Plinius die Einstellung des Tacitus zu dem, was er ihm berichten wird, schon bei der Abfassung des Briefes prophezeien und nicht nur erahnen kann. Es folgt direkt die Erlaubnis des Plinius et licet, ut rideas und deutet an, dass das zu berichtende Ereignis tatsächlich eine gewisse, für Autor und Adressat offensichtliche, Pointe enthalten muss. Nachdem also der Hintergrund des interpersonellen Verhältnisses von Autor und Adressat dargelegt worden ist, bietet der nächste Satz den Anlass und so (scheinbar) auch den historischen Hintergrund der Epistel: Plinius hat drei Eber gefangen und zudem besonders schöne. Die Stellung des Ego am Satzanfang mag einerseits zusammen mit der Endstellung des Prädikats cepi dem Zeck dienen, die Gefangennahme der Tiere auch syntaktisch darzustellen,[7] die Tatsache, dass das Subjekt überhaupt genannt wird weist jedoch vor allem darauf hin, dass die Betonung hier nicht auf dem Jagdglück liegt, sondern auf Plinius selbst.[8] Unterstützt wird diese Annahme durch die Ausführung ille, quem nosti, mit der Plinius humorvoll darauf hinweist, dass es sich tatsächlich um ihn handelt, denjenigen, den sein Adressat Tacitus kennt. Die dreifache Hervorhebung des Plinius mit den Pronomina Ego - ille - quem und die zusätzliche Nachstellung des Namen Plinius als Apposition zum Ego in zwei weiteren Handschriften[9] sprechen ebenfalls für die Betonung des Jägers, nicht der Beute. Die im ille, quem nosti schon vorbereitete Skepsis manifestiert sich nun in der Tacitus unterstellten Frage ‚ Ipse ?’ und richtet den Zweifel direkt an Plinius als Jäger. Dieser muss Tacitus folglich als nicht sonderlich begabter Waidmann bekannt sein, denn die Nachfrage zielt nicht auf die Bestätigung der Anzahl oder der besonderen Beschaffenheit der Eber, sondern einzig und allein auf Plinius’ eigenes Wirken ab. Durch die Beantwortung der Frage per Reduplikation des Ipse betont Plinius mit dem nun fünften Pronomen, welches sich auf ihn bezieht, nochmals, dass trotz allem Zweifel tatsächlich er es ist, der diesen außergewöhnlichen Jagderfolg erringen konnte.

Neben der inhaltlichen Scharfzeichnung markiert diese Frage-Antwort-Sequenz ‚ Ipse ?’ inquis. Ipse; auch typische Merkmale der Gattung:

„Drei Worte und zugleich drei Sätze: Besser läßt sich das Stilprinzip der Kürze, wie es zum Wesen des Briefes allgemein und besonders zu dem des Empfängers Tacitus paßt, nicht illustrieren. Der rasche Personenwechsel beleuchtet zugleich die antike Auffassung des Briefeschreibens als eines Gesprächs mit Abwesenden.“[10]

Das Prooemium schließt mit der Pointe, dass Plinius seinem Adressaten mitteilt, er sei auf der Jagd nicht vollständig von seiner Trägheit und seiner Ruhe abgerückt. Auf der einen Seite bringt diese Aussage etwas Licht in die bislang noch obskuren Andeutungen, indem er mit inertia und quies zwei, mittels des Possessivpronomens mea zusätzlich als grundliegend charakterisierte, Eigenschaften seines Wesens nennt, die beim ersten Betrachten antithetisch zur Jagd erscheinen und so die Tacitus unterstellte Verwunderung rechtfertigen.[11] Andererseits wirft diese Information die Frage auf, wie es Plinius auf diese Weise gelingen konnte, gleich drei Eber zu fangen. Obgleich das lateinische Wort quies grundsätzlich neutral die Ruhe als Erholung von Arbeit oder als Gegensatz zur Tätigkeit beschreibt[12], bildet es in diesem Satz zum Zwecke der Ironisierung des otiums auf dem Lande in Verbindung mit dem ohnehin pejorativen[13] inertia ein negativ konnotiertes Begriffspaar und muss an dieser Stelle als Hendiadyion verstanden werden,[14] welches im Kontext der Erzählung einer Jagd Verwirrung und Neugier des Lesers fördert.

Es kann schon konstatiert werden, dass Plinius im vorliegenden Brief seinem Freund Tacitus von einem Jagderfolg berichtet. Das freundschaftliche Verhältnis erscheint dem Leser vor allem durch die Voraussetzung der taciteischen Reaktionen auf diese Anekdote und zusätzlich durch die mit Selbstironie angereicherte, heitere Ausdrucksweise. Anlass zum Zweifel am Jagderfolg bietet zwar einerseits Anzahl und Beschreibung der Beute, aber andererseits vor allem die Tatsache, dass Plinius offenbar selbst gejagt hat, obwohl er Tacitus eher als Genießer der ländlichen Ruhe und Entspannung vertraut ist und zusätzlich behauptet, diesen charakteristischen Grundzug während der Jagd nicht aufgegeben zu haben.[15]

Das Prooemium bietet so zum einen Informationen über Autor und Adressat sowie über deren Verhältnis zueinander und entwickelt zugleich eine durch Ironie und vage Andeutungen humorvolle und spannende Erzählatmosphäre.

[...]


[1] Im Rahmen dieser Arbeit wird die chronologische Reihenfolge der Briefe I,6 – IX,10 vorausgesetzt.

[2] Außer I,6 und IX,10 sind I,20; IV,13; VI,9; VI,16; VI,20; VII,20; VII,33; VIII,7 und IX,14 an Tacitus adressiert.

[3] Dies geht unter anderem aus Plin. Epist. VIII,7 hervor; vgl. dazu Schuster, S. 236, Anm. 4.

[4] Vgl. ebda., S. 235.

[5] Vgl. v. Albrecht, S. 195; Philips, S. 20.

[6] Vgl. v. Albrecht, S. 192.

[7] Vgl. ebda., S. 192.

[8] Vgl. Glücklich, S. 42.

[9] Siehe dazu den textkritischen Apparat zu Epist. I,6 in der Edition von Mynors.

[10] v. Albrecht, S. 192.

[11] Vgl. Lefèvre, S. 39.

[12] Vgl. Georges, K. E.: Art. quies, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch 2.Bd., 1967 und Pertsch, E.: Art. quies, Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch, 1999.

[13] Vgl. Georges, K. E.: Art. inertia, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch 2.Bd., 1967 und Pertsch, E.: Art. inertia, Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch, 1999.

[14] Vgl. Philips, S. 21.

[15] Zu einem eventuellen Verlauf der Jagd siehe S. 14.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Authentizität versus literarisches Spiel in den Eberbriefen (I,6 und IX,10) Plinius des Jüngeren
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Veranstaltung
Proseminar: Plinius minor
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
27
Katalognummer
V74981
ISBN (eBook)
9783638745116
Dateigröße
479 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Authentizität, Spiel, Eberbriefen, Plinius, Jüngeren, Proseminar, Plinius
Arbeit zitieren
Moritz Ahrens (Autor:in), 2005, Authentizität versus literarisches Spiel in den Eberbriefen (I,6 und IX,10) Plinius des Jüngeren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74981

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