Arthur Schnitzler und der Antisemitismus


Examensarbeit, 2006

78 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

1. Einleitung

2. Die historische Verortung des Antisemitismus in Wien um 1900
2.1 Übersicht über die Geschichte des Antisemitismus
2.2 Die politische Situation in Wien um 1900
2.3 Die Situation der jüdischen Bevölkerung in Wien um 1900
2.4 Der Zionismus als (Gegen-) Bewegung des europäischen Nationalismus
2.5 Die Verortung Schnitzlers in der Gesellschaft Wiens
2.6 Das Fallbeispiel „Waidhofener Beschluss“ – rassistisch begründeter Ausschlussversuch gegen jüdische Studenten

3. Die psychologische Seite des Antisemitismus
3.1 Freud: Das Aufkommen der Psychologie und psychologischer Deutungsmuster
3.1.1 Das Ich als ein psychischer Apparat
3.1.2 Das Verhältnis Freuds zur Wiener Moderne
3.1.3. Das Verhältnis Schnitzlers zu Freud
3.2 Antisemitismus bei Horkheimer / Adorno
3.2.1 Studien zum autoritären Charakter
3.3 Theweleit: Der Symbiotiker als der deutsche Normalfall im 19. Jahrhundert

4. Der Weg ins Freie – wohin denn?
4.1 Die Thematisierung des Antisemitismus
4.1.1 …durch den Antisemiten Josef Rosner
4.1.2 …im Urteil der Betroffenen
4.1.3 …im Spiegel der distanzierten Beobachtung Georg von Wergenthins
4.1.4 Die Frage der Wahrnehmung und Wirklichkeit des Antisemitismus
4.2 Ausdifferenzierung der Parteien und Gruppen
4.3 Reaktionsmöglichkeiten auf den Antisemitismus
4.3.1 Individualismus
4.3.2 Zionismus
4.3.3 Sozialismus / Sozialdemokratie
4.3.4 Assimilation
4.4 Figurenanalyse
4.4.1 Josef Rosner
4.4.2 Leo Golowski
4.4.3 Oscar Ehrenberg
4.4.4 Therese Golowski
4.4.5 Georg von Wergenthin
4.4.6 Heinrich Bermann
4.5 Bewertungen und Urteile Schnitzlers
4.5.1 Inwieweit wird eine Übernahme oder Kritik der Theorie von der Existenz menschlicher Rassen deutlich?
4.5.2 Werden Reaktionsmöglichkeiten auf den Antisemitismus durch Schnitzler bewertet?
4.5.3 Welche Bewertung impliziert Schnitzlers psychologische Konstruktion der Figuren?

5. Professor Bernhardi – Eine Tragikomödie des Eigensinns?
5.1 Einzelfall oder Gesellschaftsbild?
5.1.1 Die Komödie im Kontext der Polyklinik Heinrich Schnitzlers und der Wiener Gesellschaft
5.1.2. Die Konstruktion des Streitfalls
5.2 Das Drama Professor Bernhardi als Komödie?
5.2.1 Die Figur Professor Bernhardi
5.2.2 Professor Bernhardis Handeln als Tragikomödie des Eigensinns
5.2.3 Die Geschehnisse um Bernhardi als Komödie
5.3 Antisemitismus und die Rolle der Kirche
5.4 Antisemitismus und die Politik
5.5 Figurenanalyse: Die Psyche potentieller Antisemiten
5.5.1 Hochroitzpointner als autoritärer Charakter nach Adorno
5.5.2 Hochroitzpointner als Symbiotiker nach Theweleit
5.5.3 Hochroitzpointner – eine von Schnitzler konstruierte Figur
5.6 Antisemitismus – seine politische, seine religiöse und seine psychologische Seite

6. Fazit

7. Quellen- und Literaturverzeichnis

Siglenverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Das Thema des Antisemitismus findet bei Arthur Schnitzler in dem Roman Der Weg ins Freie und dem Drama Professor Bernhardi besondere Berücksichtigung.

Die Relevanz der Thematik erwächst aus dem politisch-historischen Kontext der Zeit, in dem der Antisemitismus eine neue Dimension annimmt. Die Widersprüche und der „Irrsinn des Antisemitismus“[1] werfen bereits für Schnitzler Fragen auf, die bis heute in den verschiedensten Schulen der Antisemitismusforschung umstritten sind. Seine Beobachtung dieser neuen gesellschaftlichen Entwicklung geht einher mit den neu aufkommenden psychologischen Analysen des Individuums, so dass Schnitzler den Antisemitismus in Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen Gesellschaft, Politik und Psychologie betrachtet. Aus diesem Grunde sollen neben den beiden oben genannten Werken auch Briefe und Tagebucheinträge, die sich mit der Thematik des Antisemitismus befassen, seine Autobiographie und die Aphorismen und Betrachtungen zu Rate gezogen werden.

Anhand einer genauen Betrachtung dieser einzelnen Faktoren bei Schnitzler soll versucht werden, einer möglicherweise implizierten Gewichtung der verschiedenen Ursachen beizukommen. Gibt es möglicherweise eine Hauptursache, die Schnitzler für den Antisemitismus annimmt? Und von welchen Figuren innerhalb seiner Stücke geht der Antisemitismus aus?

In Der Weg ins Freie kommen interessanterweise kaum– im heutigen allgemeinen Sinne – antisemitische Figuren vor. Der Formulierung ‚ im heutigen allgemeinen Sinne’ liegt die Überzeugung der Autorin zugrunde, dass eben nicht zwischen Juden und Nichtjuden in einem rassistischen Sinne getrennt werden kann. Folglich lassen sich die Grenzen zwischen jüdischen und nichtjüdischen sowie zwischen antisemitischen und nicht-antisemitischen Figuren nicht parallel trennen. Im Roman wird eine große Palette an Reaktionsmöglichkeiten der jüdischen Bevölkerung auf den Antisemitismus dargestellt.

Hier stellt sich also die Frage, ob Schnitzler einen Ausweg aus dem Antisemitismus sieht und welche der Arten des Umgangs mit demselben dazu erfolgversprechend sind.

Adorno zufolge ist die Assimilation der Juden bereits eine Assimilation an bestehende potenziell antisemitische Strukturen. In diesem Sinne soll hier auch der von Schnitzler beobachtete und verurteilte jüdische Antisemitismus verstanden werden, da nicht von einem grundsätzlich anderen Phänomen ausgegangen wird. Statt dessen wird Antisemitismus nach Adorno als „Zerstörungslust der Zivilisierten [...], die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten“[2] verstanden und schließt somit den Antisemitismus assimilierter Juden tendenziell mit ein.

Dennoch soll bei der Analyse des Romans stärker die Auseinandersetzung von Juden als vom Antisemitismus Betroffene und weniger als selbst an antisemitische Strukturen Assimilierte betrachtet werden.

Erst in Professor Bernhardi gibt es neben vom Antisemitismus betroffenen jüdischen Figuren auch zahlreiche im heutigen allgemeinen Sinne antisemitische Figuren.

Ihre Unterwerfung unter antisemitische Strukturen soll nicht nur unter dem Aspekt machtpolitischer Motive, sondern auch unter dem Aspekt psychologischer Ursachen fokussiert werden. Wenngleich die explizite Analyse der am Antisemitismus beteiligten Juden[3] somit nicht im Rahmen dieser Arbeit geleistet wird, fällt sie doch mit unter die Analyse der Antisemiten im heutigen allgemeinen Sinne.[4]

Die Verlagerung der Thematik vom Umgang mit Antisemitismus in jüdischen Teilen der Wiener Bevölkerung hin zu der allgemeinen gesellschaftlichen Relevanz des Themas für alle Mitglieder der Gesellschaft und die zeitliche Abfolge der Entstehung der beiden Werke machen eine chronologische Reihenfolge der Analyse sinnvoll.

Bevor der Roman und anschließend das Drama analysiert werden, soll eine Darstellung des historischen Kontextes sowie der einigen Teilen der Arbeit zugrunde liegenden psychoanalytischen Ansätze, mithilfe derer die Figuren und Zusammenhänge betrachtet werden, in die Thematik einführen.

Dabei handelt es sich um Schnitzlers Zeitgenossen Sigmund Freud, da ein psychoanalytischer Blick auf das Individuum maßgebend für die Literatur um 1900 ist, wenngleich das nähere Verhältnis der Psychoanalyse bei Freud und Schnitzler zu klären bleibt. Um die psychologische Seite des Antisemitismus, für die Schnitzler sich besonders interessiert, näher beleuchten zu können, sollen darüber hinaus Ansätze von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie von Klaus Theweleit vorgestellt werden, da diese sich mit einer psychologischen Betrachtung potenziell antidemokratischer Charaktere befassen.

2. Die historische Verortung des Antisemitismus in Wien um 1900

2.1 Übersicht über die Geschichte des Antisemitismus

Die uns heute bekannteste Form des Antisemitismus, der rassistische Antisemitismus, auch bekannt als „Rassenantisemitismus“[5], entstand auf der Basis einer bereits bestehenden Feindschaft gegenüber Juden und dem Judentum sowie dem dazukommenden Rassismus, d.h. der Vorstellung unterschiedlicher Rassen, zu denen ein Mensch von Geburt an zugehörig sei, die bestimmte Eigenarten und Eigenschaften desjenigen, dem diese oder jene Rassenzugehörigkeit zugeschrieben wird, implizieren.

Als prägender Theoretiker ist Chamberlain zu nennen, der eine „Zuchtwahl“ nach darwinistischen Grundsätzen propagierte und dabei beispielsweise „das Aussetzen schwächlicher Kinder“ als ein segenvolles Gesetz der alten Griechen und Römer sowie der Germanen bezeichnete. Er lebte zeitweise in Wien, war hier in das intellektuelle Leben gut integriert und wurde häufig von der nationalen Presse zitiert.

„Das jüdische und das arische Prinzip hielt Chamberlain für unvereinbar. Weder Assimilation noch Konversion können einen Juden zum Nichtjuden machen. Damit wurde er zu einem wichtigen Propagator des Rassenantisemitismus.“[6]

Um ein detaillierteres Verständnis von den unterschiedlichen Ausprägungen antisemitischen Gedankenguts in Wien um 1900 zu erlangen, scheint es sinnvoll, die einzelnen, sicherlich teilweise parallel verlaufenden, Transformationen die der Antisemitismus Bernhard Giesen[7] zufolge durchlief, zu betrachten. Giesen geht davon aus, dass Antisemitismus und Rassismus mehreren Veränderungen unterlagen, bevor sie sich erst relativ spät miteinander verbanden.

Für den Rassismus soll im Rahmen dieser Arbeit nur angemerkt werden, dass er gerade in Wien stark mit dem Nationalismus verbunden war, da die Nationalität bei Rassentheoretikern durch die Abstammung[8] bestimmt wurde. Es wird von einem Interesse ausgegangen, die „völkische“ Eigenart zu pflegen und Fremdes zu meiden. „Dieser ‚völkische‘ Abwehrkampf wurde auf zwei Fronten geführt: einerseits gegen die jeweils anderen Nationalitäten der Habsburgermonarchie, andererseits intern in einer ‚Rassenhygiene‘ [...].“[9]

Doch auch wenn bereits im 18. Jh. die Vorstellung unterschiedlicher menschlicher Rassen in gebildeten Kreisen entstand, und daraufhin zum geläufigen und unproblematischen Wissensbestand der Philosophie gehörte, war „[...]die Verbindung zwischen Rassenparadigma und Antisemitismus [...] keineswegs zwangsläufig und von Anfang an gegeben [...].“[10]

Noch Anfang des 19. Jh. handelte es sich hauptsächlich um einen „ressentimentgeladene[n] vulgäre[n] Antisemitismus“[11], der meist mündlich tradiert wurde. Er gründete sich auf die Erfahrung von Andersartigkeit, zum Beispiel in Bezug auf die Kleidung, den Wohnort oder Beruf, sowie auf wirtschaftlichen Neid und das Fehlen eines gemeinsamen religiösen Bekenntnisses. Verschärft wurde dieser, besonders bei der ländlichen, am christlichen Volksglauben orientierten Bevölkerung vorzufindende Antisemitismus durch die Emanzipation der Juden zu Beginn des 19. Jh. und eine Teuerungs- und Hungerkrise vor der Revolution 1848.[12]

Unterbürgerliche Volksschichten, die sich zu emotionsgeladenen Gewalttaten zusammenrotteten, zerstörten jüdische Geschäfte und Synagogen und bedrohten jüdische Personen.

Das Bürgertum grenzte sich von diesem gewalttätigen Antisemitismus ab, zumal die traditionelle christliche Feindschaft gegenüber Juden dem Toleranzgedanken der deutschen Aufklärung widersprach, die vom Bildungsbürgertum getragen wurde. In Verbindung damit ist auch ein großer Teil des Erfolges der Emanzipationsbewegung und der Gleichstellungsedikte von 1812 zu sehen.[13]

Als jedoch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. die Emanzipationsbewegung und der wirtschaftliche Aufstieg vieler Juden die herkömmlichen Rangbeziehungen in Frage stellten, betrachteten Teile des gewerblichen, altständischen Bürgertums, das sich ohnehin nur sehr zurückhaltend an der Aufklärungsbewegung beteiligt hatte und nun seine Stellung ernsthaft gefährdet sah, die antisemitischen Ausschreitungen des Pöbels mit offener Sympathie.[14]

Erst vor dem Hintergrund der gescheiterten Revolution von 1848, als Intellektuelle und Bildungsbürgertum die Aufgabe der Konstruktion nationaler Identität übernahmen sowie aufgrund der eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen ihr Verhältnis zur – nun als seelenlos, dekadent, unnatürlich, krisenhaft und der Wahrheit entgegengesetzt begriffenen – Moderne neu definierten, trat ein intellektuell begründeter Antisemitismus auf. Der natürlichen Abstammungsgemeinschaft (Nation) wurde eine künstliche Gemeinschaft, in der bindungslose Individuen Privatinteressen vertreten, gegenübergestellt, wobei Letztere als Ergebnis der Moderne angesehen und mit dem Judentum identifiziert wurde.[15] Im Zuge dieses intellektuellen antisemitischen Diskurses wurde Jüdischsein als eine Einstellung und vor allem als Orientierung am eigenen finanziellen Vorteil gesehen,

„[...] zu einer kulturellen Haltung umstilisiert und von der leiblichen Abstammung und dem religiösen Bekenntnis abgelöst. Der Antisemitismus wurde damit eine kulturelle Bewegung, die gute persönliche Beziehungen mit Juden keineswegs ausschloß und an der im Grenzfall sogar Juden selbst teilnehmen konnten.“[16]

Im Zuge weiterer gesellschaftlicher Veränderungen[17] trat schließlich der Antisemitismus als politische Bewegung auf, welche die Modernisierungsängste vor allem des Kleinbürgertums mit nationalistischen Ideen verband. Es bildeten sich rechtsförmige explizit antisemitische Organisationen heraus, die öffentlich antisemitische Ziele vertraten und Gemeinwohlcharakter beanspruchten, und deren radikale Mitglieder keine persönlichen Beziehungen zu Personen jüdischer Abstammung hatten.

„Der politische Antisemitismus entwarf ein entkonfessionalisiertes Bild des Judentums: Die Juden seien nicht Juden wegen ihres Glaubens, sondern wegen ihrer Glaubenslosigkeit. Judentum ergäbe sich schließlich aus Abstammung und Leiblichkeit; jeder Versuch der Konversion verschlimmere das Problem [...] das Fremde würde unsichtbar wie eine schleichende Krankheit. [...] [S]obald antisemitische Ideen im Kleinbürgertum auftauchten, verbanden sie sich häufig mit dem Rassenparadigma, das vom anspruchsvollen Diskurs der Intellektuellen in den allgemeinen öffentlichen Wissensbestand gedrungen war.“[18]

2.2 Die politische Situation in Wien um 1900

Der aufkommende Nationalismus führte im cisleithanischen Teil der Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu heftigen Spaltungen innerhalb der Bevölkerung. Anders als das von einer stabilen Mehrheit regierte Ungarn (= Transleithanien) mit seiner ungarischen Staatssprache war die westliche Reichshälfte (= Chisleithanien) von den unterschiedlichsten Nationalitäten bewohnt.[19]

Die Spannungen innerhalb der zersplitterten Bevölkerung werden bei der Betrachtung der Zusammensetzung des in Wien befindlichen cisleithanischen Parlamentes deutlich.

Als hier erstmalig allgemeine, direkte und gleiche Wahlen[20] stattgefunden hatten, zogen 1907 über 30 Parteien in den Reichsrat ein, von denen die meisten sich bereits dem Namen nach auf eine bestimmte Nationalität, wie z.B. die deutsche, tschechische, italienische oder slowenische, bezogen.

Aufgrund dessen, dass die Bevölkerung des Vielvölkerstaates durch das Parlament repräsentiert werden sollte, aber die Kriterien zur Bestimmung der Nationalität unterschiedlich waren, fielen Berechnungen darüber, welche Nationalität wie viele Sitze habe, je nach zugrunde liegendem Kriterium sehr unterschiedlich aus. Jeweiliges politisches Ziel war es, die eigene Benachteiligung durch die Sitzverteilung nachzuweisen.[21]

Zudem wurden durch Rassentheoretiker der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Demokratie verworfen.

„Sie konstruierten eine ‚völkische Aristokratie‘ und damit die natürliche Vorherrschaft der ‚Edlen‘ vor den ‚Gemeinen‘, der ‚Herren‘ vor den ‚Knechten‘. ‚Sklavenvölker‘ wurden nicht für wert erachtet, gleiche Rechte wie die ‚Herrenvölker‘ zu haben.“[22]

Als Beispiel für die Verbreitung des Antisemitismus im Parlament soll hier der Abgeordnete Georg Schönerer genannt werde, der bis zu seinem Austritt aus der Deutschen Fortschrittspartei 1876 dem liberalen Flügel des Parlaments angehört hatte, und fortan mit deutschnationalen Ansichten gegen Liberale, Kapitalismus und „die Juden“ opponierte.[23]

Schönerer bezeichnete den Antisemitismus als Grundpfeiler des nationalen Gedankens[24] und wetterte zunächst vor allem gegen jüdische Einwanderer aus Russland, dann zunehmend mit rassistischen Argumentationsweisen gegen jüdische Deutsche und zum Christentum Konvertierte. Er stellte unter anderem Forderungen nach dem Ausschluss von Juden aus Staatsämtern, dem Lehramt sowie der Presse.[25]

2.3 Die Situation der jüdischen Bevölkerung in Wien um 1900

Trotz des entstehenden rassistischen bzw. politischen Antisemitismus und seiner politischen Instrumentalisierung im Parlament soll nicht vergessen werden, dass Wien den Juden gegenüber eine relativ liberale Politik betrieb, durch die ihnen nach Jahrhunderten der Unterdrückung zumindest eine offizielle Gleichberechtigung zugesprochen wurde.

So galt das Judentum ab 1867 als Religionsgemeinschaft, deren Anhängern alle bürgerlichen Rechte zugesprochen wurden.[26]

Durch die Möglichkeit der freien Wohnort- und Berufswahl wurde so der Weg in die Emanzipation geebnet. Im Zuge einer gleichzeitigen Säkularisierung der Gesellschaft assimilierten sich zahlreiche Juden vollständig, wobei sie sich meist an der vorherrschenden deutschen Sprache und Kultur orientierten.[27]

Aufgrund beginnender Pogrome und Massaker an Juden in Russland ab 1881 kamen neuzugereiste jüdische Flüchtlinge nach Wien um Schutz zu suchen, so dass die jüdische Bevölkerung der Stadt vom aufgeklärten assimilierten Medizinstudenten oder Künstler bis hin zum jiddischsprachigen Wanderbettler die gegensätzlichsten Lebensstile aufzuweisen hatte.[28]

Auch die Familiengeschichte Arthur Schnitzlers ähnelte damit der vieler weiterer jüdischer, mittlerweile mehr oder weniger assimilierter, Familien, die aus ungarischen, polnischen oder anderen östlichen Städten und Ghettos irgendwann nach Wien übergesiedelt waren und später aus dem Handel oder Kleinhandwerk in die höhere Geschäftswelt aufstiegen. Im Zuge dessen wurde der orthodoxe Glaube, das jüdische Kulturerbe sowie die jiddische Umgangssprache aufgegeben, es kam zu Heiraten und Freundschaften mit nichtjüdischen Wienern und die Sitten glichen sich an das moderne Wien an.

Im Bewusstsein dieses Assimilationsprozesses, den er anhand seiner eigenen Familiengeschichte erlebt hat, beobachtet und kommentiert Schnitzler die gesellschaftlichen Prozesse zugleich:

"Übrigens glaube ich, daß die Frömmste [...] die gute Großmama war [...]. Doch war auch für meine Großmutter das Fasten am Versöhnungstag [...] die einzige rituelle Übung, an der sie mit Strenge, aber nur mit Strenge gegen sich selbst, festhielt. [...] [I]n den folgenden Generationen trat - bei allem, oft trotzigen Betonen der Stammeszugehörigkeit - gegenüber dem Geist jüdischer Religion eher Gleichgültigkeit, ihren äußeren Formen gegenüber Widerstand, wenn nicht gar spöttisches Verhalten zutage."[29]

2.4 Der Zionismus als (Gegen-)Bewegung des europäischen Nationalismus

„Der Zionismus, die jüdische Nationalbewegung, entstand als ein Akt der Notwehr.“[30]

Er ist zurückzuführen auf den drastisch zunehmenden Antisemitismus, der zunächst hauptsächlich gegen die ärmlichen jüdischen Flüchtlinge aus Russland, später mehr und mehr gleichermaßen gegen assimilierte Bürgerliche gerichtet war, und steht im Kontext des aufkommenden Nationalismus.

Der Ausweg aus der Misere des jüdischen Volkes wurde im Gelobten Land Palästina gesehen.

Das Judentum wurde im Zuge dessen weniger als Religion, sondern vielmehr als Nation betrachtet, was auch die zionistischen Bemühungen um Anerkennung als eigene Volksgemeinschaft innerhalb der Habsburger Doppelmonarchie erklärt.[31]

Diese politische Bewegung war von Beginn an umstritten. Einerseits brachten gläubige Juden religiöse Gründe gegen den Zionismus hervor, andererseits sahen viele assimilierten Juden und ehemaligen Juden hierin nach dem Antisemitismus noch eine weitere Institution, die ihre Identität und Berechtigung in Frage stellte.[32]

Als Hauptbegründer des Zionismus und ist Theodor Herzl zu nennen, zu dem Schnitzler bis Ende des 19. Jahrhunderts ein gutes Verhältnis hatte.

Letzteres ist erwähnenswert, da es sich bei Herzl um einen ehemaligen deutschen Burschenschaftler und begeisterten Assimilanten handelt, dessen politischen Wandlungsprozess Schnitzler aufgrund des besonderen Vertrauens, das ihm durch den späteren Zionistenführer entgegengebracht wurde, miterlebte.[33]

Neben seiner Tätigkeit als Publizist war er auch, teilweise unter einem Pseudonym, literarisch tätig. Er beanspruchte Schnitzlers Hilfe bei der anonymen Veröffentlichung seines Stückes Das neue Ghetto[34], während dessen Abfassung sich seine Ansichten über die Frage der Lage europäischer Juden noch stark entwickelte. In diesen Prozess hatte Schnitzler durch den freundschaftlichen Austausch der beiden somit einen genauen Einblick.[35]

Herzl hatte etwa in den 1880er Jahren noch dazu tendiert, antisemitische Äußerungen zu ignorieren und sich eher mit dem Standpunkt der Judengegner zu identifizieren.[36] Außerdem hoffte er, der weitverbreitete unehrenhafte Ruf der Juden insgesamt könne im Duell mit antisemitischen Studenten rehabilitiert werden.[37] Erst die Erfahrungen des regelmäßigen Scheiterns solcher Vorstellungen ließen ihn zum Verfechter und Begründer des Zionismus werden.

So formulierte Joseph Roth 1937, der moderne Zionismus hätte durch niemanden anderen als einen österreichischen Journalisten begründet werden können, da das Streben nach einer palästinensischen Heimat den Mangel an eigener Identität in Europa ersetze.[38]

2.5 Die Verortung Schnitzlers in der Gesellschaft Wiens

Wie bereits erwähnt, gehörte Schnitzler einer jüdischen, stark assimilierten, deutschsprachigen Familie an und legte wenig Wert auf die Religion. So wurde etwa sein 13. Geburtstag, der im Judentum eigentlich eine herausragende Rolle spielt, „[…] zwar ohne rituelles Geprange, aber doch durch besonders zahlreiche und schöne Geschenke gefeiert […].“[39]

In diesem Zusammenhang ist auch Peter Gay[40] zu erwähnen, der Schnitzlers – wenn auch kritische und distanzierte – Zugehörigkeit zum Bürgertum betont. So entsprach beispielsweise das Leben seiner Familie dem bürgerlichen Familienidyll der Zeit, das im Übrigen jedoch keine Gleichheit zwischen Mann und Frau beinhaltete.[41] Schnitzler sei „ […] auf die ihm eigene, höchst individualistische Weise ein gestandener Bürger. Gehorsam wählte er den Beruf, in dem sein Vater ihn sehen wollte: die Medizin. Verzweifelt wünschte er sich, seine Geliebten möchten noch Jungfrau sein.“[42]

Die emanzipatorischen Fortschritte innerhalb der Entwicklung des Frauenbildes Schnitzlers wurden bereits anhand seiner Werke und persönlichen Aufzeichnungen betont.[43] Dabei bleibt die Ambivalenz zwischen der Reproduktion und der für Schnitzler so charakteristischen distanzierten Analyse zeitgenössischer Männlichkeitskonstruktionen bestehen.[44]

Jugenderinnerungen wie: „Kaum war ich in eine Uniform geschlüpft [...], fing ich bewußter an, auf das auszugehen, was man mit einem allzu heroischen Wort Eroberungen zu nennen pflegt“[45] weisen auch auf die kritische Distanz hin, die Schnitzler sich in seinem Jahr als Freiwilliger beim Militär und zuvor während seines Studiums, in einer Zeit, die durch deutschnationalistische und schlagende Studentenbünde geprägt war, bewahrte. Einer farbentragenden Studentenverbindung beizutreten, war ihm selbst übrigens fern und er mied generell festgelegte oder verpflichtende Gemeinsamkeiten. So betont er 1904, sich mit niemandem solidarisch zu fühlen, „[…] weil er zufällig derselben Nation, demselben Stand, derselben Rasse, derselben Familie angehört […].“[46]

„[S]eine selbstgewählte Loyalität zu einer schwierigen Heimat“[47] ist im Vielvölkerstaat Cisleithanien keine Selbstverständlichkeit, wird doch von vielen Deutschen ein Anschluss an das Deutsche Reich angestrebt. Sein Heimatgefühl[48] wird unter anderem erschwert durch seine Abneigung gegenüber „dem Komödienspiel der Politik“[49], das von Parteiinteressen bestimmt wird und dem immer stärker werdenden Antisemitismus, der sich auch gegen ihn persönlich wendet:

So wurde er beispielsweise aufgrund seines kontroversen Stückes Reigen nicht nur als „Pornograph“, sondern auch als „jüdischer Schweineliterat“ beschimpft.[50]

Selbst bisweilen von der Zensur betroffen, warnte er vor dem Einfluss des Staates auf ethische, künstlerische und philosophische Fragen.[51]

2.6 Das Fallbeispiel „Waidhofener Beschluss“ – Ausschlussversuch gegen jüdische Studenten

Am Beispiel des Beschlusses von Waidhofen soll im Folgenden dargelegt werden, welches Ausmaß antisemitische Argumentationsweisen annahmen und wie Schnitzler auch da vom erstarkenden Antisemitismus betroffen war, wo antisemitische Anfeindungen nicht gegen ihn persönlich gerichtet waren.

Während Schnitzler, anders als etwa Herzl, die Dreyfus-Affäre in Frankreich vermutlich eher sporadisch verfolgte[52], war für ihn der „Hochschulantisemitismus“[53] durchaus aktuell.

Deutschnationale Verbindungen begannen, Juden auszuschließen. Bereits 1890 befanden sich unter den aktiven Burschenschaftlern keine Juden mehr. Schnitzer schildert, wie es zu gruppenweisen Zusammenstößen zwischen antisemitischen Burschenschaften und freisinnigen Landsmannschaften und Corps kam, und, dass Einzelpersonen aus den verfeindeten Studentenverbindungen sich gegenseitig zum Duell herausforderten.[54]

1896 wurde auf dem Waidhofener Verbandstag der deutsch-österreichischen Studierendenschaft Juden offiziell das Recht auf Genugtuung im Duell abgesprochen. Zur Begründung wurde nationalistisch und rassistisch argumentiert, da Judentum über die Abstammung bzw. das Blut definiert und auf die Vorstellung, das Judentum sei eine besondere Haltung, zurückgegriffen wurde. So wurde mit der angeblichen angeborenen Feigheit und Ehrlosigkeit der Juden und der politischen Idee, dass man eine die nationale Existenz und germanische Moral gefährdende Rasse isolieren müsse, verwiesen.[55]

Besonders die Behauptung von der angeborenen Ehrlosigkeit von Juden, derzufolge keine Genugtuung für eine erlittene Beleidigung verlangt werden könne, betont Schnitzler in Jugend in Wien, und fügt hinzu, dass die Gesinnung, die im Waidhofener Beschluss Ausdruck fand, schon Anfang der Achtziger Jahre bestand.[56]

Schnitzler liefert eine genaue und detaillierte Beschreibung der Tatsachen, etwa in Hinblick darauf, dass das Waidhofener Prinzip nicht immer gewahrt wurde, sowie eine Analyse der Situation, derzufolge sich durch die antisemitischen Herausforderungen und Ausschlussversuche „[…] viele unter den jüdischen Studenten zu besonders tüchtigen und gefährlichen Fechtern entwickelt[en].“[57]

3. Die psychologische Seite des Antisemitismus

Schnitzler erinnert sich, dass es nicht eigentlich die politische, auch nicht so sehr die soziale, sondern vorwiegend die psychologische Seite politischer Überzeugungen (und hier besonders des Antisemitismus) war, für die sein Interesse zuerst erwachte.[58]

Für ein Verständnis des damaligen Stands psychologischer Analysen scheint ein Blick auf einen bis heute prägenden Zeitgenossen Schnitzlers, Sigmund Freud, unerlässlich. Auf seine psychoanalytische Theorie, aber auch auf das Verhältnis zwischen Freud und Schnitzler soll darum zunächst eingegangen werden.

Um die literarische Verarbeitung der psychologischen Beobachtungen Schnitzlers, die in der Analyse des Romans sowie des Dramas in den Folgekapiteln Berücksichtigung finden sollen, genauer fassen zu können, sind aber weitere psychoanalytische Modelle vonnöten. Hiezu scheint es erfolgversprechend, die Autoren Horkheimer und Adorno sowie Klaus Theweleit zu Hilfe zu ziehen. Zwar sind ihre Theorien erst rund ein halbes Jahrhundert später unter der Fragestellung entstanden, welche psychologischen Konstitutionen von Individuen den Erfolg des Faschismus ermöglichen konnten. Doch sind die Maßstäbe, die in der Faschismusforschung herangezogen werden, erwartungsgemäß auch jene, mit denen Schnitzler bei der psychologischen Betrachtung des Antisemitismus seiner Zeitgenossen konfrontiert ist.

3.1 Freuds Psychoanalyse und die Dekonstruktion des Ich

3.1.1 Das Ich als ein psychischer Apparat

Als eine der größten Neuerungen der Zeit ist wohl die am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Vorstellung, derzufolge das „Ich“ nicht als Einheit zu denken ist, zu nennen.

Neben Ernst Mach, der 1886 in seinem Hauptwerk Die Analyse der Empfindungen[59] den Glauben an eine schöpferische Einheit des Menschen als idealistisch ablehnt und das Ich auf ein psychologisches Phänomen reduziert[60], ist hier natürlich der Arzt und Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, der 1899 erstmals mit seiner Traumdeutung[61] besonderes Aufsehen erregt, zu nennen.

Seine Thesen von der Bedeutsamkeit der, meist unbewussten, Prozesse der menschlichen Psyche und der Determiniertheit ebendieser durch vorausgehende psychische Prozesse, bringen ihn zu der Annahme, dass scheinbare Diskontinuitäten im psychischen Leben des Menschen durch Entdeckung der kausalen Zusammenhänge unbewusster psychischer Prozesse offen gelegt werden können.[62]

Auf dieser Erkenntnis beruht die psychoanalytische Vorgehensweise, bei der die Patienten dem Psychoanalytiker durch freies Assoziieren alle Gedanken mitteilen. So kann Freud auch ein Bild von den unbewussten[63] psychischen Prozessen gewinnen.[64]

Neben der Heilung psychischer Krankheiten gelingt es somit, ein wissenschaftliches Modell der menschlichen Psyche zu entwerfen und Verhaltensweisen auf diesem Weg zu erklären.

Als essenzielle, zur Tätigkeit antreibende Komponente der Psyche werden die Triebe gesehen. Freud nimmt an, dass es eine psychische Energie gibt, die sich aus den Trieben herleitet oder Teil ihrer ist.

In seinem Gesamtwerk spielt der Selbsterhaltungstrieb dabei stets eine herausragende, phasenweise auch einzigartige Rolle.[65]

Freuds wachsendes Verständnis für das System des Unbewussten bringt ihn schließlich zu seiner Strukturhypothese, denn er entdeckt, dass es neben dem Kriterium des aktiven Ausgesperrtwerdens aus dem Bewusstsein noch andere, funktionale Kriterien gibt, die sich auf psychische Prozesse und Inhalte anwenden lassen.

„Jede der psychischen ‚Strukturen’, die Freud in seiner neuen Theorie vorschlägt, ist in der Tat eine Gruppe psychischer Inhalte und Prozesse, die funktional miteinander zusammenhängen. Freud unterscheidet drei solcher funktional zusammenhängender Gruppen oder ‚Strukturen’ und nennt sie das Es, das Ich und das Über-Ich.“[66]

So nimmt Freud an, dass der psychische Apparat eines Neugeborenen allein das Es, also das triebhafte Element der Psyche, umfasst. Nach sechs bis acht Monaten beginnt die Ausdifferenzierung des Ichs, dessen Aufgabe es zunächst ist, sich mit der Umwelt so zu befassen, dass eine maximale Befriedigung oder Entladung für das Es erlangt wird, und dessen Funktionen der motorischen Kontrolle, der Wahrnehmung und Erinnerung, sowie der Affekte und des Denkens, sich im Laufe der Entwicklung weiter ausbilden. Die Ausbildung des Ichs hat somit aber auch eine Schwächung des Ichs zur Folge.[67] Das Über-Ich, bei dessen Bildung Freud das Scheitern des als Ödipus-Komplex bezeichneten sexuellen Beziehungswunsches des Kindes gegenüber einem Elternteil als ausschlaggebend sieht, erfüllt moralische Funktionen wie die kritische Selbstbeobachtung, Selbstbelohnung und -bestrafung und bildet sich erst im Alter von fünf oder sechs Jahren aus.[68]

Zuvor vorherrschende, etwa theologische Vorstellungen vom Menschen als geschöpfte Einheit werden somit grundsätzlich in Frage gestellt. Ängste, Verhaltensmuster und Träume sind psychologisch erklär- und deutbar.

3.1.2 Das Verhältnis Freuds zur Wiener Moderne

Ein näherer Blick soll nun auf die überaus bemerkenswerten Beziehungen zwischen Freud und der Wiener Literatur um 1900 geworfen werden.

Denn obwohl Freud große Distanz zu vielen Schriftstellern seiner Zeit wahrt, weist die Literatur dieser Zeit durch die Schilderung der Innenwelt zahlreiche Parallelen zu Freuds psychoanalytischen Ansätzen auf.

Schriftsteller wie Schnitzler, dem Freud im hohen Alter attestierte, durch Intuition und Selbstwahrnehmung psychologische Erkenntnisse erlangt zu haben[69], und Hofmannsthal, in dessen Werken er Zeugnis für das Fortleben prähistorischer Instinkte hätte finden können[70], meidet er im Allgemeinen.

Anders herum setzt der Einfluss Freuds auf die Literatur des Jungen Wiens erst ab der Jahrhundertwende ein.[71]

Bereits ab 1890 beginnt bei den Autoren des Jungen Wiens und „in der europäischen Literatur eine Tendenz zu Introversion und Seelenkundigkeit [...], die der junge Hofmannsthal [...] auf ‚gesteigerte Empfindsamkeit’ zurückführte und zum Merkmal der Epoche erhob.“[72] Demnach prägen „die Selbstanalyse und die Hingabe an eine synästhetisch verfeinerte Traumwelt das ausgehende Jahrhundert.[73]

Schnitzler führt die literarische Form des inneren Monologs[74] zum gleichen Zeitpunkt in die deutschsprachige Literatur ein, zu dem Freud seine assoziative Methode der Traumdeutung vorlegt.[75] Denn obwohl Freud lange dem Denkmodell naturwissenschaftlicher Erklärung verhaftet ist, wird ihm 1895 plötzlich klar, wie weit er sich in seiner klinischen Praxis bereits einem ‚dichterischen’ Verstehen genähert hat.[76] So erhalten die niedergeschriebenen Krankengeschichten durch das Bestreben, neurotische Erkrankungen lebensgeschichtlich zu erklären und durch Bewusstmachung unbewusster psychischer Prozesse den Heilungsprozess einzuleiten, einen literarischen Charakter.[77] Gerade der Literatur der Wiener Moderne mit ihrer „Wende nach innen“[78] kommt er damit sehr nahe.

Zudem greift Freud auf seine literarische Bildung zurück, um bestimmte klinische Erfahrungen formulieren zu können: „Nicht nur der Ödipuskomplex als begriffliche Fassung des Kernproblems, sondern auch Narzissmus, Sadismus, Masochismus sind der Literatur entlehnte Konzepte.“[79]

3.1.3. Das Verhältnis Schnitzlers zu Freud

„Versucht man Schnitzlers Verhältnis zur Psychoanalyse in knappen Worten zu fassen, so muß man zu dem Schluß kommen, daß trotz intensiver und kontinuierlicher Auseinandersetzung [...] der Einfluß der Psychoanalyse gering ist.“[80]

Es ist jedoch nötig, einen näheren Blick auf die Differenzen zwischen Freud und Schnitzler zu werfen, um gerade dadurch die für Schnitzler typischen Besonderheiten psychologischer Betrachtungen, gerade in Bezug auf die psychologische Seite des Antisemitismus, herauszustellen.

Anders als Freud, der sich von der Wissenschaftsgläubigkeit des Positivismus nie ganz entfernt hat und der vom Ersatzcharakter des ästhetischen Vergnügens durch die Kunst zeit seines Lebens überzeugt bleibt[81], sieht Schnitzler weder die Medizin und Wissenschaft noch die Literatur als Garanten der Wahrheit: „Im literarischen Werk ist Arthur Schnitzlers Skepsis das prägende Element seiner Modernität […].“[82] „Aber auch die Dogmen der Wissenschaft, ihre zur Ideologie gewordenen Lehren, werden bekämpft.“[83]

[...]


[1] Tb 1903-1908, S. 83.

[2] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 2001 (amerikanische Erstauflage 1944), S. 181.

[3] Schnitzler fällt bereits 1885 ein an einem guten Bekannten, der väterlicherseits von Juden abstammt, auf, dass dieser „enragirter Antisemit geworden“ (Tb 1879-1892, S. 177f) ist und dem Judentum gegenüber heftige unberechtigte Anklagen erhebt. Immer wieder fallen ihm Juden auf, die sich als „wüthende [...] Antisemiten zu erkennen“ (Tb 1917-1919, S. 222) geben. Vgl. auch Schwarz, Egon: Arthur Schnitzler und das Judentum. In: Im Zeichen Hiobs: jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Grimm, Gunter E / Bayersdörfer, Hans-Peter (Hg). Frankfurt a.M. 1985, S. S. 74ff.

[4] Der sich im Falle eines Juden jedoch bisweilen besonders deutlich zuspitzende Widerspruch des Antisemitismus, der vor allem durch Schnitzlers Zeitgenossen Otto Weininger deutlich wird, wurde bereits als gesondertes Phänomen betrachtet (vgl. LeRider, Jacques: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und des Antisemitismus. Wien u. München 1985).

[5] Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München 1996, S. 468.

[6] Hamann 1996, S. 288.

[7] Giesen, Bernhard: Antisemitismus und Rassismus. In: Genozid und Moderne. Bd.1: Strukturen kollektiver Gewalt im 20. Jahrhundert. Dabag, Mihran / Platt, Kristin (Hg.). Opladen 1998, S. 206-240.

[8] Eine andere Möglichkeit, die Nationalität festzulegen, kann z.B. die Angabe der Umgangssprache einer Person sein, wie es in Wien von offizieller Seite aus gehandhabt wurde (vgl. Hamann 1996, S. 441).

[9] Hamann 1996, S. 283.

[10] Giesen 1998, S. 210.

[11] Vgl. Giesen 1998, S. 219.

[12] Vgl. Giesen, S. 220f.

[13] Vgl. Giesen 1998, S. 221f.

[14] Vgl. Giesen 1998, S. 222f.

[15] Vgl. Giesen 1998, S.223-229.

[16] Giesen 1998, S. 228f.

[17] Beispielhaft für eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung ist etwa die Bildungssituation, da neben den früheren Privilegierten nun auch das Kleinbürgertum und Arbeiter Zugang zu Bildungs- und damit zu gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten hatten. So konnten nun auch Juden in höhere akademische Berufe gelangen.

[18] Giesen 1998, S. 233.

[19] Eine Erhebung von 1910 über den Anteil der Nationalitäten in der westlichen Reichshälfte Österreich zeigt, dass von 28,5 Millionen Einwohnern fast 10 Millionen Deutsche, fast 6,5 Millionen Tschechen, Mährer und Slowaken, fast 5 Millionen Polen, über 3,5 Millionen Ruthenen (Ukrainer), 1,25 Millionen Slowenen, fast 800.000 Serbokroaten, 770.000 Italiener, 275.000 Rumänen, ca. 11.000 Magyaren und 500.000 weitere Ausländer waren. Weil für die Anerkennung als Nation die Umgangssprache maßgeblich war, gab es keine „jüdische Nation“ (vgl. Hamann 1996, S. 128).

[20] Das Wahlrecht bezieht sich auf Männer ab 24 Jahren, die nachweisen konnten, bereits mindestens ein Jahr im jeweiligen Wahlort zu wohnen.

[21] So ergab die in allen Teilen der Doppelmonarchie übliche Berechnung, nach der die Nationalität an der Umgangssprache zu erkennen sei, dass 233 Deutsche einen Sitz im Parlament hätten, während die Deutschradikalen zunächst die beiden Großparteien Sozialdemokraten, die zu diesem Zeitpunkt explizit als übernationale Partei angetreten war, und die Christlichsozialen, aus der Statistik strichen um anschließend folgende Rechnung zu machen: „Von den 86 deutschen Abgeordneten sind noch einige Juden, etliche waschechte Liberale, die den Vorschriften der Judenpresse Gehorsam leisten müssen, einige gemäßigte Deutschnationale, die gern in Judenblättern Aufsätze veröffentlichen“ (vgl. StP HdA, 16.12.1907, 351ff, zitiert nach Hamann 1996, 171). Dieser Rechnung entsprechend, die sowohl das Kriterium der Abstammung als auch das der politischen Einstellung zugrunde legt, blieben nur 13 Deutsche, meist Deutschradikale, übrig.

[22] Hamann 1996, S. 290.

[23] Vgl. Hamann 1996, S. 349.

[24] Vgl. Hamann 1996, S. 345.

[25] Vgl. Hamann 1996, S. 344f.

[26] Vgl. Hamann 1996, S. 128.

[27] Vgl. Pultzer, Peter G. J.: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Göttingen 2004 (1. Aufl. 1964), S. 165f.

[28] Vgl. Poliakov, Leon: Die Geschichte des Antisemitismus. VII. Zwischen Assimilation und „Jüdischer Weltverschwörung“.Frankfurt a.M. 1988, S. 100f.

[29] JiW, S. 18f.

[30] Hamann 1996, S. 486.

[31] Vgl. Hamann 1996, S. 486f.

[32] Vgl. Hamann 1996, S. 487.

[33] Vgl. Riedmann, Bettina: „Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher“. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen. Tübingen 2002, S. 126.

[34] Herzl, Theodor: Das neue Ghetto. In: Theodor Herzl oder Der Moses des Fin de siècle . Dethloff, Klaus (Hg.). Wien u.a. 1986, S. 94-155

[35] Vgl. Riedmann 2002, S. 109ff.

[36] Vgl. Riedmann 2002, S. 116.

[37] Vgl. Riedmann 2002, S. 117.

[38] Vgl. Roth, Josef: Juden auf Wanderschaft. Vorrede zur neuen Auflage. Köln 1976, 75f. Zitiert nach Hamann 1996, S. 486

[39] JiW, S. 60.

[40] Gay, Peter: Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2002.

[41] Vgl. Gay 2002, S. 61f und 74f.

[42] Gay 2002, S. 16.

[43] Vgl. z.B. Smith, Emma E.: Dawning self-awareness: Female characters between submission and dominance in Schnitzlers Komödie der Verführung. In: Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften / Contemporaneities. Foster, Jan / Krobb, Florian (Hg.). Bern 2002, S. 174-183 und Doppler, Alfred: Der Wandel der Darstellungsperspektive in den Dichtungen Arthur Schnitzlers. Mann und Frau als sozialpsychologisches Problem. In: Akten des Internationalen Symposiums ‘Arthur Schnitzler und seine Zeit‘. Farese, Giuseppe (Hg.). Bern 1985, S. 41-59.

[44] Vgl. Oosterhoff, Jenneke A.: Die Männer sind infam, solang sie Männer sind. Konstruktionen der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers. Tübingen 2000.

[45] JiW, S. 139.

[46] AuB, S. 231.

[47] Fliedl, Konstanze: „O du mein Österreich“: Schnitzlers schwierige Heimat. In: Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften / Contemporaneities. Foster, Jan / Krobb, Florian (Hg.). Bern 2002, S. 42.

[48] Vgl. AuB, S. 231.

[49] AuB, S. 239.

[50] Vgl. Scheffel, Michael (Hg): Nachwort. In: Arthur Schnitzler. Reigen. Stuttgart 2002, S. 137f.

[51] Vgl. Aub, S. 239.

[52] Vgl. Riedmann 2002, S. 26.

[53] JiW, S. 153.

[54] Vgl. JiW, S. 152.

[55] Vgl. Schiedel, Herbert / Martin Tröger: „Durch Reinheit zur Einheit“. Zum deutschnationalen Korporationswesen in Österreich. http://www.vvn-bda.de/freising/bursch.htm (letzter Zugriff: 16.02.2006).

[56] Vgl. JiW, S. 152.

[57] AuB, S. 152.

[58] Vgl. JiW, S. 93

[59] Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Darmstadt 1985 (Neudruck der Auflage von 1922; Erstausgabe 1886).

[60] Vgl. Günter, Klaus: „Es ist wirklich, wie wenn die Leute wahnsinnig wären.“ Bemerkungen zu Arthur Schnitzler und Ernst Mach. In: Arthur Schnitzler in neuer Sicht. Scheible, Hartmut (Hg). Paderborn 1981, S. 103.

[61] Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Frankfurt a. M. 1999 (Erstausgabe 1900).

[62] Vgl. Brenner, Charles: Grundzüge der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1967, S. 17-20.

[63] Freud stellt fest, dass es unbewusste psychische Phänomene gibt, die durch verstärkte Bemühungen der Aufmerksamkeit ohne Schwierigkeiten zugänglich gemacht werden können. Somit werden sie von ihm als ‚vorbewusst’ bezeichnet. Dagegen nennt er nur die Prozesse, die durch Aufwendung erheblicher Mühen bewusst gemacht werden können, ‚unbewusst’ (vgl. Brenner 1967, S. 25). Das Psychische wird den Erfahrungen seiner Psychoanalyse zufolge in ein dynamisches System, den ‚psychischen Apparat’ unterteilt, das aus einem unbewussten, einem vorbewussten und einem bewussten System besteht (vgl. Brenner 1967, S.51 ff).

[64] Vgl. Brenner 1967, S. 24f.

[65] Vgl. Brenner 1967, S. 37.

[66] Brenner 1967, S. 54.

[67] Vgl. Brenner 1967, S. 77-86.

[68] Vgl. Brenner 1967, S. 55 und S. 136-148.

[69] Vgl. Freud, Ernst L. (Hg.): Siegmund Freud. Briefe 1873 – 1939. Frankfurt a. M. 1960, S. 338.

[70] Vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1983, S. 12.

[71] Vgl. Worbs 1983, S. 62.

[72] Worbs 1983, S. 8f.

[73] Diese prägenden Momente brechen natürlich nicht mit der Jahrhundertwende ab, was gerade an der Weiterentwicklung und Thematisierung der Psychoanalyse in der Literatur festzustellen ist. In Bezug auf das Junge Wien lässt sich ein vorfreudianischer Einfluss bis 1900 und anschließend auch ein Einfluss durch die Werke Freuds festmachen. Parallelentwicklungen stehen aber vor wie nach der Jahrhundertwende nicht unbedingt in einem kausalen Zusammenhang (vgl. Worbs 1983, S. 62).

[74] In: LG.

[75] Vgl. Worbs 1983, S. 83.

[76] Vgl. Worbs 1983, S. 86.

[77] Vgl. Worbs 1983, S. 86f.

[78] Vgl. Worbs 1983, S. 9.

[79] Worbs 1983, S. 89.

[80] Worbs 1983, S. 257.

[81] Vgl. Müller-Seidel, Walter : Moderne Literatur und Medizin. Zum literarischen Werk Arthur Schnitzlers. In: Akten des Internationalen Symposiums ‘Arthur Schnitzler und seine Zeit‘. Farese, Giuseppe (Hg.). Bern 1985, S. 82.

[82] Müller-Seidel 1985, S. 83.

[83] Müller-Seidel 1985, S. 84.

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Arthur Schnitzler und der Antisemitismus
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
2,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
78
Katalognummer
V74472
ISBN (eBook)
9783638636421
ISBN (Buch)
9783638678087
Dateigröße
1185 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arthur, Schnitzler, Antisemitismus
Arbeit zitieren
Sandra Küpeli (Autor:in), 2006, Arthur Schnitzler und der Antisemitismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74472

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